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Wie ein Staat -die DDR- es geschafft hat, einen Menschen immer wieder mit dem "Gesetz" in Konflikt zu bringen, ohne, dass dieser Mensch tatsächlich kriminell -im eigentlichen Sinne- ist. Hunderttausende haben diese oder ähnliche Erfahrungen in der DDR machen müssen. Dieses Buch beschreibt ein ganz spezielles Beispiel dafür. Hans-Joachim Schmidt beschreibt sehr eindringlich wie viele Ungerechtigkeiten er erfahren musste, wie "kriminell" erwar. Und er gibt nebenbei sehr viele neue Einblicke in den uns völlig unbekannten Alltag eines ehemaligen DDR Bürgers, in eine Welt, die wir und im freien Europa so gar nicht denken können. "Kriminalisiert" zeigt aber auch auf, wie aus "Staatsdienern" -über die eingetrichterte Ideologie der DDR Kriminelle wurden.
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Seitenzahl: 223
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Hans-Joachim Schmidt
Kriminalisiert
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Anfang vom nicht Endenden
Erste Verurteilung
Berndshof
Die gefallene Fahne
Meister?
FDGB
Endlich integriert?
Ein guter Freund?
Schwarze Pumpe
Versuchungsabsicht?
Reise in mein neues Leben
Akteneinsicht 2013
Nachwort
Impressum neobooks
Eine der höchsten Gaben
die uns gegeben ist,
ist zuzuhören.
Nur leider machen die wenigsten Gebrauch davon.
(Hans-Joachim Schmidt)
Als ich nach fast 18 Jahren aus der Obhut der Heime entlassen wurde und glaubte nun endlich Herr meiner eigenen Entscheidungen zu sein, musste ich feststellen, einem gewaltigen Irrtum zu unterliegen.
Dabei konnte ich es nicht abwarten endlich volljährig zu werden, die Heime hinter mir zu lassen und somit die Fesseln der sozialistischen Heimerziehung abzuschütteln.
Gefangen und wie eine Geisel behandelt, war ich dem Wohlwollen, was eher seltener war und der Ungnade in all den Jahren in der DDR, ausgeliefert.
Nahtlos, und das bis zu meiner Ausbürgerung in die BRD, unterlag ich jetzt - wie schon zu meiner Kindheit - den Schikanen, der Willkür und als Erwachsener auch den Strafandrohungen und den Inszenierungen von Straftaten durch die Abteilung für Innere Angelegenheiten und dem Ministerium für Staatssicherheit „MfS“ und deren Schergen.
Selbst Richter und Staatsanwälte mischten mit ihren Anklagen und Verurteilungen gegen mich mächtig mit. Weil sie nicht hinterfragten, sondern - nach Stand der Dinge - wie sie von den Söldnern der Staatsführung dargelegt wurden, alles als gegeben hingenommen haben und mich mit der ganzen Härte, der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, aburteilten. Sie sahen diese Anklagen und die daraus resultierenden Verurteilungen als Parteiauftrag. Und sie urteilten im Namen des Volkes, wie es von ihnen abverlangt wurde. Dabei handelten sie, zumindest bei meinen Verurteilungen, nicht im Sinne der Rechtsprechung, so wie es Justitia gern gesehen hätte. „Gesehen hätte“ ist vielleicht nicht richtig formuliert, denn sie hat ja die Augen verbunden und hält eine Waage in einer und ein Richtschwert in der anderen Hand. Wie Sie wissen werden, soll dieses Equipment verdeutlichen, dass das Recht, ohne Ansehen der Person, die Augenbinde, nach sorgfältiger Abwägung der Sachlage - jene Waage, gesprochen und schließlich mit der nötigen Härte - das Richtschwert, durchgesetzt wird. Und das ließ bei all meinen Verurteilungen mehr als zu wünschen übrig. Abgesehen von der Härte, die wurde voll ausgeschöpft, und der Darstellung - im Zeichen des Richtschwertes - gerecht.
