Kriminalkommissar Wendt ermittelt - Wolfgang Schreyer - E-Book
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Kriminalkommissar Wendt ermittelt E-Book

Wolfgang Schreyer

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Beschreibung

In einem Dorf an der Ostsee wird innerhalb kurzer Zeit in Datschen wohlhabender Leute eingebrochen; kostbare Antiquitäten und technische Ausstattungen werden entwendet. Die Kriminalpolizei ahnt: Hier sind Kenner am Werk. Doch gemessen an Hauptmann Wendts früherer Tätigkeit scheint diese Einbruchsserie banal. Bis ein Mensch zu Tode kommt. Und - bis Wendt sich in die schöne und selbstbewusste Jenny verliebt. Für Hauptmann Wendt entsteht eine ungewöhnliche Situation: Seine Arbeit und seine Liebe beginnen einander zu zerstören. Nebel: Kriminalkommissar Wendts 2. Fall: „Wer mit Sprengstoff hantiert, der fliegt leicht selber in die Luft", hatte der Schriftsteller Richard Nebel kurz vor seinem plötzlichen Tod zu dem Kriminalisten Wendt gesagt. Hatte er da vielleicht auch an den Stoff für seinen geplanten Politthriller gedacht? Dann hätte ihm das Wissen um die Gefahr allerdings wenig genützt. Christian Wendt jedenfalls hat Zweifel an einem Unfalltod Nebels und mit einem Mal den Verdacht, dass in dem Land, dem er mit Leib und Seele dient, das staatlich organisierte Verbrechen längst eine feste Größe ist. Christian Wendt, mit Leib und Seele Polizist, schließt ein Verbrechen nicht aus und gerät bei dem Versuch, zwei Herren zu dienen - der Wahrheit und seinem »Staat« -, in ein Netz von Erpressung und Betrug, Lüge und Mord, von Bestechung und Angst und schließlich in die Fänge jener Organisation, der womöglich auch Nebel zu nahe gekommen ist. Schließlich: Ein verfilzter Fall für Kriminalkommissar Wendt: Mehr als zwanzig Jahre nach dem Abitur muss er gegen seine früheren Schulfreunde ermitteln. Der gewaltsame Tod des ehemaligen Zeichenlehrers hat aus dem Quartett von damals ein Trio gemacht, und jedes der Mitglieder ist auf seine Art in den Mordfall verwickelt. Kommissar Wendt wittert ein Wirtschaftsdelikt im ganz großen Stil ...

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Seitenzahl: 1525

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Impressum

Wolfgang Schreyer

Kriminalkommissar Wendt ermittelt

ISBN 978-3-96521-063-9 (E-Book)

Die Druckausgabe „Unabwendbar“ erschien erstmals 1988 beim Verlag Das Neue Berlin in der DIE-Reihe (Delikte, Indizien, Ermittlungen). Mitarbeit: Ingrid Mittelstrass.

Die Druckausgabe „Nebel“ erschien erstmals 1991 im Verlag Das Neue Berlin-

Die Druckausgabe „Das Quartett“ erschien 1994 bei Eulenspiegel – Das Neue Berlin Verlagsgesellachaft mbH.

Die Druckausgabe „Der Leuchtturm“ erschien 2009 im Scheunen-Verlag, Kückenshagen.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2020 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Für Sabine

Um vom Himmel herunterzufallen muss man ihn erstiegen haben sei es auch nur für einen kurzen Augenblick und das ist schöner als sein lebelang auf der Erde zu kriechen

Theophile Gautier

Unabwendbar

1. Kapitel

Christian Wendt war einsachtzig groß, fünfundsiebzig Kilo schwer und in den zweiundvierzig Jahren seines Lebens kaum einmal krank gewesen. Es schien, als meine die Welt es gut mit ihm. Er war Hauptmann der Kriminalpolizei und noch immer ein geschätztes Mitglied ihrer Handballmannschaft. Sein Sohn Stefan war seit Mai bei der Fahne, Ladeschütze in einem Panzer des Typs T-55. Stefans Klagen über die Härte des Dienstes verstummten allmählich. Seine Briefe wurden seltener, ganz gewiss ein gutes Zeichen.

Bei einem Offizier der K denkt man, wenn überhaupt, an einen besonnenen Mann, der Tugenden wie Tatkraft, Geduld und eine Art verschmitzter Heiterkeit mit Schläue und Zurückhaltung verbindet. Die Medien pflegen diesen Ruf, Bücher und Filme haben ihn poliert und damit in der öffentlichen Meinung wohl etwas Glanz hinterlassen. Ohne am Lack zu kratzen oder ihn frisch aufzutragen, soll hier versucht werden, den Hauptmann als unverwechselbar vorzustellen. Manch ein Beruf prägt die, die ihn ausüben – ob in Uniform oder in Zivil; und doch bleiben sie einmalig.

Äußerlich mochte Wendt ein Dutzendtyp sein. Er hatte ein mageres Gesicht mit derbem Mund, gekerbtem Kinn, kurz geschnittenem schwarzem Haar und eigentümlich hellen Augen, um deren Winkel sich Fältchen drängten. Er war als einfallsreicher Ermittler und unermüdlicher Arbeiter mehrfach ausgezeichnet worden. Seine Ehefrau Helga war hübsch und anschmiegsam gewesen, so lustig, wie er selbst es einmal war; aber sie fühlte sich auf die Dauer von Wendt vernachlässigt und hatte ihn vor einem halben Jahr verlassen. Seitdem neigte er dazu, sich mit der Bemerkung, er sei an sinkende Schiffe gewöhnt, in aussichtslose Fälle zu verbeißen. Mehr hörte man von ihm nicht dazu. Er blieb ganz gelassen, äußerlich.

Aber einige Zeit nach seiner Scheidung ging der Hauptmann in den Nordbezirk. Zögernd hatte man ihn, auf eigenen Wunsch, nach dort versetzt. Heraus aus seiner Stadt, Strich unter das Vergangene, mit zweiundvierzig ein neuer Start – das erschien ihm als die Lösung, als Radikalkur gegen ein Stimmungstief, das ihn seit dem Winter lähmte.

Nur, das Tief folgte Wendt nach Rostock in den beigefarbenen Bau der Bezirksbehörde, wo der Leiter der Kriminalpolizei ihn mit der Frage empfing, was er denn trinke, Kaffee, Tee, Kognak oder Klaren? Sie kannten sich von der Offiziersschule in Aschersleben, dasselbe Studienjahr, der Genosse hatte es zum Oberstleutnant gebracht und stieß mit ihm auf gute Zusammenarbeit an. Dann freilich stellte er Wendt, ungeachtet seiner Praxis in der Morduntersuchungskommission, ab zur besonderen Verwendung. Er wurde mit Papierkram beschäftigt; so sah es seine Empfindsamkeit. Ja, er war müde und reizbar geworden.

Anfangs brachte der Wechsel Wendt die doppelte Belastung. Das war ihm nur recht. Er las sich ein in laufende Fälle und musste zugleich Neues übernehmen, verzwickte Affären wie die eines betrügerischen Juweliers, dessen Akte ihm von der Abteilung Finanzen auf den Schreibtisch kam... Zweiundvierzig, dachte er manchmal, ist ein dummes Alter. Man ist zu jung, um alles zu begreifen, was einen betrifft, es fehlt der volle Durchblick – aber zu alt, um mit Entschuldigungen durchzukommen. Alt genug für Herzbeschwerden, aber noch zu jung, um es zuzugeben. Erfahren genug, um Schwätzer oder Narren zu erkennen, aber noch nicht weise genug, sie auch zu ertragen.

Der Oberstleutnant hatte ihn, wie es üblich ist, auf lokale Besonderheiten hingewiesen, erschwerende Umstände wie die drei Staatsgrenzen im Westen, Norden und Osten; die drei Häfen mit Seeleuten aus allerlei Ländern. Im Sommer Millionen von Urlaubern, die Auto fuhren, Bier tranken und was alles daraus folgen konnte. Tausende von Wandervögeln als Saisonkräfte, leider nicht sämtlich Edelknaben und -mädchen; so etwa drückte er sich aus. Wendt wusste, jeder Bezirk wartete mit ähnlichem auf, unterstrich dies doch: Man stand auf schwierigem Posten. Sein eigenes Vorurteil beschränkte sich auf Worte wie "Ochsen im Wappen" und Bismarcks "in Mecklenburg passiert alles hundert Jahre später"... Bald darauf begann Wendt selbständig zu ermitteln. Ohne Begeisterung – gemessen an dem, was er früher geleistet hatte, nahm der Fall sich belanglos aus. Aber er sollte sein Leben verändern.

Sosehr ihm Rostock auch gefiel mit seiner Tradition, den Wallanlagen, den Backsteinbauten, seinem eher mittelstädtischen Charakter, dem Teerhauch an der Warnow, eben dem Fluidum von Weltmeer und Weite – in drei Punkten blieb der Nordbezirk hinter seinen Erwartungen zurück. Die Menschen zeigten sich zugeknöpfter, als sie Wendt von ein paar Urlaubswochen an der See in Erinnerung waren. Die Luft schien nicht mehr so klar zu sein wie noch in den siebziger Jahren. Und im Dienst störte gelegentlich die Länge des Einsatzraumes. Der Bezirk ist schmal, dafür endlos, er gleicht einem Fisch. Usedom der Schwanz, Rügen die Rückenflosse. Die Mittelgräte, an der all das hängt, ist zweihundertachtzig Kilometer lang, fünf Stunden Asphalt, oft nur zweispurig.

Gleich hinter der Autobahn empfing ihn der erste Stau. Von rechts, wo man ein Düngemittelwerk hingeklotzt hatte, bogen Lastwagen ein, und es stank nach Chemie. Während er, umblubbert von Abgasen, auf das Lenkrad trommelte, wurde ihm fast übel: kein körperlicher, ein seelischer Effekt. Das Gefühl, passiv im Blech zu stecken, bedrückte Wendt mehr als nötig. Ihm war, als müsse irgend etwas schlecht ausgehen, nur weil er keine Möglichkeit sah, sich aus der Kolonne herauszuarbeiten; so dass er auch unfähig sein würde, den Fall zu lösen, drei triste Einbrüche in Zweithäusern, die das Kreisamt in N. allein hätte aufklären können... Solche Anwandlungen waren schwer zu deuten und wenig originell, nicht wert, wie ihm schien, sich damit aufzuhalten.

