Krämerseelen - Siegfried Michl - E-Book

Krämerseelen E-Book

Siegfried Michl

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Beschreibung

Durch einen Schicksalsschlag verändert sich für Angela und Alwin Bär das Leben auf dramatische Weise. Sie verkümmern seelisch, ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück und lassen sich in eine Apathie fallen, bis die Schlinge, in die sie beide ihre Köpfe gelegt haben, beginnt, sich immer enger zuzuziehen. Schließlich treten sie unter Aufwendung allen Mutes eine Flucht nach vorne an, die für beide neue Perspektiven, jede Menge Bewegung auf neuen Wegen, eine neue Sicht auf ihre Beziehung, ja, ein neues Leben bringt ...

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Siegfried Michl
Krämerseelen
„Holladiriiiiiaaaa hoppp – sassa, hollaraadirii hollaraadioo, holladiriiiiaaaa hoppp – sassa, hollaradiria ho. Und jetzt noch amal alle!! … Holladiriiiiaaa hoppp – sassa, hollaraadirii hollaraadioo, holladiriiiiaaa hoppp – sassa, hollaradiria ho, uuuund lllinks, rrrechts, vor, zurück, das macht Spaß, das bringt Glück, lllinks, rrrechts, vor, zurück, das ist der ganze Trick ...“
Die Unterhaltungskapelle im nicht vollbesetzten Kurhaus eines kleinen fränkischen Kurbades, das seine besten Tage bereits gesehen hatte, spielte ihre Stimmungsrunde, neben dem Zufallswalzer und der Damenwahl einer der zweifellosen Höhepunkte des Abends. Die Menschen im geschmackvoll eingerichteten Saal schunkelten, sangen und lachten fränkisch ausgelassen zu einer seit bestimmt 50 Jahren unveränderten, potpourriartigen Abfolge unglaublichen deutschen Liedgutes, dessen Texte alle kannten. Als dann die Kapelle aufhörte zu singen und das Publikum aufforderte, den Gesangspart zu übernehmen, kam es zu einer Art von Massenkaraoke, was für die Musikanten jedes Mal wieder überwältigend, ja fast berauschend war, und auch an diesem Abend hatte es funktioniert. „Superstimmung! Ihr seid ein Superpublikum!“ Hinterher noch der obligatorische neueste Witz:
„Mein Freund hat mir derzählt, dass er eine ganz arme Sau is, weil er sich nachts heimschleichn kann, wie er mag, die Treppe rauf auf Samtpfötla und die Schlafzimmertür ganz vorsichtig auf und zu, immer wenn er dann im Schlafzimmer steht, sitzt seine Frau wach im Bett mitm Nudlholz in der Hand und sagt:
‚Wo kommst denn du so spät her, warst wieder saufn, wart nur, wenn ich dich erwisch!‘
Drauf sag ich:
Weißt, wie ich das immer mach, wenn ich nachts vom Wirtshaus komm? Ich lass im Hof noch einmal den Motor aufheuln, dann schmeiß ich das Garagentor mit einem lauten ‚Rumms‘ ins Schloss, trampl die Treppe rauf wie ein Nilpferd, reiß die Tür auf und schalt das Licht an. Dann schrei ich:
‚Frau, steh auf und erfülle deine ehelichen Pflichten!‘
Glaubst, die tut jeds Mal, wie wenn sie schlafn tät!“
Die Kapelle spielte ein:
„Dädää – dädää – dädää! Jetzt gehn wir alle, alle, alle in die Bar ...“, die Menschen im Saal lachten ehrlich begeistert.
„Superkapelle! Superstimmung! Des sin halt Profis!“ Es folgte eine Tanzpause und jeder Herr, der eine Dame greifbar hatte, ging mit ihr in die Bar, wie von der Band befohlen. Die Musikanten hatten ihr Publikum im Griff und alles lief nach einem altbewährten, seit vielen Jahrzehnten gleichen Schema ab. Die meisten Menschen hier stammten aus der Ortschaft und ihrer Umgebung, einige waren Kurgäste und einige wenige waren von weiter her angereist, um sich mal wieder gepflegt zu amüsieren. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung und die Hiesigen bemühten sich, die Kurgäste zu integrieren, denn die Gästezahlen waren nach wie vor desaströs und hatten sich seit dem Zusammenbruch nach der Grenzöffnung nicht mehr erholt. Hier im Fichtelgebirge hatte man sich damals auf die Berliner eingerichtet, für die Franken zu Zeiten der Zonengrenze eines der nächsten erreichbaren Erholungsgebiete gewesen war, billig, gemütlich, ruhig. Mittlerweile fuhren die Berliner in den Spreewald, an die Ostsee oder die Mecklenburger Seenplatte. Hierher kamen nur noch wenige, und die alten Stammkunden starben langsam, aber sicher weg. Die Menschen am Ort, die sich vor 15 Jahren noch ihr Geld im Fremdenverkehr verdienen konnten, fuhren jetzt ins nahegelegene Bayreuth zur Arbeit. Viele Geschäfte, Wohnungen, Häuser, auch das wunderschöne, alte Grand-Hotel und sogar das alte Krankenhaus standen seit vielen Jahren leer und suchten vergeblich Käufer.
Auch Alwin und Angela Bär waren an diesem Abend im Kurhaus und amüsierten sich köstlich, zusammen mit Eugen und Maria Sperber, mit denen sie schon seit zirka 30 Jahren eine tiefe Freundschaft verband. Die Sperbers hatten das Bekleidungsgeschäft am Ort und waren hier geboren, doch auch ihr Geschäft hatte durch den Wegfall des großen Kurbetriebes schwere Einbußen erleben müssen und inzwischen bestritten sie ihren Hauptumsatz durch kleine Märkte, bei denen sie ihren mobilen Stand aufbauten und auf vorwiegend ältere Kundschaft hofften. Alwin und Angela Bär nannten ein kleines Lebensmittelgeschäft ihr Eigen, aber auch hier passierte nicht mehr so viel, denn seit der örtliche Edeka-Händler seinen alten Laden in einen Supermarkt gewandelt hatte, mit Getränkemarkt, Wurst- und Bäckereiabteilung, gingen die Bewohner des Ortes, die nicht in der Kreisstadt eine Aldifiliale heimsuchten, lieber dorthin. Der einzige Trumpf, den die beiden Bärs noch zu bieten hatten, war die Lotto- und Totoannahmestelle, die doch immer wieder fast alle Bürger des Ortes mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen hierher trieb.