Diese Abteilung Inneres war so was wie der Handlanger in der Eigenschaft eines Knechtes der Staatssicherheit. Ihr spezielles Aufgabengebiet lag darin, Kirchenleute, Ausreiseantragsteller und potenzielle Ausreisewillige, darunter fielen auch politisch nicht tragbare Personen, zu schikanieren und zur Umkehr zu bewegen. Scheiterten deren Bemühungen, Leute auf ihren angestrebten sozialistischen Weg zurückzuführen, wurde jene Personen dem MfS übertragen. Und dass deren Arbeits- und Vorgehensweise um vieles effektiver war, ist ein offenes Geheimnis. Um in die Fänge dieses menschen-verachtenden Umfeldes zu geraten, reichte es schon, eine missverstandene oder zweideutige Frage zu stellen. Da versteht es sich von selbst, dass bei negativer Kritik, in Richtung DDR und deren Vertreter, jeder mit von der Partie war, der sich daran beteiligte oder auch zuhörte und dies nicht zur Anzeige brachte.
Nicht selten wurden diese Leute kriminalisiert und auf Jahre eingesperrt. Deren Kinder, wenn sie welche hatten, wurden in Heime gesteckt. Diese Heime waren in der Regel keine, wenn ich das mal so sagen darf, normale Heime im üblichen Sinne, sondern Spezialheime. Und wie es dort zuging, habe ich schon in meinem Buch „Geschundene Seelen - Schwarze Pädagogik“ dokumentiert.
Kräftig mitgemischt haben einige vermeintlich gute Freunde, die ich nicht nur mit Speis und Trank unterstützte. Die sich im Nachhinein, nach Einsicht meiner Akten bei der Gauck-Behörde, als IM’s entpuppten und somit der Partei- und Staatsführung in niederträchtiger und hinterhältiger Art und Weise dienlich waren. Jene haben eine ordentliche Portion dazu geleistet und sind somit mitverantwortlich für die Kriminalisierung meiner Person.
Aber egal wer sich um mich bemühte, ob Inneres, das MfS, die unzähligen Abschnittbevollmächtigten oder die inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi, keiner konnte mich- ihren Vorstellungen gerecht- formen und schon gar nicht brechen, aber sie machten mich nachdenklich.
Es ist ja nicht so, dass ich nicht ahnte oder gar wusste, warum man sich anfangs um mich bemühte. Aber ein „NEIN“ sollte doch ein verständlicher Terminus sein und nicht Anlass geben so zu verfahren, wie sie es mit mir handhabten. Man kann in dem Zusammenhang auch nicht davon reden, dass sie schlechte Verlierer waren, denn um etwas zu verlieren, muss man es zuvor besessen haben. Und sie haben nichts an mir besessen.
Wie schon bei der Aufarbeitung meiner „Kindheit“ hatte ich auch bei diesem Buch Schwierigkeiten meine Erinnerungen zu Papier zu bringen. Vieles ist in den Hintergrund meiner Erinnerungen gerückt. Nein, es war nicht Vergesslichkeit welches die Schwierigkeit hervorrief. Das Problem lag darin, das schreckliche Geschehene selbst in den Vordergrund meines Gedächtnisses zu rufen und niederzuschreiben.
Damals, als Kinder, nannte man uns „Fürsorgemüll“ und im Erwachsenenalter betitelte man mich als „Furunkel am Arsch des Volkes“. Derartigen und ähnlichen Vergleichen war ich jedes Mal dann ausgesetzt, wenn mich ein Richter oder eine Richterin bei Verurteilungen charakterisierte. Da ist der Ausspruch „Sie sind eine Distel im sozialistischen Garten“ noch sehr human ausgedrückt.
Gut, ich war nicht der Vorzeige-DDR-Bürger. Aber derartigen Assoziationen als Person sollte keiner unterzogen werden, auch dann nicht, wenn er nicht konform mit der Ansicht einer Gesellschaftsordnung ist.
Zudem, kriminell und schon gar nicht aus eigenem Antrieb oder ein Hehler war ich nie.
Dass ich hin und wieder in eine Notlage manövriert wurde, um nicht zu sagen gedrängt - was es eher beschreiben würde - und ich mich dadurch genötigt sah mich zu wehren, um meine Gesundheit zu schützen, muss man zwingend als Notwehr werten.
Klarstellen möchte ich, dass jene erwähnten Personen nicht von mir diskreditiert werden, sondern Bestandteil meines Lebens, wenn auch nicht im positiven Sinne, waren und ich lediglich ihre Einstellungen und Handlungen mir gegenüber offen lege. Nur führen diese, meine jetzigen Ausführungen, zu keiner Strafverfolgung derer, denen ich ausgesetzt war, als sie mich, aus welchen Beweggründen auch immer, den Strafverfolgungsbehörden auslieferten, ob direkt oder indirekt.
