Kreuzweg der Raben - Andrzej Sapkowski - E-Book

Kreuzweg der Raben E-Book

Andrzej Sapkowski

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Das größte Fantasy-Epos unserer Zeit! Nach den harten Jahren der Ausbildung macht der junge Geralt seine ersten Schritte als Hexer und muss sich schon bald tödlichen Gefahren stellen. Im Land Kaedwen beginnt sein Weg, doch Geralt ist nicht allein. Ihm zur Seite steht sein Mentor Preston Holt, der Geralt vor dem Tod rettet – aber dann zum Geächteten wird. Wenn das Unheil naht, ist es Zeit, den Hexer zu rufen Bewaffnet mit zwei Runenschwertern kämpft Geralt fortan im Zeichen des Kodex, für das ungeschriebene Gesetz der Hexer. Gegen die Brut der Ungeheuer, vor denen die Menschheit erzittert. … Der Großmeister der Fantasy kehrt zurück in die Jugendjahre von Geralt, Die schöne, geheimnisvolle Zauberin Vrai Natteraven scheint seine wichtigste Verbündete zu werden, doch die Intrigen, in die sie verwickelt ist, holen auch Geralt ein. Schwer verwundet, muss er sich dem Bösen stellen. Das große Prequel zur weltweit erfolgreichsten Fantasy-Reihe

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 342

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

DER WITCHER – SEINE ERSTE SCHLACHT

 

Nach den harten Jahren der Ausbildung macht der junge Geralt seine ersten Schritte als Hexer und muss sich schon bald tödlichen Gefahren stellen. Bewaffnet mit zwei Runenschwertern kämpft er fortan im Zeichen des Kodex für das ungeschriebene Gesetz der Hexer.

Wie alles begann …

Das große Prequel zur weltweit erfolgreichsten Fantasy-Serie

 

 

Von Andrzej Sapkowski sind bei dtv erschienen:

 

Die Abenteuer des jungen Witchers

Der letzte Wunsch

Zeit des Sturms

Das Schwert der Vorsehung

 

Die Witcher-Saga

Das Erbe der Elfen

Zeit der Verachtung

Feuertaufe

Der Schwalbenturm

Die Dame vom See

Kreuzweg der Raben

 

Geschichten aus der Welt des Witchers

Etwas endet, etwas beginnt

 

Das Universum des Andrzej Sapkowski

Alain T. Puysségur: The Witcher. Der Codex

 

Die Narrenturm-Trilogie

Narrenturm

Gottesstreiter

Lux perpetua

Andrzej Sapkowski

Kreuzweg der Raben

The Witcher

Roman

Aus dem Polnischenvon Erik Simon

Sturmwind wütet gespenstisch, ringsum schreckliches Dunkel,

In der Finsternis Blutsäufer lauern.

Unheil kommt immer näher, Zeit, den Hexer zu rufen –

Komm zu Hilfe, rette uns, Hexer!

 

In der Ferne als Echo tönt der Schrei eines Opfers,

Ringsum Nacht nur, eisig und finster.

Rotes Blut auf den Steinen, auf den Stämmen der Birken,

Doch da ist kein Hexer, kein Hexer.

 

Anonyme Ballade, ca. 1150 p.R.

 

 

Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretungen […].

 

Psalm 25;7

Das Land Kaedwen liegt eingezwängt zwischen den Drachenbergen im Norden, den Blauen Bergen im Osten und undurchdringlicher Wildnis im Westen. Dort herrschen Erbkönige aus dem Geschlecht der Tropp. Als Hauptstadt diente ihnen ursprünglich das uralte Ban Ard, doch im Jahre 1130post Resurrecionem schenkte König Dagread die Stadt den Zauberern als Schule. Zur neuen Hauptstadt ernannte er das mitten im Land liegende Ard Carraigh.

Die anderen wichtigsten Städte von Kaedwen sind Ban Fearg, Daevon, Ban Fillim und Ban Gleán.

Das Wappen der Tropp und des ganzen Landes ist seit unvordenklichen Zeiten das Einhorn – ein vergoldetes schwarzes Einhorn, das sich aufbäumt.

Rings um die königlichen Ländereien liegen zugehörige Randgebiete, die man Marken nennt. Sie werden von Markgrafen regiert – Grafen, die ihr Amt erblich oder vom König ernannt verwalten. Diese Länder werden so bezeichnet, weil sie gleichsam als vorderste Wache dienen und immer weiter vorgeschoben werden. Denn sie sind dazu bestimmt, den Elfen neue Ländereien für Kaedwen abzuringen, die Grenze voranzutreiben und ihre Markzeichen immer weiter vorzurücken.

Diese Marken sind: die Westliche, die Obere, die Niedere und die Seenmark.

 

Baldwin Adovardo, Regni Caedvenie Nova Descriptio

Das erste Kapitel

Geralt konnte sich beim besten Willen nicht auf das Geschwätz des Mannes vor ihm konzentrieren. Seine ganze Aufmerksamkeit wurde von einer großen ausgestopften Krähe auf dem Tisch des Dorfrichters in Anspruch genommen. Die Krähe, die den Hexer mit ihren Glasaugen unerbittlich anzustarren schien, stand auf einem Postament aus grün angestrichenem Lehm. Sie sah unangenehm lebendig aus.

»Ich wiederhole die Frage«, zischte Dorfrichter Bulava. »Obwohl das nicht meine Art ist. Worum ging es wirklich? Warum hast du diesen Deserteur in tausend Stücke zerhackt? Hattest du eine Rechnung mit ihm offen? Ich glaube dir nicht, dass du dem Bauern helfen und die jungfräuliche Ehre seiner Tochter beschützen wolltest.«

Die Krähe glotzte weiter. Geralt bewegte die hinter dem Rücken gefesselten Hände, um die Blutzufuhr wieder in Gang zu bringen. Der Strick schnitt ihm schmerzhaft in die Gelenke. In seinem Rücken hörte er den Bauernstrolch schwer atmen. Der vierschrötige Kerl stand direkt hinter ihm, und Geralt war sicher, dass er nur auf einen Vorwand wartete, um ihm wieder die Faust gegen das Ohr zu hämmern.

Bulava schniefte, fläzte sich in den Sessel und reckte den Bauch mit der sich darüber spannenden Samtjacke vor. Geralt betrachtete die Flecken auf der Jacke und konnte erahnen, was der Dorfrichter heute, gestern und vorgestern gegessen hatte. Und dass mindestens zu einer dieser Mahlzeiten Tomatensoße gehört hatte.