Erst gegen Mittag erreichte er N. und hielt vor einem Gasthof am Ortseingang. Das Lokal hieß "Seerose", es war jetzt, in der Nachsaison, halbleer. Wendt bestellte ein Gedeck und zog den Bericht hervor, den der K-Leiter des Kreisamts, ein Hauptmann Drews, nach Rostock geschickt hatte. Danach war der erste Einbruch Ende Juni bemerkt worden, der zweite Mitte August und der dritte vorgestern – Ende September. Obwohl es nie Fingerabdrücke und auch sonst kaum Spuren gab, nahm Drews an, dass es sich um eine Serie handele: immer derselbe oder dieselben Täter. Wohl waren sie, gewaltsam oder mit einem Nachschlüssel, auf recht verschiedenen Wegen in die Häuser eingedrungen, wenn niemand dort wohnte. Entwendet aber hatten sie durchaus Vergleichbares, nämlich wertintensive Dinge von beschränktem Gewicht; niemals Sperriges wie Teppiche oder Fernsehgeräte. Das allerdings schien das einzig Übereinstimmende zu sein.

Als das Menü kam, merkte Wendt, es wich in jedem Punkt von der Speisekarte ab: Blumenkohlsuppe statt der Kaltschale, Schweinebraten anstelle der Roulade und statt Eis das unvermeidliche Apfelmus. Es sprach für seinen Gleichmut dem Essen gegenüber, einem Teil der Lebensfreude, dass er dies stumm durchgehen ließ. Das einzig Übereinstimmende war die Person der Serviererin. Sie tat Wendt eher leid; das Personal solcher Lokale stimmte ihn leicht mitfühlend. Beim Zahlen fragte er die Frau nach dem Weg zum Kreisamt, und sie sagte, an der Hauptstraße links hinter der Poliklinik und dem Veteranenklub, die Antennen sind gar nicht zu übersehen.

Ein schmuckes Städtchen. Wie die Reste der Festdrapierung zeigten, hatte es jüngst sein 675jähriges Bestehen gefeiert und wirkte entsprechend aufgeräumt. Die neue Umgehungsstraße hielt ihm das Gröbste fern. Den Parkplatz am Kreisamt säumten Rosenbeete. Im Korridor des Oberstocks blinkte eine Vitrine voller Urkunden und Auszeichnungen, das Modell eines Sputniks, eine Matroschka hinter Glas und Souvenirs wie Kremltürme unter verblassten Fotos und dem Schriftzug "In Waffenbrüderschaft vereint". Das wies auf die Nähe einer befreundeten Garnison hin. Nicht zu Unrecht wurde die Sowjetarmee als Pate, als eine Art Taufzeuge betrachtet.

Der Amtsleiter war groß und stämmig, starker Raucher, ein selbstbewusster Mann, der den ungewöhnlichen Namen Bradhering trug. Wendt wusste schon, dass Namen wie Frettwurst oder Bradhering, über die man anderswo lächeln mag, an der Küste recht verbreitet sind und niemandes Autorität schmälern können. Major Bradhering saß, die Fenster im Rücken, am Ende des Raumes hinter seiner Schreibplatte – blitzblank bis auf den Aschenbecher –, er kam ihm nicht entgegen, so dass Wendt am langen Konferenztisch vorbei auf ihn zuging. Er sah sich ohne den Anflug eines Lächelns begrüßt.

Eindrucksvoll die starken Brauen. Der Major hatte den Teint eines Menschen, der viel Freizeit draußen verbringt. Womöglich war er Angler oder Segler, doch wie blieb er erreichbar, wenn er solchen Sport betrieb? Nun, in einem Kreisamt gab es auch Außendienst, während man in der Bezirksbehörde meist hinterm Schreibtisch saß. Als Wendt den Amtsleiter im Profil sah, verblüffte ihn das Fehlen eines Hinterkopfes, kurzgeschoren stieg der Schädel senkrecht aus der kräftigen Muskulatur des Nackens... Bradhering sagte: "Wir hatten schon mal eine Einbruchsserie, im vorletzten Winter. Da kommt ja selten jemand in die Feriensiedlung. Der Täter war ein Asozialer, hatte sich da eingenistet und stieg in acht weitere Bungalows ein, um die Vorräte zu plündern. Das fiel erst auf, nachdem er eine Scheibe zerschlagen hatte und in dem Sommerhaus der Schornstein rauchte."

"Sie haben ihn natürlich rasch gefasst."

"Na, Kunststück. Unser ABV ist einfach hingegangen... Diesmal liegt der Fall schon anders."

Wendts Blick schweifte über die preußisch karge Einrichtung. Es gab keinen Zimmerschmuck, von dem offiziellen Bild neben dem Rollschrank abgesehen. In solch spartanischem Rahmen bündelte der Major die Polizeigewalt des Kreises. Ein rostfarbener Läufer führte von der Tür her geradlinig auf ihn zu – für Furchtsame lang genug, um darauf zu schrumpfen. Über dem Konferenztisch hing auf rotem Fahnenstoff eine Wettbewerbstafel, vielleicht auch die Unfallstatistik, denn eine Kurve glitt nach dem sommerlichen Höhepunkt abwärts. Bradhering sah nicht so aus, als hätte er einen Abwärtsknick bei positiven Erscheinungen geduldet. Alles Überflüssige und Ablenkende war aus seinem Umfeld verbannt worden. Selbst eine Karte des Kreisgebietes fehlte, die hatte er wohl längst im Kopf.

Und auch in dem, was er nun äußerte, die Stirn mehrfach gefurcht, lag der Verzicht auf Nebensächliches. Er gab Wendt die Adressen der drei Geschädigten und des Abschnittsbevollmächtigten von Cumin, eines Leutnants Nauschütz, der die Vorgänge bis ins Detail kenne. Hauptmann Drews könne ihn leider nicht begleiten, Drews spüre mit seinen Kriminalisten einem Kraftfahrer nach, der gestern Abend auf einem Parkplatz an der Bäderstraße eine Tramperin vergewaltigt habe.

Zum Schluss zog Bradhering einen Zettel in Zellophan hervor, mit der Aufschrift Störtebeker war hier, in vorgefertigten Druckbuchstaben. Dieser Wisch habe Ende Juni im Sommerhaus des Kulturbundsekretärs Dr. Alfred Mau gelegen, an der Stelle, wo man dem das Zinngeschirr abgeräumt habe. "Keine Profis, Genosse Wendt", sagte er knurrend. "Welcher Profi lässt schon etwas, das er mitgebracht hat, absichtlich am Tatort zurück?"

"Es sei denn, um eine falsche Spur zu legen."

Der Major blickte drein, als hätte man ihm weismachen wollen, es solle da ein Verdacht auf den sagenhaften Klaus Störtebeker gelenkt werden, eine Gestalt, die im Nebel der Historie verschwamm. Langsam schüttelte er den Kopf. "Erst sah es uns nach persönlichem Racheakt aus", fügte er widerwillig hinzu. "Aber dann der Einbruch bei Dropsch und jetzt bei Professor Rasmus... Na, machen Sie sich nur selber ein Bild. Manchmal sehen fremde Augen ja mehr. Jedenfalls, ich wünsche Ihnen viel Erfolg."

Das war alles. Er entließ Wendt nach kaum fünfzehn Minuten. Als der Hauptmann bei einem Chemiewerk in die Bäderstraße bog, glaubte er, die folgenden Besuche würden ähnlich enden. Ein verlorener Tag... Dieser Gedanke aber rief seinen Widerspruch hervor, blies den Funken Ehrgeiz an, der nach zwanzig Berufsjahren unverändert in ihm glomm. Das Bedenkliche an einer Serie ist ja, sagte er sich, dass sie selten endet, solange die Täter erfolgreich sind. Und den ersten wirklichen Fall, mit dem man ihn im Nordbezirk betraut hatte, den wollte er gern lösen.

Eine halbe Autostunde bis Cumin. Die Häuser wurden niedriger, bekamen Rohrdächer, Bäume wuchsen schief, geprägt vom Westwind, bizarre Kronen, die noch das Laub festhielten. Je mehr Wendt sich der See näherte, desto dunstiger wurde es. Das Land war ganz flach, über den Wiesen lag weißlicher Nebel. Kleine Waldstücke wechselten mit Gehöften ab, oft moderte dort am Wegrand ein Holzgestell, Milchrampe genannt. Früher hatten die Bauern ihre Milchkannen da hinaufgehoben, für den Wagen von der Molkerei. Heute, Wendt wusste es vom Urlaub her, überließ man das Großvieh dem Volksgut, baute Ställe um in Quartiere: Gäste brachten, bei weniger Plackerei, mehr ein als Rinder... Die Sonne brach durch eine Wolkenbank über dem unsichtbaren Meer, sie tauchte das Dorf vor ihm in eine Art Bühnenlicht, das gleich wieder erlosch.

Etwas spannte sich in ihm, er hatte den Eindruck, seiner Bewährung entgegenzufahren. Dabei ertappte er sich, eine Melodie zu summen, so ein trauriges Lied, er hatte es seine Mutter singen hören mit dem Text: Das Schifflein am Strande schwankt hin und schwankt her, ganz als ob im fernen Lande keine Hoffnung mehr wär... Wendt begriff dies als Störfaktor, als Symptom seiner Verfassung; abrupt hörte er damit auf, als lasse sich Schwermut durch Selbstdisziplin, durch einen Willensakt besiegen.

