Krieg im Kaukasus - Lew Tolstoj - E-Book

Krieg im Kaukasus E-Book

Lew Tolstoj

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Beschreibung

Vom Leben auf dem Landgut der Familie angeödet, begleitete der junge Lew Tolstoi 1851 seinen ältesten Bruder Nikolai, der im Kaukasus dient, an seinen Einsatzort – Starogladkowskaja, eine Kosakensiedlung am Terek. Seit Jahrzehnten führte das russische Imperium in der Region Krieg. Erst 1859 gelingt es, die von Imam Schamil geeinten muslimischen Kaukasusfürstentümer zu besiegen. Doch um welchen Preis!

Tolstoi, der als Fähnrich an Gefechten teilnahm und verwundet wurde, kennt den Krieg und seine Akteure aus eigener Anschauung. Er beschreibt die Tragödie aus allen Perspektiven: an der Seite russischer Soldaten, die zum Freizeitvergnügen ein tschetschenisches Dorf zerstören, und neben den untröstlichen Überlebenden, die in den Trümmern ihrer Behausungen hocken. Mit scharfer Beobachtungsgabe und ethnographischem Blick schildert er die Faszinationsgeschichte der »Kaukasier«, der russischen Abenteurer, die sich, bestrickt von der stolzen Schönheit und Unbezwingbarkeit der Bergbewohner, auf ein Leben einlassen, an dessen Fremdheit sie scheitern.

Ein Werk mit dem Titel »Krieg im Kaukasus« hat Tolstoi nie geschrieben. Aber er hat sein Leben lang über den Kaukasus geschrieben. Der Band konfrontiert den frühen mit dem späten Tolstoi. Von der nüchtern protokollhaften frühen Prosa von Überfall (1852) und Holzschlag (1855) bis zu den romanhaft farbigen Kosaken (1863), dem harten mündlichen Duktus des Gefangenen im Kaukasus (1872) und dem in Montagetechnik verfassten Hadschi Murat (postum 1912) – in Rosemarie Tietzes Neuübersetzung werden sie erstmal in ihrer stilistischen Bandbreite und ihrem sprachlichen Reichtum erfahrbar.

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Seitenzahl: 738

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Lew Tolstoi

Krieg im Kaukasus

Die kaukasische Prosa, neu übersetzt und kommentiert von Rosemarie Tietze

Suhrkamp

Krieg im Kaukasus

Inhalt

Der Überfall. Bericht eines Volonteurs

Der Holzschlag. Bericht eines Junkers

Die Kosaken. Kaukasische Erzählung aus dem Jahr 1852

Der Gefangene im Kaukasus, . Eine wahre Begebenheit

Hadschi Murat

Anhang

Rosemarie Tietze»Krieg und Freiheit«Lew Tolstoi im Kaukasus

Kaukasisches Glossar

Maße und Gewichte

Editorische Notiz

Textgrundlage

Übersetzungen

Die Neuübersetzungen in diesem Band

Transkriptionen

Bildteil

Auswahlbibliographie

Abbildungsnachweis

Der Überfall

Bericht eines Volonteurs

1

Am zwölften Juli trat Hauptmann Chlopow in Uniform, mit Schulterstücken und Schaschka ‒ so hatte ich ihn seit meiner Ankunft im Kaukasus noch nie erlebt ‒, durch die niedrige Tür meiner Erdhütte.

»Ich komme gerade vom Obersten«, sagte er auf den fragenden Blick, mit dem ich ihn empfing. »Morgen rückt unser Bataillon aus.«

»Wohin?« fragte ich.

»Nach N. ‌N. Dort werden Truppen zusammengezogen.«

»Und von dort gibt es bestimmt eine Truppenbewegung?«

»Anzunehmen.«

»Doch wohin? Was meinen Sie?«

»Was ich meine? Ich sage Ihnen, was ich weiß. Gestern Nacht kam vom General ein Tatar angesprengt und brachte den Befehl, das Bataillon habe auszurücken und für zwei Tage Zwieback mitzunehmen. Doch wohin, weshalb, ob für lange ‒ das, Verehrtester, fragt man nicht. Der Befehl lautet: Aufbruch, das genügt.«

»Allerdings, wenn Zwieback nur für zwei Tage mitgenommen wird, dürften auch die Truppen nicht länger gebraucht werden.«

»Na ja, das heißt noch gar nichts …«

»Aber wie denn das?« fragte ich erstaunt.

»Aber so ist das! Als wir gen Dargo zogen, nahmen wir Zwieback für eine Woche mit, blieben jedoch fast einen Monat!«

Ich schwieg eine Weile, fragte dann: »Werde ich wohl mit Ihnen ziehen können?«

»Können schon, doch mein Rat wäre, besser nicht mitzuziehen. Warum sollten Sie das Risiko eingehen?«

»Also nein, erlauben Sie, dass ich nicht auf Ihren Rat höre. Einen ganzen Monat bin ich schon hier, nur um eine Gelegenheit abzupassen und ein Gefecht zu sehen ‒ und Sie wollen, dass ich sie nicht nutze.«

»Bitte schön, ziehen Sie mit. Nur, blieben Sie nicht doch besser hier? Sie würden uns erwarten, gingen auf die Jagd, während wir, Gott befohlen, loszögen. Wäre doch famos!« sagte er in solch überzeugendem Tonfall, dass es mir im ersten Augenblick tatsächlich vorkam, als wäre es famos; dennoch sagte ich entschieden, ich bliebe unter gar keinen Umständen.

»Was brächte es Ihnen schon?« Der Hauptmann drang weiter in mich. »Möchten Sie erfahren, was für Schlachten es gibt? Dann lesen Sie die ›Beschreibung des Krieges‹ von Michailowski-Danilewski, ein vortreffliches Buch. Dort ist alles genau beschrieben, wo welches Korps stand und wie Schlachten ablaufen.«

»Im Gegenteil, gerade das interessiert mich nicht«, erwiderte ich.

»Ja, was dann? Sie möchten wohl einfach zuschauen, wie Menschen getötet werden? Achtzehnzweiunddreißig war auch einer hier, der nicht diente, ein Spanier, glaube ich. Zweimal zog er mit uns hinaus, so eine dunkelblaue Pelerine trug er … abgeknallt haben sie den Helden. Hier, Verehrtester, ist keiner zu beeindrucken.«

Wie peinlich es mir auch war, dass der Hauptmann meine Absicht so übel auslegte, dennoch versuchte ich nicht, ihn von seiner Meinung abzubringen.

»Und, war er tapfer?« fragte ich.

»Weiß der Herrgott, immer ritt er vorneweg. Wo ein Geplänkel stattfand, war auch er.«

»Folglich war er tapfer«, sagte ich.

»Nein, tapfer heißt das nicht, wenn einer sich einmischt, wo es ihn nichts angeht.«

»Was nennen Sie denn tapfer?«

»Tapfer? Tapfer?« wiederholte der Hauptmann mit der Miene eines Menschen, dem sich eine solche Frage zum erstenmal stellt. Nach einigem Nachdenken sagte er: »Tapfer ist derjenige, der sich verhält, wie es zu sein hat.«

Mir fiel ein, dass Plato Tapferkeit bestimmt als das Wissen darum, was man fürchten muss und was man nicht zu fürchten braucht, und trotz des allgemeinen und unklaren Ausdrucks in der Bestimmung des Hauptmanns dachte ich mir, der Grundgedanke der beiden sei gar nicht so unterschiedlich, wie es den Anschein haben mochte, und die Bestimmung des Hauptmanns sei sogar treffender als die Bestimmung des griechischen Philosophen, denn wenn er sich ebenso ausdrücken könnte wie Plato, hätte er gewiss gesagt, tapfer sei derjenige, der sich nur vor dem fürchtet, was man zu fürchten hat, und nicht vor dem, was man nicht zu fürchten braucht.

Ich wollte dem Hauptmann meinen Gedanken erläutern.

»Ja«, sagte ich, »mir scheint, dass in jeder Gefahr eine Wahl liegt, und eine Wahl, die beispielsweise unter Einfluss des Pflichtgefühls getroffen wird, ist Tapferkeit, eine Wahl dagegen, die unter Einfluss eines niedrigen Gefühls getroffen wird, ist Feigheit. Deshalb kann man einen Menschen, der aus Eitelkeit oder Neugier oder Habsucht sein Leben aufs Spiel setzt, keinesfalls tapfer nennen, und umgekehrt kann man einen Menschen, der unter Einfluss ehrlichen Verantwortungsgefühls für die Familie oder schlicht aus Überzeugung sich einer Gefahr verweigert, keinesfalls einen Feigling nennen.«

Der Hautpmann sah mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, während ich sprach.

»Also, das vermag ich Ihnen nicht auseinanderzusetzen«, sagte er und stopfte sich dabei die Pfeife, »aber es gibt bei uns einen Junker, der philosophiert gern. Reden Sie mal mit ihm. Er schreibt auch Gedichte.«

Ich hatte den Hauptmann erst im Kaukasus kennengelernt, doch schon in Russland von ihm gewusst. Seine Mutter Marja Iwanowna Chlopowa, Besitzerin eines kleinen Landguts, wohnt zwei Werst von meinem Gut entfernt. Vor meiner Abreise in den Kaukasus war ich bei ihr; die alte Dame freute sich sehr, dass ich ihren lieben Paschenka (wie sie den grauhaarigen alten Hauptmann nannte) sehen würde und dass ich, als lebende Zeitung, ihm von ihrem Leben und Treiben berichten und ein Päckchen mitbringen könnte. Zuerst setzte mir Marja Iwanowna eine famose Pirogge und Geräuchertes vor, dann ging sie in ihr Schlafzimmer und kehrte von dort mit einem ziemlich großen schwarzen Amulettbeutel zurück, an den ein ebensolches Seidenband genäht war.

