Krimi Quartett Superband 1022 - Peter Haberl - E-Book

Krimi Quartett Superband 1022 E-Book

Peter Haberl

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Krimis: Peter Haberl/Chris Heller. Kommissar Jörgensen und die korrupten Kollegen Alfred Bekker: Der Kopf eines Killers Alfred Bekker: Auftrag für einen Schnüffler Molly Thynne: Der Mord auf der Enriqueta Ein Kopf wird aufgespießt am Zaun des Polizeipräsidenten von Frankfurt gefunden. Ist es eine Warnung aus dem kriminellen Milieu oder was steckt dahinter? Die Kommissare Harry Kubinke und Rudi Meier ermitteln. Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, Jack Raymond, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

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Seitenzahl: 778

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alfred Bekker, Chris Heller, Peter Haberl, Molly Thynne

Krimi Quartett Superband 1022

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Inhaltsverzeichnis

Krimi Quartett Superband 1022

Copyright

Kommissar Jörgensen und die korrupten Kollegen

​Der Kopf eines Mörders

Auftrag für einen Schnüffler

Der Mord auf der Enriqueta:

Krimi Quartett Superband 1022

Alfred Bekker, Chris Heller, Peter Haberl, Molly Thynne

Dieser Band enthält folgende Krimis:

Peter Haberl/Chris Heller. Kommissar Jörgensen und die korrupten Kollegen

Alfred Bekker: Der Kopf eines Killers

Alfred Bekker: Auftrag für einen Schnüffler

Molly Thynne: Der Mord auf der Enriqueta

Ein Kopf wird aufgespießt am Zaun des Polizeipräsidenten von Frankfurt gefunden. Ist es eine Warnung aus dem kriminellen Milieu oder was steckt dahinter? Die Kommissare Harry Kubinke und Rudi Meier ermitteln.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, Jack Raymond, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author /COVER A.PANADERO

© dieser Ausgabe 2025 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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Kommissar Jörgensen und die korrupten Kollegen