Einmal schob sich der Schilfsaum des Boddens bis an die Straße. Auf dem grauen Wasser der Umriss eines Zeesenboots, alle fünf Segel hatte es gesetzt, rotbraun getönt, piratenhaft. Störtebeker war hier. Ein Held, eine Kultfigur, der Stolz dieser Küste. Den Ordnungshütern von damals, den Bradherings und Wendts, hatte er ziemlichen Ärger bereitet. Heute hießen Ferienheime nach ihm, ein Dutzend Orte stritten sich um die Ehre, den Mann hervorgebracht oder wenigstens seiner Schar als Schlupfwinkel gedient zu haben. Die Geschichte hatte ihm Recht gegeben. Es war so weit gekommen, dass sich sogar Einbrecher auf ihn beriefen.

Cumin war eines der Boddendörfer, die wegen ihrer Nähe zur See nach dem Kriege kräftig aufgeblüht sind. Der Amtssitz des Leutnants Nauschütz lag unter dem roten Ziegeldach im weißgetünchten Haus des Rates der Gemeinde; zwei prächtige Lebensbäume bewachten den Eingang. Ein Blick genügte, um zu erkennen, wie sorgsam das Büro von dem Abschnittsbevollmächtigten geführt wurde – einem fülligen, noch jungen Mann mit ziemlich hoher Stimme. Er kanzelte gerade Verkehrssünder ab, zwei Fünfzehnjährige, die ohne Führerschein ihre Motorroller benutzt hatten. Sie sagten, die hätten sie schon zur Jugendweihe bekommen, der Lehrgang in der Kreisstadt sei überfüllt gewesen, was bleibe ihnen anderes, als auf Feldwegen zu üben? Ihr Ton war wenig schuldbewusst, fast zeternd. Der Leutnant blieb standhaft, er drohte ihnen im Wiederholungsfall die entsprechenden Maßnahmen an. Die zwei verließen aufgebracht, fast rüpelhaft den Raum.

Wendt spürte, Nauschütz war das peinlich. Im Übrigen begrüßte er seine Ankunft so warm, als stärke sie ihn in dem täglichen Kampf gegen Verstöße und Unordnung im Dorf. Er trug einen Schnauzer – die einzige Art Bart, an der man im Dienst keinen Anstoß nahm –, offenbar bestrebt, seinem weichen Gesicht mehr Strenge zu geben. Wendt hatte gleich das Gefühl, Nauschütz neige dazu, sich auf ihn zu stützen, während er selber es doch war, der Hilfe brauchte. "Fahren wir los", schlug Nauschütz ihm bald vor. "Es besteht Aussicht, die Geschädigten anzutreffen."

"Was sind das für Leute?"

Der Abschnittsbevollmächtigte bog beim Schuppen der Freiwilligen Feuerwehr in den Weg zur Feriensiedlung ein. "In welcher Beziehung, Genosse Hauptmann?"

"Gibt es zwischen ihnen Gemeinsamkeiten?"

"Ich wüsste nicht. Nein, die dürften einander nicht mal kennen. Sind aus ganz verschiedenen Gegenden. Das Ehepaar Mau – Kulturfunktionäre im Bezirk, ruhige Menschen, nett und bescheiden; mit denen gab's noch nie Schwierigkeiten. Ihr Haus liegt am Boddendeich, ein Stück weg von der Siedlung. Die beiden anderen wohnen hier. Dr. Dropsch ist Apotheker, Oberpharmazierat im Kreis. Professor Rasmus leitet ein Theater in der Hauptstadt."

Weshalb hat Nauschütz uns nicht avisiert, fragte sich Wendt; die Leute waren prominent genug, um auch in ihren Zweithäusern ein Telefon zu haben. Der Wagen rumpelte durch Bodenwellen, Wendt sah den Kopf des Fahrers wippen und dessen füllige Wangen beben. Was wusste man von seinen Schwierigkeiten? Vielleicht war es ihm misslungen, in der Gemeinde Fuß zu fassen. Doch indem Wendt dies erwog, ging ihm zugleich seine eigene Schwäche auf. Fehlte ihm selber der Schwung, verstand und bemitleidete er beinahe jeden.

Die Frau des Apothekers beschnitt die Hagebutten am Jägerzaun, eine kleine grauhaarige Dame in Manchesterhosen und Lederjacke. Sie benutzte eine elektrische Heckenschere, die sie flugs aus der Hand legte, höflich und erwartungsvoll. Angeborener Frohsinn oder der Glaube an die Allmacht von Behörden gab ihr den Gedanken ein, das Diebesgut sei aufgespürt worden. Kaum hatte Wendt sich ihr vorgestellt, da bat sie die Besucher ins Haus. Ihre Augen schimmerten feucht – Spuren einer Gemütsbewegung, die sie zu überspielen versuchte. Nein, das silberne Fischbesteck, die englische Kaminuhr und die zwei kleinen Ölbilder brachte er ihr nicht zurück.

Frau Dropsch fasste sich, bot Kaffee an (Wendt lehnte dankend ab), nannte ihn Herr Kommissar. Den Zweck des Besuchs verstand sie nicht, sie und ihr Mann – er kam erst nach Feierabend aus N. – hätten doch längst alles zu Protokoll gegeben? Mit ihrer Erlaubnis sah Wendt sich ein bisschen um. Der Raum, üppig verglast, nahm die Hälfte des Erdgeschosses ein, er wirkte städtisch, behäbig mit seinen Chippendale-Möbeln, den hübsch gerafften Gardinen und den Gemälden. Zwei davon fehlten, man sah es an Verfärbungen der Tapete, und zwar die wertvollsten: ein Caféhausbild und eine Mondscheinlandschaft des Malers Albert Ebert. Vor der Panoramascheibe stand, ganz blankpoliert, ein einäugiges Messingfernrohr auf dem Stativ. Über all dem lag ein Hauch von Eleganz und Besitzerstolz.

"Wer hätte das gedacht", klagte sie, "dass etwas Derartiges bei uns möglich ist."

"Außerhalb der Saison sind Sie nur manchmal hier?"

"An den schönen Wochenenden, wie all unsere Nachbarn. Im August waren wir in Ungarn, und bei unserer Rückkehr..."

"Für die Täter", sagte Nauschütz, der es wohl nicht ertrug, dass sie ihn überging, "ist dies praktisch ein offenes Haus gewesen."

"Wie darf ich das verstehen?"

"Nun, es ist unzureichend gesichert."

Frau Dropsch fiel ihn an, heftig wie ein scharfzahniger Foxterrier. "Ich muss doch bitten... Das Haus war fest verschlossen, vorm Gartentor lag eine Kette!"

"Was nützt die Kette am Tor bei einem so niedrigen Zaun?"

"Die Zaunhöhe ist uns damals vom Rat der Gemeinde auf den Zentimeter genau vorgeschrieben worden."

"Aber bei Ihren Werten", warf Wendt ein, "hätten Sie doch an ein Sicherheitsschloss denken sollen."

"Zeigen Sie mir den Laden, wo es das gibt, Herr Kommissar? Übrigens, man ist durch das Toilettenfenster bei uns eingestiegen."

"Für Fensterläden", fragte der ABV, "hat es gleichfalls nicht gereicht?"

"Eine sehr feine Bemerkung. Herr Nauschütz, Sie bauen doch selbst – wenn Sie Holz übrig haben, her damit! Wir kaufen es Ihnen sofort ab."

Wendt sagte: "Darf ich offen sein, Frau Dropsch? Ihrem Haus mangelt es offenbar an nichts, bis auf den notwendigen Schutz. Daher unser Rat, künftig schon von sich aus mehr zu tun..."

"Ach, an uns hat's gelegen, das Opfer ist schuld! Ein Standpunkt, den nicht einmal die Versicherung mit Ihnen teilt! Ich muss mir denn doch verbitten..." Atemlos brach sie im letzten Moment ihren Angriff ab, bog ihn in eine Klage um. "Verzeihen Sie, es nimmt einen derart mit. Aber das, was Sie verlangen, kriegt man ja nicht einfach für Geld. Und was uns genommen wurde, das ist unersetzlicher Familienbesitz. Ich bitte Sie sehr darum, uns wieder zu unserem Eigentum zu verhelfen."

"Wir tun, was wir können. Einstweilen vielen Dank. Und – hüten Sie den Rest."

Im Auto sagte Nauschütz: "Nun haben Sie's gleich erlebt, diese Unbelehrbarkeit! Das ist die typische Haltung, die Einstellung zu unserer Arbeit. Manchmal kann man es schon Arroganz nennen."

"Sie sprechen von den Besitzern der Datschen?"

"Bewachen soll ich die mit meinem Dutzend Helfern, von denen keiner aus der Siedlung ist, Hinweise aber verbittet man sich als Einmischung ins Privatleben... Dort an dem Prachtbau bleibe ich lieber im Wagen, wenn Sie gestatten. Professor Rasmus ist nämlich leicht erregbar. Wenn der mich sieht, geht er womöglich in die Luft."

Als Wendt das Tor im Schilfzaun öffnete, lag vor ihm ein ockerfarbenes Haus, mehr Landsitz als Datsche, weit zurückgesetzt vom Weg. Wuchtige Pfeiler trugen den Balkon, grob behauene Eichenstämme; das Rohrdach wölbte sich schützend über die Terrasse mit den Korbmöbeln im Jugendstil. Blumenstauden, Farnkraut, Blautannen und Wacholder säumten den Pfad, der vorm Haus zu einem Steingarten anstieg. Das Grundstück war doppelt so groß wie die übrigen, ein paradiesisch stiller Fleck. Hier konnte auch der Anspruchsvollste sich entspannen oder tätig sein, glücklich sein, falls er die Natur noch wahrnahm und genoss. Wie sollte jemand, dem dies zur Verfügung stand, sich über einen Polizisten ärgern, der so behutsam und pflichtgemäß verfuhr wie Nauschütz?