»Ich dachte«, sagte Bulava schließlich, »dass mir niemals wieder einer von euch Hexern begegnen würde. Seit Jahren ist keiner mehr gesehen worden. Man sagte, dass nach dem Jahr vierundneunzig kaum einer am Leben geblieben sei, dort in den Bergen. Dann hieß es, dass auch dieser Rest schon ausgestorben sei, durch Hunger oder Seuchen. Und sieh an, plötzlich kreuzt so einer ausgerechnet in meinem Dorf auf. Und das Erste, was er macht, ist, einen Mord zu begehen. Doch der auf frischer Tat Ertappte besitzt nun die Dreistigkeit, sich auf dubiose Erlasse zu berufen.«

»Und zwar auf den persönlichen Erlass aus dem Jahre 1150«, krächzte Geralt, nachdem er sich geräuspert hatte, »von Dagread, König von Kaedwen und den Grenzmarken: Den Hexern wird die freie Ausübung ihres Berufs auf dem Gebiet des Königreichs und der Marken gestattet, und daher sind sie ausgenommen von der Jurisdiktion der örtlichen Gewalten …«

»Erstens«, fiel ihm Bulava ins Wort, »ist es bald ein halbes Jahrhundert her, dass Dagread das Zeitliche gesegnet hat, und mit ihm seine persönlichen selbstherrschaftlichen Erlasse. Zweitens wird mir kein König irgendetwas von irgendetwas ausnehmen, denn der König befindet sich in Ard Carraigh, weit weg von hier. Und hier herrscht die örtliche Gewalt. Also ich. Und drittens bist du, Freundchen, nicht wegen der Ausübung deines Berufes verhaftet worden, sondern wegen Mordes. Werwölfe zu fangen und Waldschrate zu töten, das ist deine Aufgabe als Hexer. Aber Menschen abzuschlachten, dazu hat dich kein König ermächtigt.«

»Ich bin zur Verteidigung …«

»Daryl!«

Der Strolch verpasste Geralt gehorsam eins mit der Faust, diesmal auf den Hinterkopf.

»Deine Wiederholungen« – der Dorfrichter blickte zur Decke – »gehen mir auf die Nerven. Und weißt du, wozu es führt, wenn ich die Nerven verliere? Ein so ruhiger Mensch wie ich?«

Die Krähe glotzte. Geralt schwieg.

»Du«, sagte Bulava schließlich, »bist kein Hexer. Du bist ein Fehler. Du musst korrigiert werden. Man sollte dich in diesen Hexersitz in den Bergen zurückschicken, von dem die Leute reden. Ich weiß nicht, wie es bei euch zugeht. Vielleicht wird so ein Ausschuss wie du in alle Einzelteile zerlegt und zur Herstellung von neuen, besseren Hexern verwendet. Denn so machen sie das doch dort bei euch, oder? Aus verschiedenen Menschenteilen werden die Hexer zusammengesetzt, zusammengenäht oder … Man munkelt so einiges. Ich werde dich in die Berge schicken, hinter den Gwenllech. In einer Woche.«

Geralt schwieg.

»Du fragst gar nicht, warum genau in einer Woche?« Der Richter bleckte die gelben Zähne. »Du berufst dich gern auf Erlasse und Rechte. Ich bin auch für das geltende Recht. Und das besagt, dass Zugereiste hier in der Gemeinde keine Waffen tragen dürfen. Doch du bist mit Waffen gekommen.«

Geralt wollte einwenden, dass er nicht freiwillig gekommen war, sondern dass man ihn hierher verschleppt hatte. Doch er kam nicht dazu.

»Die Strafe«, verkündete Bulava, »sind zwanzig Peitschenhiebe. Vollstrecken wird sie der hier anwesende Daryl, und der hat eine starke Hand. Früher als in einer Woche kommst du nicht wieder auf die Füße. Na los, greift ihn euch. Auf den Dorfplatz mit ihm, bindet ihn an den Pfahl …«

»Holla, holla!« Ein Mann in einem graubraunen, am unteren Rand sehr schmutzigen Umhang gebot den Strolchen Einhalt. »Was hast du es so eilig, Bulava, mit dem Pfahl und der Peitsche? Willst du mir den Hexer zuschanden machen? Nichts da. Ich brauche den Hexer beim Bau heil und gesund.«

Der Richter stemmte die Arme in die Seiten. »Und was mischst du dich hier in den Strafvollzug ein, Blaufall? Mir reicht es, dass du in einem fort Leute aus dem Dorf zum Bau wegholst. Aber in meine Jurisdiktion mischst du dich nicht ein, die geht dich nichts an. Das Verbrechen muss bestraft werden …«

»Es handelt sich um kein Verbrechen«, unterbrach Blaufall ihn. »Hier liegt kein Gesetzesverstoß vor, sondern Notwehr und Hilfeleistung. Nun zieh keinen Flunsch, ich habe hier nämlich einen Zeugen. Bitte, Landmann. Na, keine Angst. Erzähl uns, was du gesehen hast.«

Geralt erkannte den Bauern. Es war genau der, den er tags zuvor vor dem Räuber gerettet hatte und der in den Wald gerannt war, statt sich zu bedanken. Der Vater des Mädchens, das er halbnackt in Erinnerung hatte.

»Ich bezeuge …«, stotterte der Bauer und zeigte mit dem Finger auf Geralt. »Ich bezeuge mit meinem Wort, dass dieser junge Mann mir gegen die Räuber zu Hilfe gekommen ist … Mir meine Habe bewahrt und meine Tochter vor der Schändung gerettet hat … Die Unschuldige aus den Händen der Verbrecher befreit …«

»Und jener Deserteur«, soufflierte ihm Blaufall, »hat sich mit einer Axt auf ihn gestürzt. Der junge Mann hat sich nur verteidigt. Notwehr! Bestätige, Landmann, dass es so war.«

»So war es … Genau so! Herr, dieser junge Mann ist unschuldig!« Der Bauer war bleich und sprach unnatürlich laut. »Herr! Lasst ihn frei, ich bitte Euch. Und hier … Bitte, nehmt … Als Gebühr, hmm … Vielleicht hat es Kosten oder Einbußen gegeben … Die will ich gerne begleichen …«

Mit einer tiefen Verbeugung überreichte der Bauer dem Dorfrichter einen kleinen Geldbeutel. Bulava steckte ihn rasch in seine Pluderhose, so geschickt, dass der Beutel nicht einmal klimperte.

»Notwehr!«, schnaubte er. »Hat einen Menschen mit dem Schwert zerhäckselt. Ein unschuldiger junger Mann … Also, den hätte ich …«

Sie gingen auf den Dorfplatz hinaus. Die Strolche stießen Geralt nach draußen, ohne ihm die Hände loszubinden.