von Peter Haberl & Chris Heller

: Mordermittlung Hamburg Kriminalroman

Krimi von Peter Haberl & Chris Heller
Melanie ist achtzehn Jahre alt und kriminell. Ein Straßenraub wird ihr zum Verhängnis. Nun hat sie die Wahl: zwei Jahre Gefängnis oder drei Monate Jugendhilfeeinrichtung. Melanie entscheidet sich für die Jugendhilfeeinrichtung. Doch was sie – und einige andere Mädchen - dort erwartet, ist schlimmer als Gefängnis ...
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Cassiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author
Kommissar Jörgensen ist eine Erfindung von Alfred Bekker.
Chris Heller ist ein Pseudonym von Alfred Bekker.
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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1
Ich betrat die Kantine des Präsidiums und sah mich um. Der Raum war voller Menschen, alle trugen Uniformen oder Anzüge - ich kannte sie alle. Doch mein Blick blieb an einem Mann hängen, der am Ende des Raumes stand und sich etwas zu essen holte.
Als er näher kam, erkannte ich ihn sofort: Tobias Schmitz. Ein alter Kollege von mir, der vor ein paar Jahren eine Auszeit genommen hatte und in den letzten Monaten im Ausland verbracht hatte.
Ich trat auf ihn zu und wir begrüßten uns herzlich. "Lange nicht mehr gesehen", sagte ich lächelnd.
"Ja, das stimmt", antwortete Tobias grinsend. "Aber es ist gut wieder hier zu sein."
Wir führten Smalltalk über seine Reise ins Ausland und was bei der Polizei in Hamburg passiert war während seiner Abwesenheit.
Doch plötzlich wurde unsere Unterhaltung unterbrochen als ein lautes Geräusch durch den Raum hallte - es klang fast wie eine Explosion.
Sofort sprang ich auf die Beine und blickte mich um. Die anderen Gäste schienen verwirrt zu sein, doch meine jahrelangen Erfahrungen als Ermittler sagten mir: Das war kein Zufall.
Tobias musterte mich besorgt mit seinen Augen: "Was zum Teufel war das?"
"Ich weiß es nicht genau", antwortete ich knapp zurück, während wir uns langsam aus dem Raum begaben." Aber lass uns besser schnell rausfinden was da los ist."
Wir rannten durch die Flure bis wir endlich in Sicherheit waren - nur um herauszufinden dass unser Verdacht bestätigt wurde. Es war ein Anschlag auf das Präsidium.
Ich blickte zu Tobias und sagte ernst: "Wir müssen rausfinden, wer hinter all dem steckt."
Und so begann meine Ermittlung - getrieben von der Überzeugung, dass ich den Täter finden werde. Gemeinsam mit meinem alten Kollegen an meiner Seite würde ich alles tun um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Ich wusste, dass es kein einfacher Fall werden würde. Die Spuren waren verworren und die Verdächtigen zahlreich. Doch ich war entschlossen, jeden Stein umzudrehen und jede Möglichkeit zu prüfen.
Tag für Tag arbeiteten wir hart an dem Fall - analysierten Beweise, befragten Zeugen und durchsuchten Datenbanken. Immer wieder stießen wir auf neue Hinweise, doch keiner davon führte uns direkt zum Täter.
Doch ich gab nicht auf. Ich wusste genau: Je länger der Täter ungestraft blieb, desto größer wurde die Gefahr für unsere Gesellschaft.
Und schließlich hatte meine Beharrlichkeit Erfolg: Wir konnten den Drahtzieher des Anschlags überführen und ihn vor Gericht bringen.
Es war ein harter Kampf gewesen - aber am Ende hatten sich all unsere Mühen gelohnt. Der Gerechtigkeit war Genüge getan worden und ich konnte mit einem guten Gewissen zurückblicken auf das was wir erreicht hatten.
Für mich stand fest: Wenn man wirklich etwas verändern will in dieser Welt muss man bereit sein alles dafür zu tun - auch wenn es bedeutet bis ans Äußerste zu gehen um seine Ziele zu erreichen!
Und dann wachte ich auf.
*
Besser gesagt: Jemand rüttelte mich an der Schulter.
“Was ist los?”
Ich setzte mich im Bett auf.
Neben mir war Rita.
Ich hatte sie vor ein paar Tagen kennengelernt. Rita hatte dunkles Haar, hammermäßige große Brüste und ein bezauberndes Lächeln.
Und sie schlief normalerweise nackt, was ich als eine gute Angewohnheit ansah.
Ihre Brüste hoben sich im Halbdunkel deutlich ab. Das Neonlicht, das von draußen hereinschien, spielte mit den Formen ihres Körpers.
Aber ihr bezauberndes Lächeln zeigte sie im Augenblick nicht.
Ihre Züge drückten Besorgnis aus.
“Was war los?”
“Keine Ahnung…”
“Du hast gestöhnt und geredet…”
“Im Schlaf?”
“Ja.”
“Ich habe geträumt.”
“Ein Albtraum?”
“Nein.”
“Was dann?”
“Es war kein Albtraum, aber er war trotzdem seltsam.”
“Was meinst du damit, Uwe?”
“Ich habe geträumt, dass ich einen alten Kollegen wiedertreffe.”
“So?”
“Und zwar in der Kantine des Polizeipräsidiums.”
“Das ist ja noch nichts Ungewöhnliches.”
Ich zuckte mit den Schultern. “Der Kollege hieß Tobias Schmitz.”
“Das ist auch nichts Ungewöhnliches.”
“Ungewöhnlich ist, dass ich noh nie einen Kollegen hatte, er Tobias Schmitz hieß.”
“Wenn wir träumen, dann träumen wir Dinge, die nie passiert sein können. Das geschieht. Dafür sind es doch Träume.”
“Ja. Aber während des Traums, da war ich vollkommen davon überzeugt, diesen Tobias Schmitz gut zu kennen. Er hat ein Sabbatical gemacht, um sich eine Weile die Welt ansehen zu können.”
Sie lachte. Und ihre Brüste wippten dabei. “Vielleicht solltest du das auch mal machen, Uwe.”
“Was?”
“Ein Sabbatical. Ein Jahr Pause. Vielleicht hast du das nötig bei all dem Stress, den du ausgesetzt bist. Kriminalhauptkommissar bei einer Sonderabteilung gegen das organisierte Verbrechen. Das zewhrt auf die Dauer an den Nerven, wie ich mir denken könnte.”
Ich sah sie an.
“Ein Jahr lang auf einer einsamen Insel mit dir? Meinst du, das könnte mich kurieren?”
“Bestimmt!”, hauchte sie.
“Und was ist mit all den Verbrechern, die deshalb nicht gefasst werden und stattdessen frei herumlaufen?”
“Du hältst dich für unersetzbar, nicht wahr?”
“Bin ich das nicht?”
“Kommissar Uwe Jörgensen, der Unersetzbare, ohne den es in Hamburg drunter und drüber geht. Das ist es, was du glaubst?”
Ich musste lächeln.
“Naja…”
“Was?”
“Ich will nicht übertreiben.”
“Willst du nicht?”
“Nein.”
“Und warum tust du es dann?”
Sie schmiegte sich an mich. Ihre Brüste drückten gegen meinen Oberarm.
“Du musst morgen früh raus, oder?”
“Ja”, sagte ich.
“Dann sollten wir die Zeit nutzen.”
“Nutzen?”
“Schlafen kannst du morgen noch im Dienst”, grinste sie.
*
Hamburg. Ein warmer sonniger Tag im März. Auf den Bänken in den Anlagen und in der Fußgängerzone saßen die Menschen, hielten die Gesichter in die Sonne und entspannten. Kinder und auch Erwachsene hielten Eistüten in den Händen und leckten die kalte Köstlichkeit. Eine Frau um die sechzig Jahre stand an einem Fußgängerüberweg und wartete darauf, dass die Ampel auf grün umschaltete.
Plötzlich rollte ein Motorrad heran. Fahrer und Mitfahrer trugen Helme mit heruntergeklappten Visieren. Bei der Frau an der Ampel bremste der Fahrer das Motorrad ab, der Mitfahrer griff nach der Tasche der Frau, entriss sie ihr, dann gab der Fahrer wieder Gas. Ehe sich jemand richtig besann, verschwand die Maschine mit den beiden Dieben in der Seitenstraße.
Die Frau, der die Tasche entrissen worden war, war zwei Schritte auf die Straße getaumelt, gestrauchelt und gestürzt. Ein Auto hielt im letzten Moment mit quietschenden Rädern an.
Auf der anderen Seite der Straße standen ein etwa zwölfjähriges Mädchen, ein Mann mittleren Alters und eine Frau um die Zwanzig.
Hinter dem Wagen, der die ältere Frau um ein Haar überrollt hätte, hielten weitere Fahrzeuge an. Auch auf der Gegenfahrbahn wurde ein Pkw abgebremst. Der Fahrer verließ das Fahrzeug und eilte zu der Frau hin. Das Mädchen, der Mann und die junge Frau von der anderen Straßenseite rannten auf die Fahrbahn. Weitere Fahrer sprangen aus ihren Fahrzeugen.
»Ist sie bei Rot über die Ampel gelaufen?«, rief jemand.
»Ich habe sie nicht angefahren!«, verteidigte sich der Mann, vor dessen Wagen die Frau auf dem Asphalt lag.
»Ich hab's gesehen!«, rief der Mann, der auf der anderen Straßenseite gestanden hatte. »Es war ein Motorrad mit einem Soziusfahrer. Dieser hat der Frau die Handtasche entrissen. Beide trugen Helme, bei dem Soziusfahrer hat es sich aber wahrscheinlich um eine Frau oder ein Mädchen gehandelt. Er hatte lange Haare und sah ziemlich zierlich aus.«
Jemand half der Frau hoch. Sie schluchzte und klagte über unerträgliche Schmerzen im linken Arm. Auf der Wange war eine Hautabschürfung zu sehen. Der Autofahrer, der im letzten Moment angehalten hatte, ehe er sie überrollte, führte sie zu seinem Wagen und half ihr, sich auf den Rücksitz niederzulassen.
Es dauerte keine Viertelstunde, dann kam ein Streifenwagen mit heulender Sirene und rotierendem Blaulicht ...
Straßenräuberbande hat wieder zugeschlagen!, hieß es am folgenden Tag in der Zeitung. Opfer bei Überfall verletzt, so lautete der Untertitel. In dem Artikel wurde ausgeführt, dass es sich um den zwölften Überfall dieser Art handelte und dass sicher zu sein schien, dass es sich um eine Motorradgang handelte, die die Straßen von Hamburg unsicher machte. Der Journalist, der den Artikel verfasste, wies darauf hin, dass die Bande mit immer größerer Brutalität vorging. So habe sich das jüngste Opfer beim Sturz vom Gehsteig den Arm gebrochen und sich Schürfwunden im Gesicht zugezogen. Die Beute habe etwas über fünfundzwanzig Euro betragen.
Drei Tage später. Eine gebeugte Frau ging am Rand des Gehsteiges entlang. Sie stützte sich schwer auf einen Stock. Jeder Schritt schien ihr Mühe zu bereiten. Sie hatte weiße Haare, die am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden waren. In der Linken hielt sie eine lederne Handtasche. Mit der Rechten führte sie den Stock. Etwa fünfzig Meter entfernt war eine Omnibushaltestelle, an der einige Leute standen.
Das Dröhnen einer schweren Maschine näherte sich der alten Frau von hinten. Sie schaute sich nicht um. Das Motorrad kam schnell, wurde abgebremst, fuhr dicht an den Straßenhand heran und der Mitfahrer auf der Maschine griff nach der Handtasche der alten Frau. Und in diese geriet plötzlich Leben. Sie ließ den Stock fallen, ihre rechte Hand schnappte nach dem Arm des Soziusfahrers, erwischte ihn, ein Ruck und der Bursche wurde von der Maschine gerissen. Aufschreiend landete er am Boden. Die Maschine kam ins Schleudern, doch der Fahrer konnte sie abfangen und gab Gas.