°°°
„Morgen, Alwin! Na, war widder schön gestern, gell? Ich bin ja froh, dass das Tanzn noch so geht, gell, man weiß ja nie.“
„Da hast du Recht, Schorsch. Und? Aweng an Systemschein für dich?“
„Ich glaub fei schon. Heut früh hat in der Bildzeitung im Horoskop gstandn, dass ich heut ein glücklichs Händla in Geldangelegenheiten hab. Da trau ich mich mal.“
„Na, wennʼs klappt, dann kannst mir ja auch aweng ein paar Mark abgebn, ne?“
„Da hast recht: Wenn ich gwinn, sollʼs dein Schaden nicht sein, aber sag mal, bei wem hast denn du schon alles eine Gewinnbeteiligung?“
„Waaf net! Eine Gewinnbeteiligung werd ich haben? Ja, allerhöchstens von der Hälft von allen, die wo da spieln.“
Alwin grinste verschmitzt und holte aus einem Tischständer den gewünschten Spielschein. Während Georg Hübner, der Wirt von der „Post“, einer gutbürgerlichen Gaststätte, seinen Spielschein mit Kreuzen übersäte, kam aus dem Hinterzimmer, dem privaten Rückzugsrefugium und Büro der Bärs, Angela Bär in den Laden und begrüßte Herrn Hübner herzlich:
„Ja, grüß dich, Schorsch, du hast ja gestern wieder getanzt wie der Lump am Steckn.“
„Ja, ja, so eine Musik, die macht einen widder jung, deswegn is Tanzn gehn für mich wie a Medizin.“
„Nächste Wochn am Samstag Abend macht der Pfarrer sei Fest. Ich schätz, da werden mir uns schon wieder sehn.“
„Ich glaub, da kannst recht haben, Anschi. Da führt wahrscheinlich kein Weg dran vorbei, hehehehe ... so, was bin ich schuldig?“
Alwin Bär ging wichtig an seine Kasse und tippte auf der Tastatur.
„Elf Euro und 23, bitte schön.“
Herr Hübner legte zwölf Euro auf den Tresen:
„Passt schon so.“
„Ach Schorsch, des hättʼs doch nicht gebraucht!“
„Ja, ja, geh zu und red nicht, das is schon in Ordnung, gell!“
„Na also, fei schon schön Dank, gell!“
„Machtʼs gut und ade!“
„Ja, ade!“
„Ade, Schorsch!“, rief auch Angela hinter ihm her und dann war er auch schon verschwunden.
Die warme Sonne dieses Frühherbstmorgens schaffte eine freundliche Stimmung in diesem tief eingeschnittenen Tal, das das Flüsschen namens Ölschnitz in Jahrmillionen in den harten Granit gespült hatte, und die Menschen, die um diese Uhrzeit schon unterwegs waren, schauten alle etwas freundlicher als sonst. Auch die Bärs waren guter Dinge. Schließlich war heute Samstag und es würden noch alle „Kurz-vor-knapp-Lottokunden“ kommen und wahrscheinlich ein gutes Geld dalassen, weil der Jackpot an diesem Wochenende besonders hoch war. Und tatsächlich waren kurze Zeit später schon neue Lottokunden im Laden und bis Mittag füllte er sich immer mehr.
Gegen halb zwölf betrat eine gutaussehende Mittfünfzigerin den Laden, die mit ihrem zitronengelben Kleid besonders herausstach und bei der jedem Einheimischen gleich klar war, dass es sich um einen Kurgast handeln musste. Mit einem freundlichen Gruß verlangte sie einen Standard-Lottoschein und lächelnd füllte sie diesen sehr zielstrebig aus. Alwin hatte sie sofort bemerkt, denn durch ihre Frühlingshaftigkeit bekam dieser goldene Herbsttag wieder etwas Sommerliches. Er sah zu, dass er an der Kasse zu tun hatte, so dass er sie bedienen musste, wenn sie zur Abrechnung kommen würde. Als sie ihm dann den Spielschein auf die Ladentheke legte, sagte er:
„Grüß Gott, na, Sie sin gwieß ein Kurgast, gell? Wall Sie hab ich bei uns noch nie gsehn.“
Mit einem freundlichen Lachen entgegnete sie:
„Schönen guten Tach! Tja, da haben Sie vollkommen recht. Ich spanne für zwei Wochen aus und genieße mal eine Welt, gar nicht so weit weg von meiner, aber so anders. Sie habenʼs wirklich schön hier, und ich bin froh, dass ich mir gerade Ihr schnuckeliges Örtchen ausgesucht habe für meine Kneippkur.“
„So, so, isses bei uns so anders wie woanders? Na ja, das wird halt alles aweng ärmlicher sein als bei Ihnen daheim, gell?“
„Ach nein, so meinte ich das gar nicht, nein. Vielmehr ist hier alles so klein, überschaubar und ruhig, die Menschen haben Zeit und wirken freundlich, und es ist alles zusammen einfach sehr erholsam, wissen Sie?“
„Nein, das hab ich noch nicht gwusst, aber das is ja schön, dass man das so auch sehn kann. So, da is Ihr Wechselgeld und kommen Sie fei gern wieder mal vorbei, wenn Sie was brauchn. Bei uns gibtʼs auch so viel mehr wie bloß Lotto, ne? Also, ade!“
„Sehr gerne, vielen Dank und bis bald, tschüüß!“
„Ja, tschüß, tschüß!“
Und schon schwebte sie davon wie ein Zitronenfalter, und er sah ihr noch nach, was auch seiner Frau nicht entging.