Professor Georg Rasmus war ein schlanker Mann von gut sechzig Jahren, mit vollem Haar, silbrig an den Schläfen, und wachen blauen Augen hinter einer randlosen Brille. Sekundenlang verwirrte Wendt sein Aufzug, er trug einen kimonoähnlichen Hausmantel aus schwarzer Seide, bedeckt mit weißen, rätselhaften Symbolen – Schriftzeichen vielleicht. Seine Haltung war vollendet, von ihm ging etwas aus, das an einen Zauberkünstler denken ließ, einen großen Illusionisten, der Menschen oder Dinge verschwinden lassen kann. Bestimmt konnte er mehr als das, auf seiner Berliner Bühne. Diesmal freilich war ihm selber etwas verschwunden, drei Statuetten, zwei seltene Bücher und ein Porzellanservice im Wert von fünfzehntausend Mark, wie in der Akte stand. Der Schaden wurde größer, die Täter langten von Mal zu Mal kräftiger hin, nach dem Gesetz der Serie.

Rasmus rief nach der Haushälterin, er lud gleich zum Tee ein: Jasmintee, Kirsch- oder Orangenblüten? Sein Ton war väterlich, ja so hypnotisch, dass es dem Hauptmann misslang, sich seiner Freundlichkeit zu entziehen. Rasmus stopfte sich die Pfeife mit einem Tabak, der nach reifen Pflaumen oder Feigen roch, und wies hinter sich in die Diele; sie ging am Kamin in den Wohnbereich über. "Wir haben nichts angerührt, ehe Ihr Kollege vom Kreisamt kam. Es lag uns fern, ihm die Arbeit zu erschweren. Er hat das ganze Haus abgesucht, leider ohne Resultat."

"Sie merkten gleich, dass etwas fehlte?"

"Mir fiel nur das leere Kaminsims auf. Meine Frau Wagner entdeckte dann die Lücke im Geschirr."

Wendt nippte von dem Tee, er schaute sich um. Zweifellos, hier passte alles zusammen, das Haus hatte Charakter. Gescheuerte Dielen aus prächtigem Holz, das an Schiffsplanken erinnerte, mit Läufern aus Schafwolle, auf denen man leicht rutschte. Ein L-förmiger Raum, kostbar und schlicht, durch sein Ausmaß bestechend. Solide Deckenbalken, Regalwände voller Bücher, geschnitzte Möbel, ein schmiedeeisernes Gitter als Raumteiler, Steh- und Wandlampen, alles sehr gediegen. Den Unterlagen nach war man mit einer Leiter (aus dem unverschlossenen Schuppen) über den Balkon gekommen, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen. Der Einbruch, vorgestern entdeckt, lag womöglich viele Wochen zurück; Rasmus hatte Indien besucht und dann mit seinem Ensemble in Schweden gastiert. Was sollte der Spurensicherung unter Hauptmann Drews denn entgangen sein? Unmöglich, zwei Tage später mehr zu finden als er.

"Da will man sich sammeln, auf ein neues Stück konzentrieren", äußerte der Professor. "Und dann – ein Schlag ins Gesicht! Wo leben wir denn, in Chicago? So wird einem die Arbeit vergällt, da bleiben schon die simpelsten Einfälle weg."

"Haben Sie selber irgendeinen Verdacht?"

"Da hat mir jemand eins auswischen wollen."

"Sie meinen, es galt Ihnen ganz persönlich?"

"Ein paar Feinde hat schließlich jeder."

"Könnten Sie das wohl präzisieren?"

"Ach, wissen Sie, in meiner Position... Je straffer man führt, je erfolgreicher man ist, desto ärger Missgunst und Neid. Vermutlich machen Sie sich keinen Begriff von dieser Seite des Kunstbetriebs. Niemand weiß, weshalb das so ist – nirgends nehmen Kränkung und Bosheit solche Formen an wie dort."

Wendt schwieg, verblüfft von dieser Egozentrik. Bezog der Mann denn alles auf sich? War das der Preis von Glanz und Ruhm? Nicht einmal die Stille hier brachte ihm Frieden, Argwohn zehrte an ihm, wenn er den oder die Täter in seinem Umkreis suchte... Durch das Westfenster sah man eine Trauerweide, die gefiederten Zweige wiegten sich im Wind, ein Sinnbild der Wehmut, der Vergänglichkeit des Lebens. Am flüchtigsten schienen dem Hauptmann Träume von der Bedeutung und Unersetzlichkeit der eigenen Person zu sein. Aber vielleicht kam ein Kunstschaffender nicht ohne die aus.

Da hörte er Rasmus sagen: "Sie bezweifeln das? Der Text verrät es doch!"

"Welcher Text, Herr Professor?"

"Wie, den kennen Sie noch nicht, der fehlt in Ihren Papieren?" Rasmus lächelte, als habe sich ihm der Verdacht bestätigt, dass die örtliche Polizei es an Präzision mangeln ließ, dass sie im Schlendrian versunken sei. "Wo das Meißner gewesen ist, lag die Visitenkarte eines Ratsmitglieds dieses Bezirkes. Auf der Rückseite stand in Druckbuchstaben, wie man sie im Papierwarenhandel kaufen und abreiben kann: Karl Moor lässt grüßen. Ein hübscher Fingerzeig, nicht wahr?"

Wirklich, diesen Text hatte bisher niemand erwähnt. "Sind 'Die Räuber' denn in Ihrem Haus gelaufen?"

"Letzte Spielzeit erst, in meiner Inszenierung. Und zwar modern aufgefasst, was natürlich auf Widerspruch stieß..." Rasmus verlor sich in Einzelheiten der Aufführung, bis Wendt ihm versicherte, selbstredend gehe er der Sache nach.

"Wo nehmen Sie den Faden auf?"

"Kaum bei Ihrem Publikum, es dürfte wohl zu zahlreich sein. Eher schon bei der Herkunft der Visitenkarte, einem möglichen Beweisstück."

"Recht so", sagt der Professor, als wäre Wendt sein Schüler.

"Haben Sie noch mehr Hinweise für mich?"

"Falls Sie auf meine Berufserfahrung anspielen, die ist da wenig wert." Rasmus saugte an seiner Pfeife. "Man bringt schon mal ein Kriminalstück, aber das Theater wird selten froh damit. Es gibt nämlich die goldene Regel, dass der Zuschauer immer etwas mehr weiß als die Akteure auf der Bühne. Folglich müsste er den Täter kennen; da verliert so ein Stück an Reiz."

Plaudernd lüftete er ein paar Geheimnisse seiner Kunst, huldvoll und charmant. Dabei kam Wendt in den Sinn, was man so über ihn hörte: Rasmus sei ein Titan, Diplomat und Dompteur in einer Person, er fordere strikten Gehorsam, ja Unterwerfung; sein Ideal sei die perfekt gesteuerte Bühne mit Monitoren zur Überwachung des Probenbetriebs und Knöpfen zum Abrufen jeder beliebigen Leistung der Darsteller; mehr Arrangeur als Regisseur... So stand er da in den Augen seiner Kritiker und Neider. Das besagte kaum etwas und hatte Wendt nicht zu kümmern. Doch aus dem Gefühl heraus, sich gegen den Mann behaupten zu müssen, fragte er ihn beim Abschied: "Haben Sie schon einmal daran gedacht, Ihr Haus besser zu sichern?"

"Es in eine Festung verwandeln, meinen Sie?"

"Nicht unbedingt. Aber Sie empfangen doch häufig Gäste. Da bleibt es nicht verborgen, was hier so an Werten steckt."

"Meine Gäste dürfen Sie getrost von Ihrer Liste streichen."

"Ich muss mir erst mal eine machen... Ein Schloss vor dem Schuppen, in dem die Leiter war, hätte den Einbruch jedenfalls erschwert."

Im Hinausgehen sagte Rasmus dicht an seinem Ohr: "Genosse Hauptmann, gehen Sie jetzt nicht ein bisschen weit?" Noch leiser, fast schonend, fügte er hinzu: "So können Sie nicht mit mir reden."

Sein Händedruck war fest, Wendt fühlte sich in die Schranken verwiesen. Besonders störend empfand er das freundlich Beiläufige, die milde Glätte des Tadels, die Widerspruch ausschloss. Konnte es sein, dass er den ganzen Einsatz diesem Mann verdankte? Vielleicht hatte Rasmus sich, den Fähigkeiten des Kreisamtes misstrauend, an die Bezirksbehörde gewandt. Er war anmaßend genug für solch einen Schritt und völlig daran gewöhnt, bevorzugt zu sein. Am Ende sollte seinetwegen noch ein Stab zusammentreten und die Gegend zu einem Brennpunkt der Polizeiarbeit erklären. Manchmal riss man sich ja ein Bein aus für Leute, die geschickt auf ihre Vorrechte pochten.

Im Abgang zwischen Ginster und Farnkraut war das Unangenehme der Begegnung dennoch leicht zu deuten. Wahrscheinlich ließ ein Theater sich nur mit fester Hand leiten. Rasmus musste die Interessen und Neigungen buntscheckiger, rivalisierender Talente wohl kräftig bündeln, um in der Kunst zum Ziel zu kommen. Kein Wunder, dass er versuchte, auch im Alltag zu herrschen, Autorität auszuüben. Offenbar sah er sich selbst und seinen Rang in der Gesellschaft deutlich über dem aller anderen Normalsterblichen... Aber was soll's, dachte Wendt, wie immer bemüht, nichts persönlich zu nehmen. Es gehört zu dem Guten, das man Menschen wie dem Professor verdankt, dass sie ganz ungewollt zu Vergleichen anregen und einen an Wesentliches in unserem Zusammenleben erinnern: an die Gleichheit vor dem Gesetz, an das Prinzip der Gerechtigkeit.

Im Wagen fragte er Nauschütz: "Gab's öfter Kummer mit ihm?"

"Ach, es geht so. Nur einmal schlug er großen Krach, vor Jahren, als sein Boot zwei Tage lang verschwunden war."

"Er hat hier ein Boot?"

"Das größte des Segelklubs, einen dreißiger Kielkreuzer. Jeden Sommer gibt er darauf eine Party, zu seinem Geburtstag. Aber einmal war die Jacht eben weg, wir benachrichtigten sämtliche Dienststellen, dabei lag sie nur ein paar Kilometer vom Hafen im Schilf, mit geklapptem Mast, bloß aus der Luft auszumachen. Jemand hatte ihm einen bösen Streich gespielt. Dass ich nicht herausfand, wer, das verzeiht er mir nie."