»Und du, Blaufall?«, wollte der Schulze wissen. »Was hat dich denn geritten, dass du mir sogar einen Zeugen anschleppst? Brauchst du den Hexer so dringend?«

»Weißt du es denn nicht? Wir bauen eine Straße, die Große Straße, von Ard Carraigh durch die Wälder bis nach Hengfors soll sie führen. Und das wird nicht bloß irgendein Weg, sondern eine richtige Landstraße, fest und eben, mit Bohlen und Faschinen bedeckt, damit Wagen und Gespanne darauf fahren können. Das ist eine wichtige Sache, die Große Straße, dort wird ein reger Handel entlangfließen, aus unserer Gegend, meine ich, mit dem Norden. Es heißt, der König selbst hat befohlen, dass es zügig vorangehen soll. Aber es gibt Ungeheuer in den Wäldern und Sümpfen, alle naselang verlieren wir einen Arbeiter, den ein Monster getötet oder verschleppt hat.«

»Und seit wann scherst du dich um die Arbeiter? Du hast immer gesagt, dass sie nicht wichtig sind. Ist einer weg, findet sich ein anderer.«

»Die Arbeiter sind mir schnuppe, weil die meisten aus dem Scharwerk sind. Aber manchmal erledigt mir so ein Ungeheuer einen Brigadier, und das bringt mir die Arbeit durcheinander, der gesamte Zeitplan geht mir in die Binsen. Ach, was soll ich sagen. Ich brauche den Hexer; wenn ich in Verzug komme, geht nicht nur die Prämie flöten, ha, sie schicken mir auch noch die Kontrolle. Und eine Kontrolle …«

»Findet immer etwas.« Bulava nickte verständnisvoll. »Da ist unter der Hand verkauftes Material, da ist der Kostenanschlag überhöht, da …«

»Schweif nicht ab.« Blaufall verzog das Gesicht. »Und den Hexer lass sofort frei, unverzüglich, ich nehme ihn gleich mit auf die Baustelle … Was hast du … Was ist da los?«

»Leute vom Wachposten.« Der Richter schirmte die Augen mit der Hand ab. »Herr Carleton mit seiner Truppe.«

Ein gutes Dutzend Reiter kam über den Dorfplatz galoppiert, wobei sie ordentlich Staub aufwirbelten und die Hühner aufschreckten. Gewappnet. Auffallend bunt und ziemlich lumpig gekleidet. Nur zwei an der Spitze sahen eleganter aus. Der Anführer, schnurrbärtig, in einem elchledernen Wams, mit vergoldetem Wehrgehänge, an der Kappe einen Busch von Straußenfedern. Und ein langhaariger Elf mit einem Stirnband und in der grünen Uniform eines Kundschafters.

»Herr Rittmeister Reisz Carleton«, grüßte Bulava und ging ihm entgegen. »Seid gegrüßt, seid gegrüßt. Was verschafft mir die Ehre?«

Rittmeister Reisz Carleton beugte sich im Sattel zur Seite und spuckte aus. Dann gab er dem Kundschafter ein Zeichen. Der Elf ritt zu einem Türpfosten mit einer Querlatte und warf geschickt einen Strick mit einer Schlinge am Ende durch die Öffnung darüber.

»Oho.« Bulava stemmte die Hände in die Seiten und sah sich um, ob seine Strolche hinter ihm standen. »Anscheinend ist der Herr Rittmeister in mein Dörfchen gekommen, um jemanden aufzuhängen. Ach, da sehe ich ja auch, wem heute der Strick blüht. Ich seh’s, ich seh’s, dort die beiden mit den Fesseln … Ha, da hat der Herr Rittmeister die Deserteure aus seinem Wachposten erwischt! Die, die mir hier in den Wäldern Bauern und Mädchen überfallen haben?«

Rittmeister Reisz Carleton zwirbelte den Schnurrbart. »Die aufzuhängen, fällt mir gar nicht ein. Sie werden beide Spießruten laufen. Damit sie sich’s merken. Und fertig. Ich habe zu wenig Leute, um sie wegen allem Möglichen aufzuhängen. Und sie mir von jedem Dahergelaufenen straflos ermorden zu lassen.«

Der Rittmeister reckte sich im Sattel und hob die Stimme, damit ihn nicht nur der Schulze hörte, sondern auch die Bauernstrolche, Blaufall, dessen Knechte und die kleine Ansammlung von Dörflern, die bereits zusammengekommen war.

»Wofür sollte ich meine Soldaten bestrafen? Wofür? Für unerlaubte Entfernung? Dafür, dass sie ein Mädchen durchbumsen wollten? Wir sind doch hier mit unserem Wachposten wie am Ende der Welt, wie in der Verbannung, wie zur Strafe. Hier kriegt man weder Bier noch Weiber … Wen wundert’s, dass die Jungs gelegentlich durchgehen und sich eine greifen … Denn warum, zum Teufel, treiben sich eure Weiber im Walde rum? Und der hier anwesende Landmann, was hatte der ausgerechnet dort mit diesem Fräuleinchen zu schaffen, konnte er sie nicht zu Hause lassen? Was soll man sich da über die Jungs wundern, wenn sie …? Ich billige das nicht! Ich billige es nicht, aber ich kann es verstehen! Herr Aelvarr? Fertig dort?«

»Fertig, Rittmeister.«

»Dann her mit diesem Hexer, Bulava. Er hat mir einen Soldaten umgebracht, er wird hängen. Man muss ein mahnendes Beispiel bringen. Und schneidet ihn nicht ab, Richter, er soll hängen bleiben, den anderen zur Warnung.«

Blaufall trat vor, als wolle er etwas sagen, überlegte es sich aber anders. Die Strolche packten Geralt, aber noch immer unsicher. Zu Recht, wie sich zeigte.

Plötzlich wurde es merkwürdig still. Und es schien ein kalter Hauch zu wehen.

Hinter den Scheunen trat gemächlich ein Rappe auf den Dorfplatz hervor, schwarz wie Pech. Er trug einen weißhaarigen Reiter in einem schwarzen Lederwams, das an den Schultern mit silbernen Nieten besetzt war. Über der rechten Schulter des Reiters ragten die Griffe von zwei Schwertern empor.

Gemächlich, geradezu graziös, wich der Rappe den Dörflern und dem Richter aus. Vor der Kavallerie von Rittmeister Carleton machte er halt.

Einen Moment lang herrschte Stille. Dann ruckte der Rappe mit dem Kopf. Die Ringe der Gebissstange klirrten.

»Bulava«, sagte der weißhaarige Reiter bedrohlich leise. »Lass unverzüglich den jungen Hexer frei. Gib ihm Pferd, Waffen und Habe zurück. Augenblicklich!«

»Ja … «, krächzte der Dorfrichter. »Jawohl, Herr. Sofort.«

»Herr Rittmeister Carleton.« Der Reiter deutete eine Verbeugung an. »Salut.«

»Herr Hexer Preston Holt.« Reisz Carleton tippte an die Krempe seiner Kappe. »Salut.«

»Der Herr Rittmeister« – der Reiter hob die Stimme – »wird freundlicherweise diesen Elf, seinen Strick und den Rest seiner Leute verschwinden lassen. Ihr seid hier nicht mehr vonnöten. Die heutige Hinrichtung ist abgesagt.«

»Wirklich?« Der Rittmeister straffte sich im Sattel, legte die Hand auf den Schwertkorb. »Seid Ihr Euch dessen so sicher, Herr Hexer?«

»Ja, ich bin mir dessen sicher. Gehabt Euch wohl. Bulava, hat der junge Mann seine Sachen zurückbekommen?«

»Du Hurensohn!«, brüllte plötzlich einer von Carletons Berittenen, wobei er das Schwert aus der Scheide riss und das Pferd vorantrieb. »Dir werde ich …«

Er sprach nicht zu Ende. Der Preston Holt genannte Reiter hob eine Hand und machte eine knappe Geste. Die Luft begann zu heulen und zu pfeifen, die Dörfler krümmten sich und hielten sich die Ohren zu. Der Berittene schrie auf, wurde blitzartig aus dem Sattel geschleudert und stürzte geradewegs vor die Pferde seiner Kameraden. Die Tiere scheuten, wieherten, stampften, warfen die Köpfe hoch, eins bäumte sich auf. Das Pferd des Abgeworfenen lief panisch zwischen den Scheunen hindurch.