„Na, die wird sich schon auch ganz schön verkältn mit ihrm dünnen Fetzn. Dass sich die Kurgäst immer so aufdonnern müssen, aber der Apotheker wird sich freun, wenn sie sich dann ein Fläschla Meditonsin holt. – Na ja, mir kanns ja wurscht sei.“
Angela giftelte so laut, dass es Alwin hören musste. Er sagte nur knapp: „Du musstʼs ja wissen!“, und ärgerte sich ein wenig, dass sie ihm diesen fröhlichen Moment jetzt unbedingt verderben musste. Angela war eine ansehnliche Frau Anfang 50, doch wagte sie es wegen ihrer Krampfadern an den Unterschenkeln seit Jahren nicht mehr, Kleider zu tragen, und war dann doch auch immer ein bisschen mit Wehmut und Neid erfüllt, wenn eine andere Frau durch ein Kleid Aufmerksamkeit auf sich zog, ganz besonders wenn es die Aufmerksamkeit ihres Mannes war.
Kurz nach eins, man will ja nicht kleinlich sein, sperrte Angela Bär die Ladentüre zu. Die beiden waren sehr zufrieden mit den Tageseinnahmen, ja, ein gut gefüllter Jackpot war schon immer Garant für beste Geschäftstage, und auch Lebensmittel und Schreibwaren gingen heute ganz gut. Am Nachmittag gabʼs im Kurhaus einen Vortrag über Homöopathie im Alter und da wollte Alwin unbedingt hin, denn Homöopathie war seine kleine Leidenschaft, nicht zuletzt, weil er auch nicht mehr ganz jung war.
„Du, Angela, gehst awengla mit?“
„Wo denn hin?“
„Na, ins Kurhaus nüber, weißt schon, da is doch heut der Vortrag über Homöopathie im Alter.“
„Ach nein, ich glaub, ich hab da heut keine Lust drauf. Nein, ich bleib awengla daheim und machʼs mir schön gemütlich. Aweng einen Kaffee, aweng ein Kreuzworträtsel, aweng ein Telefon und vielleicht aweng einen Fernseher. Kannst mirʼs ja erzähln, wennʼs was Raffinierts gibt.“
„Na, ich hab mirʼs fast gedacht, dass du heut nicht mitkommst. Dann geh ich halt nacherdla, ne?“
„Na freilich, und viel Vergnügn!“
„Das wünsch ich dir auch, also ade!“
„Ade!“
°°°
Er hatte vor zirka fünf Jahren damit begonnen, sich mit der Homöopathie zu beschäftigen, und hatte seitdem alles aufgesogen, was ihm zu diesem Thema in die Finger gekommen war. Er hatte Bücher gelesen, war zu Seminaren gegangen, besaß eine stattliche Anzahl an sich gleichenden Fläschchen, die mit verschiedenen Globuli in verschiedenen Potenzen gefüllt waren, und war stolz darauf, immer das richtige Mittel parat zu haben. Auch in ihrem Bekanntenkreis hatte er oft schon durch die richtige Medikation helfen können.
Nun blieb ihm noch eine knappe Stunde Zeit und er beschloss, sich kurz zu duschen und neu einzukleiden, um den Ladenmief nicht mitnehmen zu müssen. Dann verließ er das Haus und ging leichten Schrittes zum Kurhaus, aber über den Umweg an der Ölschnitz entlang, am alten Kurhotel vorbei, dessen Blüte noch nicht so lange her war, doch mittlerweile war es baufällig und aus seinen Terrassenfliesen wuchsen bereits Bäume. An der Tür hing ein Zettel mit der Aufschrift „Zu verkaufen“. Darunter eine Berliner Telefonnummer. Es war schon ein Jammer, wie weit dieses Kleinod von fränkischem Kurbad bereits heruntergekommen war, aber es stimmte auch hoffnungsvoll, dass sich an vielen Orten bereits Initiativen und Menschen mit Ideen regten und kleine Anläufe unternahmen, diesem Ort wieder Leben und Liebenswürdigkeit zu geben. Es fanden wieder regelmäßig Kurkonzerte statt. Es wurden kleine Kunstausstellungen abgehalten und vieles mehr, wie zum Beispiel ein Vortrag über „Homöopathie im Alter“.
Er ging gerade die Treppe zum Haupteingang des Kurhauses hoch, als er sie aus der oberen Stadt daherkommen sah. Es war die Dame aus dem Laden, mit dem Zitronenfalter-Kleid, und als sie ihn sah, musste sie lachen:
„Ja, das ist ja schön, dass wir uns hier treffen. Sie gehen aber nicht auch etwa zu dem Vortrag?“
„Doch, schon. Wissen Sie, die Homöopathie ist mein Hobby. Also ich find des unglaublich, was man mit ein paar so Zuckerkügala alles bewirken kann.“
„Das denk ich allerdings auch, und die Homöopathie im Alter betrifft mich ja nun ganz besonders.“
„Nein, na Sie doch nicht. Sie mit Ihrm jugendlichen Elan sollten doch eher mal zu den Ruinen raufsteign und sich am Ausblick und der schönen Welt freun.“
„Wissen Sie was? Jetzt gehen wir erst mal in den Vortrag und dann hoch zu den Ruinen, dann sind wir in jedem Fall auf der sicheren Seite.“
„Na, das is eine gute Idee. So machen wirʼs! Freut mich sehr, bitte nach Ihnen.“
Mit einer eleganten Handbewegung ließ er die Dame die Treppe hoch vorangehen und in bester Laune betraten sie den gut gefüllten Vortragssaal. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, bevor die Türen geschlossen wurden. Sie merkten schnell, dass sich der Referent mit seinem Vortrag eher an Einsteiger in die Materie wandte und ihnen beiden nichts Neues zu bieten hatte. Höflich warteten sie bis zur Pause ab, um dann die Veranstaltung zu verlassen. Sie steuerten den Kurpark an und stiegen dann tatsächlich hinauf zu den Ruinen, die deutlich über dem Talgrund der Ölschnitz aus dem bunten Laubmischwald herausragten.