Die alte Frau hatte die Handtasche fallen lassen und warf sich auf den am Boden liegenden Gangster.
»Polizei Hamburg!«, stieß sie hervor. »Kommissarin Pauscher!«
Die Polizistin drehte dem Gangster am Boden den linken Arm auf den Rücken, holte unter ihrer Jacke Handschellen hervor und fesselte ihn. Dann nahm sie ihm den Motorradhelm ab. Zum Vorschein kam – das Gesicht eines Mädchens von höchstens achtzehn Jahren. Es hatte kurze, dunkle Haare und ein hübsches gleichmäßiges Gesicht, braune Augen und volle sinnliche Lippen.
»Wie ist Ihr Name?«, fragte die Polizistin, als sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte. Menschen näherten sich von der Bushaltestelle. Aufgeregtes Stimmendurcheinander erfüllte die Atmosphäre und vermischte sich mit dem Motorenlärm vorbeifahrender Autos. Der Motorradfahrer war verschwunden. Das Dröhnen des Motors war nur noch fern zu vernehmen.
»Melanie Krüger«, presste das Mädchen zwischen den Zähnen hervor. »Du dreckige Schlampe ...«
»Okay, Melanie Krüger«, sagte Angelika Pauscher, die junge Kommissarin, die sich im Rahmen einer groß angelegten Fahndungsaktion zusammen mit einer Reihe weiterer weiblicher Polizisten als Köder zur Verfügung gestellt hatten. »Sie sind verhaftet. Sie haben das Recht zu schweigen ...«
Sie klärte Melanie Krüger über ihre Rechte auf. Dann forderte sie Verstärkung an, damit das verhaftete Mädchen in die Untersuchungshaft überführt wurde.
Das letzte Wort sprach der Richter. Obwohl Melanie geständig war und auch die Namen der anderen Gangmitglieder verriet, schickte er sie für zwei Jahre hinter Gitter. Doch dann stellte man sie vor die Wahl: Zwei Jahre absitzen oder ein Vierteljahr in eine Jugendhilfeeinrichtung. Diese Jugendhilfeeinrichtungen waren berühmt-berüchtigt. Drill – von morgens bis abends. Das Leben dort war minutiös reglementiert, es herrschte eine militärische Ordnung, die Jugendlichen sollten durch verschiedene Formen der Einschüchterung dazu veranlasst werden, Selbstdisziplin, Selbstvertrauen und ein Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Melanie entschied sich für die Jugendhilfeeinrichtung. Es befand sich in der Nähe von Holm und wurde ,Das Mädchen-Camp‘ genannt.
Leiter der Jugendhilfeeinrichtung war ein Mann namens Braun – Arthur Braun. Die Ausbilderinnen und Wärterinnen waren in der Überzahl weiblich. Es gab aber auch einige Männer unter dem Lagerpersonal.
Melanie Krüger war im Fegefeuer gelandet ...
2
Es war Sommer, genauer gesagt August. Das Wetter spielte verrückt. Es hatte im Juni und Juli eine wochenlange Hitzeperiode gegeben, dann wurde es kalt und regnerisch, hin und wieder zogen furchtbare Gewitter- und Hagelstürme und sogar Orkane über das Land hinweg.
Der letzte Brief, den ihre Eltern von Melanie erhalten hatten, trug den Poststempel vom 29. Juni. Melanie sollte am 5. August aus der Jugendhilfeeinrichtung entlassen werden. Ihre Eltern hatten ihr Geld geschickt, damit sie mit Omnibus und Bahn nach Hause fahren konnte. Sie hatten ihrer Tochter verziehen und waren voll Hoffnung, dass sie der Aufenthalt in dem Erziehungslager geläutert hatte.
Melanie kam zu Hause nicht an. Am 10. August wandten sich die besorgten Eltern an die Polizei und meldeten ihre Tochter als vermisst. Der Polizist, der die Anzeige aufnahm, meinte: »Es kommt hin und wieder mal vor, dass diese Mädchen spurlos verschwinden. Sie haben einfach keinen Bock, nach Hause zu fahren und ein bürgerliches Leben zu führen. Wahrscheinlich hat sich Ihre Tochter in eine andere Stadt abgesetzt. Es lässt sich ja leicht feststellen, ob sie am 5. entlassen worden ist.«
Er nahm Verbindung mit der Polizei in Holm auf. Ergebnis seiner Ermittlungen war, dass Melanie am 14. Juli zusammen mit einem anderen Mädchen aus dem Lager geflohen war. Die beiden Mädchen seien spurlos verschwunden, hieß es. Man habe zwar die Fahndung nach ihnen eingeleitet, aber sie hatte zu keinem Ergebnis geführt.
Der Beamte erklärte es Melanies Eltern.
»Wie ich schon sagte«, endete er. »Manche werden vernünftig, wenn sie die Jugendhilfeeinrichtung hinter sich gebracht haben. Man bricht die jugendlichen Straftäter dort regelrecht. An einigen anderen jedoch geht der Drill spurlos vorüber. Ihre kriminelle Energie ist stärker als alles andere. Sie tauchen irgendwo unter, stehlen, rauben oder gehen auf den Strich und irgendwann erwischt man sie und sie werden wieder verurteilt. Bei dieser Sorte ist das ein ewiger Kreislauf. – Der Kollege in Holm hat mir mitgeteilt, dass innerhalb der vergangenen vier Monate insgesamt sechs Mädchen das Weite gesucht haben. Und keines dieser jungen Dinger ist mehr aufgetaucht. Tragisch für die Familien, aber leider nicht zu ändern.« Er zuckte mit den Schultern. »Tut mir echt leid. Vielleicht meldet sich Ihre Tochter bei Ihnen, wenn sie am Ende ist und nicht mehr weiter weiß.«
Die Eltern des Mädchens waren ziemlich am Boden zerstört. Sie wollten sich damit nicht abfinden. Jörg Krüger, der Vater Melanies, nahm mit der Leitung der Jugendhilfeeinrichtung telefonisch Verbindung auf. Das andere Mädchen hieß Jenny Wolters, war ebenfalls 18 Jahre alt und stammte aus Bremen. Man erklärte Jörg Krüger, dass Melanie während der Zeit ihres Aufenthalts in der Einrichtung ziemlich renitent gewesen sei und man schon Überlegungen angestellt habe, sie ins Gefängnis zurückzuschicken.
»Manche dieser Jugendlichen ändern sich eben nie«, sagte Arthur Braun, der Lagerleiter. »Sie sind verdorben bis in ihren Kern, uneinsichtig und stur und sie werden zu 100 Prozent wieder rückfällig.«
Jörg Krüger telefonierte mit Jenny Wolters' Vater. Dieser bestätigte ihm, dass seine Tochter seit dem 14. Juli spurlos verschwunden sei und er kein Lebenszeichen von ihr erhalten habe.
»Sie wird sich schon melden, wenn sie wieder mal mit der Nase im Dreck liegt«, erklärte Daniel Wolters und es hörte sich nicht so an, als machte er sich große Sorgen wegen seiner Tochter.
»Machen Sie sich keine Sorgen?«, fragte Krüger angesichts des Desinteresses Wolters'.
»Sorgen machen? Um Jenny? Die war als fünfjährige schon kriminell und stahl im Supermarkt Süßigkeiten. Sie hat zusammen mit ihrem Freund Tankstellen überfallen und ausgeraubt. Bis zu ihrem siebzehnten Lebensjahr befand sie sich in einem Heim für schwer erziehbare Mädchen. Bei der ist Hopfen und Malz verloren. Kommt sie nach Hause, soll es mir recht sein. Kommt sie nicht, kann ich es nicht ändern. Früher oder später landet sie wieder hinter Gittern.«
Jörg Krüger war wie vor den Kopf gestoßen. Die Sorge um Melanie zerfraß ihn innerlich. Sicher, sie hatte zu einer Gang gehört und war straffällig geworden. Die Schuld schob er auf ihren Umgang. Melanie war im Grunde nicht schlecht.
Jörg Krüger glaubte an den guten Kern seiner Tochter.
3
Wir hatten den Club Barbados umstellt. Wenn ich sage wir, dann meine ich sechs Kollegen von der Kriminalpolizei Hamburg und zwei Dutzend Kollegen von der Sitte, dem Rauschgiftdezernat und der Drogenfahndung.
Da Stefan Czerwinski mit von der Partie war, leitete er den Einsatz.
Der Club befand sich in Altona. Wir hatten von einem V-Mann einen Hinweis bekommen, dass in dem Etablissement nicht nur mit Kokain gehandelt werden sollte, sondern dass dort auch einige Mädchen aus Asien und Osteuropa der Prostitution nachgingen. Nicht immer freiwillig - und anhgemeldet schon gar nicht.
Besitzer des Clubs war Martin Nickel, ein Mann, der polizeilich noch nicht in Erscheinung getreten war.
Wir standen per Walkie-Talkie miteinander in Verbindung. Stefan Czerwinski befand sich zusammen mit Ollie und einem weiteren Kollegen an der Hintertür, Roy, ein Kollege namens Tom Berringer und ich wollten durch die Vordertür den Laden stürmen. Die Kollegen vom Polizeikommissariat und von der Drogenfahndung hatten das Gebäude hermetisch abgeriegelt.
»Seid ihr bereit?«, fragte Stefan an.
Ich hielt das Walkie-Talkie vor meinem Gesicht. »Ja. Wir können ...«
»Also dann, Zugriff!«
Die Vordertür war verschlossen. Aus den Fenstern fiel kein Licht, da sie mit Holztafeln abgedunkelt worden waren, die man mit roter Folie überzogen hatte und auf denen die Fotos von Striptease-Tänzerinnen klebten. Sie muteten an wie Schaukästen. Ich läutete. Eine Klappe in der Tür wurde geöffnet, Licht sicherte durch das kleine Viereck heraus, ein Gesicht zeigte sich.
»Kriminalpolizei!«, stieß ich hervor. »Öffnen Sie!«
Die Klappe flog zu. Durch die Tür hörte ich die laute Stimme des Türstehers brüllen: »Die Bullen stehen draußen! Kriminalpolizei! Sie machen eine Razzia ...«
Roy richtete seine Walther P99 auf das Türschloss und drückte ab. Im nächsten Moment warf er sich mit der Schulter gegen die Türfüllung. Krachend flog sie auf. Wir stürmten, die Waffen in den Fäusten, in das Lokal. Zunächst aber mussten wir durch einen Vorraum, in dem sich wahrscheinlich die Türsteher aufhielten, denn es standen zwei Stühle herum, dann durch einen kurzen Flur und dann befanden wir uns im Gastraum. Lampen mit rotem Glas in den Wänden sorgten für diffuses Licht. Nur die Theke war hell beleuchtet. Dahinter standen zwei Keeper mit südländischem Aussehen. Leise Musik wurde gespielt. In den Nischen, die den Gastraum teilten, saßen hauptsächlich Männer. Rötlicher Schein von den Lampen lag auf den Gesichtern.
An der Hintertür, durch die man wahrscheinlich die Toiletten und den Ausgang zum Hof erreichte, erschienen Stefan, Ollie und der dritte Kollege.
»Licht an! Musik aus!«, rief Stefan. »Keiner verlässt das Lokal!«
Jetzt erst schien den Gästen klar zu werden, dass die Polizei dabei war, den Laden hops zu nehmen. Wildes Stimmendurcheinander erklang plötzlich. Einige Kerle sprangen auf.
»Bleiben Sie auf Ihren Plätzen!«, rief Stefan mit Tenorstimme. »Das Gebäude ist umstellt. Sie werden überprüft und wenn nichts gegen Sie vorliegt, haben Sie nichts zu befürchten.«