"Gab es einen Verdacht?"

"Nur Vermutungen. Der Professor ärgert sich manchmal mit Jugendlichen am Liegeplatz herum. Er macht seine Jacht wegen des Tiefgangs nämlich nicht im Klubgelände fest, sondern am Hafenausgang. Dort steckt er die Landzunge ab, beansprucht sie für sich. Die Folge ist, man stopft ihm schon mal eine Kartoffel in den Auspuff – etwas in der Art. Die Entführung allerdings war ein starkes Stück, die hat uns entsprechend beschäftigt."

Das konnte Wendt sich vorstellen. Verschwand ein Boot in Küstennähe, und sei es selbst an der Binnenseite, weit weg vom offenen Meer, wurde immer gleich an Grenzverletzung gedacht... Sie kamen an ein paar ziegelgedeckten Einfamilienhäusern vorbei, erbaut in den späten zwanziger Jahren, wie die Dreieckfenster im Giebel und andere Eigentümlichkeiten ihm verrieten. Das eine zierte der Spruch Schaffen und Streben allein nur ist Leben. An dem nächsten stand, lauschig von Wein umrankt: "Baue nach Lust dein Feld, nach Bedarf dein Haus, und sieh auf die tolle Welt behaglich zum Fenster hinaus." In der Feriensiedlung gab es dergleichen nicht – obwohl, wie der Hauptmann fand, dieses Motto schon dorthin passte. Drückte es doch aus, was für einen Teil der Datschenbesitzer wohl Lebenskunst und letzte Weisheit war. Ihnen fehlte nur die Naivität der Menschen, die vor fünfzig Jahren solch ein Wort noch arglos über ihre Tür gesetzt hatten.

Leutnant Nauschütz hielt vor einem schmalen Fachwerkhaus dicht am Deich. Mit den Wackersteinen des Fundaments, einem winzigen Erker, aufgemalten Ziegeln und den vorgetäuschten Lebkuchen an den Fensterläden gab es sich den Anschein, Menschen als Quartier zu dienen, die das deutsche Märchen liebten. Bereits im Juni war man dort, ohne das Schloss zu zerkratzen, mit einem Zweitschlüssel eingedrungen, unbeirrt vom Geist der Romantik und dem harmlosen Gemüt der Bewohner, um ihnen das alte Zinn zu stehlen. Leider waren sie nicht da, das halbrunde Tor mit dem Bronzeklopfer blieb verschlossen.

"Pech", sagte Nauschütz. "Übernachten Sie doch bei mir! Morgen ist Freitag, da kommt das Ehepaar Mau immer heraus."

Wendt aber fand, der Leutnant habe schon genug für ihn getan. Und so trennte er sich von ihm auf dem Damm, der Cumin bei ablandigem Wind vor dem Hochwasser des Boddens schützt. Im sinkenden Tag wandte er sich dem Hafen zu, das Gras wurde allmählich feucht. Eine Zeitlang tat es ihm gut, leicht fröstelnd auf einer Bank zu sitzen – Grübeln schadete nur –, also an nichts zu denken und das Trugbild der Natur zu genießen. Unter einem Wolkenband loderte der Horizont in düsterem Orange, schwarz spießten Weidenruten und Bootsmasten in die Glut. Das Abendlicht hatte etwas geheimnisvoll Gütiges und Tröstliches, obschon es langsam an Kraft verlor.

Ein paar Lampen flammten auf, als er durch steigenden Dunst auf den "Blauen Anker" zuging, wo man um diese Jahreszeit, laut Nauschütz, auch unangemeldet ein Zimmer bekam. Kühle wechselte ab mit Wellen lauer Luft, das Wasser verströmte noch Reste der Sommerwärme, ein Jahrhundertsommer sollte es gewesen sein, was aber hatte er gebracht außer Dürre und Beunruhigung? Bald roch es nach welken Dahlien, bald nach Abwässern, die von irgendwoher säuerlich in den Bodden sickerten. Neben der Tür des Gasthofs blinkte ein Stapel Aluminiumfässer... Auf den Stufen holte es ihn ein, das Gefühl von Leere und Vergeblichkeit. Es war wieder da, ließ sich nicht deuten, durch keinen Willensakt abschütteln. Nur von selber zog es sich zurück, unwillkürlich, vielleicht überdeckt von seinem Tun, sofern die Arbeit voranging. Schaffen und Streben allein nur ist Leben...

Das Lokal, warm beleuchtet und schwach besucht, glich einem Zufluchtsort Gestrandeter, von Leuten ohne Heim, einer dunkel getäfelten Höhle voller Tabakrauch, Fischgeruch und dem Dunst siedenden Öls. Im Hintergrund des Raumes hockten Skatspieler unter einem schwebenden Schiffsmodell beim Bier, zwei Tische neben Wendt trank ein junges Paar schäumenden Sekt, ein Bild, das ihn neidisch machte. Fremd war er, spürte keinen Kontakt zu dem knappen Dutzend Menschen; manche sprachen Platt, was ihn noch mehr von ihnen trennte. Wer hier saß, der wich der Fernsehunterhaltung oder seinem Ehepartner aus, rettete sich in eine Gemeinschaft Gleichgesinnter. Die Urlauber hatten das Feld geräumt, man war wieder unter sich.

Am Holztisch mit dem karierten Deckchen brütete Wendt vor seinem Bier, achtete auf kein Gespräch, hörte kaum die Musik, die da vom Tonband lief. Wieder neigte sich ein Tag, äußerlich bunt, im Kern jedoch farblos; fad reihten sie sich seit Monaten aneinander. Der Fall, der ihn herführte, schien so verzwickt wie all das Übrige, in das er verwickelt war – von seiner privaten Situation bis zur Weltlage. Wie oft am Abend fühlte er sich nutzlos, verbraucht und ausgelaugt; nur morgens beim Aufstehen war es manchmal noch schlimmer. Man kam halt schwer darüber hinweg, wenn einem nach soviel Jahren die Familie zerbrach, es war dann eigentlich kein Leben mehr.

Aus dem Qualm und Talmi hinter der Theke, all den wie zum Kundenfang ausgespannten Netzen, Schwimmkugeln und sonstigem Beiwerk der Seefahrt, Fischerei und Gemütlichkeit löste sich die Gestalt des Wirts, der immer wieder verschwand, als sei er sein eigener Koch. Gebratenen Zander schob er ihm hin, das Paar nebenan bekam die zweite Flasche Sekt, sacht drehte der Wirt den Korken heraus und goss nach.

Dann geschah ein kleines Wunder. Das Mädchen hatte Wendt bemerkt, sie trank ihm übermütig zu. Verdutzt hob er sein Glas, reflexhaft, ohne zu ahnen, dass es einer der Augenblicke war, die man nicht mehr vergisst. Sie mochte Mitte Zwanzig sein, hatte aschblondes Haar, schulterlang, mit hellen Spitzen, ausgebleicht vom Jahrhundertsommer; viel mehr nahm er gar nicht wahr. Der junge Mann drehte sich kurz zu ihm um, streifte ihn mit einem wachen und, wie es schien, triumphierenden Blick.

Als Wendt den Teller wegschob und wieder hinsah, tanzte das Mädchen zwischen den Stühlen vor einem Rettungsring – allein, verhalten, fast auf dem Fleck. Ihr Begleiter klatschte den Takt, er blickte drein, als tanze sie nur für ihn; doch ihr Körper verriet, sie tat es einzig für sich. In ihren Bewegungen lag etwas Fließendes, Sinnliches, ein bedingunsloser Glaube an die Verheißungen der Welt. Wer so aussah und so alt war wie sie, der erwartete ja noch viel Köstliches. Den Hauptmann berührte der Überschuss an Lebenslust, das Ungenierte, das aus ihrem Auftritt sprach. Und plötzlich sehnte er sich nach dem Zauber jener Zeit, in der auch er so unbeschwert und voller Hoffnung gewesen war.

Aus diesem Impuls heraus applaudierte er ihr am Ende des Lieds. Es war ein Schlager der Saison, Vamos a la Playa, "Auf zum Strand", ein doppelbödiger Titel, der vom Ausbruch eines Atomkriegs handelte, unbemerkt von fast allen, die danach tanzten. Ein hämmernder Song, die öde Tonfolge – man konnte es kaum Melodie nennen – haftete in Wendts Ohr; so oft er sie auch noch hörte, versetzte sie ihn in den "Blauen Anker". Ganz wie Puderduft oder das Gefühl von Samt ihm die Theaterbesuche seiner Kindheit zurückbrachte. Und wie die Erinnerung an Helga, seine Exfrau, verknüpft war mit dem Lockruf der Tauben auf der Fernsehantenne vor ihrem Zimmer, in dem sie sich liebten.

Die zwei machten ihm Zeichen, da wechselte er hinüber an ihren Tisch. "Ich bin Udo", sagte der junge Mann, winkte ein drittes Glas herbei und füllte es ihm. "Das ist Jenny..."

"Christian", sagte Wendt.

Udo trug einen Vollbart, das blonde Haar wuchs ihm tief in die Stirn, seine dicken Brauen liefen in sandfarbene Büschel aus. Der Haarwuchs tarnte drei Viertel seines verwegenen Gesichts. Er sei Fischer, erklärte Udo, die Reaktion belauernd, als rechne er mit Erstaunen oder gar Geringschätzung. Und zwar der größte, fügte Jenny hinzu, der jüngste und erfolgreichste auf diesem Bodden. Udo winkte ab. "Das war einmal. Du holst nichts mehr heraus. Am einen Ende die Giftbude, am anderen das Rindvieh, die verdrecken uns das Wasser..." Über der Lehne hing seine Lederjacke. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Rallye, das seine Muskeln hervorhob. Jennys Kleid dagegen verhüllte die Figur, es bestand aus asymmetrischen Farbfeldern und ähnelte einem Flickenteppich, den ein breiter Gürtel zusammenhielt. Sie war ziemlich groß und hatte etwas alkoholisch Gelöstes, Leichtfertiges an sich. Ihre braunen Augen schimmerten bald zärtlich, bald herausfordernd, je nachdem, wen sie ansah.