„Mensch, wissn Sie, das is so schön, dass wir zwei heut noch da rauf sind. Ich weiß gar nicht, wie lang des schon her is, dass ich des letzte Mal da herobn war. Ich denk, des müssten schon zehn Jahr sein.“
„Ach, Herr Bär, mir ist heute auch so jugendlich ums Herz, und wenn ichʼs mir recht überlege, wissen Sie was, lassen Sie uns Du zueinander sagen, ich heiße Fanny.“
„Ja gern, Fanny, ich bin der Alwin. Also ich hätt mich des jetzt nicht fragen traun, umso mehr freutʼs mich, dass es jetzt so is. Net, dass du denkst, des gängert bei mir dauernd so, nein, nein, ich bin ja schließlich auch ein verheirateter Mann, aber mit dir fühl ich mich schon ganz speziell verbunden, das hab ich schon gemerkt, wie du zur Ladentür rein bist.“
„Nun, das ging mir ähnlich heute Morgen, ich wusste nur nicht, was los war, aber so langsam kriege ich eine Ahnung.“
„Weißt, Fanny, ich fühl mich fast aweng wie ein Schulbub beim erstn Rondewuu und denk mir dauernd, jetzt muss doch mal der Hakn kommen, aber er kommt nicht. – Weißt was? Jetzt gehn wir einmal rauf auf die Mauer. Als junge Leut warn wir immer da oben gsessn und haben uns mit a paar Fläschla Wein das Feuerwerk im Kurpark angschaut. Weißt, die meiste Zeit is man so gfangen in seiner Haut, aber es gibt auch Momente, da is einem alles wurscht, also was is?“
„Wie, was is?“
„Na, gehn wir nauf?“
„Wir können es ja mal probieren.“
„Also komm mit!“
Die beiden liefen wie übermütige Jugendliche um den Hauptbau herum. An der Rückseite gab es eine Möglichkeit, auf dessen Restmauern zu steigen, und dort hievten sie sich hinauf.
„Eiei, das hab ich auch einfacher in Erinnerung, aber wir habenʼs gleich.“
Kurz darauf waren sie auch schon oben und liefen vorsichtig bis vor zu der Stelle, wo man den Ort gut überblicken konnte. Hier setzten sie sich nieder und genossen den Blick.
„Direkt schad, dass wir keinen Wein dabeihaben, weil den hätten wir uns soo verdient, außerdem balanciert sichʼs dann rückwärts leichter. Na, was sagst, is das nicht schön, da heroben?”
„Du hast völlig recht, es ist traumhaft, aber was passiert, wenn uns Menschen hier oben sehen? Am Ende halten die uns für Selbstmörder und rufen Polizei und Feuerwehr.“
„Dunnerwedder, siehst, da hab ich noch gar nicht drüber nachgedacht. Da sollten wir vielleicht doch schnell wieder runtergehn, weil heutzutag is man mit sowas wahrscheinlich schnell bei der Hand, aber einen Moment müssn wir schon noch bleibn.“
Und so schauten die zwei noch eine Zeit lang von hier oben auf die Welt hinunter und in Alwin kamen Jugenderinnerungen hoch, aber genauso sehr genoss er den Moment mit der fremden und doch so seltsam vertrauten Frau hier hoch oben über seiner kleinen Stadt.
Später gingen sie wieder hinunter und angeregt plaudernd begleitete Alwin Fanny bis zu ihrem Hotel, das sowieso auf seinem Weg lag, dann ging er nach Hause.
Es war jetzt doch recht spät geworden und Angela erkundigte sich, was denn los war, dass es so lange gedauert hatte:
„War wohl was, weilst jetz erst kommst?“
„Nein! Ich war bloß noch awengla spaziern. Das hat mir sehr gutgetan. Der Vortrag war ganz interessant, aber er hat nix wirklich Neues gebracht.“
„Du und spazierngeh, des machst du doch sonst nie. Na ja, öfter mal was Neues.“
„Jetzt sei nicht so eingschnappt. Du kannst ja das nächste Mal gern mitgehn, ich glaub, das könnt auch sehr schön sein. So, und jetz lass uns was zu Abnd essen, ich hab nämlich einen gutn Appetit.“
„Das is prima. Weißt, wir könntn ja morgen nach Bayreuth neifahrn und mal in die Eremitage schaun. Da können wir dann aweng spaziern gehn.“
„A schöne Idee!“
„Na, mei Herzala, du bist aa immer wieder für eine Überraschung gut. Da freu ich mich schon auf morgen.“
Die beiden hatten dann einen sehr schönen Sonntag miteinander, auch wenn Alwin gelegentlich in Gedanken weit weg war. Er musste an den vorangegangenen Tag denken, und immer wieder leuchteten seine Augen und er musste lächeln. Was sollte er denn als 56-Jähriger mit einer Verliebtheit. Er, der sich seit Jahrzehnten mit seiner Angela hier eingerichtet hatte und auch glücklich war, wobei doch Glück allem Anschein nach etwas Relatives war, denn so wie gestern hatte er sich schon seit bestimmt 30 Jahren nicht mehr gefühlt, und er war froh, dass er das erleben durfte. Doch wegen eines Flirts, wegen einer Kurbekanntschaft die Beziehung zu seiner Frau zu riskieren, die so lange stabil und gut war, das wollte er nicht. Und doch traf diese Frau seinen Nerv sehr direkt. Sie hatten viele Gemeinsamkeiten, gemeinsame Interessen. Er konnte mit ihr über Dinge reden, über die er mit Angela noch nie gesprochen hatte, und das alles schon nach wenigen Stunden. Eigentlich mussten die beiden sich nur in die Augen sehen und jedem war klar, was im anderen vorging. Er hatte oft davon gehört, dass es so etwas gibt und dass es nur sehr selten im Leben passiert, meistens gar nicht, doch hatte er nie eine Vorstellung davon gehabt, wie sich sowas anfühlt, und jetzt war es zum Greifen nah.