Es wurde schnell ruhig.
Nach einiger Zeit flammten die Neonstäbe an der Decke auf, die Musik war abgestellt worden. Einige Beamte vom Polizeikommissariat und der Drogenfahndung übernahmen es, die Gäste zu überprüfen und nach Rauschgift zu durchsuchen.
Roy und ich hatten die Bar durchquert und stiegen nun zusammen mit Stefan und Ollie die Treppe nach oben. Der Bordellbetrieb sollte sich in der ersten und zweiten Etage abspielen.
Oben, auf der Treppe, erwartete uns ein vierschrötiger Bursche mit Bürstenhaarschnitt und Oberarmen, die fast seine Hemdsärmel sprengten. Sein Gesicht war verkniffen, in seinen Augen flackerte Unruhe.
Stefan richtete die Waffe auf ihn.
»Versuchen Sie nicht, Widerstand zu leisten«, warnte er.
Der menschliche Büffel hob die Hände. Gleich darauf hatte ihm Ollie Handschellen verpasst.
Es handelte sich um zwei gegenüberliegende Wohnungen. Ein Teil der Wand zum Treppenhaus hin war herausgebrochen und zu einer großen, zur Treppe hin offenen Diele umfunktioniert worden. Eine schwere Polstergarnitur aus Leder stand da um einen niedrigen Tisch herum gruppiert. Pflanztröge und -kübel mit exotischen Pflanzen und einigen billigen, allerdings recht freizügigen Bildern an den Wänden vervollständigten die Einrichtung.
Mehrere Türen zweigten von der Diele ab. Ich öffnete eine und sah im diffusen Rotlicht ein nacktes Pärchen auf einem breiten Bett. Sie nahmen mich gar nicht wahr. Wahrscheinlich hatten sie den Schuss, mit dem Roy das Türschloss zerschmetterte, nicht gehört oder für die Fehlzündung eines Motors gehalten.
Ich räusperte mich und jetzt hielt der Mann in seinem Bestreben, sich für teures Geld körperliche Befriedigung zu holen, inne und drehte den Kopf zu mir herum.
»Was soll das?«, herrschte er mich an.
»Kriminalpolizei Hamburg«, sagte ich. »Ziehen Sie sich an und kommen Sie dann aus dem Zimmer!«
Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis sich sämtliche Freier und Freudenmädchen in der Diele eingefunden hatten. Es waren zehn Leute. Fünf Kerle und fünf Mädchen. Die Männer schauten betreten drein und es war deutlich, dass sich keiner von ihnen wohlfühlte in seiner Haut.
Aus dem darüber liegenden Stockwerk war Stefans dunkle Stimme zu vernehmen.
Die Überprüfung ergab, dass sich keines der Mädchen einer gesundheitsamtlichen Überwachung unterzogen hatte und über den sogenannten Bockschein verfügte. Es handelte sich um vier Mädchen aus der Ukraine und Thailand, die weder über eine Aufenthaltsgenehmigung noch eine Arbeitserlaubnis verfügten. Das fünfte Mädchen war rothaarig und Deutsche. Ich schätzte es auf achtzehn, höchstens zwanzig Jahre.
»Wie ist Ihr Name«, fragte ich.
»Cindy.«
»Sie haben sicher auch einen Familiennamen.«
»Antoni. Cindy Antoni.«
Mir fielen die geweiteten, starren Pupillen des Mädchens sowie ihre Unruhe auf und ich ahnte, dass es unter Drogen stand.
Einige Kollegen von der Sitte tauchten auf. Insgesamt waren es elf Prostituierte, die keine Lizenz hatten, dem horizontalen Gewerbe nachzugehen. Keines der Mädchen war über zwanzig. Der Geschäftsführer des Clubs und die Türsteher wurden verhaftet. Drei Kollegen von der Kriminalpolizei fuhren in die Wohnung Martin Nickels und verhafteten ihn. Die Beamten fanden einiges an Rauschgift, vor allem Amphetamine, also synthetisch hergestellte Drogen, aber auch Heroin und Kokain. Personalien wurden aufgenommen.
Die Mädchen wurden in verschiedene Krankenhäuser verbracht. Ihnen wurde Blut entnommen, um ihnen eventuellen Drogenkonsum nachzuweisen. Am nächsten Tag erhielten wir die Ergebnisse der toxischen Untersuchungen. Sämtliche der Mädchen hatten unter Drogen gestanden. Amphetamin-Intoxikation lautete durchwegs das Ergebnis.
Cindy Antoni befand sich im Krankenhaus. Um die illegal nach Deutschland eingereisten Mädchen kümmerte sich die Ausländerpolizei.
Wir besuchten Cindy Antoni im Krankenhaus. Bleich lag sie im Bett. Sie wirkte abwesend und lethargisch. Ohne Interesse schaute sie Roy an, ihr Blick wechselte zu mir, dann sagte sie mit lahmer Stimme: »Ihr wart in der Nacht dabei, nicht wahr?«
»Mein Name ist Uwe Jörgensen. Das ist mein Kollege Roy Müller. Wir sind von der Kriminalpolizei. Fühlen Sie sich in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?«
»Was für Fragen?«
Ich wusste, dass nach dem Absetzen von Amphetaminen einige Entzugserscheinungen auftreten, meist psychischer Natur wie Depressionen und Suizidneigung, aber auch Erschöpfungszustände, übersteigertes Schlafbedürfnis, Heißhunger.
Damit erklärte ich mir auch den apathischen Zustand des Mädchens.
»Wie kamen Sie in den Club Barbados?«
»Man hat mich dorthin gebracht und Olaf, dem Geschäftsführer, übergeben.«
»Seit wann sind Sie vom Rauschgift abhängig?«
»Ich ... ich wollte das alles nicht. Ich war in einer Jugendhilfeeinrichtung in der Nähe von Holm. Mädchen-Camp wurde die Jugendhilfeeinrichtung genannt. Ich hatte die Wahl zwischen Gefängnis und der Einrichtung. Eines Nachts brachte man mich weg. Ich habe die Männer nicht gekannt. Sie spritzten mir Speed. Nach einigen Stunden Fahrt landeten wir irgendwo. Ich wurde Olaf übergeben und der versorgte mich auch weiterhin mit Drogen ...«
»Olaf ist der Geschäftsführer des Clubs«, sagte ich, als das Mädchen abbrach.
Cindy nickte.
»Ja. Ich ... ich musste irgendwelchen Kerlen zu Willen sein. Olaf schlug mich auch. Er versorgte mich aber auch mit Drogen.«
»Seit wann arbeiteten Sie in dem Club?«
»Seit April. Bitte, lassen Sie mich schlafen. Ich ... ich fühle mich total erschöpft. Bitte ...«
Ich war ziemlich perplex.
Der Arzt, der uns begleitet hatte, sagte: »Dieser Erschöpfungszustand ist deutliches Zeichen des Entzugs. Sie sollten Cindy jetzt wohl tatsächlich in Ruhe lassen.«
Wir verließen das Krankenhaus.
4
Ich hatte den Chef des Polizeidienststelle, der in Holm seinen Sitz hatte, an der Leitung. Sein Name war Tilo Kreuzer.
»Sieh an«, sagte er. »Das junge Ding ist also in einem Bordell gelandet. Nun, es ist nicht der erste Fall des spurlosen Verschwindens eines Mädchens aus der Jugendhilfeeinrichtung. In den vergangenen vier Monaten wurden sechs Ausbrüche gemeldet. Was diese Cindy Antoni anbetrifft, so erzählt sie sicher Märchen, wenn sie behauptet, aus der Jugendhilfeeinrichtung entführt worden zu sein. Natürlich. Denn nach dem Ausbruch hat sie sich die Chance, die ihr mit der Jugendhilfeeinrichtung geboten wurde, verscherzt. Auf sie wartet das Gefängnis.«
»Warum wurde Cindy verurteilt?«, fragte ich.
»Autodiebstahl, Wiederholungstäterin. Die Einrichtung war ihre letzte Chance.«
»So einfach kann man die Behauptung, dass sie aus der Einrichtung entführt wurde, nicht unter den Tisch kehren«, wandte ich ein. »Sie kann ebenso gut wahr wie unwahr sein. Ich glaube fast, dass uns Cindy nicht belogen hat. Sie war körperlich und psychisch viel zu fertig, um uns Lügen aufzutischen.«
»Von mir aus, Herr Jörgensen. Finden Sie die Kerle, die sie aus der Einrichtung entführt haben, beweisen Sie ihnen die Entführung und dann will ich gerne glauben, dass das kleine Luder nicht einfach ausgerissen ist. Solange Sie mir das nicht beweisen können, werde ich von Flucht ausgehen und die Einweisung ins Gefängnis veranlassen.«
Ich hatte es mit einem halsstarrigen selbstherrlichen Provinzbeamten zu tun, der in Holm und in der Dienststelle nicht nur das Gesetz vertrat, sondern der das Gesetz dort war.
Ich ließ mir die Namen der Mädchen geben, die aus der Jugendhilfeeinrichtung verschwunden waren und notierte sie. Corinna Finnern, Jenny Wolters, Pamela Sehlent, Pia Barkow und Melanie Krüger. Sämtliche Mädchen waren unter zwanzig Jahre alt.
Mir stellten sich die Nackenhaare auf, als ich daran dachte, dass all diese Mädchen irgendwo in Deutschland in einem Bordell gelandet sein konnten. Wenn Cindy Antonis Aussage zutraf, war das Treiben der Leute, die ihr das angetan hatten, nur unter dem Begriff Menschenhandel zu subsumieren.
Ich war geneigt, dem Mädchen zu glauben. Sie war nicht in der Verfassung gewesen, in der ein Mensch schamlos lügt.
»Vielleicht sollten wir noch einmal mit Cindy reden«, schlug Roy vor. »Irgendwie klingt ihre Geschichte ziemlich abenteuerlich und es ist nicht auszuschließen, dass sie sie erfunden hat, weil sie denkt, dadurch dem Gefängnis zu entgehen und wieder in die Einrichtung zurückkehren zu können, - andererseits aber ...«
Roy wiegte den Kopf.
»Wir können ihre Aussage nicht einfach ignorieren. Sicher, sprechen wir noch einmal mit ihr. Vorausgesetzt, sie ist ansprechbar.«
Also fuhren wir noch einmal ins Krankenhaus. Der Entzug war fortgeschritten. Der Arzt, an dem wir auch dieses Mal nicht vorbeikamen, sagte: »Sie ist mitten im Entzug und redet viel wirres Zeug. Ob sie ihre Aussage verwerten können, ist fraglich.«
»Wir wollen es dennoch versuchen«, beharrte ich auf unserem Vorsatz, Cindy noch einmal zu befragen.
Der Arzt hob die Schultern.
»Ich bitte Sie, das Mädchen nicht über die Gebühr zu strapazieren.«
»Mein Wort darauf«, versetzte ich.
Dann standen wir wieder an Cindys Bett. Sie schaute uns mit erloschenem Blick an. In ihrem Gesicht zuckte kein Muskel. Und ich fragte mich, ob sie uns überhaupt erkannte.
»Wissen Sie noch, wer wir sind, Cindy?«, fragte ich daher.
»Bullen«, erwiderte sie und schloss die Augen. »Kriminalpolizei. Ja, ich kann mich an euch erinnern.«
»Haben Sie sich gewehrt, als man Sie aus der Jugendhilfeeinrichtung holte?«, wollte ich wissen.
»Nein. Man sagte mir, ich werde verlegt.« Das tonlose Flüstern klang losgelöst und wimmernd wie ein Windhauch. Ein Krampf überlief das totenbleiche Gesicht. »Widerstand wurde in der Jugendhilfeeinrichtung unerbittlich geahndet. Du – du leckst den Ausbildern sogar die Schuhe, wenn sie es verlangen. Man ist dort kein Mensch – man ist ein wertloser Gegenstand.«
»Wie viele Männer waren es?«
»Drei.«
»Trugen Sie Uniformen? Hatten Sie die Männer vorher schon einmal gesehen?« Cindy hatte zwar bei unserem ersten Besuch schon behauptet, die Männer nicht gekannt zu haben, trotzdem stellte ich die entsprechende Frage noch einmal.