Dann wurde es sehr still.

»Noch jemand?« Preston Holt hob die mit einem Handschuh bekleidete Rechte. »Noch jemand, der sich mit mir anlegen möchte? Den Helden mimen? Nein? Das dachte ich mir. Ich verabschiede mich von den Herren Soldaten. Ist der junge Hexer schon im Sattel?«

»Ist er«, erwiderte Geralt.

»Dann los, mir nach!«

Die Obere Mark hat ihr Grenzzeichen am Fluss Gwenllech aufgestellt. Man weiß, dass der Ehrgeiz dieser Markgrafen darauf abzielt, weiter in die Täler der Drachenberge vorzudringen. Darum nennen sie ihren Besitz »cismontanisch« – als würde er bald um einen transmontanen Teil anwachsen, wenn die Elfen tiefer ins Bergland getrieben werden. Doch die Jahre gehen dahin, und nichts dergleichen geschieht.

 

Baldwin Adovardo, Regni Caedvenie Nova Descriptio

Das zweite Kapitel

Das Königreich Kaedwen war in der ganzen bewohnten Welt für sein kaltes und launisches Wetter bekannt. Im Norden von den Drachenbergen begrenzt, im Osten von dem mächtigen Massiv der Blauen Berge, litt die Gegend unter unberechenbaren Luftmassenverschiebungen. Die Folge waren ein langer und frostiger Winter, ein kalter Frühling sowie ein kurzer, verregneter Sommer. Der Herbst war mal sonnig, warm und freundlich, mal überhaupt nicht vorhanden.

In diesem März – den die Elfen »Birke« nennen – hatte sich der Schnee an manchen Stellen in Schluchten und Schründen gehalten und lag in weißen Platten in den Senken auf den Feldrainen. Noch immer bedeckte gelbliches Eis Pfützen und Rinnen. Die Sonne schien zwar etwas zu wärmen, doch wenn der Wind von den Bergen her wehte, brachte er beißenden Frost.

Geralt war am Tag vor der Tagundnachtgleiche in Kaer Morhen aufgebrochen. Das war so Sitte bei den Hexern. Nach dem Winter waren die Ungeheuer am hungrigsten und so aggressiv, dass die Menschen in den Dörfern und Siedlungen sich für die Dienste eines Hexers in Unkosten stürzten. Auch wenn sie in der Zeit vor der Ernte alle Vorräte verbraucht und praktisch nichts mehr zum Leben hatten. Doch Geralt hatte keine Gelegenheit bekommen, sich anheuern zu lassen. Denn bereits nach zwei Tagesritten von den Bergen herab war er dem Bauern und seiner Tochter begegnet, den Deserteuren, dem kahlköpfigen Bauernstrolch mit den schlechten Zähnen. In dem Dorf Neuholt war er dann vor das Gericht von Bulava geraten. Vor der Lynchjustiz der Soldaten des örtlichen Wachpostens hatte ihn schließlich der seltsame weißhaarige Herr mit den zwei Schwertern auf dem Rücken gerettet, der nun auf einem schwarzen Rappen vor ihm her ritt.

Die seltsame Person wandte sich im Sattel um und sagte: »Ich schlage vor, dass wir eine Zeit lang zusammen reiten. Rittmeister Carleton will dich unbedingt hängen. Er ist aber nicht so dumm, mich zu verfolgen. Wenn dir also meine Gesellschaft nicht lästig ist …«

»Gern«, erwiderte Geralt schnell. »Ich bin übrigens …«

»Ich weiß, wer du bist. Sind deine Haare nach den Mutationen weiß geworden? Nach den Veränderungen? Pigmentverlust, so wie bei mir?«

»Ja … Aber woher …«

»Woher ich weiß, was du für einer bist? Nun, ich verfolge, was sich da bei euch in der Festung tut. Und ich habe Gerüchte gehört, dass dort ein Wunderkind namens Geralt ausgebildet wurde, und dass dieser Geralt schon bald auf die Fahrt gehen soll.«

»Aber Vesemir …«

»Hat nie von mir gesprochen? Der Name Preston Holt ist nie gefallen? Vesemir und ich bewegen uns seit geraumer Zeit auf verschiedenen Umlaufbahnen, sozusagen. Wenn du verstehst, was ich meine.«

Geralt wusste nicht recht, was eine Umlaufbahn war, doch er machte eine kluge Miene und nickte.

»Du bist also aus Kaer Morhen auf die Fahrt gegangen«, sagte Holt. »Mit dem Anfang hast du es vielleicht nicht besonders gut getroffen, aber das haben Anfänge so an sich. Übrigens will ich dich nicht tadeln, ganz im Gegenteil. Ich habe mir die Leiche dieses Deserteurs angeschaut, und deine Hiebe muss man als tadellos anerkennen. Vielleicht unnötig, vielleicht unüberlegt, vielleicht unelegant – aber alles in allem tadellos.«

Sie ritten an einer Viehherde vorbei, die auf die Alm getrieben wurde. Der Hütehund lief von Kuh zu Kuh, um die frierenden Pfoten in deren frischen warmen Fladen zu wärmen.

»Sie treiben die Kühe aus«, bemerkte Holt. »Obwohl das Gras gerade erst aus dem Boden sprießt. Das heißt, die Saison hat begonnen, und du wirst mühelos Arbeit finden, Geralt. Bald schon werden die Dörfer bereitwillig für den Schutz der Hirten und des Inventars zahlen. Lass uns die Pferde anspornen, dort am Ufer des Kunstgrabens entlang.«

»Am Ufer wovon?«

»Dieser Graben dort, das ist ein Kunstgraben, ein Kanal, durch den einst Wasser aus einem Bergwerk abgeleitet wurde. Wir befinden uns in dem Teil des Königreichs Kaedwen, der die Obermark genannt wird. Und der Reichtum der Obermark sind die Bergwerke: hauptsächlich Salz, aber auch Silber, Nickel, Zink, Blei, Lapislazuli und anderes. So war es zumindest einst; heutzutage scheinen die meisten Gruben nach und nach zu schließen. Nichts währt ewig.«

Geralt schwieg.