Abends ging er mit Angela noch in Bayreuth zum Italiener auf Pizza und Wein. Das machten sie gelegentlich, wenn sie in Hochstimmung waren oder etwas zu feiern hatten. Auch an diesem Abend saßen sie sich gegenüber und lächelten sich an. Sie redeten über die alltäglichen Dinge des Lebens, über ihre Freunde und philosophierten, um dann spät und zufrieden wieder nach Hause zu fahren und müde ins Bett zu fallen. Am nächsten Tag würde wieder ein Montag sein, und der Alltag würde sein Tagesgeschäft fordern.
Auch der Montag war ein Sonnentag und sie gingen mit frischem Schwung ans Werk. Alwin holte die Lieferungen in den Laden. Der Nachtlieferant stellte die fahrbare Gitterbox mit den Waren immer im Hof vor das Eisentor, wo es einen Dachüberstand gab, damit die Sachen bei Regen nicht nass werden konnten. Wenn Alwin damit fertig war, die Ware einzuräumen, nahm er sich eine Kiste und ging die Regale ab, um nach Lebensmitteln zu sehen, die das Verfallsdatum bereits überschritten hatten, oder um gammeliges Frischobst und -gemüse auszusortieren. Ware, die bis auf drei Tage an das Verfallsdatum herangekommen war, wurde mit einem Sonderpreis ausgezeichnet und vorne an der Kasse aufgebaut. Dann ließ er die Markise über dem Schaufenster herunter und sah nach, ob der Bürgersteig auch ordentlich gefegt und vom Müll der Nacht gereinigt war. Anschließend setzte er sich zu seiner Frau hinter den Tresen und sie warteten auf Kundschaft und lasen derweil die Tageszeitung.
So langsam kamen die alten Stammkunden, um sich eine Kleinigkeit zu holen, sei es eine Zeitung oder vielleicht eine Packung Kaffee mit einem Stück Kuchen für nachmittags zu Hause. Die meisten kamen, um mal aus ihren Häusern rauszukommen, ein Schwätzchen zu halten, um frische Luft zu atmen, um zu fühlen, dass sie noch lebten. Das war das Schöne an der kleinen Stadt: Jeder kannte jeden, und deshalb konnte man auch wunderbar tratschen. Die Bärs hatten schon mal überlegt, ein paar Tische und Stühle rauszustellen, doch dafür hätten sie extra Kundentoiletten gebraucht, und dieser Aufwand war ihnen zu groß. Sie wollten in ihrem Alter keine großen Anstrengungen mehr unternehmen. Hauptsache durchhalten bis zur Rente und hoffen, dass dann davon noch was übrig wäre. In den guten Zeiten konnten sie eine kleine Barschaft ansparen, die sie fest verzinst angelegt hatten. Außerdem hatte Alwin all die Jahre in eine Lebensversicherung einbezahlt, über die er mit 60 Jahren verfügen könnte. Eigentlich konnte ihnen nichts passieren im Alter. Sie hatten finanziell vorgesorgt, und das war gut so.
Auch diese Woche ging so langsam vorbei, wie jede andere Woche, doch am Mittwochnachmittag geschah etwas, das Alwin aus der Fassung brachte: Fanny kam ins Geschäft, umgeben von ihrer vergnügten Leichtigkeit und doch auch mit einem suchenden Blick. Sie erfasste die Situation sehr schnell. Angela war gerade in der Wohnung, und sie nutzte die Gelegenheit, ihn zu treffen, um ihm nahe zu sein, doch er sagte nervös:
„Grüß dich, Fanny, was machstʼn du da, äh, ich wollt sagn, schön, dich mal wieder zu sehn!“
„Ich musste einfach mal hereinspitzen“, sprach sie mit gedämpfter Stimme. „Meinst du, wir könnten uns wieder mal treffen auf ein paar Stunden? Ich fändʼs total schön, Alwin.”
Nun waren Schritte auf der Treppe zu hören. „Was darfʼs denn noch sein?“
Alwin fiel in dem Moment nichts Besseres ein und Fanny spielte mit, denn auch sie wusste, dass Alwin nicht der Mann war, der jetzt alles liegen und stehen lassen würde, um zu ihr zu kommen, und wenn es so wäre, wäre er nicht der Mann, der sie interessieren würde, und sie war nicht die Frau, die ihm das Messer auf die Brust setzte und eine Entscheidung erzwang, außerdem, wer war sie denn? Doch jemand, der für einen kurzen Moment in das Leben eines Menschen geblickt hatte und noch lange nicht alles verstehen konnte:
„Ach bitte geben Sie mir die Tageszeitung, und dann vielleicht noch ein Päckchen Salzstangen mit einer kleinen Reblaus.“
„So, bitte schön, das macht zusammen elf Euro und 37 Cent. Soll ichʼs Ihnen aweng in a Tütla packn?“
„Ach danke, es geht schon so. Also dann alles Gute für Sie, Herr Bär. Auf Wiedersehen!“
„Ade, und machen Sieʼs gut!“
Und schon schwebte Fanny über die kleine Stufe zur Straße hinunter und ging in Richtung Kurpark davon.
„Na, das war doch wieder der Zitronenfalter von neulich. Die is aber immer sehr freundlich.“
„Gell, das is dir auch aufgfalln. A sehr angenehmer Mensch.“
„Und eine interessante Frau.“
Am Unterton merkte Alwin, dass er jetzt aufpassen musste mit seiner Schwärmerei.
„Na, du wirst doch nicht aweng eifersüchtich sein? Ach Gottla nein, schau nur, jetz wird sie auch noch rot.“
Er zog sie zu sich heran und gab ihr einen Kuss auf die Wange und sie packte ihn an seinen Haaren und flüsterte:
„Alter Mistkerl!“
Am nächsten Tag, kurz vor der Mittagspause, machte sich Alwin auf den Weg. Es war die Zeit, in der er immer seine Runde drehte, denn er musste gelegentlich mal laufen, wegen seiner Bandscheiben. In Bewegung bleiben, so sagte sein Arzt, sei das Wichtigste, wenn man in die Jahre kommt, damit man möglichst unbeschadet alt werden könne. Er spürte, dass sein Arzt recht hatte.