»Das ist unser Mütterchen, die Fürsprecherin vom Brennenden Dornbusch«, sagte sie, schlug das Kreuz, küsste die Darstellung der Gottesmutter und legte sie in meine Hände. »Seien Sie so gütig, Verehrtester, überbringen Sie ihm das. Schauen Sie, wie er aufbrach in diesen Kaukasus, hab ich einen Bittgottesdienst abhalten lassen und gelobt, wenn er heil und unversehrt bleibt, geb ich dieses Bildchen der Gottesmutter in Auftrag. Achtzehn Jahre ist sie nun schon unsere Fürsprecherin und sind die heiligen Schutzpatrone ihm gnädig! Kein einziges Mal war er verwundet, dabei, an was für Schlachten er anscheinend beteiligt war! Wie mir Michailo, der mit ihm dort war, erzählt hat, also, da sträuben sich einem die Haare, Sie stellen sich das nicht vor! Was ich weiß über ihn, weiß ich ja alles nur von anderen, über seine Feldzüge schreibt er mir nichts, mein Herzblättchen, fürchtet mich zu ängstigen.«

(Erst im Kaukasus erfuhr ich, und nicht vom Hauptmann, dass er viermal schwer verwundet gewesen war und, versteht sich, sowohl von den Verwundungen wie auch von den Feldzügen seiner Mutter nichts geschrieben hatte.)

»Jetzt soll er dieses heilige Bild an sich tragen«, fuhr sie fort, »damit segne ich ihn. Die hochheilige Fürsprecherin wird ihn beschützen! Besonders in den Schlachten, dass er es ja immer an sich hat. Sagt ihm das, Verehrtester: Deine Mutter hat es dich geheißen.«

Ich versprach, den Auftrag gewissenhaft auszuführen.

»Sie werden ihn liebgewinnen, meinen Paschenka, das weiß ich«, fuhr die Alte fort, »er ist ja so famos! Stellen Sie sich vor, es vergeht kein Jahr, dass er mir nicht Geld schickt, und der Annuschka, meiner Tochter, hilft er auch sehr viel, und alles aus dem einen Gehalt! Wahrhaft, mein Leben lang danke ich Gott«, schloss sie mit Tränen in den Augen, »dass er mir ein solches Kind geschenkt hat.«

»Schreibt er Ihnen oft?« fragte ich.

»Selten, Verehrtester, so einmal im Jahr, und nur mit dem Geld, da fügt er ein Wörtlein hinzu, mal auch nicht. Falls ich, sagt er, Euch nicht schreibe, Mamenka, heißt das, ich bin gesund und munter, und wenn, Gott behüte, etwas passiert, so wird auch ohne mich geschrieben.«

Als ich dem Hauptmann das Geschenk der Mutter aushändigte (es war in meinem Quartier), bat er um ein Stück Packpapier, wickelte es sorgfältig ein und verwahrte es. Ich berichtete ihm viele Einzelheiten aus dem Leben seiner Mutter; der Hauptmann schwieg. Als ich endete, trat er in die Zimmerecke und stopfte nun doch sehr lange seine Pfeife.

»Ja, ein famoses altes Frauchen«, sagte er von dort mit leicht belegter Stimme. »Ob Gott es wohl fügt, dass wir uns wiedersehen.«

In diesen schlichten Worten kam sehr viel Liebe und Traurigkeit zum Ausdruck.

»Wieso leisten Sie hier Dienst?« fragte ich.

»Dienst muss sein«, antwortete er voll Überzeugung. »Und ein doppeltes Gehalt bedeutet für unsereinen, wenn man arm ist, sehr viel.«

Der Hauptmann lebte sparsam; er spielte nicht Karten, zechte selten und rauchte schlichten Tabak, den er, unerfindlich weshalb, nicht Knaster nannte, sondern Eigenbautabak. Schon vorher hatte der Hauptmann mir gefallen; er hatte eines jener schlichten, ruhigen russischen Gesichter, denen man gerne und leicht in die Augen blickt; nach diesem Gespräch jedoch empfand ich für ihn wahrhafte Achtung.

2

Um vier Uhr früh holte der Hauptmann mich am nächsten Tag ab. Er trug einen alten, abgeschabten Überrock ohne Schulterstücke, weite lesgische Hosen, eine weiße Papacha aus plattgedrücktem, vergilbtem Schaffell, und über der Schulter hing ihm eine unansehnliche asiatische Schaschka. Das fahlweiße Rösslein, auf dem er ritt, lief mit hängendem Kopf, in trippelndem Passgang, und schwenkte unablässig den schütteren Schweif. Wiewohl die Gestalt des guten Hauptmanns nicht nur wenig Kämpferisches hatte, sondern auch wenig Schönes, drückte sie gegenüber allem, was sie umgab, soviel Gleichgültigkeit aus, dass sie unwillkürlich Achtung einflößte.

Ich ließ ihn keinen Augenblick warten, sprang sogleich aufs Pferd, und zusammen ritten wir zum Festungstor hinaus.

Das Bataillon war uns gewiss schon zweihundert Saschen voraus und erschien als schwankende, kompakte schwarze Masse. Dass es Fußtruppen waren, konnte man nur deshalb erahnen, weil, zahllosen langen Nadeln gleich, die Bajonette zu sehen waren und bisweilen Töne eines Soldatenlieds ans Ohr schlugen, Trommelklänge und der wunderschöne Tenor des Diskantsängers aus der sechsten Kompanie, der mich schon in der Festung mehrfach begeistert hatte. Der Weg führte mitten durch eine tiefe und breite Talsenke, am Ufer eines kleinen Flüsschens entlang, das zu dieser Zeit tollte, das heißt, über die Ufer getreten war. Eine Schar Wildtauben tummelte sich dort, sie setzten sich bald auf die Ufersteine, bald sausten sie in Kehren und raschen Kreisen durch die Luft und flogen außer Sichtweite. Die Sonne war noch nicht sichtbar, doch an der rechten Seite der Senke war der Kamm nun beschienen. Das graue und weißliche Gestein, das gelbgrüne Moos, das darauf wuchs, und die dunkelgrünen, taubedeckten Sträucher von Stechdorn, Kornelkirsche und Korkrüster zeichneten sich mit äußerster Klarheit und Schärfe im durchsichtigen, goldschimmernden Licht des Sonnenaufgangs ab; dafür bedeckte die andere Seite und die Talsenke dichter Nebel, der in rauchgrauen, ungleichmäßigen Schwaden auf und ab wogte, und hier war es feucht, finster und herrschte ein schwer fassbares Farbgemisch aus Blasslila, fast Schwarz, Dunkelgrün und Weiß. Am dunklen Azurblau des Horizonts unmittelbar vor uns waren mit bestechender Klarheit die reinweißen, milchigen Massen der Schneeberge mit ihren bizarren, doch bis in die kleinsten Einzelheiten fein gezeichneten Schatten und Umrissen zu sehen. Grillen, Libellen und Tausende anderer Insekten waren im hohen Gras erwacht und erfüllten die Luft mit ihrem klaren, ununterbrochenen Gezirpe; es schien, als ob eine Unzahl winzig kleiner Glöckchen unmittelbar in den Ohren läutete. In der Luft roch es nach Wasser, Gras und Nebel, kurzum, es roch nach einem frühen, wunderschönen Sommermorgen. Der Hauptmann schlug Feuer und zündete sich die Pfeife an; der Geruch seines Eigenbautabaks und des Zunders kam mir ungewöhnlich angenehm vor.

Wir ritten seitlich des Wegs, um die Fußtruppen rascher einzuholen. Der Hauptmann wirkte nachdenklicher als sonst, nahm das dagestanische Pfeifchen nicht aus dem Mund und trieb bei jedem Schritt mit den Fersen sein Rösslein an, das von einer Seite zur anderen schwankte und im hohen, nassen Gras eine kaum sichtbare dunkelgrüne Spur hinterließ. Mit Gögöcker und jenem Flügelrauschen, das den Jäger unwillkürlich zusammenzucken lässt, stob unter seinen Beinen ein Fasan hervor und stieg langsam auf. Der Hauptmann schenkte ihm nicht die mindeste Beachtung.

Wir hatten das Bataillon schon fast eingeholt, da hörten wir hinter uns ein Pferd galoppieren, und im gleichen Augenblick sprengte ein bildhübscher und blutjunger Reiter in Offiziersrock und hoher weißer Papacha an uns vorüber. Als er uns passierte, lächelte er, nickte dem Hauptmann zu und schwang die Peitsche. Ich bemerkte nur noch, dass er irgendwie besonders anmutig im Sattel saß und die Zügel hielt und dass er wunderschöne schwarze Augen, ein feines Näschen und ein kaum gesprossenes Schnurrbärtchen hatte. Besonders gefiel mir an ihm, dass er unwillkürlich lächelte, als er merkte, wie wir uns an ihm ergötzten. Schon aus diesem Lächeln konnte man schließen, dass er noch sehr jung war.

»Wohin bloß so eilig?« murmelte der Hauptmann mit unzufriedener Miene, ohne den Tschibuk aus dem Mund zu nehmen.

»Wer ist das?« fragte ich ihn.

»Fähnrich Alanin, Subalternoffizier in meiner Kompanie. Traf erst vergangenen Monat aus dem Kadettenkorps ein.«

»Bestimmt zieht er zum erstenmal ins Gefecht?« sagte ich.

»Drum ist er auch so fidel!« erwiderte der Hauptmann und wiegte nachdenklich den Kopf. »Die Jugend!«

»Warum sollte er sich nicht freuen? Ich verstehe, für einen jungen Offizier muss das sehr interessant sein.«

Der Hauptmann schwieg gewiss zwei Minuten.