»Siehst du die Anhöhe vor uns?«, fuhr Holt fort. »Sie heißt der Hockler, so steht es in den offiziellen Karten. Vor hundert Jahren hat ein Bauer namens Hockler dort zufällig einen Klumpen Silber von der Größe eines Kohlkopfes ausgegraben. Im Handumdrehen entstand an dieser Stelle ein Bergwerk. Hier wurden große Mengen von Silber und Bleierz gefördert. Doch je tiefer die Bergleute gruben, desto mehr Schwierigkeiten bekamen sie mit dem Wasser. Am Ende machten die Entwässerungskosten die ganze Förderung unrentabel. Und die Bergleute zogen weiter. Sie hinterließen ein Labyrinth aus Stollen und Schächten, das teilweise unter Wasser steht. Das verlassene und überflutete Bergwerk haben schweifende Ätzlinge in Besitz genommen. Du weißt, was Ätzlinge sind, nehme ich an?«

»Ätzlinge«, rezitierte Geralt, »sind kleine Wesen, die an hundsköpfige Affen erinnern. Rudeltiere, leben unterirdisch, im Dunkeln. Im Rudel sind sie gefährlich …«

»Sie sind verteufelt gefährlich«, unterbrach Preston Holt ihn. »Besonders für Amateurbergleute, die auch heute noch in den Hängen des Hocklers nach Silber graben.« Er zeigte nach vorn. »Siehst du das Helle dort? Das sind die Planen von Wagen und Zelten. Wir treffen direkt auf ein Lager tüchtiger Wildgräber. Der ersten in diesem Frühjahr.«

Die Wildgräber begrüßten sie mit einer Delegation, bewaffnet mit Schaufeln und Knüppeln. Die finsteren Mienen schickten eine klare Botschaft: Schert euch weg, Neuankömmlinge, wir waren zuerst hier. Doch die Gesichter hellten sich schnell auf, als die Amateurgräber erkannten, dass die beiden Reiter keine unerwünschten Konkurrenten waren.

»Himmel, den Göttern sei Dank!«, rief der Anführer der Delegation und versteckte die Hacke, die er eben noch bedrohlich geschwungen hatte, hinter dem Rücken. »Das ist ja der gnädige Herr Hexer! Ihr kommt uns wie gerufen!«

Mittlerweile hatten sich ein paar lamentierende Weiber zu den Wildgräbern gesellt. Es wurde immer lauter und wirrer. Preston Holt versuchte, mit Gesten und Worten Ordnung zu verlangen. Es dauerte eine Weile, bis sie endlich verstanden, worum es ging.

»Die Viecher, die unter dem Berg hausen, haben uns einen Jungen geraubt!«, rief der Anführer. »Vorgestern haben sie ihn entführt und in die Tiefe gezerrt! Wer soll ihn jetzt retten, wenn nicht Ihr?«

»Es ist keine zwei Wochen her«, entgegnete Holt, »dass ich euch geraten habe, euch von dem Schacht und dem Stollen fernzuhalten. Hab ich euch nicht gesagt, dass ihr auf der anderen Seite des Berges graben sollt? Sitz ab, Geralt.«

Auch Preston Holt stieg von seinem Pferd. Geralt bemerkte, dass es dem Hexer nicht leichtfiel und dass er links stark hinkte. Mit einer Handbewegung verscheuchte er die Weiber, die ihn jammernd umringten. Eine Weile lang sprach er mit dem Anführer der Wildgräber, dann zog er Geralt am Ärmel.

»Alsdann, junger Hexer«, sagte er. »Wir sind gerade angestellt worden.«

»Wenn die Ätzlinge den Jungen vorgestern geraubt haben«, murmelte Geralt, »dann besteht wenig Hoffnung, dass er noch lebt.«

»Ja, das ist zweifelhaft. Aber wir können ihn zumindest finden, damit seine Mutter ihn bestatten kann. Was zögerst du, junger Hexer? Gerade bist du noch beherzt losgestürzt, um jungfräuliche Ehre zu verteidigen, und hast einen Menschen getötet. Und jetzt zögerst du?«

Geralt zuckte mit den Schultern. »Ich zögere nicht.«

 

An der Bergflanke standen die Reste von Holzbauten, sicherlich Göpel für die Entwässerung. Dort gähnte die Öffnung eines Schachtes, der zum Teil eingestürzt war.

»Von der Grube ist nur noch der Schacht geblieben«, erklärte Holt. »Und ein Stollen, da, ein Stück weiter. Beide führen zur oberen Strecke. Die Strecke verläuft schräg und folgt einer Ader, die komplett abgebaut wurde. Von dort läuft noch steiler schräg nach unten eine Abhaue zu einer tieferen Strecke mit zahlreichen Verzweigungen. Weiter unten gibt es noch einen Gang, der aber komplett unter Wasser liegt. Die Ätzlinge sitzen in der unteren Strecke. Da kann es auch Durchgänge zu natürlichen Höhlen geben. Der Plan ist nun folgender: Mit meinem Bein kann ich nicht nach unten gehen, also beziehe ich beim Stollen Position, mache dort Lärm und locke die Ätzlinge an. Dann hängt alles von dir ab. Du steigst über den Schacht zu der Strecke hinab, dann durch die Abhaue weiter nach unten. Dort findest du womöglich … das, was zu finden ist. Mit etwas Glück. Welches ich dir wünsche, junger Mann. Wir sehen uns oben.«

»Vielleicht«, wagte Geralt zu bemerken, »sollte man sich erst einmal ansehen …«

Holt machte ein schiefes Gesicht. »Da gibt es nichts anzusehen. Trink das Elixier, Hand aufs Medaillon, und ab in den Schacht.«

»Mit allem Respekt«, murmelte der Anführer der Wildgräber, der neben ihnen stand, »aber dieser Bursche ist noch recht jung … Ob er zurechtkommt? Ich dachte, Ihr, Herr Holt, würdet hinuntersteigen …«

Preston Holt sah ihn streng an. Der Wildgräber zuckte zusammen und schwieg.

 

Die Strecke war hoch, Geralt konnte mühelos aufrecht gehen. Überall tropfte Wasser von den Wänden, und außer dem Geräusch der fallenden Tropfen war nichts zu hören. Er beschleunigte den Schritt, denn er wollte möglichst rasch an der Abhaue sein, bevor Holt am Stollen Rabatz machte.

An den Wänden des Ganges waren tiefe Kavernen zu sehen, Spuren von lang gezogenen Erzansammlungen. In einer dieser Kavernen bemerkte Geralt die Überbleibsel eines Bauwerks aus Ziegeln. Er konnte nicht wissen, dass es die Reste einer kleinen Kapelle waren.