„Also, ich zieh dann mal los, gell. Bis nacherdla!“
„Ja, tschüßla, Alwin, bis nachher, und derrenn dich nicht!“
„Ich kann mich hoffentlich grad noch beherrschen.“
Und schon war er weg mit seinem bunten Kunststoffjogginganzug und den viel zu weißen Laufschuhen, die er, man höre und staune, bei Aldi erstanden hatte für nur zwölf Euro. Auf dem Kopf trug er eine leichte bunte Wollmütze, die ihm sehr angenehm war, seit sein Haupthaar ihm nicht mehr die Wärme geben konnte, die er im Herbst brauchte. Bevor er aus der Türe ging, steckte er sich noch einen Apfel ein, den er aus Gewohnheit und Überzeugung unterwegs zu essen pflegte. Er wählte den Weg üblicherweise so, dass er möglichst lange am Fluss entlanglief, rannte zuerst die Hauptstraße bis zur Sparkasse hinunter, dann über die Brücke und am alten Grandhotel vorbei den Fußweg am Wasser, dann durch den Kurpark, den Pfad an der Ölschnitz entlang bis hinauf nach Stein, einem hübsch gelegenen Örtchen mit einer alten Burgkapelle, dem einzigen Überrest einer einst stolzen Burganlage, und wieder zurück. An diesem Tag aber war er gerade am kleinen Kiosk unterhalb der Kolonnaden vorbeigelaufen, als er auf dem Kleingolfplatz Fanny entdeckte und abschwenkte. Sie spielte mit zwei Damen, die ihm unbekannt waren, also vermutlich auch Kurgäste, als sie ihn bemerkte. Mit einem freudigen Lachen winkte sie ihm zu und lief ihm entgegen:
„Ja hallo, Alwin, was machst denn du um diese Zeit hier im Kurpark?“
„Grüß dich, Fanny, weißt, ab und zu muss ich aweng eine Runde laufn, dass ich nicht aus der Übung komm. Kommst awengala mit?“
„Ach, warum eigentlich nicht.“
Sie ging zu ihren Begleiterinnen und entschuldigte sich, dann kam sie zurück und hakte sich unter. „Na, wie gehtʼs dir? Hast du noch Stress gekriegt wegen gestern?“
„Ach woher. Weißt, die Angela sieht das alles nicht so eng. Wir tun schon mal aweng flörtn, aber letztlich wissn wir alle zwei immer, wo wir hinghörn.“
„Meinst du wirklich, dass das immer so einfach ist? Und was ist, wenn dann doch mal mehr draus wird? Kann man das denn wirklich so ausschließen? Also ich weiß nicht.“
Bei diesen Worten wurde ihm heiß, denn er spürte nur zu gut, dass er weit weg davon war, über den Dingen zu stehen.
„Na ja, du hast schon recht mit dem, wasd sagst. Wenn ich 20 Jahr jünger wär und nicht verheiert, dann wüsst ich genau, was ich jetzt machen tät. Von dir bin ich fasziniert und mit dir kann ich über alles reden und fühl mich einfach rundrum wohl. Aber die Umständ sind halt doch awengerla anders.“
„Ach Alwin ...“, seufzte Fanny und ein endloser Moment der Stille folgte. Als sie sich wieder ein wenig gefangen hatte, fragte sie: „Was hat dich eigentlich in die Gegend verschlagen?“
„Ach weißt, ich bin im Nachbarort, in Goldkronach, geborn und war auch nie groß woanders wie da in der Ecke. Ich hab mich auch immer wohl gfühlt hier und wollt nie woanders hin. Mit 25 hab ich dann mei Frau kennenglernt. Der Angela ihre Eltern haben den kleinen Laden schon vor uns betrieben, und so kamʼs, dass wir schon immer auch a bissla mit ausgholfen haben, wenn Not am Mann war, und es gab Zeiten, da lief der Laden richtig gut. Das is allerdings schon lang her. In den 70er Jahren kam dann der große Edeka-Einkaufsmarkt, der eine gewaltige Konkurrenz für uns war. Doch für die Kurgäste waren wir immer noch interessanter, weil wir zu den meisten Hotels und Pensionen die kürzere Entfernung hatten und haben und die Gäste meist ohne eigenes Fahrzeug mit Bahn oder Bus angereist waren. Doch seit der Grenzöffnung kommt der alte Kundenstamm, der vorwiegend aus recht betagten Berlinern bestand, nimmer so weit runter bis nach Nordbayern, wo die doch jetzt die schönsten Erholungsgebiete direkt vor der Nase haben. Da isses dann schön langsam zappenduster geworden in Berneck.“
Mit nachdenklichem Blick ging Alwin neben Fanny her und sie wusste darauf auch nichts zu erwidern. Nach einiger Zeit fragte Alwin:
„Und du? Was machst du sonst so, wenn du nicht grad in Bad Berneck auf Kur bist?“
Sie räusperte sich, holte tief Luft und fing an:
„Also, ich lebe in Detmold und hab den Beruf einer Krankengymnastin gelernt, den ich auch bis 2001 ausgeübt habe. Ab da konnte ich nicht mehr, weil ich mehr und mehr mit Rheuma zu kämpfen hatte, und das ist bekanntlich meinem Beruf nicht gerade zuträglich. Ich wurde folglich früh berentet und halte mich deswegen auch hier in Berneck zur Kur auf. Herr Kneipp hatte ja gute Ideen für Menschen wie mich.“
„Ja, und ...“, Alwin druckste herum, „... ich mein, hast du Familie?“
Fanny musste lachen, ein freundliches Lachen, und sagte:
„Nein, es hat sich nicht ergeben. Ich war wohl einmal verheiratet, aber nach zehn Ehejahren hielten wir beide es für das Beste, wieder getrennte Wege zu gehen. Keiner konnte etwas dafür. Wir passten einfach nicht zueinander. Seitdem lebe ich mehr oder weniger alleine.“
„Aha ...“
Wieder entstand eine Pause
„Und da hast du nicht das Gefühl, dass dir was fehlt? Ich mein jetzt, wenn du so abends allein daheim sitzt, dann stell ich mir das sehr einsam vor.“
„Ja, das kommt schon manchmal vor, aber wenn ich zurückdenke an die Zeit zu zweit, dann ziehe ich das Alleinsein der Zweisamkeit vor, das heißt – manchmal kommt man schon ins Grübeln, ob es nicht doch auch Zweierbeziehungen geben könnte, die harmonisch und schön sind ...“
„Also ich glaub, ich könntʼs nicht ertragen, allein zu sein, aber wer weiß, wieʼs wär, wenn man sich dran gwöhnt hätt.“
°°°
Auf der B2 von Bayreuth in nördlicher Richtung sah man eines dieser dreirädrigen Elektroautos fahren, in beziehungsweise auf dem zwei erwachsene Männer unterwegs waren. Es handelte sich bei den beiden um Hauptkommissar Horst Gelch und Kommissar Georg Hammon auf dem Weg zu einem Tatort. Da das Dienstauto gerade in Reparatur war, benutzten sie das Privatfahrzeug von Kommissar Hammon, der sehr ökologisch eingestellt war und deshalb ein E-Mobil sein eigen nannte. Sie saßen Rücken an Rücken, wobei der Hintermann seine Beine aus der Karosserie heraushängen lassen musste, da hinten eigentlich nur ein kleiner Einkauf beziehungsweise zur Not ein Kind Platz fand.