"Wir feiern etwas", sagte sie. "Merkt man uns das an?"

"Verlobung, in aller Stille?"

Sie schüttelte den Kopf. "Ach, das errät keiner... Und Sie? Etwa noch im Urlaub?"

"Nein, ich bin auf der Durchreise." Was er trieb, war ihnen gleichgültig, sie hatten nur Augen füreinander, auch wenn sie mit ihm sprachen, dies übrigens ganz unbeschwert.

Udo kannte nur ein Thema, seinen Beruf, wobei er es fertig brachte, im selben Atem darauf zu schimpfen und davon zu schwärmen. Einerseits das Sinken der Erträge durch Verschmutzung, das Chemiewerk mache Dreck wie eine Großstadt, lieber zahle es den Fischern, also ihrer Genossenschaft, Schadenersatz, als dass es neue Filter einbaue. Und das volkseigene Gut habe die Wiesen überdüngt, im Winter sehe man, dass in jener Ecke kaum mehr das Wasser gefriere. Zwar, der Zander möge trübes Wasser, nur, was zuviel ist, ist zuviel... Doch andererseits, noch war man immerhin sein eigener Herr, in freier Natur, kein Tag glich dem anderen, schlug das Wetter mal um, wenn man draußen war, forderte der Job den ganzen Mann.

Jenny sagte: "Hart und schwer ist das Leben der Männer an der Küste."

Es störte ihn nicht, dass sie ihn aufzog. "Aber ich hab's mir ja so ausgesucht. Von klein auf wollt ich Fischer werden. Und wissen Sie auch, warum?"

"Keine Vorgesetzten? Oder die frische Luft, das Naturerlebnis?"

"Mein Großvater! Der ist mein Vorbild gewesen. Es hieß doch früher 'die armen Fischer', aber der hat 'ne Menge Kohle gemacht mit seiner Nase für den Fisch. Hat immer gewusst, wo und wie die Schwärme ziehen."

"Es muss erblich sein bei euch Kerlen, das Gespür", sagte Jenny.

"Das ist wie mit dem gewissen Etwas einer Frau..."

"... man hat's oder hat's nicht?"

"Beruhige dich, du hast es."

"Es liegt euch im Blut, seit der Steinzeit ungefähr. Das älteste Gewerbe an der Wasserkante! Gleich nach den Jägern und Sammlern."

"Der Mann ist vielseitig gewesen, so clever, das stellst du dir gar nicht vor. Fisch war spottbillig damals, damit allein konntest du nichts werden, da ging er eben ins Spritgeschäft."

"Spritgeschäft?", fragte Wendt.

"Wissen Sie, hier gab's eine Schmugglertradition seit Napoleon; später noch mit solchem Zeug wie Salz. Dann, in den zwanziger Jahren, kam das Alkoholverbot in Skandinavien. Da ist Großvater bis Schweden und Finnland geschippert, lauter schöne Flaschen an Bord. Das waren noch Zeiten. Der hat immer gewusst, was anlag, auch wenn er mal voll gewesen ist."

Erstaunt darüber, wie schnell man Bekanntschaft schloss, seinem Vorurteil zum Trotz, spürte Wendt, dass der Alkohol sich wärmend in ihm verteilte. Vermutlich, so sagte er sich, empfand nur er das Außergewöhnliche eines wohltuend raschen Kontakts. In Wahrheit war es eine der alltäglichen Situationen, in die ein Kriminalist geriet, wenn er außerdienstlich unter Menschen ging. Die beiden brauchten ihn als Echowand, als Spiegel ihres Glücks, darüber hinaus wollten sie von ihm so wenig wie er von ihnen. Es war entlastend, ja anheimelnd, einfach so dazusitzen und zuzuhören. Arglos spann Udo sein Garn, beschrieb die unglaublichen Streiche seines Großvaters, Straftaten, wenn auch längst verjährt, die er unverhohlen bewunderte. Ach was, Straftaten, urige Geschichten! Wendts Fehler war, überall sah er Spuren von Kriminalität oder doch zumindest Ordnungswidriges wie ein schlecht gefülltes Bierglas oder Leute, die bei Rot über die Straße liefen – als hätte sein Beruf sich tief in ihn eingefressen. Der selektive Polizistenblick, geschult in zwanzig Jahren, brachte zur Schärfe auch Verengung mit sich; in diesen Minuten ging ihm das auf.

"Schade, das ist vorbei", hörte er Udo sagen. "Sonst hätte er mich darin noch angelernt! Man muss wissen, ihm ist manches Ding passiert, nur zweierlei hat er nie gemacht: den Kutter auf Grund gesetzt und die Frau im Stich gelassen. Abgehauen ist er bloß vor den Zöllnern. Zuhaus, da war er treu wie Gold." Er sah Jenny groß an. "Das liegt bei uns gleichfalls in der Familie."

"Wie hat er den Erlös denn angelegt?" Ja, Wendt konnte es nicht lassen, nach dem Verbleib der Beute zu forschen.

"Immer wieder im Geschäft. Und ein schönes Heim gebaut, richtiges Kapitänshaus mit Ziegeldach und Bullauge auf dem Lokus... Bis dann im Krieg bei den Angriffen auf Peenemünde eine Bombe alles zerdeppert hat. Zufall, wie das Schicksal so spielt. Nur das Zeesenboot ist noch von ihm und sein Messingkompass, den hat er mir geschenkt."

Als die zwei gingen, sah der Hauptmann ihnen nach in dem Gefühl, ihm schlage eine Tür vor der Nase zu. Sie waren so jung, so unverbraucht und voller Vertrauen in die Zukunft! Er bat um ein Zimmer, und später, in dem klammen Bett, merkte er, der Abend hatte ihn auf seltsame Art gestärkt. Etwas von der naiven Zuversicht, von der Ausgelassenheit des Paars hatte sich auf ihn übertragen. Vielleicht wurde auch mit ihm selber bald alles gut.

Zwar stimmte es, und daran hielt er fest, man konnte umso fröhlicher sein, je weniger man nachdachte und vom Leben verstand. Die beiden fragten gar nicht erst nach irgendeinem Sinn, sie lebten einfach und liebten sich, das war ihnen genug, ihr ganzes Geheimnis. Womöglich aber lohnte der Versuch, ihnen wider besseres Wissen darin zu folgen: zu handeln, als ob sein Tag noch ausgefüllt und die Welt ganz in Ordnung sei? Anstatt zu grübeln, die Wunde offen zu halten, dem Vergangenen nachzutrauern. Bestimmt ging's ihm besser, wenn er, wie die meisten Menschen, schlicht das Nächstliegende tat, ohne das Übernächste zu kennen.

Mit diesem Vorsatz schlief er ein. Doch es war nicht so leicht, dem allen zu entfliehen. Wirre Träume suchten ihn heim, mit Irrläufen durch Korridore, in denen er auf Professor Rasmus stieß. Der hatte Augen wie beschlagenes Porzellan, er spornte ihn an mit dem Satz, Störtebeker sei hier. Wie fast in jeder Nacht fuhr Wendt auf, pünktlich um zwei. In seinem Kopf saß ein rhythmisches Rauschen von zu hohem Blutdruck. Er nahm eine der Pillen dagegen, die ihn durstig machten und später erneut wecken würden. Zunächst tauchte er wieder in das Labyrinth der dumpf hallenden Türen. Eigentlich gab es keinen zwingenden Grund dafür, durch die Gänge zu irren; nur den einfachen Wunsch, das Ende des Traums zu erfahren.

2. Kapitel

Am nächsten Morgen fuhr Wendt ins Kreisamt zu Hauptmann Drews, der bisher in diesen Fällen ermittelt hatte. Drews war ein schmächtiger, blasser Mann mit scharfen Falten um den Mund, er sprach leise, etwas blechern und trank Milch, was an ein Magenleiden denken ließ. Er wies hinter sich auf das Vernehmungszimmer und deutete an, dort sei man dabei, den Unhold zu überführen, der sich an der Tramperin vergangen hatte. Drews schien viel zu beschäftigt, um es zu verübeln, dass man ihm die Cuminer Einbrüche aus der Hand nahm. Stimmen drangen durch die Tür, während er die Visitenkarte hervorzog, den Text Karl Moor lässt grüßen, mit dem Professor Rasmus verhöhnt worden war. Auf der Vorderseite stand in freundlichem Blaudruck der Name und die Dienstanschrift eines Ratsmitglieds des Nordbezirkes.

"Als Indiz leider unbrauchbar", sagte Drews. "Ich hab den Mann gleich angerufen. Diese Karten wurden vor Jahren gedruckt, sie sind seitdem in vielen hundert Exemplaren bei offiziellen Anlässen verteilt worden."

"An welchen Personenkreis?"

"Den denkbar größten: Turn- und Sportgruppen, Laienkabaretts, Folkloresänger, Tanzensembles, Modenschauzirkel, Textilgestalter, Maler, Schriftsteller und so weiter. Die haben zusammen mit einer Keramik, einer Medaille oder auch Blumen solch ein Kärtchen erhalten; anlässlich der Arbeiterfestspiele, bei den Sommerfesttagen, dem Rostocker Buchbasar oder dem Pressefest der Ostsee-Zeitung. Es sagte ihnen, dass das Präsent vom Rat des Bezirkes kam, eine Anerkennung, überreicht durch die Abteilung Kultur."

"Kultur... Das bringt uns vielleicht weiter."

Drews schwieg, die Lippen zweifelnd herabgezogen, so dass seine Falten sich vertieften; sie liefen von den Augenwinkeln bis hinab zum Kinn. Er war nicht recht bei der Sache.

"Die Täter sind intelligent, boshaft und kunstverständig. In zwei von drei Fällen haben sie ihre Opfer verspottet und unter deren Besitz eine kundige Auswahl getroffen."