»Nein, keine Uniformen. Ich kannte sie nicht.«
Cindy rollte den Kopf auf dem Kissen hin und her. Es war deutlich zu sehen, wie sie unter den geschlossenen Lidern mit den Augen rollte. Schweiß schimmerte auf ihrer Stirn.
»Haben die Männer irgendwelche Namen gesagt?«
»Einer hieß Louis, ein anderer Florian. Andere Namen fielen nicht. Sie – sie haben mich ... haben mich ...«
»Was?« Ich stellte die Frage eindringlich. Meine Stimme klang hart. Ich ahnte, was kommen würde.
»Vergewaltigt. Und dann ... dann haben Sie mir etwas gespritzt. Ich weiß nichts mehr. Als ich wieder denken konnte, hatte ich keine Ahnung, wo wir uns befinden. Erst Tage später kamen wir nach Hamburg, wo ich Olaf übergeben wurde. Auch mit ihm musste ich schlafen. Er ... er versorgte mich mit Drogen.«
Wenn das alles den Tatsachen entsprach, dann war das Mädchen nicht durchs Fegefeuer gegangen, sondern durch die Hölle. Cindys Mundwinkel zuckten. Fahrig wischten ihre Hände über die Bettdecke. Ich hatte Mitleid mit ihr.
Wir fuhren vom Krankenhaus aus zur JVA, in die Olaf Mahoni als Untersuchungshäftling eingeliefert worden war. Er war Geschäftsführer des Clubs, den wir hochgenommen hatten und wir schoben ihm – neben Martin Nickel – die Verantwortung für das ungesetzliche Geschehen dort zu.
Im Gefängnis waren wir alte Bekannte. Dennoch mussten wir uns ausweisen. Es ging durch einige Schleusen, die uns jeweils geöffnet wurden, dann befanden wir uns in einem kahlen Raum mit einem Tisch und vier Stühlen. An der Wand hing ein schmuckloses Eisenkreuz. Auf einem Computertisch stand ein vernetzter PC mit Drucker, in dem die Vernehmungsprotokolle geschrieben wurden.
Mahoni wurde hereingeführt. Finster musterte er uns.
»Ich hab euch nichts zu sagen«, blaffte er.
»Setzen Sie sich zuerst einmal hin«, sagte Roy und deutete auf einen der Stühle.
Mahoni setzte sich. Er war achtunddreißig Jahre alt und hatte blonde leicht gewellte Haare, die bis in seinen Nacken reichten. Sein Gesicht war ein wenig aufgedunsen und solariengebräunt. Er war wohl um die eins achtzig groß.
»Cindy hat uns erzählt, dass Sie ihr Speed gegeben haben«, begann ich und beobachtete ihn scharf.
Er presste sekundenlang die Lippen zusammen. Seine Hände, die er auf dem Schoß liegen hatte, ballten sich zu Fäusten.
»Sie lügt!«, presste er schließlich hervor.
»Dann ist es sicher auch gelogen, dass sie bei Nacht und Nebel aus der Jugendhilfeeinrichtung bei Holm entführt und nach Hamburg gebracht wurde, wo man sie mit Amphetaminen gefügig machte und auf den Strich schickte.«
»Sie ist achtzehn. Auf den Strich zu gehen war ihr freier Wille. Von einer Jugendhilfeeinrichtung weiß ich nichts. Sie kam zu mir und ...«
»Sie wurde Ihnen gebracht!«, fiel ihm Roy ins Wort. »Sie haben sie mit Speed vollgepumpt. Das Dreckszeug wurde ihr intravenös verabreicht. Sie wurde von Ihnen geschlagen und Sie haben ihre Hilflosigkeit ausgenutzt und mit ihr geschlafen. Man spricht hier von Vergewaltigung, mein Freund. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen. Eine ziemliche Latte, die ausreichen dürfte, um sie für einige Jahre hinter Gittern verschwinden zu lassen.«
»Sie war süchtig, als sie zu mir kam«, knurrte Mahoni. »Versucht nur nicht, mir was am Zeug zu flicken. Ich war nur für den Barbetrieb zuständig. Was in den oberen Geschossen des Gebäudes vor sich ging, interessierte mich nicht.«
»Wer war dann für den Bordellbetrieb verantwortlich?«, schnappte ich.
Er schaute mich verächtlich an.
»Findet es doch heraus, ihr Scheißbullen!«
»Nicht frech werden«, knirschte Roy.
»Also, noch einmal«, sagte ich geduldig. »Wer hat Cindy Antoni zu Ihnen gebracht und wie viel Geld wechselte den Besitzer?« Ich beugte mich weit zu Mahoni hinunter. Sein Atem streifte mein Gesicht. »Sie sollten kooperativ sein, Mahoni. Cindy wird vor Gericht gegen Sie aussagen. Ihre Geschichte wird die Herzen des Gerichts rühren, und ...«
»Gib dir keine Mühe, Bulle! Soll ich mir mein eigenes Grab schaufeln. Ich weiß von nichts. Ich kannte diese kleine Hure gar nicht. Wendet euch an ...«
Er hatte sich in Rage geredet. Jetzt aber brach er ab. Trotzig schaute er mich an.
»An wen?«, fragte ich.
»Geh zum Teufel!«
»Haben Sie einen Anwalt, Mahoni?«, wollte Roy wissen.
»Herr Mahoni!«, stieß der Gangster mit Nachdruck hervor. »Ich darf doch sehr bitten. Wir sind hier doch nicht im Kuhstall!«
Ich hatte mich wieder aufgerichtet und die Arme in die Seiten gestemmt.
»Vergessen Sie's, Mahoni. Solange Sie uns als Scheißbullen bezeichnen, haben wir keinen Grund, besonders höflich zu Ihnen zu sein.«
Er leckte sich über die Lippen, schluckte und einen Moment sah es so aus, als wollte er mir vor die Füße spucken. Aber er besann sich eines Besseren, lehnte sich zurück und meinte grinsend: »Von mir aus. Nenn mich Olaf, Jörgensen! Wie ist dein Vorname?«
»Sie scheinen da etwas missverstanden zu haben, Mahoni«, knurrte ich. »Sie haben die Frage nach einem Anwalt noch nicht beantwortet.«
»Ich brauche keinen. Was habt ihr gegen mich vorzubringen? Dass in der ersten und zweiten Etage des Gebäudes, in dessen Erdgeschoss eine Bar betrieben wird, deren Geschäftsführer ich bin, ein Puff betrieben wurde?« Mahoni legte den Kopf schief und schielte höhnisch zu mir in die Höhe. »Kein Richter der Welt wird deswegen Haftbefehl gegen mich erlassen.«
»Cindy Antonis Aussage liegt vor. Und sicher wird auch das eine oder andere der Mädchen, die wir hops genommen haben, den Mund aufmachen. Und dann sind Sie fällig, Mahoni. Also kommen Sie von ihrem hohen Ross herunter.«
»Ihr könnt mich mal. Und jetzt möchte ich in meine Zelle zurück. – Die Weiber, die ihr als Trümpfe im Ärmel zu haben glaubt, sind alle drogenabhängig. Wenn sie keinen Nachschub kriegen, brechen sie zusammen. Wer soll denen schon glauben? Ich denke mal, eure Anklage steht auf recht wackligen Beinen, Jörgensen.«
Ich gab dem Wachtmeister einen Wink. Er kam näher.
»Gehen wir, Mahoni!«
Der U-Häftling erhob sich. Ein hohnvolles Grinsen bog seine Mundwinkel nach unten. In seinen Augen glitzerte der blanke Zynismus.
»Ihr habt euch schon groß in den Schlagzeilen gesehen, wie? Polizeibeamte lassen Mädchenhändlerring auffliegen.« Mahoni lachte schallend auf. »Pech gehabt! Diese kleinen Huren sind alle freiwillig gekommen.«
»Dafür, dass sie der Bordellbetrieb nicht interessierte, sind Sie aber ziemlich aufgeklärt«, antwortete ich. »Sie wissen, dass die Mädchen drogenabhängig sind und dass sie freiwillig ihrem Gewerbe nachgingen. Sonst noch ein paar Insider-Kenntnisse?«
Jetzt war die Reihe an mir, höhnisch zu grinsen.
Mahonis Grinsen schien zu gefrieren. Er zeigte Verunsicherung. Eine ganze Weile starrte er mich feindselig an, dann wandte er sich abrupt ab und ging zur Tür. Der Wachtmeister folgte ihm.
»Warten wir, was Nickel zu sagen hat«, murmelte Roy und setzte sich auf einen der Stühle. »Eigentlich schade, dass man die peinliche Befragung irgendwann im 18. Jahrhundert abgeschafft hat. Bei dem einen oder anderen dieser Halunken wäre sie durchaus angebracht.«
Obwohl mir nicht danach zumute war, musste ich grinsen.
5
Martin Nickel wurde in den Vernehmungsraum gebracht. Nickel war ein Mann Mitte der Vierzig und seine Haare waren an den Schläfen schon angegraut. Seine Finger wiesen einige weiße Stellen auf, was verriet, dass er eine Reihe von Ringen getragen hatte, die ihm aber bei Einlieferung in die U-Haft abgenommen worden waren.
»Mein Anwalt hat bereits Haftbeschwerde eingelegt«, war das erste, was er sagte. Dann setzte er sich und schaute herausfordernd von mir auf Roy.
»Eines der Mädchen, das für Sie anschaffte ...«
»Für mich haben keine Mädchen angeschafft«, blaffte Nickel und unterbrach mich.
Ich ließ mich nicht beirren. »… heißt Cindy Antoni. Sie behauptet, aus der Jugendhilfeeinrichtung bei Holm entführt und nach Hamburg gebracht worden zu sein, wo sie mit Drogen gefügig gemacht und in dem illegalen Bordell beschäftigt wurde.«
»Den Club führte Mahoni.«
»Aber das Gebäude, in dem der Club etabliert war, gehört Ihnen. Die beiden Obergeschosse wurden aufwendig umgebaut – mit dem Ziel, eine angenehme Atmosphäre für die Kunden, die von Ihrem – hm, Angebot Gebrauch machten, zu schaffen.«
»Ohne meinen Anwalt rede ich mit euch nicht.«
»Was sagen Sie dazu, wenn ich Ihnen sage, dass Mahoni geredet hat«, warf Roy dazwischen.
Nickel legte den Kopf in den Nacken.
»Vergessen Sie's!«
»Glauben Sie denn, dass Mahoni den Kopf alleine in die Schlinge steckt?«, fragte ich. »Er wird versuchen, für sich rauszuholen, was herauszuholen ist.«
Nickel zog den Mund schief.
»Entweder lassen Sie zu, dass ich meinen Anwalt informiere oder Sie lassen mich in meine Zelle zurückschaffen.«
Da war nichts zu machen. Er war kaltschnäuzig, unverfroren und arrogant.
Er wurde abgeführt.
Roy und ich verließen die JVA und kehrten ins Präsidium zurück. Ich nahm mit der für Holm zuständigen Kriminalpolizei Verbindung auf. Man gab mir die Nummer des Büros und ich rief dort an. Der Kollege, mit dem ich sprach, hieß Klaus Lemke. Ich schilderte ihm, was ich von Cindy Antoni erfahren hatte. Er sagte mir zu, sich zu informieren und mich zurückzurufen.
Der Anruf erfolgte eine knappe Stunde später.
Lemke sagte: »Es sind sechs Mädchen, die in den vergangenen vier Monaten verschwunden sind. Man behauptet, dass die Mädchen aus der Jugendhilfeeinrichtung geflohen sind und dass nach ihnen gefahndet wird, allerdings wird die Fahndung nur ziemlich lasch gehandhabt, weil man annimmt, dass die Mädchen wieder straffällig werden und der Polizei sowieso ins Netz gehen.«
»Was ist das für ein Laden?«, fragte ich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Cindy Antoni die Anschuldigungen, die sie vorgebracht hat, aus den Fingern saugte.«
»Das Lager wird staatlich geführt. Ein ehemaliger Polizist leitet die Einrichtung. Sein Name ist Arthur Braun. Er behauptet, die Mädchen mit rauer Liebe anzufassen. Es kam bereits zu zwei Todesfällen und die Staatsanwaltschaft wurde eingeschaltet, die jedoch weder ein kriminelles Delikt noch eine mögliche Verletzung der Bürgerrechte erkannte und nichts unternahm. Der Mutter eines der toten Mädchen erklärte man, das Mädchen sei an Wundstarrkrampf gestorben, nachdem es sich verletzte und die Verletzung nicht meldete.«