Gelch maulte:
„Na, bis wir da heut rüberkommen, is die Leich komplett verwest.“
„Dann fahrn wir halt es nächste Mal mit deinem Fahrrädla, wennst meinst, dass das schneller geht. Ich findʼs mit meim Auto sehr angenehm, weil man sich ohne Motorgeräusch wenigstens unterhalten kann.“
An der langen Steigung des Bindlacher Berges hatte sich hinter ihnen bereits eine ansehnliche Autoschlange gebildet, und die Fahrer wurden langsam ungeduldig und begannen zu hupen.
„So, jetzt langtʼs! Halt mal an!”
Gelch schnappte sich seine „Stop-Kelle“, hüpfte aus der Heckablage und hielt die nachfolgenden Autos an. Der erste Fahrer kurbelte schon das Fenster herunter und schrie hinaus:
„Könnt ihr net mit euerm Seifnkistla woanders rumschleichn als wie auf einer Bundesstraß?! Und dass du uns mit deinem Spielzeuch noch anhältst, das is ja wohl der Gipfel!!“
„Moment! Führerschein, Fahrzeugschein, Warndreieck und Verbandskasten, das ist eine Verkehrskontrolln.“
„Was is los? Ich glaub, du spinnst!! Schau, dassd auf die Seitn kommst, bei meim Wagn läuft nämlich der teuere Sprit durch!“
Gelch holte mit einem breiten Grinsen aus seiner Jackentasche seinen Polizeiausweis heraus. Dem Fahrer fielen fast die Augen aus dem Kopf:
„Das darf ja nicht wahr sein! Gerda, das sind fei Polizistn. Na dann, bittschön!“
Er holte alle geforderten Dinge heran und fragte noch:
„Kriegt ihr wirklich so wenig Steuern von uns, dass ihr uns mit sowas aufn Wecker gehn müsst?“
„Dann stell ich Ihnen noch einen Bußgeldbescheid wegen Nötigung aus. Sind Sie mit 60 Euro einverstanden?“
„Versteh schon. So wirds auch irgendwann ein Corsa. Schickn Sie mir eine Rechnung, so viel Geld hab ich jetz nicht einsteckn, wir sin nämlich kleine Leut.“
„Ich grein gleich.“
Gelch lief zurück zum „Einsatzwagen“, schwang sich mit einer lässigen Bewegung auf seinen Platz und sie setzten ihre Fahrt fort.
„Na, jetz warst aber ganz schön arg, oder?“
„Wieso? (singt) … Rücksicht – niemand hat das Wort gekannt ...“
Sie waren jetzt endlich über den Berg und nun ging es in atemberaubender Schussfahrt rollend hinab. Gelch drehte sich immer wieder mit angsterfülltem Blick in Fahrtrichtung um und rief gegen den Wind:
„Mensch, Georg, fahr nicht so wild!! Das bissla Zeit haben wir jetz auch noch!“
„Wieso? Is doch alles ganz entspannt. Der Renner is zuglassn bis 95 km/h und jetz fahrn wir grad mal 90, also tu dich nicht ab!“
Schließlich erreichten sie das kleine „Kurbad am Tor zum Fichtelgebirge“, wie Bad Berneck sich so gerne nennt, allerdings lag die Fundstelle der Leiche hoch über dem Talgrund und so kam es, dass Gelch auch noch schieben musste. Als sie ankamen, waren die Kollegen vom Erkennungsdienst mit ihrer Arbeit schon fast fertig und brachen in schallendes Gelächter aus, als sie die beiden sahen:
„Bei euch wird wohl gspart?“
„Hahaha!“, entgegnete Gelch sehr sparsam und schweißtriefend.
Johann Feiler, der Leiter des Trupps vom Erkennungsdienst, kam auf die beiden zu und berichtete:
„Also Horst, pass auf! Zur Leich: Es is eigentlich nimmer viel da, aber doch ein paar schöne Sachen, zum Beispiel ein Schädel mit diversen Implantaten und zwei Brücken im Gebiss und, ganz interessant, mit einem Sprung. Sprich, da war Gewalt im Spiel.“
„Ach was?!“
„Ach, und ein Ring und eine Kette aus Gold warn auch noch dran. Dem Verwesungsgrad nach liegt die schon mindestens zwei-drei Jahr da rum, also viel Spaß!“
„Danke, Johann, bist ein Guter!“
Oberkommissar Gelch erkundigte sich noch:
„Wer hat denn die Leich überhaupt gfundn?“
„Ein Spaziergänger mit Hund. Wir haben die Personalien.“
Nach einem flüchtigen Blick auf den sorgsam eingetüteten Haufen Knochen und das ausgehobene Erdloch drehten die beiden um und gingen zu ihrem Fahrzeug zurück:
„Jetzt schaun wir uns mal im Ort um.“
„Gute Idee!“
Sie rasten zu Tal, am alten, maroden Kurhotel vorbei und ins schmucke kleine Zentrum, wo sie vor einem Café anhielten und sich an einen Tisch an der Straße setzten.