Schon als Kind und später als Jugendlicher wurde mir prognostiziert, dass ich eines Tages im Knast landen und dort wohl meine Rente erreichen werde.
Als ich fragte: „Warum?“, sagte man mir, und das mehrmals: „Jedes Heimkind landet früher oder später im Gefängnis!“
„Tolle Aussichten“, dachte ich mir jedes Mal. „Aber ich werde denen keinen Anlass dafür geben“, so mein abschließender Gedanke.
Dass man nicht mal straffällig werden musste, also im Sinne von kriminell sein, um ins Gefängnis zu kommen, kam mir damals nicht in den Sinn.
Aber die „Propheten“ sollten Recht behalten.
Wahrscheinlich wäre es auch so gekommen, dass ich bis zu meiner Rente in den Strafvollzügen der DDR gehaust hätte, wenn ich nicht, auf Grund meines Ausreiseantrages und einer Anzeige, die ich gegen mehrere Polizeireviere der Stadt anstrebte, abgeschoben worden wäre.
Diese Abschiebung, im März 1988, war wohl ein Glücksfall für mich, nicht zuletzt, weil ich damals noch die Vorzüge der Bundesrepublik Deutschland kennen lernen durfte.
Abschließend möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass ich rehabilitiert wurde und als Opfer des DDR-Regimes anerkannt bin. Diese Erkenntnis und die Rechtsprechung daraus, sowie der darauf folgende Beschluss der verantwortlichen Behörden der BRD, waren mir sehr wichtig.
Irgendwie machte ich mich immer unbeliebt, wenn es um die Belange der DDR und deren Vertreter ging. Sei es mein Verhalten dem System gegenüber oder meine etwas andere Weltanschauung in Bezug auf Kapitalismus und Sozialismus. Dabei hatte ich nur Fragen, die ich gern beantwortet gesehen hätte.
In der Schule lehrte man mir, dass es keine dummen Fragen gibt, sondern nur dumme Antworten. Aber dass allein schon Fragen Menschen zu Wutausbrüchen und zu unmenschlichen Handlungen bewegen konnten, wurde mir in den nächsten Jahren bewusst. Nein, ich habe nicht aufgehört zu fragen, denn ich wollte ja nicht doof sterben. Damals dachte ich noch: „Der muss es ja wissen, denn er ist älter und erfahrener als ich“, wenn ich fragte und nicht ganz sicher war, ob es sich in der Tat so verhielt, wie es mir vermittelt wurde. Allerdings wusste ich nicht, dass die, die ich damals fragte, ihre Antworten von der sozialistischen Führung, also der Partei, vordiktiert bekamen – und es sah so aus, dass einige Fragestellungen gar nicht erst in ihrem Programmkatalog vorkamen.
Schnell erkannte ich, dass die DDR kein Staat der Diktatur des Proletariats, sondern schlichtweg eine Diktatur durch die Staatsführung, der Partei, selbst war. Die DDR war ein totalitäres Staatssystem.
Schon eine solche Erkenntnis, im falschen Umfeld laut geäußert, zog damals empfindliche Strafen nach sich.
Ebenso wurden Handlungen von meiner Seite, durch staatstreue Empfänger, falsch interpretiert, was ebenfalls nicht selten ohne Spuren an mir vorüberging.
Gerade weil ich oft missverstanden wurde, ging mir damals ein Satz von den Lippen, über den ich selbst erstaunt war, ihn so gesagt zu haben, der mir allerdings zusätzlichen Ärger einbrachte. Aber lest selbst, welches Ereignis mich zu diesem Satz, oder auch Zitat, trieb.
Schon in der 10. Klasse, als die Musterungskommission aus dem Wehrkreiskommando Berlin-Köpenick bei uns vorstellig wurde, um uns auf den Wehrdienst vorzubereiten und gegebenenfalls Rekruten zu ordern, die sich für mehr als 18 Monate verpflichten würden, fiel ich unangenehm auf.
An jenem Tag hatte ich Tafeldienst, als wir von unserem Lehrer die Meldung von diesem hohen Besuch bekamen, der allerdings sehr kurzfristig anberaumt worden war. Er befahl uns unser Klassenzimmer auf Hochglanz zu trimmen, dafür ließen sie sogar eine Unterrichtsstunde ausfallen. Uns blieben etwa 45 Minuten bis zum Eintreffen der militärischen Delegation, wie unser Lehrer den Besuch auch nannte.