»Wurde das Mädchen nicht obduziert?«
»Nein. Der Lagerarzt stellte die Todesursache fest und das war's. Es gibt eine Reihe von Vorwürfen im Hinblick auf Autoritätsmissbrauch in der Einrichtung, aber bisher hat sich niemand gefunden, der das Lager geschlossen hätte.«
»Wer wäre dafür zuständig?«
»Der Leiter der dortigen Polizeidienststelle.«
»Tilo Kreuzer.«
»Richtig. Zu dem Lagerregiment gehören Gewaltmärsche, unablässiges Anbrüllen, sowie Essensrationen, die für einen ganzen Tag nur aus einem Apfel, einer Karotte und einer Hand voll Bohnen besteht. Die Mädchen müssen oftmals im Freien schlafen, sie bekommen zwar Schlafsäcke, liegen aber auf blankem Boden.«
»Ein kaum tragbarer Zustand«, ließ ich verlauten. »Kaum zu glauben, dass niemand einschreitet.«
»Einige der Mädchen, die ihre Zeit in der Jugendhilfeeinrichtung hinter sich gebracht hatten, sagten aus, dass sie von den Ausbildern gewürgt, getreten und auf andere Weise gequält worden seien. Noch schlimmer als die körperliche Gewalt sei jedoch die psychische. Die Insassen werden gedemütigt und regelrecht zerbrochen. Eines der Mädchen wurde im Rahmen einer Disziplinarmaßnahme gezwungen, ihre Mahlzeiten auf der Toilette einzunehmen. Der zweite Todesfall geschah nach einem Gewaltmarsch über zwanzig Meilen. Herzschlag. Es handelte sich um eine Neunzehnjährige. Der Arzt bescheinigte, dass ihr Herz in Ordnung war und mit ihrem Tod infolge Überanstrengung nicht gerechnet werden konnte.«
»Was den Sinn dieser Lager, den jungen Leuten Disziplin, Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein zu vermitteln, auf jeden Fall verfehlt«, knurrte ich.
»Ich habe einen Artikel darüber gelesen, in dem es sinngemäß heißt, dass Hinweise darüber, wonach die meisten Jugendhilfeeinrichtungen überhaupt nicht funktionieren, von verantwortlicher Seite einfach ignoriert werden. Es ist nachgewiesen, dass die Lager weder die Rückfälligkeitsrate spürbar reduzieren, noch zu dem Erfolg führen, den ihre Betreiber versprechen. Das Personal ist mangelhaft oder gar nicht ausgebildet. Die nationale Vereinigung für geistige Gesundheit ist zu dem Schluss gekommen, dass die Anwendung von Einschüchterungs- und Erniedrigungstaktiken bei den meisten Jugendlichen kontraproduktiv ist und zu beunruhigenden Vorkommnissen des Missbrauchs geführt haben. In Frankfurt fanden Ermittler des Justizdepartements heraus, dass Kinder gezwungen wurden, auf Händen und Knien zum Essen zu kriechen und mit ihren T-Shirts die Böden zu putzen. Im Endeffekt heißt das, dass das paramilitärische Modell nicht nur ineffektiv ist, sondern auch schädlich.«
»Sie sind gut informiert«, musste ich anerkennen.
»Berichte über den Missbrauch in sowohl privaten als auch staatlichen Erziehungslagern sind weit verbreitet. Man spricht von zum Teil barbarischen Praktiken wie Fesselungen, Einzelhaft und regelmäßigen Leibesvisitationen bei Mädchen durch Wachmänner.«
»Ein vernichtendes Urteil über das staatliche Jugendhaftsystem«, murmelte ich.
»Das können Sie laut sagen« versetzte Lemke.
»Was Sie mir eben erzählten, Kollege«, sagte ich, »ist auf jeden Fall dazu angetan, den Aussagen Cindy Antonis einen gewissen Wahrheitsgehalt zuzuordnen. Ich denke, wir werden uns die Jugendhilfeeinrichtung mal aus der Nähe betrachten.«
»Heißt das, dass Sie nach Holm kommen wollen?«
»Wir müssen erst mit unserem Vorgesetzten darüber sprechen. Falls er zustimmt, werden wir sie unterrichten, wann wir ankommen. Sie können uns dann gerne unterstützen.«
»Es würde mich freuen«, erklärte Lemke.
6
Wir meldeten uns bei Herrn Bock an. Unser Chef fragte uns, ob wir eine Tasse Kaffee trinken wollten, was wir dankend annahmen. Der Kaffee stand bereits in einer Thermoskanne auf dem Tisch und auch das nötige Zubehör wie Tassen, Zucker und Milch waren vorhanden.
Der Chef wartete, bis wir uns jeder eine Tasse zubereitet hatten, dann fragte er: »Was gibt es? Wenn Sie bei mir antreten, ohne gerufen zu werden, ist meistens irgendeine Ka... Ich meine, dann hat das in der Regel einen wichtigen Grund.«
Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. … ist meistens eine Kacke am Dampfen, wollte Herr Bock sagen, besann sich aber seiner Position und reduzierte die herbe Redewendung auf das Vorliegen eines wichtigen Grundes.
»Es geht um Cindy Antoni«, begann ich und dann erzählte ich dem Chef, was unsere Feststellungen ergeben hatten.
Herr Bock hörte aufmerksam zu, unterbrach mich kein einziges Mal und sein Gesichtsausdruck wurde mit jedem Satz, den ich von mir gab, düsterer. Als ich geendet hatte, sagte er: »Das dürfen wir auf keinen Fall auf die leichte Schulter nehmen. Wenn diese Cindy Antoni die Wahrheit spricht, dann hat sie uns auf die Spur eines Mädchenhändlerrings gebracht. Ich will, dass Sie der Sache nachgehen, Uwe, Roy. Fahren Sie nach Holm und sehen Sie sich mal dort um. Ich denke, in dem Lager stinkt einiges zum Himmel.«
»Dieser Auffassung sind wir auch, Chef«, bemerkte ich. »Ich habe mit dem Leiter der dortigen Polizeidienststelle gesprochen. Er ist felsenfest davon überzeugt, dass Cindy lügt und nur ihren Hals aus der Schlinge ziehen will.«
»Sie werden mit dem Beamten zusammenarbeiten müssen«, gab Herr Bock zu verstehen.
»Klar. Aber wir werden uns wohl eher an Lemke von der Kriminalpolizei halten. Der Herr Kreuzer kommt mir ziemlich halsstarrig und von sich eingenommen vor. Natürlich hat er Interesse daran, zu verhindern, dass Missstände in seinem Zuständigkeitsbereich an die große Glocke gehängt werden.«
»Wann fahren Sie?«, wollte Herr Bock wissen.
»So bald wie möglich«, antwortete ich. »Am besten gleich morgen früh.«
»In Ordnung«, sagte Herr Bock und nickte. »Fahren Sie nach Holm und bringen Sie Licht in die Angelegenheit. Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Ausgehend von dieser alten Weisheit dürfen wir Cindy Antonis Aussage einfach nicht ignorieren.«
Am nächsten Morgen holte ich Roy von der Ecke ab, wo er immer auf meine Ankunft wartete. Da wir nicht vorhatten, länger als zwei oder drei Tage in Holm zu bleiben, war unser Gepäck entsprechend klein. Von Hamburg-Winterhude bis Holm waren es etwas mehr als dreißig Kilometer.
Klaus Lemke hatten wir Bescheid gegeben. Er hatte versprochen, uns zusammen mit seinem Kollegen und Dienstpartner Robert Anders bei Ankunft in Holm zu empfangen.
Wir benötigten für die Fahrt circa fünfundvierzig Minuten, denn der Verkehr durch Hamburg war wieder erbarmungslos. Das kleine Hotel in Holm war schnell gefunden. Wir checkten ein und verstauten unsere wenigen Habseligkeiten auf den Zimmern. Danach gingen wir in die Lobby und sahen zwei Männer, von denen ich annahm, dass es sich um die beiden Kollegen handelte.
Mit unserem Eintreten hatten wir die Aufmerksamkeit der beiden erregt. Sie näherten sich uns. »Herr Jörgensen und Herr Müller?«, fragte einer lächelnd.
»Ich bin Jörgensen«, erklärte ich und tippte mit dem Daumen meiner Linken gegen die Brust. »Das ist Roy Müller.«
Einer der beiden, ein dunkelhaariger Typ mit blauen Augen, reichte mir die Hand.
»Klaus Lemke. Mein Kollege Robert Anders.«
Wir begrüßten uns. Lemke sagte: »Wir sind mit einem Dienstwagen hier und fahren sofort zur Polizeidienststelle, um dem Chef einen Besuch abzustatten.«
Tilo Kreuzer war ein etwa fünfzigjähriger grauhaariger Mann, hochgewachsen, schlank, fast schlaksig. Er trug in seinem Büro eine Sonnenbrille.
In seinem Vorzimmer hatten zwei Polizisten gesessen. Sie musterten uns nicht gerade begeistert. Diese Provinzbeamten sahen uns nicht so gerne, denn meistens pfuschten wir ihnen auf diese oder jene Art ins Handwerk.
Kreuzer bot uns Plätze zum Sitzen an. Wir ließen uns auf den hölzernen Stühlen, die um einen kleinen runden Tisch herum gruppiert waren, nieder.
»Kaffee oder Tee?«, fragte Kreuzer, nachdem wir uns gegenseitig vorgestellt hatten. »Oder etwas Schärferes?« Er lächelte verbindlich.
»Vielen Dank«, lehnte ich ab. »Wir haben bereits einmal telefoniert«, setzte ich sogleich hinzu und lenkte die Aufmerksamkeit des Beamten auf mich.
»Richtig. Dann wissen Sie ja, wie ich über die Sache denke. Die Kleine hat sich die Geschichte ausgedacht, um nicht im Gefängnis zu verschwinden. Allerdings wird sie wohl kaum darum herumkommen. Nun, sie hat es sich selber zuzuschreiben.«
»Was ist, wenn Cindy die Wahrheit sagt«, fragte ich.
Kreuzer lachte auf. Für mich klang es ein wenig unecht, aufgesetzt.
»Schwerwiegende Vorwürfe«, knurrte er dann. »Jeder Beamte, der sich Derartiges zuschulden kommen ließe, müsste damit rechnen, eines Tages aufzufliegen und seinen Job zu verlieren und darüber hinaus vor Gericht zu landen.«
»Es hat Todesfälle in der Einrichtung gegeben«, erhob Klaus Lemke das Wort.
»Ja. Ein Unfall und ein Herzversagen. Wem wollen Sie dafür die Schuld geben? Dem Lagerleiter, den Ausbildern, mir vielleicht sogar?«
Ich sah zwar seine Augen nicht, hatte aber das Gefühl, dass er Lemke anstarrte wie die Schlange die Felsmaus, die sie im nächsten Moment verschlingen würde.
»Es sind innerhalb der letzten vier Monate sechs Mädchen verschwunden«, so ergriff ich wieder das Wort. »Verschwanden vor diesem Zeitpunkt auch schon Mädchen aus der Einrichtung?«
»Nein.«
»Was haben Sie veranlasst, um der Mädchen wieder habhaft zu werden?«, erkundigte sich Roy.
»Ich habe sie zur Fahndung ausgeschrieben und vor allem die Polizeibehörden an ihrem Wohnort mobilisiert. Denn wir erwarteten, dass sich die Mädchen nach Hause wenden würden. Fehlanzeige. Keines dieser kleinen Luder ist uns ins Netz gegangen.«
»Sie haben den Lagerleiter und die Ausbilder vernommen?«, fragte ich.
»Natürlich. Auch andere Mädchen. Ebenfalls vergebliche Mühe. Braun konnte uns nicht weiterhelfen. Ebenso wenig die Ausbilder und die Mädchen.«
»Haben Sie Protokolle von den Aussagen angefertigt?«