Ebenso wenig wusste Geralt, dass die Bergleute länger als alle anderen Gruppen der Gesellschaft an Götter geglaubt hatten. Da sie in ständiger Gefahr arbeiteten, mussten sie glauben, dass jemand über sie wachte, und dass ihre Gebete ihnen Sicherheit geben würden. Doch schon bald hatten sie lernen müssen, dass Gebete nutzlos waren; dass Gebirgsschlag und Methanexplosionen Gottesfürchtige wie Ungläubige gleichermaßen trafen. Aber die Bergleute glaubten trotzdem, bauten Kapellen, zündeten Kerzen an und beteten. Lange. Aber nicht ewig. Am Ende siegte wie üblich die Vernunft.

Der Gang senkte sich abrupt, und Geralt war schon auf der Abhaue. Er spitzte die Ohren, hörte aber nach wie vor nichts als das tropfende Wasser.

Er war anscheinend schon kurz vor der unteren Strecke, als es losging.

Ein großer Stein pfiff durch die Luft und streifte seine Haare. Es folgten weitere, und einer davon traf Geralt schließlich am Kopf. Ihm wurde schwindlig, und die Ätzlinge stürzten sich von allen Seiten auf ihn, heulten und bellten wild, kratzten und bissen. Geralt riss das Schwert aus der Scheide, um es sofort wieder zu verlieren – zwei Geschöpfe hielten ihn fest, das dritte schlug ihm mit einem großen Felsbrocken die Waffe aus der Hand. Das Wesen hielt das eroberte Schwert und brüllte triumphierend auf. Doch der Siegesschrei kam verfrüht – Geralt schüttelte die beiden Angreifer ab, griff nach einem Stein und warf ihn. Er traf den Ätzling direkt auf die Zähne. Das Ungeheuer ließ das Schwert fallen. Geralt sprang auf, packte die Waffe und streckte das Geschöpf nieder, das sich mit dem in seiner Schnauze stecken gebliebenen Stein abquälte. Mit zwei schnellen Hieben erledigte er die beiden nächsten. Dann lief er in Richtung Schacht. Hinter ihm ertönte wildes Gebell, und es flogen abermals Steine. Einer traf ihn am Hinterkopf, ein anderer traf ihn ins Kreuz und hätte ihn beinahe umgeworfen. Zweimal holten ihn die Ätzlinge ein und schlugen ihre Zähne in seine Waden. Vor ernsthaften Wunden bewahrten ihn die ledernen Stiefelschäfte.

Unter einem Hagel von Steinen erreichte Geralt den Schacht, kletterte die Reste der Leiter empor und stieg wieder ins Freie. Dort fiel er hin und blieb liegen.

»Na, na«, sagte Preston Holt. »Du bist wieder herausgekommen. Und sogar ohne größere Verletzungen. Ich bin voller Bewunderung.«

Preston Holt stand vor ihm und nagte am Bein eines Brathähnchens.

»Du solltest«, stöhnte Geralt, »im Stollen sein und Lärm machen … Um sie abzulenken …«

»Wirklich?« Holt warf den Knochen weg. »Ach ja. Entschuldige, das hatte ich ganz vergessen.«

Geralt fluchte.

»Noch etwas.« Holt leckte sich die Finger ab. »Sie werden uns nichts zahlen. Denn der Junge ist wieder da. Er hat sich einfach irgendwo herumgetrieben, und die Wildgräber haben wie üblich die Schuld den Ätzlingen gegeben. Steh auf, junger Hexer Geralt. Komm, lass dir helfen. Gehen wir. Wie gesagt, mit Bezahlung wird es nichts. Aber sie verpflegen uns und geben uns ein Nachtlager. Die Mädchen werden deine Wunden versorgen. Und wenn du nett bittest, wird vielleicht irgendeine lieb zu dir sein.«

Sie gingen in Richtung des Lagers und der dampfenden Kessel. Der Hexer Geralt setzte seine Schritte mit Mühe.

Pausbäckige Mädchen versorgten ihn und gaben ihm zu essen. Holt übernachtete in einem Zelt, Geralt auf einem Wagen.

Eins der Mädchen kam nachts zu Geralt und war lieb zu ihm. Gleich danach ging sie wieder.

 

Im Morgengrauen rappelte sich Geralt vom Wagen hoch und begann sein Pferd zu satteln, noch immer vor Schmerzen stöhnend. Holt überraschte ihn dabei und rieb sich verschlafen die Augen.

»Warum so in Eile? Sie bewirten uns noch mit einem Frühstück. Dann reiten wir weiter.«

»Vielleicht bin ich mir gar nicht sicher, ob ich zusammen mit dir irgendwohin reiten will«, erwiderte Geralt. »Vielleicht will ich lieber allein reiten.«

Holt lehnte sich an einen Birkenstamm und betrachtete den wolkenlosen Himmel.

»Ich kann deinen Standpunkt vollauf verstehen«, sagte er. »Aber ich musste dich erst einmal prüfen. Um zu sehen, wie du dich in Aktion verhältst.«

»Vielleicht wäre ich dort nicht mehr herausgekommen.«

»Aber du bist herausgekommen.«

»Nicht dank deiner Hilfe. Warum also …«

»Ich bitte dich«, unterbrach Holt ihn, »mir wenigstens noch bis zum Mittag Gesellschaft zu leisten. Das entspricht – rund gerechnet und im Hinblick auf die Tageszeit – etwa einer Meile. Das sollte ausreichen, um den Zorn, den du gegen mich empfindest, abzureagieren und die Welt nüchterner zu betrachten. Und dann werde ich einen Vorschlag für dich haben.«

Geralt zog die Augenbrauen zusammen. »Was denn für einen Vorschlag?«

»Anderthalb Meilen. Bis zum Mittag.«

 

Es war tatsächlich gegen Mittag, als der Himmel plötzlich schwarz wurde. Dazu ertönten das Schwirren von Federn und ein einziges großes Krächzen. Vom Boden und von den Zweigen der Bäume ringsum stiegen Dutzende, wenn nicht Hunderte schwarze Vögel auf.

»Raben«, staunte Geralt. »So viele Raben! Das kann nicht sein. Raben fliegen nicht in Schwärmen.«

»Zweifellos«, gab Holt zu. »So viele Raben auf einmal sind etwas Unerhörtes. Eine außergewöhnliche Erscheinung. Aber wir befinden uns auch an einem außergewöhnlichen Ort, falls du es bemerkt hast.«

»Ein Kreuzweg.« Geralt blickte sich um. »Eine Wegscheide.«

»Ein symbolischer Ort. Vier Straßen in vier Himmelsrichtungen. Ein Ort der Wahl und der Entscheidung. Die du jetzt treffen musst, Hexer Geralt.«

Die Raben ließen sich auf den höheren Ästen der Bäume nieder. Sie krächzten und betrachteten die Reiter.