Der Bereich rund um die Tafel sowie der Lehrertisch und die komplette Front des Klassenzimmers, an der auch der Kartenständer und das Bild unseres Staatsratsvorsitzenden angebracht waren, oblagen meiner Wenigkeit. Voller Eifer und sehr beflissen ging ich meinen Reinigungsarbeiten nach. Vielleicht war ich etwas zu eifrig oder auch zu hektisch in meinem Tun, gerade als es darum ging, ein Bild zu reinigen. Es war nicht irgendein Bild, sondern eins, worauf man stolz sein sollte, es in seinem Klassenzimmer hängen zu haben.
Anstatt das Bild von der Wand zu nehmen, schmierte ich mit einem feuchten Lappen darüber.
Jedenfalls fiel mir beim Putzen des Glases jenes Bild, auf dem Walter Ulbricht abgelichtet war, von der Wand.
Jener Walter Ulbricht war zu der Zeit der bedeutendste Politiker der DDR, er war der Staatsratsvorsitzende und stand bis 1971 an der Spitze des Zentralkomitees der SED. Es ist auch der Ulbricht, der die Mauer bauen ließ.
Der Nagel in der Betonwand hielt wohl nicht mehr, was man sich vor dem Einschlagen von ihm versprach – er versagte seinen Dienst.
Somit begann der Ärger.
Nachdem ich über das Bild mit einem trockenen Tuch gewischt hatte, versuchte ich es wieder an seinem angestammten Platz zu befestigen, aber vergebens. Da sich der Nagel auch nicht mehr in diese Betonwand fest hineinschieben ließ, weil einige Stückchen Putz mit dem Nagel herausbrachen und ich keinen Hammer zur Hand hatte, hängte ich das Bild kurz entschlossen an den im Klassenzimmer befindlichen Kartenständer.
Jener Kartenständer war im eigentlichen Sinne kein Ständer, sondern, ähnlich einer Jalousie, an der Decke angebracht. Mittels eines angebrachten Stricks konnte die Karte durch Ziehen rauf- und runtertransportiert werden und rastetet dann ein. Unten an der Karte befand sich eine Holzleiste zur Stabilisierung, an der sich eine Lederöse und eben dieser Zugstrick befanden. Diese nachträglich angebrachte Lederöse diente jetzt zur Arretierung, welche an einem festen Haken in der Wand Halt fand. Das war auch notwendig, weil sich die Karte anfangs hin und wieder von allein wieder einrollte und letztlich nicht mehr einrasten ließ.
An genau dieser Öse befestigte ich dieses Streitobjekt –das Bild Walter Ulbrichts – mit einer vom Lehrer angeforderten Büroklammer und zog meine Konstruktion hoch.
Ich hätte auch den Zugstrick genommen, aber er war zu dick und es befand sich eine Murmel am Ende dran, sodass ich keine Möglichkeit sah, ihn mit dem Bild zu verwenden. Auch den Haken, der mittels Dübel anständigen Halt hatte, hätte ich nehmen können, der der Arretierung der Weltkarte stets nützlich war. Nur hätte dann das Bild zu tief gehangen, was unserem Staatsratsvorsitzenden nicht gerecht wurde, so mein Dafürhalten.
Unsere Klasse blitzte, selbst der Fußboden wurde durchgekehrt und gewischt. Er sollte sogar noch eingebohnert und mit einer, mit Gewichten beschwerten, Bürste geblockt werden, aber dafür reichte dann doch die Zeit nicht mehr aus.
Und dann kamen sie, die hohen Gäste. Wir hörten schon deutlich das Anrücken, welches durch das Aufschlagen der mit Eisen beschlagenen Stiefel auf dem Terrazzoboden angekündigt wurde.
Diese schweren Schritte waren bestimmt im ganzen Schulgebäude zu hören. Einige Schüler der unteren Klassen begleiteten die Formation bis vor unsere Klassenzimmertür. Allerdings wurden sie von einem Lehrer, der Pausenaufsicht hatte, weggescheucht.
Und dann betraten sie unser Klassenzimmer. Jeder der Uniformierten hatte geflochtene Schulterstücke, also ab Major aufwärts.
Unser Lehrer stand vor den Geflochtenen wie ein Erstklassenschüler, der gerade eine Schultüte in Empfang nahm. Dann salutierte er auch noch. Eigentlich nicht anders zu erwarten, denn er war unser Staatsbürgerkunde- und Geschichtslehrer.