"Kundig?" Drews zuckte mit den Schultern. "Die haben sich geschnappt, was sie tragen konnten. Es gehört wenig Kunstsinn dazu, nach Tafelsilber oder Meißner Porzellan zu greifen. Was das kostet, weiß doch heute jeder."

"Aber sie nahmen auch unscheinbare Statuetten, zwei alte Bücher und kleine Ölbilder mit, deren Wert nur dem Kenner geläufig ist. Immer die Rosinen! Das Durchschnittliche blieb zurück."

"Das mag sein. Ohne es überzubewerten, denn der Zufall spielt ja öfter mit, gehen auch wir davon aus, dass es kaum Einheimische gewesen sind. Die wüssten wohl gar nicht, wohin damit, wie es zu Geld machen... Manchmal allerdings wird auch für den Eigenbedarf gestohlen. Letzten Herbst stieg einer anderswo in so einen Bungalow ein, jemand aus Thüringen, wegen einer antiken Pendeluhr. Er hatte sie im Urlaub durch die große Glasscheibe erblickt und wollte sie bei sich selber hinhängen. Er sei Sammler, rechtfertigte er sich, weshalb sollte die Uhr nicht ihm gehören?"

"Das viele Glas führt in Versuchung. Manches liegt wie im Schaufenster da, als Anreiz zur Selbstbedienung."

"Der Fährtenhund fand das Quartier des Einbrechers, der war schon abgereist, aber das half ihm nichts. In Cumin gab's leider keine Fährten, es war in jedem Fall zu lange her."

"Bis auf das Haus Mau, da lief der Hund zum Bootssteg."

"Eine ganz vage Spur. Es ist viel zertrampelt gewesen."

"Am meisten fällt mir der Mangel an Spuren auf."

Das Gespräch versandete, zumal Drews mit seinen Gedanken weit weg zu sein schien, wohl bei der Vernehmung nebenan. Sein Mund sah aus wie ein in Klammern gesetztes Minuszeichen. Wendt stieß auf einen Widerspruch: Es sollten keine Einheimischen gewesen sein, aber bei dem Ehepaar Mau hatte man sich mit dessen eigenem Schlüssel Zutritt verschafft. Der war im Garten versteckt gewesen, regensicher in Zellophan, zwischen den Scheiten des Holzstadels, für Fremde so gut wie unauffindbar... Wendt stand auf, er unterließ es, diesen Punkt mit Drews zu erörtern.

In Cumin fand er das Knusperhaus des Dr. Mau noch versperrt und schlenderte zum Hafen. Der lag nur zwei Minuten weg und wirkte recht verwahrlost. Das Pfahlwerk war morsch, der Kai bröckelte ab, landeinwärts schien das Becken verschlammt zu sein, nur ein paar Fischerkähne lagen dort. Nahe dem Ausgang erst hatten zwei plumpe Kutter, krumm wie dicke Gurken, und ein zweimastiges Zeesenboot genug Wasser unterm Kiel. Das Ganze war so trist wie der Stand der Untersuchung. Was würde man schon von dem Ehepaar Mau erfahren? Kaum mehr als bei Rasmus und bei Dropsch. Falls es je eine Spur gegeben hatte, war sie inzwischen kalt... Pünktlich zum Wochenende sah Wendt sich am toten Punkt, war er reif zum Rückzug in seine Einraumwohnung, wo ihm dann die Decke auf den Kopf fallen würde.

An einer Bude, in der ein Kühlaggregat summte, stapelten sich Fischkästen. Dahinter führte ein Tor auf umzäuntes Terrain, die Liegeplätze der Sportgemeinschaft Segeln; er fand es unverschlossen. Dieses Gelände, Zutritt verboten, sichtlich aufgeschüttet und dem Schilfrand des Boddens abgetrotzt, wirkte gepflegt, verglichen mit dem alten Hafen. Es gab Rasenflächen, Blumen in Autoreifen, geteerte Stege, einen Parkplatz vor den Bootshäusern, die in einheitlichem Weiß glänzten, ein Schwarzes Brett unter Glas. Darauf wurden den Sportfreunden eine Leitungssitzung, eine Mitgliederversammlung, ein Arbeitseinsatz und zwei Geschwaderfahrten angekündigt, deren Erfolg durch hohe Beteiligung abzusichern sei. Es klang ziemlich schneidig und – gemünzt auf die Freizeit – auch ein bisschen furchterregend. Unterzeichnet war dies mit Reger, Vorstand. Wahrscheinlich neigten Segler zur Eigenbrötelei und brauchten nach Meinung des Vorstands stramme Führung. Der forsche Ton sollte wohl ihren Mannschaftsgeist beleben.

Hinter ihm fragte jemand: "Sind Sie Gast eines Klubmitgliedes?"

Er drehte sich um zu einem untersetzten, kahlköpfigen Mann im Trainingsanzug, um die Fünfzig, mit melancholisch mahnendem Blick, wulstig vorspringender Unterlippe und einer Miene, als sei er dabei, Eisenspäne zu kauen. "Nein?", bohrte der Kahlkopf. "Dann muss ich Sie bitten, das Gelände der Sportgemeinschaft umgehend zu verlassen."

Umgehend zu verlassen. Während Wendt noch überlegte, ob er gehorchen oder sich ausweisen sollte, denn ohne Ausweis glaubte dieser Mann ihm nichts, rief von den Bootsstegen her eine Frau: "Heinz, das ist Christian, der will zu mir!"

Der Glatzkopf gab ihm den Weg frei, bitter wie ein Hund, dem man einen Knochen wegnimmt. Auf dem Deck eines der Boote stand Jenny in Jeans und Anorak, verstrickt in allerlei Tauwerk und flatterndes Segeltuch, Wendt hatte sie schon an der Stimme erkannt. "Sehr nett von Ihnen", sagte er. "Sie haben mich vorm Hinauswurf bewahrt."

"Einer wie Sie lässt sich doch nicht verjagen."

"Von ihm schon. Er sieht gefährlich aus."

"Das war Reger, unser Vorsitzender. Der einzige, der hier echt für Ordnung sorgt."

"Ich verstehe..." Die Sätze flogen hin und her wie Federbälle, mancher ging daneben; er war zu erfreut, um darauf zu achten.

"In rauer Schale ein Herz aus Stein. Er kommandiert die Kampfgruppen im Chemiewerk, das schlägt eben bei ihm durch."

"Alles klar. Kann ich Ihnen behilflich sein?"

"Verstehen Sie was davon?

"Nein. Was machen Sie mit dem Boot?"

"Na, ich takle es auf. Sind Sie noch nie gesegelt? Hätten Sie denn Lust? Es gehört meinem Vater, aber der hat keine Zeit und mir fehlt ein Mann..." Sie zog ihn an Bord. " Draußen ist's frisch, da unten liegt eine Segeljacke, die wird Ihnen passen. Wie viel wiegen Sie?"

"Fünfundsiebzig Kilo."

"Das hilft schon. Sie müssen weiter nichts tun als in Luv sitzen – immer auf der hohen Seite."

Sie brauchte ihn als Ballast, trotzdem willigte er ein. Das Boot, gut sechs Meter lang, wirkte vertrauenerweckend, es war aus weißem Kunststoff, mit viel Mahagoni im Cockpit und der niedrigen Kajüte, sauber verarbeitet und schön lackiert. Wendt staunte über das Tempo, die Gewandtheit, mit der Jenny an all den Enden zog, die bedient sein müssen, will man Segel setzen, Schwert und Ruder absenken und ein Boot loswerfen. Kein unnötiger Handgriff, höchst gekonnt, ja katzenhaft, es grenzte an Artistik, war Zauberei, ganz ohne sein Zutun, ohne Motorkraft legte man ab, machte schon Fahrt, glitt am Schilf entlang auf den silbrig glitzernden Bodden zu... Er hatte das Empfinden, eine längere Reise anzutreten als eigentlich beabsichtigt, doch es war ihm nicht unangenehm.

"Südwest fünf ist angesagt", erklärte Jenny. "Haben wir aber noch nicht."

"Kann das Boot kentern?", fragte Wendt bei der ersten Bö.

"Nicht mit mir. Bei meinem Vater wär ich nicht so sicher, der fällt sogar am Steg ins Wasser, mit dem erlebt man vielleicht was! Da übertrifft ihn bloß noch Professor Rasmus mit seinem 'Fliegenden Holländer'... Sehen Sie mal, es geht auf vier. Ab Stärke vier laufen Schaumbahnen vorm Wind, genau aus der Richtung, woher er weht."

"Zeigt Ihnen die nicht der Wimpel dort am Mast?"

Sie schien seine Unkenntnis zu genießen. "Das ist man bloß der Wind, mit dem wir segeln. Den macht man sich zum Teil ja selbst."

"Ich verstehe kein Wort."

"Na, es ist wie überall. Man macht Wind, bildet sich was ein, und tatsächlich liegt die Sache anders. Wie heißt es doch im 'Faust'? 'Der ganze Segen kommt von oben, du glaubst zu schieben und du wirst geschoben.'"

Wendt sah sich um, die Bootshäuser lagen hinter ihm wie Spielzeug, das Land wurde zweidimensional, zu einem verwaschenen Band, über dem sich graublau der Himmel wölbte; noch nie war er ihm so hoch und so weit erschienen. Im Halbkreis wich Jenny einer Boje aus, die auf den Wellen tanzte. Die markiere eine Untiefe, sagte sie. Es sei der Ankerplatz von Udos Großvater gewesen, bei Flachwasser falle der beinah trocken, dann habe der Kutter auf dem Riff gesessen und freigeschleppt werden müssen.

"Es gibt hier Riffe?"

"Nur dieses eine. Es besteht aus all den leeren Flaschen, die im Laufe der Zeit bei ihm über Bord gegangen sind."