»Was denken Sie denn?« Er sprach mich direkt an. »Vermittle ich auf Sie vielleicht den Eindruck, meinen Job nicht ordnungsgemäß zu erledigen?«
Es war eine glatte Provokation. Kreuzer zeigte mir die Zähne. Er erinnerte mich jetzt an einen angriffslustigen Schäferhund.
»War eine rein rhetorische Frage«, wiegelte ich ab. »Ich wollte Sie nicht kränken oder gar maßregeln.«
»Entschuldigung angenommen«, knurrte Kreuzer. »Ich kann Ihnen die Protokolle gern zur Verfügung stellen. Aber sicher werden Sie sich selbst einen Eindruck verschaffen wollen und einen Abstecher in das Lager machen.«
»Ja, das werden wir. Kommen Sie mit?«
»Nein. Was sollte ich dabei? Ich hab meinen Job da draußen schon gemacht.«
Mir erschien dieser Mann irgendwie suspekt. Der Grund hierfür entzog sich meinem Verstand, aber das Gefühl war da und ließ sich nicht vertreiben.
7
Wir fuhren durch ein Gebiet, in dem bewaldete Hügel buckelten und sich weitläufige Senken und Ebenen dehnten, weite Flächen Prärie mit hüfthohem Strauchwerk und kniehohem Gras, das sich im Wind bewegte wie die Wellen eines Ozeans. Ein schönes Stückchen Land. Die Straße wand sich vor uns wie der Leib einer Schlange und bohrte sich zwischen die Hügel. Das Land mutete wild und ausgestorben an. Es schien, als würden sich hier Fuchs und Hase gute Nacht sagen.
Wir erreichten die Jugendhilfeeinrichtung nach einer halben Stunde Fahrt. Langgezogene Baracken mit vielen kleinen Fenstern boten sich unserem Blick, ein großer, freier und staubiger Platz, auf dem sich ein Fahnenmast mit der Deutschlandfahne zum Himmel reckte. Ein drei Meter hoher Drahtzaun mit Schneidedraht auf seiner Krone sowie ein zweiter, etwas niedrigerer Zaun grenzten das Areal ein. In dem Streifen zwischen den Zäunen lag etwa einen Meter hoch ineinander verworrener Schneidedraht. Es gab gleich hinter dem Zaun einen Hindernisparcours, der wahrscheinlich der körperlichen Ertüchtigung der Lagerinsassen diente.
Alles mutete trist und menschenfeindlich an. Das Tor war geschlossen. Es war aus Eisenrohren zusammengeschweißt, zwischen denen ebenfalls Drahtgittergeflecht gespannt war. Und auch die beiden Flügel waren an ihrem oberen Ende mit gerolltem Schneidedraht gesichert. Es gab einen Wachturm, auf dem ich zwei Gestalten wahrnahm.
Auf dem Exerzierplatz marschierte eine Gruppe von Mädchen im Gleichschritt, begleitet von einem Ausbilder.
Klaus Lemke stieg aus, ging zum Tor hin, und auf der anderen Seite kam einer der Wachposten näher. Ich sah, wie Lemke seinen Ausweis zückte, zu uns her deutete und auf den Wachposten einsprach. Ein weiterer Mann näherte sich dem Tor. Er trug eine beigefarbene Uniform. Lemke sprach erneut und unterstrich seine Worte mit einigen Handbewegungen. Dann kam er zum Wagen und schwang sich auf den Beifahrersitz.
Das Tor wurde geöffnet, und wir fuhren in die Jugendhilfeeinrichtung.
Als wir vor der Kommandantur ausstiegen, hörte ich den Ausbilder auf dem Exerzierplatz brüllen. »Links, zwei, drei, vier! Links ... Verdammt, Willert, willst du dich nicht endlich dem Gleichschritt anpassen! Schwing die Hufe, Willert, oder ich mache dir Beine!«
Ein Mädchen mit einem Putzeimer kam aus einer der Baracken. Es ging zu einem Gully am Rand der Straße, die zwischen den Unterkünften hindurchführte und leerte den Eimer aus. Dann kehrte sie in die Baracke zurück.
Wir betraten das Büro des Lagerleiters. Er musterte uns mit durchdringenden Blicken, sein Gesicht war verschlossen, es verriet nicht, was hinter der Stirn des Mannes vor sich ging. Nur eines glaubte ich, sagte mir der Gesichtsausdruck: Braun war nicht erfreut über unseren Besuch. Wir waren ihm alles andere als willkommen.
»Wir kommen wegen der verschwundenen Mädchen«, sagte ich und machte mich damit einfach zum Wortführer unserer kleinen Gruppe. Nachdem ich das gesagt hatte, zählte ich die Namen der Mädchen auf, die ich mir eingeprägt hatte. Zuletzt nannte ich Cindy Antonis Namen.
Mit kalten Fischaugen schaute mich Braun an. Schwere Tränensäcke hingen unter seinen Augen. Er hatte aufgeworfene Lippen, die feucht glänzten, und in seinen Mundwinkeln hatte sich ein brutaler Ausdruck fest gekerbt.
»Cindy hat schwere Vorwürfe gegen die Aufseher und die Lagerleitung erhoben.«
Er fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch das lichte blonde Haar, das er streng nach hinten gekämmt trug. Dann antwortete er: »Es gab Untersuchungen. Die Bundesanwaltschaft hat sie durchgeführt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Zustände in der Einrichtung okay sind. Es kratzt mich also nicht, wenn irgendeine Göre irgendwelche Anschuldigungen von sich gibt.«
»Cindy behauptet, aus der Einrichtung entführt worden zu sein.«
»Vielleicht hat sie in der Vergangenheit zu viele Schundromane gelesen oder billige Filme dieses Genres gesehen. Jedenfalls ist ihre Behauptung erfunden. Ich denke, sie erzählt diesen Unsinn, um nicht ins Gefängnis eingeliefert zu werden und ihre volle Haftzeit absitzen zu müssen.«
»Haben Sie sich mit Kreuzer darüber unterhalten?«
»Wieso?«
»Weil er genauso argumentiert.«
Braun schwieg.
Jetzt ergriff Klaus Lemke das Wort. Er sagte: »Ihre Jugendhilfeeinrichtung ist nicht unumstritten, Herr Braun. Zwei Mädchen kamen ums Leben und nun diese Behauptung. Insgesamt sind – wie mein Kollege Jörgensen schon sagte - sechs Mädchen spurlos verschwunden. Hat man nachvollzogen, wie sie ausgebrochen sind? Über den Zaun können sie ja kaum gestiegen sein. Sie hätten sich am Schneidedraht Hände und Füße zerfetzt. Außerdem gibt es einen Wachturm ...«
»Wir wissen es nicht«, versetzte Braun.
»In Luft können sie sich ja wohl kaum aufgelöst haben«, knurrte Roy.
»Wahrscheinlich sind sie unter dem Zaun durchgekrochen ...«
»Kaum möglich«, wies ich dieses Vorbringen zurück. »Durch die Schneidedrahtrollen kommt niemand. Sie müssten sich schon unter beiden Zäunen durchgegraben haben wie Maulwürfe. Ein solcher Fluchtweg wäre jedoch nicht verborgen geblieben.«
»Wir wissen es nicht!«, wiederholte Braun, diesmal um einige Nuancen schärfer, wobei er jedes Wort betonte.
»Außerdem ist es doch sehr verwunderlich, dass die Mädchen nur alleine beziehungsweise zu zweit geflohen sind«, mischte sich Robert Anders ein. »Warum haben sich ihnen nicht weitere Mädchen angeschlossen?«
»Weil die anderen Mädchen clever genug waren, die Chance, die wir ihnen boten, nicht aufs Spiel zu setzen.«
»Kaum vorstellbar, dass die Mädchen verschwunden sind, ohne dass ihre Kameradinnen es bemerkten«, trug Roy vor.
»Niemand weiß etwas und wenn, dann schweigen sie. Selbst wenn wir sie hetzen, bis ihnen die Zungen zu den Hälsen heraushängen – sie schweigen. Sie dürfen nicht vergessen, Herr Jörgensen, es sind abgebrühte, hartgesottene und mit allen Wassern gewaschene Straftäterinnen, die die Besserungseinrichtung dem Strafvollzug vorgezogen haben. Das sind keine Mauerblümchen.«
Was von dem Lagerleiter kam, erschien mir wenig konkret, ausweichend, vorgeschoben. Und in mir verstärkte sich die Gewissheit, dass Cindy Antoni keine Märchen erzählt hatte. Braun versuchte, die Mädchen als unverbesserliche Kriminelle hinzustellen. Damit versuchte er uns abzulenken. Wahrscheinlich hatte er auf diese Weise schon die Ermittler der Bundesstaatsanwaltschaft für sich eingenommen und geblendet.
Nun, vielleicht war ich auch voreingenommen. Dieser Braun war keine Erscheinung, die es mir leicht gemacht hätte, ihr uneingeschränktes Vertrauen zu schenken. Ich besaß genug Menschenkenntnis, um behaupten zu können, dass dieser Mann über Leichen ging und dass ihm sein eigenes Wohl wichtiger war als alles andere. Er war ein autoritärer Egoist, unduldsam, unerbittlich, mitleidlos.
»Wer war als Ausbilder für Cindy Antoni zuständig?«
»Rainer Kuhlow. Ein integerer Mann, dem die Erziehung der Jugendlichen ausgesprochen am Herzen liegt. Er ist verheiratet und hat selbst drei Kinder.«
»Können wir ihn sprechen?«, fragte Klaus Lemke.
»Außerdem hätten wir gerne mit einigen der Mädchen gesprochen«, fügte ich hinzu.
»Rainer und seine Gruppe befinden sich auf Übung im Gelände. Ich weiß nicht, ob sie am Abend ins Lager zurückkehren oder im Freien campieren.«
»Wo können wir ihn finden?«
»Irgendwo im Wald.« Braun grinste höhnisch.
»Eine Frage noch«, sagte ich. »Sind die Mädchen, die angeblich aus der Einrichtung geflohen sind, vorher schon unangenehm aufgefallen? Waren sie renitent, aufsässig, ungehorsam?«
»Diese Eigenschaften dulden wir hier nicht«, kam es wie aus der Pistole geschossen von Braun. »Derartiger Widerstand wird im Keim erstickt. Hin und wieder gibt es jemand, der unverbesserlich ist. Er geht ins Gefängnis.«
»Oder er wird zerbrochen«, ergänzte Lemke.
Braun richtete seinen Blick auf ihn.
»Sie zu brechen und dann langsam wieder aufzubauen, ist der Sinn solcher Jugendhilfeeinrichtungen, meine Herren.« Er machte eine kleine Pause. »Diese Art Jugenderziehungslager gibt es seit Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als verschiedene Regierungen sie ausprobierten und Jugendliche sowie Heranwachsende in eine militarisierte Umgebung versetzten. Diese Praxis wurde von Politikern aufgegriffen ...«
»Wie Willhelm Jenkow, der einer dieser Politiker und sturer Befürworter der Jugendhilfeeinrichtungen war, wie?«, stieß Klaus Lemke hervor. »Er war ausgesprochen bemüht, seinen Ruf als unerbittlicher Gegner jeder Art von Verbrechen zu festigen.«
»Die Tatsache, dass es seit etwa zwanzig Jahren diese Jugendhilfeeinrichtungen gibt, führt nicht zwingend zu dem Schluss, dass diese Einrichtungen gut sein müssen«, erklärte ich. »Wir werden Kuhlow ins Büro der Polizeidienststelle vorladen. Sicher wissen Sie, wie Sie ihn erreichen können. Wahrscheinlich geht er nicht ohne Handy in die Wildnis. Bestellen Sie ihm, dass wir ihn morgen Vormittag um neun Uhr in Holm sehen möchten.«
»Er wird Ihnen nichts sagen können, nichts, was ich Ihnen nicht schon gesagt hätte.«
»Das war so gut wie nichts, Herr Braun«, erwiderte ich kalt.
Er grinste ironisch.
»Die anderen Mädchen, die geflohen sind«, so erhob noch einmal Roy das Wort, »gehörten sie auch zur Gruppe Rainer Kuhlows?«