»Darum sage ich ja: die Jugend!« fuhr er mit Bassstimme fort. »Was freut er sich, ohne etwas gesehen zu haben! Rückt man oft aus, freut man sich nicht mehr. Von uns sind, mal angenommen, jetzt zwanzig Offiziere dabei, irgendeiner wird getötet oder verwundet werden, das bestimmt. Heute ich, morgen er, übermorgen ein Dritter ‒ worüber sich also freuen?«

3

Kaum war die helle Sonne hinterm Berg vorgekommen und beschien das Tal, durch das wir zogen, lösten die wogenden Nebelschwaden sich auf, und es wurde heiß. Die Soldaten marschierten, Gewehre und Schultersäcke umgehängt, langsam den staubigen Weg entlang; aus ihren Reihen waren bisweilen kleinrussische Gesprächsfetzen und Lachen zu hören. Einige alte Soldaten in weißen Drillichröcken, größtenteils Unteroffiziere, gingen, Pfeife rauchend, seitlich des Wegs und unterhielten sich bedächtig. Von Dreigespannen gezogene, hochbeladene Bagagewagen bewegten sich schrittweise vorwärts und wirbelten den dichten, schwerfälligen Staub auf. Die Offiziere ritten voraus; manche »dschigitierten«, wie das im Kaukasus genannt wird, das heißt, mit Peitschenhieben zwangen sie das Pferd zu Sprüngen, vier vielleicht, und hielten dann jäh, indem sie dem Pferd den Kopf zurückrissen; andere lauschten den Sängern, die trotz der Hitze und Schwüle unermüdlich ein Lied nach dem anderen anstimmten.

Hundert Saschen vor den Fußtruppen ritt auf einem großen Schimmel, neben berittenen Tataren, ein hochgewachsener, gutaussehender, asiatisch gekleideter Offizier, im Regiment bekannt für verwegene Tapferkeit und als jemand, der jedem, ganz gleich wem, die Wahrheit ins Gesicht schleudert. Er trug einen schwarzen, betressten Beschmet, ebensolche Strümpflinge, neue, straff den Fuß umspannende Tschuwjaken mit Besatz, eine hellbraune Tscherkesska und eine hohe, in den Nacken geschobene Papacha. Auf Brust und Rücken lagen silberne Borten, an denen das Pulverhorn festgemacht war sowie hinten eine Pistole; eine andere Pistole und ein Dolch in silberner Scheide hingen am Gürtel. Darüber hinaus war er mit einer Schaschka in betresster roter Saffianscheide umgürtet, und über der Schulter hing ein Gewehr in schwarzem Futteral. An seiner Kleidung, der Sattelhaltung, seinem Gebaren und überhaupt an allen Bewegungen war zu erkennen, dass er einem Tataren zu gleichen suchte. Er sagte sogar etwas in einer mir unbekannten Sprache zu den Tataren, die mit ihm ritten; doch aufgrund der befremdeten, spöttischen Blicke, die letztere einander zuwarfen, kam es mir vor, als verstünden sie ihn nicht. Unter unseren jungen Offizieren war er einer der draufgängerischen Dschigiten, die sich an Marlinski und Lermontow herangebildet hatten. Diese Männer schauten auf den Kaukasus einzig und allein durch das Prisma der »Helden unserer Zeit«, der Mullah Nurs u.dgl., und in all ihrem Tun ließen sie sich nicht von ihren eigenen Neigungen leiten, sondern vom Beispiel dieser Vorbilder.

Der Leutnant zum Beispiel war vielleicht gern in Gesellschaft ehrbarer Frauen und bedeutender Männer ‒ von Generalen, Obersten, Adjutanten ‒, ich bin mir sogar sicher, dass er sehr gern in solcher Gesellschaft war, denn er war in höchstem Maße ruhmsüchtig; allerdings hielt er es für seine unbedingte Pflicht, sich allen bedeutenden Männern von seiner flegelhaften Seite zu zeigen, auch wenn er sie durchaus maßvoll anflegelte; und sobald in der Festung eine Dame auftauchte, hielt er es für seine Pflicht, mit seinen Kumpanen an ihren Fenstern vorbeizustolzieren, angetan nur mit rotem Hemd und Tschuwjaken an den bloßen Füßen, und so laut wie möglich zu schreien und zu fluchen ‒ all das weniger aus dem Wunsch, die Dame zu beleidigen, als vielmehr um zu zeigen, was für wunderschöne weiße Beine er hat und wie man sich in ihn verlieben könne, wollte er das nur selbst. Oft ging er auch mit zwei, drei befriedeten Tataren nachts in die Berge und legte sich an Wegen auf die Lauer, um vorbeireitende, nicht befriedete Tataren abzupassen und zu töten, und obgleich ihm sein Herz häufig sagte, verwegen sei daran gar nichts, hielt er sich für verpflichtet, Menschen leiden zu lassen, von denen er sich quasi enttäuscht sah und die er quasi verachtete und hasste. Zwei Dinge legte er niemals ab: das riesige Heiligenbild, das er am Hals, und den Dolch, den er über dem Hemd trug, mit ihm ging er sogar schlafen. Er glaubte aufrichtig, dass er Feinde habe. Sich einzureden, er müsse sich an jemandem rächen und eine Beleidigung mit Blut abwaschen, bereitete ihm größten Genuss. Er war überzeugt, Hass, Rachegelüste und Verachtung für das Menschengeschlecht seien die allerhöchsten poetischen Gefühle. Seine Geliebte ‒ eine Tscherkessin, versteht sich, ihr bin ich später ein paarmal begegnet ‒ sagte allerdings, er sei der allergutmütigste und sanfteste Mensch gewesen, jeden Abend habe er seine trübsinnigen Aufzeichnungen weitergeführt, auf liniertem Papier abgerechnet und auf Knien zu Gott gebetet. Und wieviel musste er durchmachen, um wenigstens vor sich selbst als der dazustehen, der er sein wollte, denn seine Kameraden und die Soldaten konnten ihn nicht so sehen, wie er das gerne gehabt hätte. Bei einer nächtlichen Wegelagerei mit seinen Kumpanen kam es dazu, dass er einen nicht befriedeten Tschetschenen mit einer Kugel am Bein verwundete und ihn gefangen nahm. Dieser Tschetschene lebte danach sieben Wochen bei dem Leutnant, und der Leutnant pflegte ihn, sorgte für ihn wie für einen nahen Freund, und als er ihn gesundgepflegt hatte, entließ er ihn mit Geschenken. Später einmal, als der Leutnant während einer Expedition mit der Schützenkette den Rückzug deckte und den Feind beschoss, hörte er, wie unter den Feinden ihn jemand beim Namen rief, und sein verletzter Kunak kam vorgeritten und forderte den Leutnant durch Zeichen auf, dasselbe zu tun. Der Leutnant ritt zu seinem Kunak und drückte ihm die Hand. Die Gebirgler standen in einiger Entfernung und schossen nicht; doch sobald der Leutnant sein Pferd gewendet hatte, gaben einige auf ihn Schüsse ab, und eine Kugel streifte ihn unterhalb des Rückens. Ein andermal habe ich selbst gesehen, wie es in der Festung nachts brannte und zwei Kompanien Soldaten am Löschen waren. Inmitten der Menge erschien plötzlich, vom purpurroten Flammenschein beleuchtet, die hochgewachsene Gestalt eines Mannes auf einem Rappen. Die Gestalt drängte sich durch die Menge und ritt bis zum Feuer. Unmittelbar davor sprang der Leutnant vom Pferd und rannte in das auf der einen Seite brennende Haus. Fünf Minuten später kam er mit angesengten Haaren und verbrannten Ellbogen wieder heraus, und unterm Hemd trug er zwei Täubchen, die er aus den Flammen gerettet hatte.

Sein Name war Rosenkranz; doch sprach er oft über seine Abstammung, leitete sie irgendwie von den Warägern her und führte den klaren Beweis, er und seine Vorfahren seien reinrassige Russen.

4

Die Sonne hatte die Hälfte ihres Wegs zurückgelegt und schickte heiße Strahlen durch die glühende Luft auf die trockene Erde. Der tiefblaue Himmel war vollkommen blank; nur die Schneeberge begannen sich am Fuß in weißlila Wolken zu hüllen. Die unbewegliche Luft schien von durchsichtigem Staub erfüllt zu sein; es wurde unerträglich heiß. Als ein kleiner Bach erreicht war, der halb über den Weg floss, machten die Truppen Rast. Die Soldaten lehnten die Gewehre aneinander und stürzten zum Bach; der Bataillonskommandeur setzte sich im Schatten auf eine Trommel; und während sein feistes Gesicht die Würde seines Rangs wahrte, machte er es sich bequem, um mit einigen Offizieren einen Imbiss einzunehmen; der Hauptmann legte sich unter dem Bagagewagen der Kompanie ins Gras; der tapfere Leutnant Rosenkranz und ein paar junge Offiziere lagerten sich auf ausgebreiteten Burkas und schickten sich zum Zechen an, wie an den Feld- und Glasflaschen um sie herum zu erkennen war sowie an der besonderen Lebhaftigkeit der Sänger, die, im Halbkreis vor ihnen stehend, auf die Melodie einer Lesginka und mit Pfiffen ein kaukasisches Tanzlied vortrugen:

Schamil verfiel aufs Rebellieren,

In den letzten Jahren …

Trai-rai, ra-ta-tai …

In den letzten Jahren.

Unter diesen Offizieren war auch der blutjunge Fähnrich, der uns morgens überholt hatte. Er war sehr drollig, seine Augen blitzten und seine Zunge verhedderte sich ein bisschen; zu gern hätte er alle abgeküsst und seiner Liebe versichert … Der arme Junge! Er wusste noch nicht, dass man in dieser Lage lächerlich wirken kann, dass er mit seiner Offenheit und den Zärtlichkeiten, die er allen aufdrängte, bei den anderen nicht die Liebe weckte, auf die es ihm so ankam, sondern ihren Spott ‒ ebensowenig wusste er, als er sich schließlich erhitzt auf die Burka fallen ließ und, auf den Arm gestützt, sein dichtes schwarzes Haar zurückwarf, dass er ungewöhnlich liebreizend aussah.

Zwei Offiziere saßen unter einem Bagagewagen und spielten auf einem Proviantkasten Karten.