Einer der Uniformierten, übrigens der Einzige mit drei goldenen Sternen, ein Oberst, drehte sich lobend, bezüglich der Ordnung und Sauberkeit unserer Klasse, um und verstummte kurz darauf, als er das Bild Ulbrichts an dem Kartenständer baumeln sah. Mit strengem Befehlston fragte er, auf das Bild zeigend, was eher einem Gruß aus der NS-Zeit glich: „Wer hat das zu verantworten!?“
Ich wusste gar nicht, was der hat, dass der so außer sich ist. Der Oberst hatte mittlerweile ein knallrotes Gesicht und wiederholte seine Frage: „Wer hat das hier veranstaltet!?“ Bei der erneuten Frage spuckte er und wedelte wie verrückt Richtung Kartenständer. Ich glaube, es hätte nicht viel gefehlt, und der wäre explodiert oder hätte seine Dienstwaffe gezogen. Jedenfalls stand ich auf, stellte mich, ihm gebührend und der gespannten Situation entsprechend, stramm vor ihm hin und sagte mit einer sagenhaften Freude: „Herr Oberst, ich habe den da aufgehängt.“
Und ich meinte es, so wie ich es sagte, der Tätigkeit entsprechend ohne Hintergedanken. Vielleicht hatte ich gerade nicht sofort die richtige Wortwahl gefunden, sie traf aber dennoch meine Absicht, das Bildnis von überall, dem Klassenzimmer heraus, sehen zu können.
Niemand fand das, im Anbetracht des hohen Besuches, lustig – und ich seinen straffen Ton und Wutausbruch auch nicht. Umso erstaunter war ich, als ich aus dem Klassenzimmer flog und letztlich auf einem Polizeirevier landete.
Um es richtigzustellen: Es war sogar das Polizeipräsidium in Johannisthal. Es war jenes Präsidium, vor dem ich als Kind sah, wie ein Mann aus dem obersten Stockwerk flog und vor mir aufschlug.
Was die mir alles unterstellten, darf man wirklich nicht wiedergeben, weil es so fern jeder Vernunft und Vorstellungskraft war, was sie aus meiner gut gemeinten Handlung her deuteten. Irgendwann wurden mir die unsinnigen Anschuldigungen zu viel und ich sagte jenen Satz, mein erstes Zitat: „Der Schmutz liegt im Auge des Betrachters.“
Ich bekam nur noch ganz kurz mit, wie einer der Polizisten den Versuch startete, auf mich zuzuspringen. Er stolperte dabei aber über einen Stuhl und fiel auf mich drauf. Dann wurde es sehr still und dunkel um mich herum. Wie ich später erfuhr, war der Kripobeamte, in seinem Zorn, auf mich draufgefallen und hatte mich dadurch zu Boden gerissen. Beim nächsten Fahnenappell bekam ich vor versammelter Belegschaft, vom Schuldirektor, einen Tadel ausgesprochen.
Später erfuhr ich, warum der Oberst so sprachlos war. Er soll mit Walter Ulbricht, als junger Kommunist, im Untergrund gearbeitet haben und dieses Thema schlachteten die über Stunden aus.
Einem ähnlichen Missverständnis unterlag ich, was mir womöglich meinen Ausbildungsplatz hätte kosten können, als ich meinen Stundenplan sah, den wir vor Lehrbeginn ausgehändigt bekamen.
Wie schon erwähnt, fiel mir etwas in der Unterrichtsplanung bezüglich meines Lehrplans, auf.
Nach Sichtung der Fachbereiche, die uns vermittelt werden sollten, und deren Einteilung sowie der Häufigkeit der vorgesehenen Stunden des Lehrplanes wurde ich stutzig, was ich eher als einen Fehler beziehungsweise Verwechslung der Zuteilung der Stunden ansah.
Um mich schlau zu machen, fragte ich daraufhin, explizit in der Stunde, in der das Fach gelehrt wurde, den Lehrer: „Herr Moldenhauer, warum haben wir mehr Unterrichtstunden in dem Fach Marxismus-Leninismus als Lehrstunden in der Instandhaltung?“
Um dieser Frage eine Berechtigung zu geben, sollte ich anführen, dass ich den Beruf eines Instandhaltungsmechanikers erlernte.
Daraufhin sagte er feierlich und mit geschwollener Brust: „Nur ein guter Marxist-Leninist ist ein guter Facharbeiter.“
Ich schaute ihn an, und er sah in mein verdutztes Gesicht. Daraufhin nickte er mir zu, um seine These zu untermauern. Mann, dachte ich, der ist wohl doch von seiner Ansicht überzeugt.