»Drei von den Straßen – einschließlich der, auf der wir hergekommen sind – sind deine Straßen als einsamer Hexer. Das ist das Schicksal, das du gewählt hast, als du von Kaer Morhen aufgebrochen bist. Wenn du einer von diesen drei Straßen folgst, dann trennen wir uns. Wenn du jedoch die vierte Straße wählst, wirst du dir meinen Vorschlag anhören.«

Die Raben krächzten.

 

»Wie du sicherlich bemerkt hast, bin ich in die Jahre gekommen. Außerdem bin ich, und das lässt sich auch nicht verbergen, ein Krüppel. Die Tage meines Hexerruhms sind ein Lied aus alten Zeiten. Ich gehe nicht mehr mit den Schwertern auf Fahrt, die Helligkeit meiner Klingen durchschlägt nicht mehr das Dunkel. Aber das Dunkel ist da. Ungeheuer streifen durch die Nacht. Du kannst ihnen die Stirn bieten und sie besiegen. Die Menschen brauchen deine Hilfe.

Ich schlage dir also eine Zusammenarbeit vor. Ich bin in Kaedwen bekannt, musste niemals über Mangel an Kunden klagen. Doch jetzt bitten mich die Leute um Hilfe, die ich nicht mehr leisten kann. Aber du kannst es. Ich habe ein Auge auf dich geworfen und sage: Sei mein Nachfolger, Geralt. Statt hungrig über die Landstraßen zu vagabundieren, kannst du bei mir wohnen. Mach dir meinen Ruf zunutze, und es wird dir nicht an Arbeit mangeln. Und nach getaner Arbeit wirst du wissen, wohin du zurückkehren kannst. Wo du überwintern kannst. Es wird mich glücklich machen, dass jemand mein Werk fortsetzt. Und wenn jemand mich im Alter versorgt.

Du musst dich nicht sofort entscheiden. Fürs Erste genügt es, dass du nicht allein weiterreitest, sondern mir noch Gesellschaft leistest. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

»Dann auf den Weg. Überlassen wir den Kreuzweg den Raben.«

Die Vögel verabschiedeten sie mit weiterem Krächzen.

Die Westliche Mark liegt am Fluss Buina, nach Westen hin jedoch lehnt sie sich ans Falkengebirge. Es war früher die Absicht der Markgrafen, die Grenze immer weiter und weiter nach Westen vorzuschieben, doch das war ihnen nicht vergönnt. Denn jene Grenze hatte das Königreich Hengfors als seine Ostgrenze bestimmt. Darum gab es Streit, und es drohte Blutvergießen. Hengfors, wiewohl klein, hatte in Kovir einen starken Beschützer, weshalb die Markgrafen klein beigeben und sich zum Frieden bekennen mussten.

Der Frieden, der im Jahre 1225post Resurrectionem geschlossen und Barfelder Traktat genannt wurde, legte die Grenze zwischen den beiden Königreichen auf das Flüsschen Braa und definierte so die Westgrenze der Mark als Nonplusultra.

 

Baldwin Adovardo, Regni Caedvenie Nova Descriptio

Das dritte Kapitel

Wie üblich wurden sie zuerst von Katzen und Kindern beachtet. Die Katzen, von denen es am Rande des Städtchens eine Unmenge gab, machten ihnen widerwillig Platz und fauchten. Die Kinder verschwanden weinend und kreischend in den Häusern und ließen ihr Spielzeug zurück, welches größtenteils aus getrocknetem Matsch bestand.

Alle anderen Bewohner des Städtchens Spynham schenkten den Hexern nicht die mindeste Beachtung.

Preston Holt kannte die Örtlichkeiten. Er wusste, in welchem Stall sie die Pferde lassen konnten. Dann gingen sie zu Fuß weiter eine morastige Straße entlang, wobei sie wieder Katzen und Kinder aufscheuchten.

»Großer Herr …« Eine an der Mauer kauernde Bettlerin mit einem Säugling auf dem Schoß hielt Geralt fest. »Großer Herr, gib einen Groschen … Das Kind braucht Milch …«

Bevor Holt reagieren konnte, fischte Geralt eine Mark aus dem Geldbeutel und warf sie dem Weibsbild hin, das sich ausgiebig bedankte. Sie gingen weiter, doch dann blieb Holt stehen und sah Geralt in die Augen.

»Du bist kein großer Herr«, sagte er nachdrücklich. »Du bist vielmehr ein großer Dummkopf. Für eine Mark kann man die Milch von zwölf Kühen kaufen. Dir werden sie für die Tötung eines Ungeheuers nicht viel mehr zahlen wollen. Und ein Ungeheuer zu töten, erfordert etwas mehr Anstrengung, als um eine milde Gabe zu betteln. Das hat sie sicherlich von einer Hure geborgt, die in der Schenke sitzt und auf einen Kunden wartet. Ich warne dich, geh nicht mehr durch diese Gasse. Es wird ein großes Gelächter geben, wenn du hier wieder aufkreuzt.«

Einen Moment lang hatte Geralt Lust, sich mit Holt anzulegen, doch er tat es nicht. Beinahe instinktiv betrachtete er Hold als den Ranghöheren, fast als seinen Meister. Vielleicht deswegen, weil Holt ihn ungewöhnlich stark an Vesemir erinnerte. Jedoch nur in seinem Verhalten und der Redeweise. Körperlich waren die beiden sehr verschieden.

Vor ihnen leuchteten die weiß getünchten Säulen eines Tempels auf, an dessen Fuß eine ganze Armee von Bettlern und Bettlerinnen kauerte. Der Tempel war seit Jahren geschlossen und verlassen, doch die Bettler streckten hier weiterhin die Hände nach Almosen aus. Aus Gewohnheit.

Holt zog Geralt vorsorglich auf die andere Straßenseite.

»Weißt du, warum sie uns Hexer nennen?«, fragte er. »Weil wir die Kinder von Hexen sind.«

Geralt starrte ihn ungläubig an.

»Es ist die reine Wahrheit. Die ersten Hexer waren Kinder von Frauen mit unkontrollierten magischen Fähigkeiten, die man Hexen nannte. Sie waren nicht ganz bei Verstand und wurden von jungen Männern oft für ihre körperlichen Gelüste benutzt. Die Kinder, die aus solchen Spielen hervorgingen, wurden ausgesetzt. Oder in Waisenhäuser und Heime gegeben, aus denen sie mitunter in die Hexerschulen kamen.«

»Von wegen. Das hast du dir ausgedacht. So war es nicht.«

»O doch. Wir alle, die Hexer, stammen von geistig behinderten Dirnen ab. Findest du das nicht lustig?«

»Gar nicht. Es war überhaupt nicht so.«

»War es, war es. Doch das ist lange her. Jetzt findest du vor den Tempeln keine Hexen mehr. Die Zauberer haben sie alle ausgerottet. Nichts währt ewig.«

Je näher sie dem Markt kamen, desto mehr Menschen waren zu sehen. Für Geralt war das etwas Neues. Er war so viele Leute nicht gewohnt und fühlte sich schlecht. Der Lärm machte ihn nervös. Der Gestank wurde immer lästiger. Es roch nach Rauch, angebranntem Fett, faulendem Gemüse und Mist.