Ich lauschte neugierig den Gesprächen der Soldaten und Offiziere und beobachtete aufmerksam ihren Gesichtsausdruck; aber bei überhaupt niemandem konnte ich auch nur einen Schatten jener Unruhe wahrnehmen, die ich selbst empfand: Scherze, Gelächter und Geschichten drückten allgemeine Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber der bevorstehenden Gefahr aus. Als läge jegliche Vermutung fern, es wäre einigen nicht mehr beschieden, auf diesem Weg zurückzukehren!

5

Gegen sieben Uhr abends rückten wir, staubbedeckt und erschöpft, durch das breite, gesicherte Tor in die Festung N. ‌N. ein. Die Sonne ging gerade unter und warf schräge rosa Strahlen auf die malerischen Geschützstände und die Gärten mit den hohen Pyramidenpappeln, welche die Festung umringten, auf die besäten, gelb werdenden Felder und die weißen Wolken, die sich um die Schneeberge auftürmten, sie gleichsam nachahmten und eine nicht weniger bizarre und schöne Kette bildeten. Der junge Halbmond war wie ein durchsichtiges Wölkchen am Horizont zu sehen. In dem Aul, der sich unweit des Tors befand, rief ein Tatar vom Dach einer Saklja die Rechtgläubigen zum Gebet; unsere Sänger schmetterten ihr Lied mit neuer Forschheit und Energie.

Als ich mich ein wenig erholt und hergerichtet hatte, begab ich mich zu einem Adjutanten, den ich kannte, um ihn zu bitten, dem General meine Absicht vorzutragen. Auf dem Weg vom Vorwerk, wo ich untergekommen war, fiel mir in der Festung N. ‌N. einiges auf, was ich niemals erwartet hätte. Mich überholte eine hübsche zweisitzige Kutsche, in der ein modisches Hütchen zu sehen und französische Gespräche zu hören waren. Aus dem offenen Fenster des Kommandantenhauses drangen die Klänge irgendeiner Elisen- oder Katharinen-Polka, gespielt auf einem schlechten, verstimmten Klavier. In der Schenke, an der ich vorbeikam, saßen, Papirossy in den Händen, ein paar Schreiber bei einem Glas Wein, und ich hörte, wie der eine zum anderen sagte: »Aber, erlauben Sie ‒ was die Politik angeht, ist Marja Fjodorowna bei uns ja tonangebend.« Ein buckliger Jude mit abgeschabtem Überrock und kränklichen Gesichtszügen zog einen quäkenden, kaputten Leierkasten, und über das gesamte Vorwerk breiteten sich die Klänge des »Lucia«-Finales aus. Zwei Frauen in raschelnden Kleidern, Seidentücher auf dem Kopf und grellbunte Schirme in der Hand, schritten auf den Bohlen des Gehsteigs gemessen an mir vorüber. Zwei junge Mädchen, die eine im rosa Kleid, die andere im himmelblauen und beide barhäuptig, standen am Erdwall vor einem niedrigen Häuschen und lachten unbändig, dünn und gekünstelt, offenbar in dem Wunsch, die Aufmerksamkeit vorübergehender Offiziere auf sich zu lenken. In neuen Überröcken, mit weißen Handschuhen und glänzenden Schulterstücken stolzierten die Offiziere über die Straßen und den Boulevard.

Ich fand meinen Bekannten im Erdgeschoss des Generalshauses. Gerade hatte ich ihm meinen Wunsch auseinandergesetzt und er mir gesagt, dieser sei höchstwahrscheinlich zu erfüllen, da rasselte vor dem Fenster, an dem wir saßen, die hübsche Kutsche vorbei, die mir unterwegs aufgefallen war, und hielt an der Haustreppe. Aus der Kutsche stieg ein hochgewachsener, schlanker Mann in Infanterie-Uniform mit Majors-Epauletten und begab sich zum General.

»Oh, entschuldigen Sie bitte«, sagte der Adjutant und stand auf, »ich muss unbedingt dem General Meldung erstatten.«

»Wer ist da eingetroffen?« fragte ich.

»Die Gräfin«, erwiderte er, und während er die Uniform zuknöpfte, rannte er schon nach oben.

Einige Minuten später trat ein mittelgroßer, doch äußerst schöner Mann heraus auf die Treppe; er trug einen Rock ohne Epauletten, mit weißem Kreuz und Band. Hinter ihm kamen der Major, der Adjutant und noch zwei Offiziere. Am Gang, an der Stimme und allen Bewegungen des Generals war zu erkennen, dass er sehr wohl um seinen besonderen Wert wusste.

»Bonsoir, madame la comtesse1«, sagte er und reichte die Hand zum Fenster der Kutsche hinein.

Ein Händchen im Glacéhandschuh drückte ihm die Hand, und ein hübsches, lächelndes Gesichtchen mit gelbem Hütchen zeigte sich im Fenster der Kutsche.

Von dem ganzen Gespräch, das einige Minuten dauerte, hörte ich nur im Vorübergehen, wie der General lächelnd sagte:

»Vous savez, que j'ai fait vœux de combattre les infidèles; prenez donc garde de le devenir.2«

In der Kutsche wurde gelacht.

»Adieu donc, cher général.3«

»Non, à revoir«, sagte der General und stieg auf die Treppenstufen, »n'oubliez pas, que je m'invite pour la soirée de demain.4«

Die Kutsche rasselte weiter.

›Das ist mir ein Mann‹, dachte ich auf dem Heimweg, ›er hat alles, was russische Menschen zu erlangen suchen ‒ Rang, Reichtum, Adel ‒, und vor einem Kampf, der Gott weiß wie ausgeht, scherzt er mit einer hübschen Frau und verspricht, tags darauf bei ihr Tee zu trinken, gerade, als wäre er ihr auf einem Ball begegnet!‹

Ebendort, bei diesem Adjutanten, war ich einem Mann begegnet, der mich noch mehr erstaunt hatte, einem jungen Leutnant des K'schen Regiments, den eine fast weibliche Sanftheit und Schüchternheit auszeichnete; er war zu dem Adjutanten gekommen, um seinen Ärger loszuwerden und seinen Unmut über Leute, die angeblich gegen ihn intrigierten, damit er zum bevorstehenden Gefecht nicht eingeteilt werde. Er sagte, das sei eine Gemeinheit, so zu handeln, das sei nicht kameradschaftlich, das werde er ihm nicht vergessen usw. Wie sehr ich auch seinen Gesichtsausdruck beobachtete, wie sehr ich dem Klang seiner Stimme lauschte, es blieb mir nur der Schluss, dass er sich nicht im geringsten verstellte, sondern zutiefst entrüstet und erbittert war, weil ihm nicht gestattet wurde, auf Tscherkessen zu schießen und unter ihren Beschuss zu geraten; er war so erbittert wie ein Kind, das gerade zu Unrecht eine Tracht Prügel bekommen hat … Ich begriff rein gar nichts mehr.

6

Um neun Uhr abends sollten die Truppen ausrücken. Um halb neun stieg ich aufs Pferd und ritt zum General; aber da ich annahm, er und sein Adjutant seien beschäftigt, blieb ich auf der Straße, band das Pferd an einen Zaun und setzte mich auf einen Hauswall, um dem General, sobald er herausgeritten käme, gleich nachzufolgen.

Hitze und Gleißen der Sonne waren bereits nächtlicher Kühle und dem milden Schein des jungen Mondes gewichen, der vor dem dunklen Blau des Sternenhimmels einen blass leuchtenden Halbkreis um sich gebildet hatte und zu sinken begann; aus den Fenstern der Häuser und den Ritzen der Läden an den Erdhütten blinkte nun Licht. Die schlanken Pyramidenpappeln, die hinter den geweißten, mondbeschienenen Erdhütten mit ihren Schilfdächern am Horizont zu sehen waren, wirkten noch höher und schwärzer.

Lange Schatten von Häusern, Bäumen und Zäunen lagen schön über dem lichten, staubigen Weg. Am Fluss tönten ohne Unterlass die Frösche; auf den Straßen waren bald hastige Schritte und Stimmen zu hören, bald Pferdegetrappel; aus dem Vorwerk flogen ab und zu Leierkastenklänge herüber, mal »Es wehen die Winde«, mal irgendein »Aurora-Walzer«.

Ich werde nicht sagen, worüber ich nachsann; erstens weil mir das Geständnis peinlich wäre, was für finstere Gedanken in ununterbrochener Folge mein Gemüt überfielen, während ich rings um mich nur Fröhlichkeit und Freude wahrnahm, und zweitens weil das zu meinem Bericht nicht passen würde. Ich sann dermaßen nach, dass ich nicht einmal bemerkte, wie die Glocke elf schlug und der General mit Suite an mir vorüberritt.

Hastig sprang ich aufs Pferd, um dem Trupp zu folgen.

Die Nachhut war noch am Festungstor. Mit Müh und Not bahnte ich mir durch das Gedränge der Geschütze, Protzen, Bagagewagen und lautstark Befehle erteilenden Offiziere einen Weg über die Brücke. Vors Tor gelangt, trabte ich an den fast eine Werst sich hinziehenden, im Dunkeln sich schweigend voranbewegenden Truppen entlang und holte den General ein. Während ich an der Geschützkolonne der Artillerie und den zwischen den Geschützen reitenden Offizieren vorbeikam, frappierte mich ‒ als kränkende Dissonanz inmitten der stillen und feierlichen Harmonie ‒ eine deutsche Stimme, die schrie: »Artillerist, gib mir Luuunte!«, und die Stimme eines Soldaten, die hastig schrie: »Schewtschenko! Der Herr Leutnant hätten gern Feuer!«

Der größere Teil des Himmels hatte sich zugezogen; zwischen den langen, dunkelgrauen Wolken funkelten nur hie und da blasse Sterne. Der Mond war bereits hinterm nahen Horizont der schwarzen Berge verschwunden, die rechts zu sehen waren, und warf auf ihre Gipfel ein schwaches und flackerndes Dämmerlicht, in scharfem Kontrast zu der undurchdringlichen Finsternis, die ihren Fuß bedeckte. Die Luft war warm und so still, dass kein einziges Gräschen, kein einziges Wölkchen sich zu regen schien. Es war so dunkel, dass Dinge selbst aus nächster Nähe nicht zu erkennen waren; links und rechts vom Weg vermeinte ich bald Felsen, bald Tiere, bald seltsame Menschen auszumachen, und dass es Sträucher waren, erkannte ich erst, wenn ich sie rascheln hörte und den frischen Tau spürte, der sie bedeckte. Vor mir sah ich eine kompakte, schwankende schwarze Wand, ihr folgten ein paar sich bewegende Punkte; das waren die Vorhut der Kavallerie und der General mit Suite. Hinter uns bewegte sich eine ebenso finstere Masse, doch war sie niedriger als die erste; das war die Infanterie.