Darauf fragte ich, nur um es genau zu wissen und ihn nicht missverstanden zu haben: „Herr Moldenhauer, kann ich das dann so verstehen, dass, wenn ein Kunde später mal einen Rohrbruch hat, ich ihm das Kommunistische Manifest zitieren sollte, anstatt den Rohrbruch zu reparieren?“
Für diese Frage erhielt ich zwar die Lacher der Lehrlinge, aber Herr Moldenhauer blieb mir eine Antwort darauf schuldig. Er schaute nur ziemlich blöd drein. Ich begriff gar nicht, was der nun wieder hatte, dabei hatte ich nicht einmal die Staatsbürgerkunde-Stunden angeführt, die er ebenfalls unterrichtete.
Nach dem Trubel, der dann veranstaltet wurde, will ich wirklich nicht wissen, wie seine Reaktion daraufhin ausgefallen wäre. Aber der Zoff, den der beim Direktor abließ, war schon sehr heftig. Der Moldenhauer verlangte doch tatsächlich, mich aus der Lehre zu schmeißen, schon wegen der Lage der Lehranstalt. Er nannte mich wirklich eine „subversive Person“.
„Herr Moldenhauer, da fahren Sie aber starke Geschütze gegen den Jungen auf. Er war vielleicht etwas vorlaut, aber dass er ein Umstürzer oder Zersetzer sein soll, so wie Sie ihn benennen, ist wohl von Ihnen, Kollege, etwas vorschnell geäußert“, sagte der Direktor.
Der Moldenhauer entschuldigte sich für seine Äußerung, was mich übrigens überraschte.
Dabei hatte ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, dass ich diesen Beruf erlernen durfte. Es lag nicht primär an meinem Abschlusszeugnis, was mir Schwierigkeiten brachte, sondern die Tatsache, dass sich die Lehrstelle im Grenzgebiet zwischen Kreuzberg (West-Berlin) und Ostbahnhof (Ost-Berlin) befand. Wenn es nach dem Heim gegangen wäre, wäre ich Betonwerker, deren Lehrstellen sich am Nöldnerplatz befanden, geworden – und darauf hatte ich nun wirklich keine Lust. Zumal sich der Anfahrweg zum Nöldnerplatz auch sehr schwierig gestaltete, weil man mehrmals umsteigen musste.
Schließlich gab mir der Direktor der Lehranstalt nur noch eine einzige Chance und sagte: „Ab sofort verlange ich von Ihnen, dass Sie sich möglichst unauffällig verhalten und derartige Klugscheißerei unterlassen.“
Schließlich musste auch ich mich bei dem Moldenhauer entschuldigen, und er nahm sie an. Wenn auch zögerlich, aber er schien mir meine Frage verziehen zu haben, auch dank des Direktors, der mit Engelszungen auf ihn einredete. Vielleicht lag es auch an der Richtigstellung und der Entschuldigung, die der Direktor von ihm abverlangt hatte.
Und damit nicht genug, wurde auch noch das Heim von meinem Fehlgriff, wie es offiziell hieß, informiert. Hausarrest mit freizeitraubenden Reinigungsarbeiten in Haus und Gelände waren das Resultat.
Der Sturm legte sich mit den Monaten. Aber schon wegen der kleinsten Andeutung in Richtung Unzufriedenheit verwies man auf jenen ersten Tag.
Während meiner Lehrzeit wurde mir – nicht wie üblich von der kommunalen Wohnungsverwaltung, sondern von der Abteilung für Innere Angelegenheiten – eine Wohnung zugewiesen. Bei der Besichtigung war mir sofort klar: „Es ist nicht das, was mir als Wohnung vorschwebt, aber eben meine eigenen vier Wände.“
Diese Einraumwohnung lag auf einem Hinterhof in der vierten Etage. Das WC befand sich im Treppenaufgang, eine halbe Etage tiefer. Der erste Eindruck bei der Zuweisung erinnerte mich eher an ein Haus, welches abgerissen werden soll. Der Hof war zugemüllt und der Treppenaufgang verdreckt. Das Geländer war lückenhaft und dadurch instabil. Als ich die Wohnung betrat, dachte ich zunächst, zu weit hochgegangen zu sein. Ich dachte wirklich, ich bin auf dem Dachboden. Abgesehen davon, dass keine Farbe und schon gar keine Tapete an den Wänden war, fehlte auch hier und da der Putz. Das, was die Küche darstellen sollte, konnte ich als solche, auch mit sehr viel Fantasie, nicht als Küche erkennen. Eine Kochstelle, ein Wasch- oder Abwaschbecken: alles Fehlanzeige. Ein Bleirohr, welches am Ende mit einem Holzpfropf verschlossen war, ragte aus der Wand. Von den Türen und deren Zargen, in denen die Türen mehr lehnten als hingen, will ich gar nicht erst sprechen. Überall lag Taubenkot, was auch von anderen Kleintieren herrühren konnte, herum. Alles in allem eine Zumutung!