„Machen wir mal einen Hirnsturm: Was wissen wir denn? Erstens: Die Frau liegt scho seit zirka zwei bis drei Jahr da oben rum. Zweitens: Sie hat an eingschlagnen Schädel, das kann durch gewollte Gewalteinwirkung entstandn sein, also Mord, und anscheinend hat der Täter ka Interesse an Wertsachen ghabt, weil sie ihrn ganzn Schmuck noch getragn hat ... Könnt auch ein Unfall gwesn sei ...“
„Und warum sollt jemand ein Unfallopfer eingrabn?“
„Gute Frage ... vielleicht war er überfordert, oder jemand hat Angst ghabt, dass man sein Gschichtla net glaubt, oder ...“
„Ich mein, man müsst als Erstes mal rausfinden, um wen sichʼs da handelt, das heißt: verstärkte Fahndung in der Region, die Fundstücke in die Zeitung, Vermisstenlisten durchsuchen, aber auch bundesweit suchen!“
„Jawoll – ich denk, da können wir uns jetz erst mal zwei Bier bestelln, Kollege.“
„Das wird das Gscheidste sein.“
Zur Bedienung gewandt rief er:
„Ach, Sie, hallo, wir hättn gern zwei Bier!“
Zufrieden lehnten sich die beiden zurück, irgendwo am Platz spielte ein Straßenmusikant, und als die Biere dann eintrafen, war das Glück perfekt. Die wenigen Menschen, die an diesem sonnigen Mittwoch Mittag hier am Marktplatz vorbeigingen, staunten mehr über das seltsame Fahrzeug, als dass sie sich über die beiden Herren Gedanken gemacht hätten, die danebensaßen und sich angeregt fröhlich unterhielten.
°°°
Am nächsten Morgen stand es groß in der Zeitung, dass bei Bad Berneck im Wald, nahe Bärnreuth, eine stark verweste Leiche gefunden worden sei und die Bevölkerung um Mithilfe gebeten wurde. Es gab noch ein paar Fotos mit den Schmuckstücken, einer Kette und einem Ring. Auch wurde ein Röntgenbild der gut erhaltenen Zähne des gefundenen Schädels angefertigt, und dann wurden deutschlandweit Zahnärzte angehalten, ihre Karteien nach diesem Gebiss durchzusehen.
Gelch saß, in den Zeitungsartikel vertieft, an seinem Schreibtisch, als der Kollege Vogler ins Büro kam:
„Also Horst, unser Fahndung is bis jetzt tote Hose. Ich glaub fast, dass wir da bundesweit suchen müssen.“
„Na, freilich! Des hättst ja scho längst machen können. Als wennʼs des erste Mal passiern tät ...“
„Ja, ja – Besserwisser ...“
Durch das offene Fenster konnte man die Glocken der Stadtkirche hören, die jetzt gewaltig loslegten, um den Mittag einzuläuten. Erleichtert rief Vogler:
„Hey, zwölfa, komm, gemmer in die Kantine!“
„Gute Idee, pack merʼs!“
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Im Laden der Bärs sah es ziemlich verwahrlost aus. In den letzten zweieinhalb Jahren war es ständig bergab gegangen. Die beiden wirkten seither apathisch und bemüht, noch irgendwie den Schein zu wahren. Kunden und Freunde hatten sich immer mehr zurückgezogen. Das Ehepaar Bär redete nur noch das Notwendigste miteinander. Sie waren immer noch fassungslos, wie alles so weit kommen konnte, aber sie waren auch völlig hilflos und Gefangene ihrer Situation. Oft hatten sie darüber nachgedacht, wie man sich verhalten sollte, ob man wegziehen sollte und ein neues Leben anfangen, aber wie und wovon? Sie waren beide Mitte 50 und kannten nur ihr kleines Städtchen und ihren Laden. Und sie waren sich sicher, dass man woanders die Schuld nicht würde abschütteln können und dass ihre Alpträume sie überallhin verfolgen würden. Sich selber zu stellen hatten sie auch nicht den Mut, und so gab es in all der Zeit nur die Verzweiflung über die Schuld, die an ihnen fraß und ihnen langsam die Luft zum Atmen nahm. So vegetierten sie nebeneinander her, nachts schweißnass von ihren Träumen, tags im Laden ereignislos die Zeit fristend, bis zu dem Tag, an dem bekannt wurde, dass man sie gefunden hatte.
Angela saß bleich mit der Zeitung am Tisch in der Küche, als Alwin hereinkam und fragte:
„Hast es schon gsehn?“
„Ja.“
Darauf Angela mit flehendem Blick:
„Was solln wir denn jetzt machen?!!“
Alwin, starr und ausdruckslos blickend, erwiderte ohne Kraft:
„Was weiß ich!“
„Aber wir müssen doch irgendwas machen! Wir können doch nicht weiter so dahockn und abwartn. Auf was warten wir denn? Auf was!!!?“
„Ich wart auf nix. Ich hab immer bloß das Bild vor Augen, wie wir sie in die Grube gworfn haben und wie sie dann aus dem Loch noch rausgschaut hat, der starre, erschrockene Blick von den toten Augn ... und dann hammer sie zugscharrt ... ich wart auf nix, auf nix!!“
„Alwin, hör auf! Hör auf!! Ich kann nimmer, ich kann schon lang nimmer. Vielleicht solltn wir weggehn?“