In der gesamten Truppe herrschte eine solche Stille, dass die verschmelzenden, von geheimnisvollem Reiz erfüllten Klänge der Nacht alle klar zu hören waren: das ferne, schwermütige Geheul der Schakale, das bald verzweifeltem Klagegeschrei, bald einem Gelächter glich, die durchdringenden, eintönigen Gesänge von Grille, Frosch und Wachtel, ein näherkommendes Tosen, dessen Ursprung ich mir einfach nicht erklären konnte, dazu die nächtlichen, kaum hörbaren Regungen der Natur, die sich weder begreifen noch bestimmen lassen ‒ all das verschmolz zu jenem einzigen, vollen und wunderschönen Klingen, das wir Stille der Nacht nennen. Diese Stille wurde nur gestört ‒ oder vielmehr verschmolz sie eher mit dem dumpfen Hufgetrappel und dem Rascheln des hohen Grases, verursacht von der langsam dahinziehenden Truppe.

Nur bisweilen waren das Poltern eines schweren Geschützes und das Klirren zusammenstoßender Bajonette aus den Reihen zu hören, verhaltene Stimmen und das Schnauben eines Pferds.

Die Natur strahlte versöhnliche Schönheit und Kraft aus.

Haben die Menschen wirklich nicht genug Platz zum Leben auf dieser wunderschönen Welt, unter diesem unermesslichen Sternenhimmel? Können sich inmitten dieser bezaubernden Natur wirklich Feindseligkeit, Rachegefühle und die Lust an der Vernichtung von seinesgleichen in der Seele des Menschen halten? Alles Schlechte im Menschenherzen müsste doch eigentlich verschwinden bei der Berührung mit der Natur ‒ diesem so unmittelbaren Ausdruck des Schönen und Guten.

7

Wir ritten bereits über zwei Stunden. Mich schauderte allmählich und ich wurde schläfrig. Im Finsteren waren noch die gleichen unklaren Dinge vage auszumachen: in einiger Entfernung die schwarze Wand und die gleichen, sich bewegenden Flecken; unmittelbar neben mir die Kruppe eines Schimmels, der den Schweif schwenkte und breit die Hinterbeine aufsetzte; ein Rücken in weißer Tscherkesska, an dem ein Gewehr in schwarzem Futteral baumelte und ein weißer Pistolenknauf aus einem bestickten Halfter ragte; und die Glut einer Papirossa, die einen rotblonden Schnurrbart, einen Biberkragen und eine Hand in sämischledernem Handschuh beleuchtete. Ich beugte mich zum Hals des Pferdes, schloss die Augen und nickte für ein paar Minuten ein; das vertraute Getrappel und das Rascheln ließen mich dann plötzlich wieder aufschrecken, ich blickte um mich ‒ und mir war, als rührte ich mich nicht von der Stelle, als bewegte sich die schwarze Wand, die vor mir war, auf mich zu oder als wäre diese Wand stehengeblieben, und ich würde gleich dagegenprallen. In einem solchen Moment frappierte mich noch stärker jenes näherkommende, ununterbrochene Tosen, dessen Ursprung ich nicht enträtseln konnte. Es war Wasserrauschen. Wir hatten eine tiefe Schlucht erreicht und näherten uns einem Gebirgsfluss, der zu dieser Zeit heftig über die Ufer getreten war. Das Tosen wurde stärker, das nasse Gras stand dichter und höher, wir trafen häufiger auf Sträucher, und allmählich verengte sich der Horizont. Vor dem finsteren Gebirgshintergrund flammten an verschiedenen Stellen bisweilen helle Feuer auf und verschwanden sogleich wieder.

»Sagen Sie bitte, was sind das für Feuer?« fragte ich flüsternd den Tataren, der neben mir ritt.

»Du weißt nicht?« gab er zurück.

»Nein.«

»Gebirgler binden Stroh an Tajak und schwenken dann Feuer.«

»Wozu das denn?«

»Dass jeder Mensch weiß: Russe ist da. In Aulen ist jetzt«, fügte er lachend hinzu, »ai-ai, was los, Tomascha, alle schleppen Churda-Murda in Balka.«

»Wissen sie in den Bergen denn schon, dass die Truppe kommt?« fragte ich.

»Ha! Wie denn nicht wissen ‒ immer wissen! Unsre Leute sind so!«

»Dann zieht auch Schamil jetzt ins Feld?«

»Yok«, sagte er und schüttelte verneinend den Kopf, »Schamil nicht ziehen ins Feld, Schamil schicken Naib, selber schauen in Fernrohr, von oben.«

»Wohnt er weit von hier?«

»Nicht weit. Dort, linke Seite, zehn Werst.«

»Woher weißt du das?« fragte ich. »Warst du denn dort?«

»Ja, unsere Leute alle waren in Bergen.«

»Und hast Schamil gesehen?«

»Pff! Unsere Leute Schamil nicht sehen. Hundert, dreihundert, tausend Muriden ringsherum. Schamil in Mitte!« fügte er mit einem Ausdruck devoter Ehrfurcht hinzu.

Ein Blick nach oben ließ erkennen, dass der wieder aufgeklarte Himmel im Osten hell zu werden begann und das Siebengestirn sich dem Horizont zuneigte; doch in der Schlucht, durch die wir zogen, war es feucht und finster.

Plötzlich zuckten nicht weit vor uns, im Dunkeln, ein paar Flämmchen auf; im selben Augenblick pfiffen Kugeln vorbei, und inmitten der Stille ringsum schallten weithin Schüsse und lautes, durchdringendes Geschrei. Das war ein vorgeschobener Posten des Feindes. Die Tataren, die ihn bildeten, stießen wildes Kriegsgeheul aus, schossen aufs Geratewohl und rannten davon.

Alles verstummte wieder. Der General rief den Dolmetscher zu sich. Der Tatar in der weißen Tscherkesska ritt hin und sprach ziemlich lange mit ihm, flüsternd und gestikulierend.

»Oberst Chassanow, lassen Sie ausschwärmen«, sagte der General mit leiser, gedehnter, doch eindringlicher Stimme.

Die Truppe hatte den Fluss erreicht. Hinter uns blieben die schwarzen Berge der Schlucht zurück; es begann zu tagen. Der Himmel, an dem die blassen Sterne noch schwach zu sehen waren, wirkte höher; im Osten begann hell der Morgenstern zu funkeln; von Westen wehte ein frischer, durchdringender Wind, und wie Dampf stieg lichter Nebel über dem lärmenden Fluss auf.

8

Der Wegführer zeigte eine Furt, und die Vorhut der Kavallerie setzte nun über, danach der General mit Suite. Das Wasser reichte den Pferden bis an die Brust, ungewöhnlich reißend strömte es zwischen den weißen Steinen, die hie und da an der Wasseroberfläche zu sehen waren, und an den Pferdebeinen bildete es schäumende, rauschende Wirbel. Die Pferde wunderten sich über das Rauschen des Wassers, sie hoben die Köpfe, spitzten die Ohren, schritten aber gleichmäßig und vorsichtig gegen die Strömung über den unebenen Grund. Die Reiter hatten Beine und Waffen hochgezogen. Die Infanteristen, buchstäblich nur noch im Hemd, reckten die Gewehre, an denen Kleiderbündel steckten, hoch übers Wasser; jeweils zwanzig Mann hielten einander gepackt und suchten, ihren angestrengten Gesichtern nach, mühsam der Strömung zu widerstehen. Unter lautem Geschrei trieben die Gespannführer der Artillerie die Pferde im Trab ins Wasser. Die Geschütze und die grünen Munitionswagen, über die manchmal Wasser schwappte, polterten über den steinigen Grund; aber die braven Schwarzmeerpferde legten sich einträchtig in die Zugriemen, brachten das Wasser zum Schäumen und schafften es, Schweif und Mähne triefend nass, zum anderen Ufer hoch.

Sobald das Übersetzen beendet war, zeichnete sich im Gesicht des Generals mit einemmal Nachdenklichkeit und Besorgtheit ab, er wendete das Pferd und trabte mit der Kavallerie über die weite, waldumstandene Lichtung, die sich vor uns auftat. Die Kosakenkavalleristen schwärmten längs des Waldsaums aus.

Da ist im Wald ein Mann zu Fuß zu sehen, in Tscherkesska und Papacha, ein zweiter, ein dritter … Einer der Offiziere sagt: »Das sind Tataren.« Und da steigt hinter einem Baum ein Rauchwölkchen auf … ein Schuss, ein zweiter … Unsere häufigeren Schüsse überdecken die feindlichen. Nur manchmal beweist eine Kugel, wenn sie wie eine Biene im Flug langsam summend vorbeizieht, dass nicht alle Schüsse von uns stammen. Da haben sich Fußsoldaten eiligen Schrittes und Geschütze im Trab zur Kette entfaltet; zu hören sind die dröhnenden Schüsse der Geschütze, das metallische Sirren des Kartätschenflugs, das Zischen der Raketen, das Knattern der Gewehre. Kavallerie, Infanterie und Artillerie sind auf der weiträumigen Lichtung allseits zu sehen. Die Rauchfetzen von Geschützen, Raketen und Gewehren vermischen sich mit dem taubedeckten Grün und dem Nebel. Oberst Chassanow kommt zum General gesprengt und hält, aus vollem Galopp, jäh sein Pferd an.