Trotzdem war ich froh über diese Wohnung – eine andere stand auch nicht zur Diskussion –, weil ich endlich die Heime hinter mir lassen konnte.
Jedes Haus hatte einen HGLer, den Hausgruppenleiter, der auch das Mieterbuch führte. Unser Mann, der sich um uns Mieter kümmerte, hieß Zippe. Er war es auch, der sich meine Sorgen anhörte und dafür sorgte, dass die kommunale Wohnungsverwaltung alle Mängel, betreffend des Hofes und des Treppenaufgangs, ziemlich flott beseitigte. Sie übernahm auch die Putzerarbeiten an den Wänden meiner Wohnung und stellte mir einen Gaskocher mit zwei Flammen und ein Metallbecken zur Verfügung. Farben, Pinsel sowie Tapeten nebst Kleber konnte ich mir in einem Lager der KWV aussuchen. Nur renovieren musste ich noch selbst. Dabei half mir der Zippe, unser Hausgruppenleiter. Das empfand ich schon einmal als einen guten Anfang.
Vom letzten Heim, einem Jugendwohnheim, aus dem ich entlassen worden war, bekam ich für die Ersteinrichtung der Wohnung einen Gutschein. Eigentlich war es nur ein Zettel mit einem Stempel des Heimes. Weiterhin war auf ihm zu lesen, bis zu welcher Summe das Konto des Heimes belastet werden durfte. Es war nicht der Scheck, wenn man es einmal so nennen darf, der mir alle Wünsche erfüllt hätte, aber es reichte für das Nötigste, welches ich durchweg vom An- und Verkauf am Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte holte.
Dann endlich, am 1. Juli 1973, war meine Wohnung renoviert, eingerichtet und von mir bezogen.
Etwa vier Wochen nach meinem Einzug mussten wir Lehrlinge auf den Appellplatz der Lehrstätte Aufstellung nehmen, der Direktor der Einrichtung trat ans Rednerpult und sagte: „Wie Sie alle wissen werden, haben gestern die zehnten Weltfestspiele begonnen. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie alle Ihrer Arbeit in den Ausbildungsbetrieben nachgehen. Sie dürfen gern nach der Arbeit dort hingehen. Aber um eines möchte ich Sie bitten, zeigen Sie sich von der besten Seite. Und wer glaubt, er könne sich vor der Arbeit drücken und sich lieber amüsieren gehen, dem sei nur gesagt, wir werden keine Fehltage dulden, was eine Krankschreibung einschließt.“
Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht, wovon der da vorne sprach. Also erkundigte ich mich bei einem meiner Ausbilder, was es genau mit den Weltfestspielen auf sich hatte. Und er sagte mir, dass sich in Berlin die Jugend der Welt traf, um den Frieden zu feiern. Na fein, dachte ich, die Kommunisten feiern sich wieder einmal selbst.
Nachdem der Leiter seine Rede beendet hatte, wurden wir aufgefordert, unsere Lehrräume aufzusuchen. Nach gut einer Stunde wurden wir mit einem Bus, von der GST andere auch mit Bussen der NVA oder Polizei, direkt von der Schule ins Gaswerk am Blockdammweg gefahren.
Nun hatte ich nicht einmal die Wahl zwischen Arbeiten am Ofen oder zu schauen, was sich am Alexanderplatz so tat. Aber, um nicht den Unmut unseres Lehrkörpers zu wecken und um mich umzuhören, was die Weltfestspiele in der Tat waren, nahm ich mir vor, mich zu fügen.
Und was soll ich sagen, ein Kollege, mit dem ich zusammenarbeiten musste, war schon auf dem Alexanderplatz und voll begeistert von der Stimmung. Ich war so sehr in Fragen vertieft, dass ich mich beim Abdichten der Ofentür mit Lehm am Arm verletzte. Die Brandblase war handtellergroß und platzte, wie ein zu prall aufgeblasener Luftballon, auf, als ich daran herumfingerte. Mir spritzte regelrecht das Wundwasser ins Gesicht.