»Kuhlow ist Oberaufseher, beim Militär würde man sagen Kompanieführer. Ihm unterstehen vier Gruppen mit jeweils einem Ausbilder.«
»Drillmeister!«, warf Lemke hin.
Braun schoss ihm einen ärgerlichen Blick zu.
»Aus-bil-der!«, presste er hervor und zerlegte das Wort in seine Silben.
»Na schön«, sagte Roy. »Dann formuliere ich die Frage anderes. Gehörten die Mädchen, die angeblich geflohen sind, zur Kompanie Kuhlows?«
»Nicht alle.«
»Hat man sie verfolgt?«, wollte Anders wissen.
»Nein. Seien Sie mir nicht böse«, knurrte Braun. »Aber diese Frage habe ich bereits konkludent beantwortet, als ich sagte, dass wir nicht wissen, auf welchem Weg die Mädchen das Lager verlassen haben. Wie hätten wir sie also verfolgen sollen.«
Im Klartext wollte er damit zum Ausdruck bringen, dass Anders eine dämliche Frage gestellt hatte.
Mit Braun kamen wir nicht weiter. Es war vergeudete Zeit. Ich erhob mich.
»Also, bestellen Sie es Kuhlow. Morgen Vormittag um neun Uhr in der Polizeidienststelle. Sollte er nicht erscheinen, lassen wir ihn abholen.«
Braun fixierte mich nur mit einem hintergründigen Blick, dem ich ein gewisses Maß an Heimtücke zu entnehmen glaubte.
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Hamburg, eine Wohnung in der Erichstraße, Altona. Die Mittagszeit war längst vorüber, als Melanie Krüger die Augen aufschlug. Zunächst starrte sie mit dem Ausdruck des absoluten Nichtbegreifens zur Decke des Zimmers hinauf. Sie wies einige Sprünge auf, war ehemals weiß gekalkt worden, jetzt aber war sie schmutzig-gelb vom Nikotin und den Abgasen, die im Laufe vieler Jahre durch das verzogene Fenster in den Raum gedrungen waren.
Bei Melanie stellte sich die Erinnerung ein. Dennis West, ein Computerchiphersteller, hatte am vergangenen Abend im Club Janin seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert. Eine geschlossene Gesellschaft. Die Feier war in eine Orgie ausgeartet. Es wurde getrunken, geschnupft und dem zügellosen Sex gefrönt. Von irgendeinem Zeitpunkt an wusste Melanie nichts mehr. Jetzt war sie nur total verkatert. Und noch etwas spürte Melanie. Sie brauchte einen Schuss.
Reglos lag sie da und starrte zur Decke hinauf. Ihre Gedanken schweiften zurück. Sie dachte an die Jugendhilfeeinrichtung, an das Leid, das ihr dort widerfahren war, an die bitteren Tränen, die sie in den Nächten vergoss, wenn sie vor Übermüdung oder wegen der psychischen und physischen Beeinträchtigungen nach Gewaltmärschen oder schwerer Arbeit auf dem Feld, nach körperlichen Züchtigungen oder stundenlangem Stehen auf einem Fleck unter der heißen Sonne, nicht einschlafen konnte.
Tag für Tag nur Drill, Zwang und Demütigung. Dann hatte man sie in Einzelhaft genommen, weil sie angeblich beim Revierdienst nicht sauber genug gearbeitet hatte. Revierdienst hieß, den Platz um die Wohnbaracke herum zu säubern und auch vom Unkraut zu befreien, das zwischen den Betonplatten wucherte.
In der Nacht hatte man sie aus ihrem kleinen stockfinsteren Gefängnis geholt. Es waren drei Kerle. Sie wurde in einen Transporter verfrachtet und man verließ mit ihr das Lager. Einer der Kerle befand sich bei ihr auf der geschlossenen Transportfläche. Auf ihre Fragen hin gebot er ihr, zu schweigen. Sie fuhren bis zum Morgengrauen, dann hielten sie auf einem Parkplatz an der Autobahn an. Man gab ihr eine Spritze in den Arm, in die Ellenbeuge. Die Angst, die sie fühlte, die Anspannung, die an ihren Nerven zerrte, verschwand. Sie wurde ruhig, schläfrig und ergab sich in ihr Schicksal.
Man hielt sie in dem Zustand der Lethargie und brachte sie irgendwann nach Hamburg. Zwei Männer übernahmen sie und brachten sie in dieses Gebäude. Auch sie spritzten ihr Heroin. Sie war süchtig geworden. Man versprach ihr in ausreichendem Maße Rauschgift, dafür aber müsste sie in einer Bar arbeiten – im Club Janine. Und zwar als Animiergirl, außerdem hatte sie für besondere Wünsche zahlender Kunden zur Verfügung zu stehen.
Für einen Schuss Heroin hätte Melanie ihren Peinigern aus der Hand gefressen.
Gestern hatte sie während der Party zur Verfügung zu stehen. Dennis West hatte für sie und einige ihrer Kolleginnen gut bezahlt. Sie bekamen ihren Stoff und boten den Gästen alles, was sie zu bieten hatten.
Ja, es war eine Orgie; sündig, lasterhaft, pervers.
Es gab noch etwas in der Psyche des Mädchens, das stärker war als die Sucht. Es war die Abscheu. Die Kerle mit ihren ausgefallenen Wünschen widerten es an. Es waren perverse Spiele, die Melanie anekelten. Sie war kriminell, hatte ein hohes Maß an Brutalität an den Tag gelegt, als sie in Hamburg alte Frauen überfiel und sie war heroinsüchtig. Aber sie hatte sich noch etwas bewahrt, an das sie sich klammerte. Es war ein gewisses Selbstwertgefühl, das ihr sagte, dass sie nur noch benutzt wurde wie ein Spielzeug, das man irgendwann in die Ecke warf, wo es liegenblieb und von niemand mehr beachtet wurde, bis es irgendwann im Müll landete.
Die Angst davor stieg aus dem Unterbewusstsein des Mädchen und erfüllte es mit düsteren Visionen.
Du musst weg, ehe es zu spät ist!, durchfuhr es Melanie. Du gehst hier vor die Hunde. Du musst nach Hause. Wenn dir jemand helfen kann, dann deine Eltern. Großer Gott, was hast du ihnen für Kummer und Sorgen bereitet? Ich will das ändern und nicht mehr diesen schmierigen Kerlen hörig sein.
Melanie erhob sich. Sie war nur mit einem Slip bekleidet. Das bisschen Kleidung, das sie am Abend getragen hatte und das mehr gezeigt hatte als es verbarg, lag auf dem Boden ihres Zimmers verstreut herum.
Melanie war ein schönes Mädchen mit einer traumhaften Figur. Aber jetzt spürte sie den Entzug und sie kam sich wie ausgehöhlt, wie am Boden zerstört vor. Ihre Hände zitterten. Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Die innere Unruhe war fast schmerzhaft zu spüren.
Sie überwand sich und ging zu dem Schrank, der an der dem Bett gegenüberliegenden Wand stand und öffnete ihn. Da lagen einige Kleidungsstücke, die man ihr zur Verfügung gestellt hatte. Sie zog eine Jeans und ein weißes T-Shirt an, barfüßig schlüpfte sie in die schwarz-weißen Sportschuhe, die auf dem Boden des Schranks standen, und band sie zu.
Melanie ging zu einem Spiegel, der über einem abgestoßenen Sideboard an der Wand hing und betrachtete sich. Ihr Gesicht war vom zügellosen Leben der vergangenen Wochen gezeichnet. Die Augen lagen tief in den Höhlen, dunkle Ringe hatten sich unter ihnen gebildet. Ein herber Zug hatte sich in ihren Mundwinkeln eingekerbt. Ihre Wangen muteten eingefallen an.
Sie verließ das Zimmer. Im Haus war es ruhig. Die Tür, durch die man das Apartment verlassen konnte, war verschlossen. Melanie ging zu einer der Türen, die von der kleinen Diele abzweigten, öffnete sie und schaute hinein. Da lag Rebecca im Bett und schlief, bei ihr befand sich Georg, der Schlägertyp, der für die Mädchen verantwortlich war, die in dem Gebäude untergebracht waren. Georg schnarchte.
Über einer Stuhllehne hing Georgs Hose. Melanie nahm sie, griff in die Tasche und fand den Wohnungsschlüssel.
Georgs Schnarchen brach schlagartig ab. Er drehte sich auf die Seite, murmelte irgendetwas vor sich hin und Melanie erstarrte. Das Herz schlug ihr hinauf bis zum Hals. Ihre Atmung hatte sich beschleunigt. Aber Georg wachte nicht auf. Wahrscheinlich war er stark betrunken gewesen, wie alle, die der Party beigewohnt hatten.
Melanie verließ das Zimmer und begab sich in einen anderen Raum. Da schliefen zwei Mädchen auf Matratzen, die nur auf dem Boden lagen. Eines der Mädchen rüttelte Melanie.
»Jenny, wach auf. Jenny ...«
Die Lider des hellblonden Mädchens zuckten.
»Lass mich in Ruhe«, murmelte Jenny Wolters und drehte sich herum, schloss die Augen und schlief sofort wieder ein.
Melanie richtete sich auf, ging in die Diele und sperrte die Wohnungstür auf, öffnete sie, lauschte ins Treppenhaus und huschte dann hinaus. Schnell, aber dennoch leise, lief sie die Treppe hinunter, die Haustür ließ sich öffnen, Melanie trat hinaus auf die Straße.
Einen Moment lang wollte sie Resignation überkommen, als sie daran dachte, dass sie keinen Cent besaß und sie den Heroinentzug immer krasser spürte. Sie war unruhig, angespannt und sie fühlte körperliche Schwäche. Dazu kamen das Zittern und das Schwitzen.
Melanie hatte keine Ahnung, was noch auf sie zukommen würde. Sie dachte auch nicht darüber nach. Zu den Entzugssymptomen gesellten sich die Nachwirkungen des Alkoholrausches.
Melanie gab sich einen Ruck und marschierte los. Georg schlief. Es war alles so einfach. Sie konnte einfach davon spazieren. Dabei war sie wie eine Gefangene gehalten worden ...
Melanie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Mit weichen Knien wankte sie dahin. Sie verspürte Übelkeit.
Fußgänger begegneten ihr und musterten sie neugierig. Alles in ihr schrie nach einem Schuss. Seit sie aus der Jugendhilfeeinrichtung entführt wurde, war sie – nachdem ihr das erste Mal Rauschgift gespritzt worden war – etwa alle sechs bis acht Stunden versorgt worden. Seit sie zum letzten Mal an der Nadel gewesen war, waren zwölf oder noch mehr Stunden vergangen. Die Sehnsucht nach der Wirkung der Droge wurde fast übermächtig in ihr.
Melanie erreichte eine U-Bahnhaltestelle. Einige Leute warteten da. Etwas abseits standen drei Jugendliche und rauchten. Die Burschen lachten miteinander. Einer sagte laut, als wäre er bemüht, auch die anderen Menschen an der Haltestelle an seinem Erlebnis teilhaben zu lassen: »Dann haben mich die beiden Ladys so richtig...«
»Gebt mir eine Zigarette«, krächzte Melanie. Ihre Nasenflügel bebten. Der Junge hatte abgebrochen und die drei starrten das Mädchen an.
»Eine Zigarette«, wiederholte Melanie. »Bitte.«
Einer der Jungs grinste anzüglich. »Gibt's 'ne Gegenleistung?«
»Die sieht ziemlich fertig aus«, sagte einer der anderen Burschen. »He, was ist los mit dir, Baby? Hast du durchgemacht?«
Und der dritte der Kerle fügte hinzu: »Wetten, dass wir von der für eine Zigarette alles haben können.« Er grinste schief und fixierte Melanie mit gierigem Blick.