»Euer Exzellenz«, sagt er, die Hand an die Papacha gelegt, »befehlen Sie der Kavallerie zu attackieren. Es tauchen Feldzeichen auf.« Und er deutet mit der Peitsche auf berittene Tataren, vor denen zwei Mann auf Schimmeln reiten und Stecken mit roten und blauen Stofffetzen halten.

»Gott befohlen, Iwan Michailytsch«, sagt der General.

Der Oberst wendet auf der Stelle sein Pferd, zieht die Schaschka und ruft: »Hurra!«

»Hurrra! Hurrra! Hurrra!« tönt es aus den Reihen, und die Kavallerie jagt ihm nach.

Alles schaut gespannt zu: dort, ein Feldzeichen, ein zweites, drittes, viertes …

Ohne die Attacke abzuwarten, zieht sich der Feind in den Wald zurück und eröffnet von dort das Gewehrfeuer. Die Kugeln fliegen nun häufiger.

»Quel charmant coup d'œil5«, sagt der General, wobei er auf seinem dünnbeinigen Rappen nach englischer Art leicht im Sattel hüpft.

»Charrmant!« erwidert, mit französisch weichem R, ein Major und kommt, nach einem Peitschenhieb auf sein Pferd, zum General geritten. »C'est un vrrai plaisirr, que la guerre dans un aussi beau pays6«, sagt er.

»Et surtout en bonne compagnie7«, fügt der General mit freundlichem Lächeln hinzu.

Der Major verneigt sich.

Zur gleichen Zeit fliegt mit raschem, unfreundlichem Zischen eine feindliche Kanonenkugel vorbei und schlägt irgendwo auf; von hinten ist das Stöhnen eines Verwundeten zu hören. Dieses Stöhnen berührt mich derart sonderbar, dass das kriegerische Bild augenblicks sämtlichen Reiz für mich verliert; doch außer mir will das quasi niemand wahrhaben: Der Major lacht, anscheinend voller Hingabe; ein anderer Offizier wiederholt in aller Ruhe, wovon er zu sprechen begonnen hatte; der General schaut in die entgegengesetzte Richtung und sagt mit seelenruhigem Lächeln etwas auf Französisch.

»Befehlen Sie, ihre Schüsse zu erwidern?« fragt der herzusprengende Artilleriechef.

»Ja, schreckt sie ein wenig«, wirft der General beiläufig hin, während er sich eine Zigarre anzündet.

Die Batterie macht sich gefechtsbereit, und die Kanonade beginnt. Die Erde stöhnt unter den Schüssen, unablässig blitzen Flämmchen auf, und der Rauch, in dem die Bewegungen der Bedienungsmannschaft kaum noch zu erkennen sind, verdeckt den Blick.

Der Beschuss des Auls ist zu Ende. Wieder kommt Oberst Chassanow geritten, und auf Befehl des Generals jagt er zum Aul. Wieder ertönt Kriegsgeschrei, und die Kavallerie verschwindet in der von ihr aufgewirbelten Staubwolke.

Das Schauspiel war in der Tat grandios. Mir als jemandem, der an dem Ganzen nicht beteiligt und dergleichen nicht gewohnt war, verdarb dabei nur eines den Eindruck und schien mir auch entbehrlich zu sein, nämlich die Erregung, das Hochgefühl, die Schreie. Unwillkürlich kam mir der Vergleich mit einem Mann, der mit dem Beil schwungvoll die Luft spaltet.

9

Der Aul war von unseren Truppen bereits eingenommen, und keine einzige feindliche Menschenseele befand sich mehr darin, als der General mit seiner Suite, unter die auch ich mich gemischt hatte, nun hinritt.

Lange, reinliche Sakljas mit erdbedeckten Flachdächern und schönen Schornsteinen lagen über die unebenen steinigen Anhöhen verteilt, zwischen denen ein Bach floss. Auf der einen Seite sah man im hellen Sonnenschein grüne Gärten mit riesigen Birnen- und Kirschpflaumenbäumen; auf der anderen ragten merkwürdige Schatten, die senkrecht stehenden hohen Grabsteine des Friedhofs, dazwischen lange Holzstecken mit Kugeln und bunten Fähnchen an den Enden. (Das waren die Gräber von Dschigiten.)

Die Truppen standen in Reih und Glied am Tor des Auls.

Im nächsten Moment schwärmten Dragoner, Kosaken und Infanteristen mit sichtlichem Vergnügen in die krummen Gassen aus, und der leere Aul war im Nu belebt. Da stürzt ein Dach ein, hämmert ein Beil gegen festes Holz und bricht eine Brettertür auf; hier geraten ein Heuschober, ein Zaun, eine Saklja in Brand, und in der klaren Luft steigt eine dichte Rauchsäule auf. Dort schleppt ein Kosak einen Sack Mehl und einen Teppich; mit freudiger Miene trägt ein Soldat eine Blechschüssel und irgendeinen Lappen aus einer Saklja; ein anderer sucht, die Arme ausgebreitet, zwei Hühner zu fangen, die unter Gegacker am Zaun herumirren; ein dritter hat irgendwo einen riesigen Kumgan mit Milch gefunden, trinkt daraus und wirft ihn dann unter lautem Gelächter zu Boden.

Das Bataillon, mit dem ich aus der Festung N. gekommen war, befand sich ebenfalls im Aul. Der Hauptmann saß auf dem Dach einer Saklja und ließ mit derart gleichgültiger Miene den Rauch seines Eigenbautabaks aus seinem kurzen Pfeifchen strömen, dass ich bei seinem Anblick vergaß, in einem nicht befriedeten Aul zu sein, und mich hier vollkommen heimisch fühlte.

»Ah! Sie auch hier?« sagte er, als er mich bemerkte.

Die hochgewachsene Gestalt des Leutnants Rosenkranz tauchte bald hier, bald dort im Aul auf; unentwegt traf er Anordungen und wirkte wie jemand, der überaus besorgt ist. Ich sah, wie er mit triumphierender Miene aus einer Saklja trat; hinter ihm führten zwei Soldaten einen gefesselten alten Tataren heraus. Der Greis, dessen gesamte Kleidung aus einem in Lumpen zerfallenden bunten Beschmet und einer flickenbesetzten Unterhose bestand, war so dürr, dass seine hinterm buckligen Rücken straff zusammengebundenen knochigen Arme sich kaum noch an den Schultern zu halten schienen und die krummen, nackten Beine sich mit Mühe fortbewegten. Sein Gesicht und sogar ein Teil des kahlgeschorenen Kopfes waren von tiefen Runzeln zerfurcht; der schiefe, zahnlose Mund, von einem gestutzten grauen Schnurrbart und einem Vollbart umgeben, bewegte sich unablässig, als ob er kaute; in den wimperlosen roten Augen brannte aber noch Feuer, und deutlich stand darin greisenhafte Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben.

Rosenkranz fragte ihn über einen Dolmetscher, weshalb er nicht mit den anderen fortgegangen sei.

»Wohin soll ich denn?« sagte er, den Blick ruhig zur Seite gewandt.

»Dorthin, wo auch die anderen sind«, meinte jemand.

»Die Dschigiten schlagen sich jetzt mit den Russen, aber ich bin alt.«

»Hast du denn keine Angst vor den Russen?«

»Was können mir die Russen schon tun? Ich bin alt«, sagte er noch einmal und blickte geringschätzig in die Runde, die sich um ihn versammelt hatte.

Auf dem Rückweg sah ich später, wie dieser Greis, ohne Mütze und mit gefesselten Armen, hinterm Sattel eines Linienkosaken durchgerüttelt wurde und mit demselben leidenschaftslosen Gesichtsausdruck um sich blickte. Er wurde für den Austausch von Gefangenen gebraucht.

Ich kletterte auf das Dach und ließ mich neben dem Hauptmann nieder.

»Der Feind war wohl nicht sehr zahlreich?« sagte ich zu ihm, da ich seine Meinung über das vorangegangene Gefecht hören wollte.

»Der Feind?« wiederholte er verwundert. »Der war doch gar nicht da. Nennt sich das etwa Feind? Abends, da schauen Sie mal, sobald wir abrücken, werden Sie sehen, wie die uns das Geleit geben, wie viele dort zum Vorschein kommen!« fügte er hinzu und deutete dabei mit der Pfeife auf das Waldstück, das wir morgens durchquert hatten.

Ich unterbrach den Hauptmann. »Was ist das denn?« fragte ich beunruhigt und deutete auf Donkosaken, die nicht weit von uns etwas umringten.

Aus ihrer Mitte war so etwas wie Kinderweinen und Gerede zu hören:

»He, nicht dreinhauen … halt … das sieht wer … Hast du ein Messer, Jewstignejitsch? … Gib das Messer …«

»Die teilen irgendwas, die Schufte«, sagte der Hauptmann ungerührt.

In diesem Moment kam plötzlich der hübsche Fähnrich mit erhitztem, erschrockenem Gesicht um die Ecke gerannt und stürzte unter Armgefuchtel zu den Kosaken.

»Rührt es nicht an, schlagt es nicht!« schrie er mit Kinderstimme.

Als die Kosaken den Offizier sahen, traten sie auseinander und ließen ein weißes Zicklein los. Der junge Fähnrich geriet völlig außer Fassung, murmelte etwas und blieb mit verwirrtem Gesichtsausdruck davor stehen. Als er mich und den Hauptmann auf dem Dach erblickte, errötete er noch mehr und kam in langen Sätzen zu uns gerannt.

»Ich dachte, sie wollten ein Kind töten«, sagte er mit verzagtem Lächeln.

10

Der General ritt mit der Kavallerie voraus. Das Bataillon, mit dem ich aus der Festung N. gekommen war, blieb in der Nachhut. Die Kompanien von Hauptmann Chlopow und Leutnant Rosenkranz rückten gemeinsam ab.

Die Vorhersage des Hauptmanns bestätigte sich vollauf. Sobald wir das schmale Waldstück betraten, von dem er gesprochen hatte, huschten auf beiden Seiten unablässig Gebirgler vorüber, beritten und zu Fuß, und das so nah, dass ich sehr gut sah, wie einige, das Gewehr in der Hand, geduckt von Baum zu Baum rannten.