Der Betriebsarzt versorgte meine Wunde und sagte, bevor er mich wieder an den Ofen schickte: „Da haben Sie aber Glück gehabt, dass es nur die Oberhaut erwischt hat. Es werden keine Narben zurückbleiben.“
Er muss wohl Order, von wem auch immer, bekommen haben, um genau so zu entscheiden. Ich sagte zu ihm: „Mit der Wunde am Arm kann ich doch nicht arbeiten“, und er antwortete darauf: „Doch, können Sie … Die Wunde ist zwar großflächig, aber nicht tief genug, um einen Krankenschein ausstellen zu müssen.“
Weil mir der Meister auch noch unterstellte, dass ich mir die Wunde absichtlich zugefügt hatte, stellte ich mich etwas ungeschickt an, sodass die Binde ständig verrutschte und die Wunde offen lag. Der Kohlestaub auf der offenen Wunde verlangte nun einen erneuten Arztbesuch, aber diesmal wählte ich einen Arzt in der Charité. Der Meister rief zwar beim Betriebsarzt an, um mich anzukündigen, aber das interessierte mich nicht. Ich bestand auf freier Arztwahl.
„Er hatte seine Chance und hat sie versaut“, sagte ich dem Meister. Also verabschiedete ich mich ordentlich und suchte die Unfallchirurgie des Krankenhauses auf. Dort fragte man mich, wie es zu dieser Verletzung gekommen war. Ich erzählte, dass ich Lehrling sei und Männerarbeit ausführen müsse. Ich habe richtig dick aufgetragen, was den Eindruck erwecken musste, dass diese Arbeit nicht altersgerecht war. Der Arzt schrieb mich krank, natürlich in erster Linie wegen dieser großen Wunde.
Den Krankenschein schickte ich per Post ab, denn ich wusste, dass es Ärger geben würde, wenn ich mit einem Krankenschein auf der Arbeit antanzte. Und so hatte ich mir einen kleinen Zeitpuffer geschaffen. Allerdings erfuhr ich im Nachhinein, dass der Betrieb bei meinem Hausarzt angerufen hatte, um mein Erscheinen anzukündigen. Zweck war es auch, dass er mir einen Krankenschein verwehrte, eben aus der Begründung her, dass ich selbst schuld an dem Unfall bin.
Noch am selben Abend bin ich zum Alexanderplatz gefahren. Dort war der Teufel los. Überall Musik, Tanz und flotte Mädels. Erst gegen 3 Uhr morgens bin ich wieder nach Hause gefahren, nein, nicht allein. Eine fesche Französin hatte ich für die nächsten Tage an meiner Seite. Aber eben nur so lange, bis eines Vormittags die Nachricht vom Tod Walter Ulbrichts mit großen Lettern an einer Leuchttafel am Alexanderplatz bekannt gegeben wurde.
Wir, also meine schicke Französin und ich, wollten uns einen schönen Tag machen. Eigentlich wollten wir ins Interhotel Stadt Berlin, aber man ließ mich dort nicht hinein. Also entschieden wir uns, wieder zu mir zu gehen. Sie wollte mir als Entschädigung etwas kochen, dafür kauften wir zuvor im Centrum-Warenhaus und im Intershop ordentlich ein.
Doch daraus wurde leider nichts, wir wurden abgefangen. An jenem 1. oder 2. August warteten schon zwei Herren vor meiner Wohnungstür. Mein Glück dabei war noch, dass es etwa gegen 15 Uhr war, als ich zu Hause mit ihr eintrudelte, sodass sie mir später wegen meiner Krankschreibung nichts konnten. Meine Begleitung ließen sie gleich wieder laufen, aber ich durfte erst tags darauf wieder gehen, das heißt, sie fuhren mich, weil sich die Keibelstraße unweit des Geschehens der Weltfestspiele befand.
Es versteht sich von selbst, dass sie mich zuvor über jenes Mädchen ausfragten. Nur konnte ich ihnen nichts erzählen, erstens, weil es meiner Meinung nach niemanden zu interessieren hatte, und zum anderen konnte ich mich nicht mit ihr unterhalten, da ich kein Französisch sprach. Dass sie ganz gut deutsch sprach, band ich denen nicht auf die Nase.