Auf dem Markt selbst mischten sie sich unter die Käufer. Geralt staunte; er hätte nie gedacht, dass es so viele Handwerke und Waren gab, die zum Kauf angeboten wurden. Riemen und Lederwaren, Tontöpfe mit Glasur und ohne, Pelzmützen, Halbpelze, Bundschuhe, bestickte Tüchlein, kupferne Pfannen, Harken, Gabeln, Axtstiele – und Brezeln, Brezeln, Brezeln.

Holt schenkte den Wunderdingen an den Verkaufsständen nicht die mindeste Aufmerksamkeit. Plötzlich hörte er auf, sich durch die Menge zu drängen, und packte Geralt am Ärmel.

»Augen nach unten«, zischte er. »Und nicht glotzen.«

»Was?«

»Zauberinnen.«

Geralt wandte gehorsam den Blick ab. Doch er tat es ungern, denn die beiden Frauen an dem Stand mit Bernsteinschmuck zogen die Blicke mit ihrem wunderschönen Aussehen geradezu magisch an.

Ein paar Schritte weiter erklärte Holt: »Die halten gewöhnliche Menschen für Vieh, und Hexer hassen sie. Sie sind streitsüchtig und empfinden es als Belästigung, wenn man sie anstarrt. Es ist auch besser, wenn sie unsere Medaillons nicht spüren.«

Holt blieb vor einem ansehnlichen Haus stehen, über dessen Eingang ein Schild hing. Die durchaus gelungene Malerei zeigte eine Sirene mit üppigen Brüsten. Unter der Sirene stand Lorelei.

Holt ergriff den Türklopfer und klopfte energisch. Sehr energisch.

Die massive Tür öffnete sich, und vor ihnen stand ein breitschultriger Kerl mit einer Fresse wie ein Brotlaib. Der Kerl musterte die Hexer eine Weile. Dann bat er sie herein.

Holt, der sich offensichtlich auskannte, nahm ohne zu zögern beide Schwerter vom Rücken und gab sie dem Kerl. Geralt beeilte sich, seinem Beispiel zu folgen.

Waffenlos kamen sie in ein von zahlreichen Lampen erhelltes Vorzimmer. Geralt schnappte nach Luft, denn das Vorzimmer war von einem Geruch nach Parfüm und Räucherwerk erfüllt. An der Wand hing eine weitere gemalte Sirene. Ebenfalls vollbusig. Eine Beschriftung fehlte.

Eine Frau trat ein und sagte: »Herr Preston Holt.«

Holt verneigte sich und erwiderte: »Frau Pampinea Monteforte.«

Geralt verneigte sich ebenfalls und schloss den Mund, den er gerade aufgerissen hatte. Er war in Bezug auf Damenschneiderei nicht bewandert, also wusste er nicht, dass Frau Montefortes Kleid aus durchsichtigem Chiffon, Musselin und Kreppflor bestand. Er wusste auch nicht, dass es eine große Kunst war, ein Kleid so zu nähen, dass es verhüllte, indem es enthüllte.

»Der junge Mann …?« Pampinea Monteforte lächelte prachtvoll und schüttelte ihre kastanienbraunen Haare.

»Er heißt Geralt. Ein junger Adept der Hexerkunst.«

Das Timbre von Pampineas Stimme änderte sich erstaunlich. »Ich hoffe, dass der Adept nicht hergeführt wurde, um … sagen wir, einen Übergangsritus zu feiern? In der Lorelei hat sich nichts geändert. Hier kann weder Herr Holt, so lieb er uns auch sein mag, noch irgendein anderer Hexer bedient werden. Denn …«

»Denn«, unterbrach Holt sie behutsam, »die anderen Kunden würden vielleicht kein Mädchen wollen, das vorher einen Hexer angerührt hat. Das ist mir durchaus klar, liebe Pampinea, und es würde mir nicht im Traum einfallen, diese Regel zu brechen. Ich komme keineswegs als Kunde, sondern ausschließlich, um mich mit meinem Bekannten und Geschäftspartner Timur Voronoff zu treffen. Er hat mit mir ein Treffen verabredet. Ist er also hier zu Gast?«

Pampinea schürzte die vollen Lippen. »In der Lorelei pflegen wir grundsätzlich keine Informationen über unsere Kunden zu geben. Unabhängig davon, ob sie mit jemandem verabredet sind oder nicht. Aber in Anbetracht der speziellen Verbindungen mit Herrn Voronoff kann ich mitteilen, dass die Herren sich verfehlt haben. Herr Voronoff war vor einer Woche hier. Er ist ein paar Tage geblieben und hat gewiss auf das vereinbarte Treffen gewartet. Da er vergebens wartete, hat er Spynham verlassen. Jetzt ist er sicherlich schon zu Hause in Belvoir.«

»Tausend Dank.« Holt verneigte sich abermals und bedeutete Geralt mit einer Geste, es ihm gleichzutun. »Unsere Ehrerbietung …«

»Wie ich weiß«, Pampinea Monteforte senkte die Stimme, »kennt Herr Holt den geheimen Eingang der Lorelei, der sich an der Rückseite des Gebäudes befindet. Den Eingang für … spezielle Gäste. Und geheime. Wenn die beiden Herren Hexer den Wunsch nach einer Bewirtung äußern würden … und nach speziellen Dienstleistungen …«

»Tut mir leid«, erwiderte Holt zu Geralts größtem Bedauern. »Aber wir sind in Eile, und die Pflicht ruft. Vielleicht ein andermal.«

 

Als sie hinaustraten, schickte sich Geralt an, Holt Vorwürfe zu mache. Doch er kam nicht dazu.

Von einem Brunnen in der Nähe drangen Stimmen zu ihnen heran. Das hohe Schreien einer Frau und der trunkene Bariton eines Mannes. Geralt eilte sofort in diese Richtung. Ehe Holt ihn am Ärmel packen konnte, sah er, was da vor sich ging. Ein großer Kerl mit über dem Hosengürtel vorquellender Wampe schlug mit einem Stock auf eine Frau ein, die zu seinen Füßen kauerte.

Geralt wollte eingreifen, doch trotz seines Gebrechens war Holt schneller. Er packte den Kerl an der Schulter und riss ihn herum.

»Was soll das, du Dahergelaufener!«, brüllte der Kerl. Er hob den Stock, um Holt damit zu schlagen.

Trotz seines lahmen Beins vollführte Holt blitzschnell eine halbe Drehung, nahm kurz Körperkontakt auf, und der Kerl flog in einem hohen Bogen davon. Er knallte mit dem Kopf gegen die Brunneneinfassung und blieb ausgestreckt auf dem Pflaster liegen.

»He!«, rief Holt. »Da ist jemand hingefallen! Helft ihm, ihr guten Leute!«