Der Hauptmann nahm die Mütze ab und bekreuzigte sich andächtig; einige alte Soldaten taten es ihm gleich. Im Wald war Kriegsgeheul zu hören, dazu die Rufe: »Iaj giaur! Uruss iaj!8« Kurze, trockene Gewehrschüsse fielen in rascher Folge, von beiden Seiten jaulten die Kugeln. Schweigend setzten die Unsrigen darauf zum Lauffeuer an; aus ihren Reihen hörte man nur hie und da Bemerkungen von der Art wie: »Schau, von wo er feuert, er hat es gut im Wald, wir sollten Geschütze …« usw.

Die Geschütze fuhren zur Kette auf, und nach einigen Kartätschensalven schienen die Angriffe abzuflauen, doch wenig später und mit jedem Schritt, den die Truppen machten, verstärkte der Feind wieder Feuer, Rufe und Kriegsgeheul.

Kaum dreihundert Saschen waren wir vom Aul abgerückt, da pfiffen über uns auch feindliche Kanonenkugeln. Ich sah, wie eine Kugel einen Soldaten tötete … doch wozu dieses schreckliche Bild im einzelnen beschreiben, gäbe ich selbst doch viel dafür, wenn ich es vergessen könnte!

Leutnant Rosenkranz schoss selbst, sein Gewehr schwieg nicht eine Minute; mit heiserer Stimme schrie er die Soldaten an und jagte pfeilschnell vom einen Ende der Kette zum anderen. Er war ziemlich bleich, und das passte sehr gut zu seinem kämpferischen Gesicht.

Der hübsche Fähnrich war begeistert; seine schönen schwarzen Augen blitzten vor Wagemut, der Mund lächelte leicht; andauernd kam er zum Hauptmann geritten und bat ihn um die Erlaubnis, zum Sturmangriff überzugehen.

»Wir werfen sie zurück«, sagte er mit Nachdruck, »werfen sie bestimmt zurück!«

»Nicht nötig«, antwortete der Hauptmann sanft, »wir müssen abrücken.«

Die Kompanie des Hauptmanns hatte den Waldsaum besetzt und erwiderte liegend das Feuer des Feindes. In seinem abgetragenen Überrock und der zerzausten Mütze stand der Hauptmann schweigend an ein und derselben Stelle; seinem weißen Rösslein hatte er die Zügel freigegeben und in den kürzer geschnallten Steigbügeln sich die Beine höher gezogen. (Die Soldaten wussten so gut, was sie zu tun hatten, dass sie keine Befehle brauchten.) Nur manchmal hob er die Stimme, um diejenigen anzuschreien, die den Kopf hochstreckten.

Die Gestalt des Hauptmanns hatte sehr wenig Kämpferisches; dafür hatte sie soviel Wahrhaftiges und Schlichtes an sich, dass sie mich ungewöhnlich beeindruckte. ›Da sieht man, wer wahrhaft tapfer ist‹, kam mir unwillkürlich in den Sinn.

Er war ganz derselbe, wie ich ihn immer erlebt hatte: dieselben ruhigen Bewegungen, dieselbe gleichmäßige Stimme und derselbe Ausdruck von Geradheit auf dem unschönen, aber schlichten Gesicht; nur an seinem Blick, durchdringender als sonst, war abzulesen, dass da ein Mensch aufmerksam und ruhig seiner Tätigkeit nachging. Ganz derselbe wie immer ist leicht gesagt; wie viele unterschiedliche Nuancen nahm ich doch an anderen wahr: Der eine wollte ruhiger erscheinen als sonst, der andere strenger, der dritte fröhlicher; am Gesicht des Hauptmanns war abzulesen, dass er gar nicht begriff, wieso er einen Anschein erwecken sollte.

Der Franzose, der bei Waterloo sagte: »La garde meurt, mais ne se rend pas9«, und andere Helden, vorwiegend Franzosen, die denkwürdige Aussprüche taten, waren tapfer und ihre Aussprüche tatsächlich denkwürdig; der Unterschied zwischen ihrer Tapferkeit und der Tapferkeit des Hauptmanns ist allerdings, dass mein Held ein großes Wort, hätte es sich auch, ganz gleich aus welchem Anlass, in seinem Inneren geregt, keinesfalls ausgesprochen hätte, da bin ich mir sicher; erstens, weil er, das große Wort aussprechend, gefürchtet hätte, damit der großen Sache zu schaden, und weil zweitens, wenn ein Mensch die Kraft zu einer großen Sache in sich fühlt, irgendein Wort, ganz gleich welcher Art, nicht gebraucht wird. Das ist, meiner Meinung nach, der besondere und erhabene Wesenszug der russischen Tapferkeit; und wie soll es danach einem russischen Herzen nicht weh tun, wenn unter unseren jungen Kriegern abgeschmackte französische Phrasen zu hören sind, einzig aus dem Bestreben, einem veralteten französischen Rittertum nachzueifern?

Plötzlich war von der Seite, wo der hübsche Fähnrich mit seinem Zug stand, ein nicht einmütiges und nicht lautstarkes »Hurra« zu hören. Als ich mich daraufhin umschaute, erblickte ich an die dreißig Soldaten, die, Gewehre in den Händen und Rucksäcke auf den Schultern, mit Ach und Krach über ein gepflügtes Feld rannten. Sie strauchelten, dennoch bewegten sie sich vorwärts und schrien. Vor ihnen sprengte, mit gezogener Schaschka, der junge Fähnrich.

Alles verschwand im Wald.

Nach einigen Minuten Kriegsgeheul und Geknatter kam aus dem Wald ein verschrecktes Pferd gerannt, und am Waldsaum tauchten Soldaten auf, die Tote und Verwundete trugen; unter letzteren war der junge Fähnrich. Zwei Soldaten stützten ihn unter der Achsel. Er war bleich wie Linnen, und das hübsche Köpfchen, auf dem nur noch ein Schatten jener kämpferischen Begeisterung lag, die es Minuten zuvor beflügelt hatte, war irgendwie schrecklich zwischen die Schultern gesunken und hing auf der Brust. Unter dem aufgeknöpften Rock war auf dem weißen Hemd ein kleines Blutfleckchen zu sehen.

»Ach, wie jammerschade!« entfuhr es mir unwillkürlich, und ich wandte mich von dem traurigen Schauspiel ab.

»Schon wahr, schad drum«, sagte ein alter Soldat, der mit düsterer Miene, aufs Gewehr gestützt, neben mir stand. »Hat vor überhaupt nichts Angst, wie kann man nur!« fügte er hinzu, den Blick unverwandt auf den Verwundeten geheftet. »Ist noch dumm, das muss er jetzt büßen.«

»Ja, hast du denn Angst?« fragte ich.

»Ja, wie denn nicht!«

11

Vier Soldaten trugen den Fähnrich auf einer Bahre; hinter ihnen führte ein Soldat aus dem Vorwerk ein dürres, schwachbeiniges Pferd, bepackt mit zwei grünen Kisten, in denen der Feldscher seine Gerätschaften aufbewahrte. Man wartete auf den Doktor. Offiziere kamen zur Bahre geritten und suchten den Verwundeten aufzumuntern und zu trösten.

»Tja, Freund Alanin, dauert wohl, bis du zu Tschingbum wieder tanzen kannst«, sagte lächelnd der herbeigerittene Leutnant Rosenkranz.

Er meinte wohl, mit diesen Worten spräche er dem hübschen Fähnrich Mut zu; doch soweit sich aus dessen kühlem, traurigen Blick schließen ließ, hatten die Worte nicht die erwünschte Wirkung.

Auch der Hauptmann kam angeritten. Er schaute unverwandt auf den Verwundeten, und sein stets gleichgültiges, kühles Gesicht drückte nun aufrichtiges Mitgefühl aus.

»Nun, mein lieber Anatoli Iwanytsch?« sagte er mit einer Stimme, in der soviel zarte Anteilnahme mitschwang, wie ich es nicht von ihm erwartet hätte. »Offenbar hat Gott es so gewollt.«

Der Verwundete blickte sich um; ein trauriges Lächeln belebte sein bleiches Gesicht.

»Ja, ich habe nicht auf Sie gehört.«

»Sagen Sie eher: Gott hat es so gewollt«, wiederholte der Hauptmann.

Der Doktor kam angeritten, ließ sich vom Feldscher Binden, eine Sonde und andere Gerätschaften geben, und während er die Ärmel aufkrempelte, trat er mit aufmunterndem Lächeln zu dem Verwundeten.

»Nun, auch Ihnen haben sie offenbar an einer heilen Stelle ein Löchlein gemacht?« sagte er in scherzhaftem, lockerem Ton. »Zeigen Sie mal her.«

Der Fähnrich tat wie geheißen; aber in dem Blick, den er auf den fröhlichen Doktor richtete, lagen Verwunderung und ein Vorwurf, den letzterer nicht bemerkte. Der Doktor ging daran, die Wunde zu sondieren und von allen Seiten zu untersuchen; schließlich verlor der Verwundete aber die Geduld, mit einem tiefen Stöhnen schob er seine Hand weg.

»Lassen Sie mich«, sagte er, kaum hörbar, »ich sterbe ohnehin.«

Mit diesen Worten fiel er auf den Rücken, und als ich fünf Minuten später zu der Gruppe trat, die sich um ihn gebildet hatte, und einen Soldaten fragte: »Nun, und der Fähnrich?«, bekam ich zur Antwort: »Geht dem Ende zu.«

12

Es war schon spät, als sich die Truppe, zu einer breiten Kolonne formiert, unter Gesang der Festung näherte.

Die Sonne war hinter dem Schnee des Gebirgsrückens verschwunden und warf letzte rosa Strahlen auf eine lange, dünne Wolke, die noch am klaren, durchsichtigen Horizont stand. Die Schneeberge verschwanden allmählich in einem lila Nebel; nur ihre Kammlinie zeichnete sich mit äußerster Klarheit vor dem purpurroten Licht des Sonnenuntergangs ab. Der längst aufgegangene, durchsichtige Mond wurde vor dem dunklen Azurblau zusehends weiß. Das Grün von Gras und Bäumen wurde schwarz und überzog sich mit Tau. Von den dunklen Massen der Truppen ging gleichmäßiger Lärm aus, sie bewegten sich über eine prachtvolle Wiese; von verschiedenen Seiten waren Tamburine, Trommeln und fröhliche Lieder zu hören. Der Diskantsänger aus der sechsten Kompanie tönte hervor, und von Gefühl und Kraft erfüllt, schallte der klare Tenor seiner Bruststimme weit durch die durchsichtige Abendluft.

Der Holzschlag

Bericht eines Junkers

1

In der Wintermitte des Jahres 185… kam die Division unserer Batterie in Groß-Tschetschenien zum Einsatz. Am Abend des vierzehnten Februar erfuhr ich, der Zug, den ich während der Abwesenheit des Offiziers befehligte, sei der morgigen Marschkolonne zum Holzschlagen zugeteilt, und nachdem ich gleich abends die nötigen Weisungen erhalten und erteilt hatte, begab ich mich früher als sonst in mein Zelt; da ich nicht der üblen Gewohnheit anhing, es durch glühende Kohlen anzuwärmen, legte ich mich unausgekleidet in mein auf Holzpflöcken stehendes Bett, schob mir die Papacha über die Augen, wickelte mich in den Pelz und fiel in jenen besonderen, festen und schweren Schlaf, der einen in Momenten der Erregung und Unruhe vor einer Gefahr überkommt. Die Spannung vor der Unternehmung morgen hatte mich in diesen Zustand versetzt.

Um drei Uhr früh, als es noch vollkommen dunkel war, wurde mir der erwärmte Pelzmantel fortgezogen, und eine purpurne Kerzenflamme leuchtete mir unangenehm in die verschlafenen Augen.

»Bitte, stehen Sie auf«, sagte jemandes Stimme. Ich schloss die Augen, zog mechanisch wieder den Pelzmantel über mich und schlief ein. »Bitte, stehen Sie auf«, wiederholte Dmitri und rüttelte mich unbarmherzig an der Schulter. »Die Infanterie rückt aus.« Plötzlich wurde mir die Realität bewusst, ich fuhr hoch und sprang auf die Füße. Rasch trank ich ein Glas Tee und wusch mich mit Eiswasser, verließ das Zelt und ging zum Park (dem Ort, wo die Geschütze standen). Es war dunkel, neblig und kalt. Die nächtlichen Feuer, welche hie und da im Lager brannten und die Gestalten der darum lagernden, verschlafenen Soldaten beschienen, verstärkten noch die Dunkelheit durch ihr verhaltenes, purpurnes Licht. Nahebei war gleichmäßiges, ruhiges Schnarchen zu hören, weiter weg das Rumoren, Reden und Gewehrklirren der Infanterie, die sich zum Ausrücken fertigmachte; es roch nach Rauch, Mist, Lunte und Nebel; über den Rücken liefen morgendliche Kälteschauer, und unwillkürlich betasteten die Zähne sich gegenseitig.

Nur am Schnauben und seltenen Hufschlag ließ sich in dieser undurchdringlichen Dunkelheit erkennen, wo die bespannten Protzen und Munitionswagen standen, und an den glimmenden Enden der Luntenstöcke, wo die Geschütze standen. Jemand sagte: »Gott befohlen«, und das erste Geschütz ratterte los, dahinter polterte der Munitionswagen, und der Zug setzte sich in Bewegung. Wir nahmen alle die Mützen ab und bekreuzigten uns. Als der Zug sich bei der Infanterie in eine Lücke eingereiht hatte, machte er halt und wartete gewiss eine Viertelstunde, bis die ganze Kolonne aufgestellt war und der Befehlshaber geritten kam.

Eine schwarze Gestalt trat zu mir und sagte: »Nikolai Petrowitsch, einer von unsren Soldaten ist nicht da!« Nur an der Stimme erkannte ich Maximow, den Feuerwerker des Zugs.

»Wer?«

»Welentschuk ist nicht da. Wie wir bespannt haben, war er noch hier, hab ihn gesehn ‒ und jetzt nicht mehr.«

Weil nicht zu vermuten stand, die Kolonne würde sich gleich in Bewegung setzen, beschlossen wir, den Frontgefreiten Antonow auf die Suche nach Welentschuk zu schicken. Bald danach trabten im Dunkeln einige Reiter an uns vorüber, es war der Befehlshaber mit Suite; darauf ruckte die Kolonnenspitze und setzte sich in Bewegung, schließlich auch wir, doch Antonow und Welentschuk waren nicht da. Wir hatten allerdings keine hundert Schritt zurückgelegt, als die beiden Soldaten uns einholten.

»Wo war er?« fragte ich Antonow.

»Hat geschlafen im Park.«

»Ja, wie ‒ ist er betrunken?«

»Nein.«

»Weshalb ist er dann eingeschlafen?«

»Mir nicht bekannt.«

Gewiss drei Stunden zogen wir langsam über ungepflügte, schneelose Felder und niedrige, unter den Geschützrädern knackende Sträucher, nach wie vor in Stille und Finsternis. Als wir einen nicht tiefen, doch geradezu reißenden Bach überquert hatten, mussten wir schließlich anhalten, und von der Vorhut waren vereinzelte Gewehrschüsse zu hören. Wie immer wirkte dieses Knallen besonders aufscheuchend. Die Truppe erwachte gleichsam; in den Reihen rumorte es, war Reden und Lachen zu hören. Manche Soldaten begannen, miteinander zu ringen, manche hüpften von einem Bein aufs andere, manche kauten einen Zwieback oder exerzierten zum Zeitvertreib: Präsentiert das Gewehr! und: Gewehr ab! Wobei der Nebel im Osten deutlich heller wurde, die Feuchtigkeit spürbar zunahm und die Gegenstände ringsum allmählich aus der Finsternis traten. Ich konnte schon die grünen Lafetten und Munitionswagen erkennen, das von Nebelnässe bedeckte Metall der Geschütze, die bekannten, mir unwillkürlich bis in die kleinsten Einzelheiten vertrauten Gestalten meiner Soldaten, die braunen Pferde und die Reihen der Fußtruppen mit ihren blinkenden Bajonetten, den Schultersäcken, Krätzern und Kochgeschirren auf dem Rücken.

Bald wurden wir erneut in Bewegung gesetzt, und als wir einige hundert Schritt im Weglosen zurückgelegt hatten, wies man uns einen Platz an. Rechts waren das Steilufer eines windungsreichen Flüsschens und die hohen Holzsäulen eines tatarischen Friedhofs zu sehen; links und vor uns schimmerte als schwarzes Band der Saum eines dichten Waldes durch den Nebel. Der Zug protzte ab. Die achte Kompanie, die uns Bedeckung gab, stellte die Gewehre zu Pyramiden zusammen, und ein Bataillon Soldaten begab sich mit Gewehren und Äxten in den Wald.

Es dauerte keine fünf Minuten, da prasselten und qualmten allenthalben die Lagerfeuer, die Soldaten fachten mit Armen und Rockschößen das Feuer an, schwärmten aus, schleppten Äste und Stämme, und im Wald klangen ununterbrochen Hunderte von Äxten und fallenden Bäumen.

Die Artilleristen hatten, in gewisser Rivalität zu den Infanteristen, ihr eigenes Lagerfeuer aufgeschichtet, und obwohl es schon derart brannte, dass man sich nicht auf zwei Schritt nähern konnte und von den vereisten Zweigen, welche die Soldaten ins Feuer drückten, Tropfen zischten und dichter schwarzer Qualm aufstieg, obwohl sich unten schon Kohlen bildeten und das totenbleiche Gras ringsherum auftaute, schien es den Soldaten noch nicht zu genügen; sie schleppten ganze Stämme herbei, schoben Steppengras ins Feuer und fachten es mehr und mehr an.

Als ich zum Feuer trat, um mir eine Papirossa anzustecken, holte Welentschuk, ohnehin stets rührig, nun aber aus Schuldbewusstsein mehr als die anderen um das Feuer bemüht, in einem Anfall von Eifer mit bloßer Hand ein Stück Kohle mitten heraus, warf es zweimal aus der einen Hand in die andere und dann zu Boden.

»Zünd ein Reis an und reich es«, sagte ein anderer. »Reicht einen Luntenstock, Brüder«, sagte ein dritter. Als ich mir schließlich ohne die Hilfe Welentschuks, der wieder ein Stück Kohle mit den Händen greifen wollte, die Papirossa angezündet hatte, wischte er sich die verbrannten Finger an den rückwärtigen Schößen seines Schafpelzes ab, und wohl um zumindest irgendwas zu tun, stemmte er einen großen Platanenklotz hoch und warf ihn mit Schwung ins Feuer. Und als er endlich meinte, er könnte sich Ruhe gönnen, trat er nah an die Hitze, riss am Uniformmantel, den er sich umgehängt hatte, noch den Knopf am Riegel auf, stellte sich breitbeinig hin, streckte seine großen schwarzen Hände vor, und, den Mund leicht verzogen, kniff er die Augen zu.

»Herrje, die Pfeife hab ich vergessen. Ach, Brüder, zu schad!« sagte er nach einer Weile, ohne jemand Bestimmtes anzusprechen.

2

In Russland gibt es drei vorherrschende Soldatentypen, denen sich die Soldaten aller Truppen zuordnen lassen, also die im Kaukasus, in der Armee, der Garde, der Infanterie, Kavallerie, Artillerie usw.

Diese Haupttypen sind, mit vielen Untergruppen und Mischformen, die folgenden:

1) die Fügsamen,

2) die Befehlerischen und

3) die Verwegenen.

Die Fügsamen unterteilen sich in a) die fügsamen Kaltblütigen, b) die fügsamen Trunksüchtigen und c) die fügsamen Rührigen.