Man sah ihr nie an, ob sie scherzte. Es war amüsant, neben ihr zu sitzen. Sie ließ Wendt ein Tau halten, das Fockschot hieß, und zeigte ihm, wie sich die Böen ankündigten: in Windrichtung kräuselte das Wasser. Die eine Hand an der Pinne, die andere an dem kleinen Flaschenzug, der den Großbaum hielt, erzählte Jenny von dem Missgeschick, das Rasmus ereilt habe, zum diebischen Vergnügen des ganzen Dorfs. Nein, sie meinte nicht das rätselhafte Verschwinden seiner Jacht damals, sondern wie die ihm kürzlich durch eigene Dummheit weggekommen war. Es klang, als pflege der Professor den stattlichen Kielkreuzer zu verlieren, so oft man ihm den wiederbrachte.

Nach Jennys Worten hatte der Generalintendant, der seine Ausfahrten wie Aufführungen zu arrangieren schien, an einem Nachmittag im Juli ein Dutzend Damen und Herren – bedeutend genug, um dessen wert zu sein – zu einer Kreuzfahrt geladen, deren strahlender Mittelpunkt er selber war. Am Abend jedoch sank sein Stern, der Wind schlief ein wie üblich, der Hafen war weit, und Rasmus gab, da sein Motor nicht ansprang, Paddel aus an die fröstelnde Schar. Die Jacht wurde zum Sklavenschiff, er stand am Ruder und spornte die Mannschaft durch rhythmische Zurufe an. Als es dunkelte, verlor er das Ziel aus den Augen, ja jede Orientierung, und schließlich, gegen Mitternacht, lief man irgendwo sanft auf Grund. Der Professor deutete dies günstig, nun sei das Land schon nahe und watend zu erreichen. Über die Badeleiter stieg man in das düster plätschernde Wasser, es ging einem bis zum Bauch. Doch nach fünf Minuten wurde es brusttief, die im Finstern Tappenden kehrten um, lieber wollten sie an Bord nächtigen als sich in die Fluten wagen. Wer aber beschreibt ihren Schreck – sie fanden die Jacht nicht mehr vor! Der "Fliegende Holländer", seiner Last ledig, hatte sich vom Grund gelöst und trieb in einem Lufthauch geisterhaft davon, unerreichbar: Rasmus hatte es versäumt, den Anker zu werfen. Mit seinen Gästen stand er im Bodden, bis Udo auf dem Weg zur Reuse bei Sonnenaufgang die Opfer fand.

"Na ja", sagte Wendt, ganz angetan von der Art und Weise, wie sie ihm das darbot. "Wem fällt es schon ein, zu ankern, wenn man eh festsitzt?"

"Man müsste die Schifffahrt vor ihm warnen. Der Mann ist eine Unfallquelle. Er hat nicht mal den Segelschein für die hiesigen Gewässer, da ist ein Auge zugedrückt worden wegen seines ehrwürdigen Alters und der Verdienste, jaja... Sitzen Sie bequem?"

"Auf solchem Edelholz? Könnte gar nicht besser sein."

"Das Cockpit hat mein Vater selbst ausgebaut. Er ist Tischlermeister, wenn Sie mal 'nen Sarg brauchen, kann ich ihn nur empfehlen. Särge sind seine Leidenschaft."

"Ich hoffe, das hat bei mir noch Zeit."

"Abwarten, wie Sie darüber denken, wenn erst der Wind auffrischt."

Das geschah bereits, es kam Spritzwasser über. Wendt musste den Strick loslassen, dessen Bezeichnung ihm entfallen war; die Fachwörter erschwerten das Zusammenwirken. Von ihrem Platz aus rollte Jenny das Vorsegel ein, knatternd schlang es sich um den Draht, der vom Mast zum Bug lief. Sogleich beruhigte sich das Boot, sie hatte es völlig in der Hand. – "Udo lacht mich aus, bis Windstärke sechs lässt er die Fock nämlich stehen. Hinter der Bülte dort müsste er sein, Cuminer Oie heißt sie." Jenny wies auf eine flache Insel, die zur Hälfte bewaldet war. Am Ufer wogte das Schilf, die Brandung sah etwas bedrohlich aus.

"Da sind Sie verabredet?"

"I wo. Er holt dort bloß seine Netze ein, bevor der nächste Sturm sie ihm verquirlt. Haben Sie schon mal ein verheddertes Netz entwirrt? Na danke."

Sie ahnte nicht, dass eben dies – Fäden zu entwirren – sein Tun ganz gut beschrieb. "Was sagt er dazu, wenn Sie mit Landratten segeln?"

"Das wird er wohl locker sehen. Schließlich, wir sind nicht verheiratet... Wie Sie es so schön ausgedrückt haben: Wozu ankern, wenn man sowieso festsitzt?"

Sie begann, die Insel zu umrunden. Vierzig Minuten vom Hafen mochte es ein Lieblingsziel der Cuminer Segler sein. Unvermutet kam der Wind von hinten und presste das Segel an die Wante. Jennys Hände umspannten die Pinne, sie sprach nicht mehr, das Boot drohte ihr auszubrechen. Während Wendt ihr zusah, ging ihm der Sinn der Wendung aus dem Ruder laufen auf.

Hinter der Oie wurde es stiller. "Er ist schon weg", sagte Jenny. "Wir müssen unter Land, das Segel wechseln. Ohne Sturmsegel kommen wir nicht trocken heim." Sie kreuzte bis an den Rand einer Bucht, sprang mit dem Anker ans Ufer und hieb ihn ins Gras. Verblüffend rasch wechselte die Beleuchtung. In Höhe der Baumwipfel stand eine Regenwand, stieg schwarz empor, darunter jagten helle Wolkenfetzen, Vorreiter des Unheils mit eingelegter Lanze. In den Mastverstrebungen pfiff der Wind. Sie schafften es eben noch, das Segel zu bergen, eine Handvoll Tropfen wurde ihnen ins Gesicht gewirbelt, dann riss der Himmel entzwei, und das Wasser schoss herab.

Sie kauerten in der Kajüte, den Kopf eingezogen, zwischen sich das hochgeholte Schwert. Wieder kam Wendt das Lied vom Schifflein am Strande in den Sinn. Im Nu war das Cockpit überschwemmt, nur ein Steckschot trennte sie von der Wasserlache, in die der Regen Blasen schlug. "Tut mir leid, Christian. Mitgegangen, mitgefangen..."

"Ist doch ganz gemütlich", log er. "Muss man eben warten, bis es aufhört."

"Es hört erst nach Weihnachten auf."

"Nach Weihnachten, wieso?"

"Da friert der Bodden zu." Aus dem Fach für Erste Hilfe nahm Jenny eine Flasche, dreijähriger weißer Cuba-Rum, halbvoll. "Versäumen Sie auch nichts, keinen Termin?"

"Am Wochenende?"

"Ich denke, bei Ihnen ist man stets im Dienst?"

"Was heißt denn 'bei Ihnen'?"

"Sie sind doch Kriminalpolizist."

"Wie kommen Sie darauf?"

"Cumin ist ein Dorf. Man hat Sie gestern mit dem Kugelblitz gesehen, unserem ABV."

"Das wär noch kein Beweis."

"Aber Ihr Meldezettel im 'Blauen Anker', das ist einer." Sie hob die Stimme, um das Geprassel auf dem Dach zu übertönen. "Harry Krone hat ihn mir gezeigt."

"Da steht bloß Angestellter drauf. Aber es ist ja kein Geheimnis." Wendt wollte sich die Namen merken; der Wirt hieß Krone und Leutnant Nauschütz – Kugelblitz... Jenny hatte sich nach ihm erkundigt, was bedeutete das? Sollte er argwöhnisch oder geschmeichelt sein?

Sie gab ihm den Henkelbecher. "Also prost! Auf eine glückliche Heimkehr. Das stärkt uns dafür."

Die Becher klickten aneinander.

"Eigentlich dürften wir beide nicht", sagte Jenny. "Ich als Bootsführer und Sie im Dienst. Aber das wärmt durch... Da sehen Sie mal, was Vorschriften wert sind."

Er kippte den Rum hinter und schüttelte sich. "Haben Sie mich deshalb eingeladen?"

"Gestern nicht, da hatten wir ja keine Ahnung."

"Und heute?"

"Heute schon, da hat's mich gereizt."

"Was – einen Polizisten zu verschaukeln?"

"Ein Stück Staatsmacht unter mir zu haben. Stellen Sie sich vor, davon hab ich immer schon geträumt."

"Sie fühlen sich als mein Chef?"

"Nach der Sportbootordnung bin ich an Bord der Boss."

"Dann hat Ihr Traum sich ja erfüllt."

"Es sieht so aus, Christian."

"Und – was befehlen Sie?"

"Zum Beispiel, dass Sie mal versuchen, mehr Freund als Helfer zu sein... Wollen wir nicht Brüderschaft trinken?" Sie goss ihm reichlich nach. "Nur Mut, Genosse Offizier. Was soll schon passieren, mit dem Schwert zwischen uns, wie einst zwischen Tristan und Isolde?"

Es war eng, Wendt stieß sich den Kopf bei dem Versuch, über das Schwert hinweg den fremden Mund zu finden. Ihre Lippen streiften sich, er schmeckte Jennys Lippenstift, und dabei war es, als teile sich ihm in dieser flüchtigen Berührung etwas von ihrem Leichtsinn mit, dem verführerischen Schwung der Jugend. Einen Moment lang schwiegen sie, als sei etwas Unvermutetes oder leicht Peinliches geschehen. Er fragte sich, ob sie einen echten Kuss erwartet hatte. Irgendwie war er da aus der Übung.

"Übrigens, es verbindet uns noch mehr", hörte er sie im Dämmerlicht sagen. "Wir sind beide geschieden... Gibt's von deiner Seite weitere Fragen zur Person?"

"Wo beschäftigt? Wie viel Kinder?"

"Ohne Anhang, selbständig. Modebranche, künstlerische Textilgestaltung. Das klingt stolz, man kann aber auch Heimarbeit dazu sagen. Ich nähe Boutiquekleider und Handtaschen und darf sie neuerdings ganz offiziell verkaufen. Das war's, was wir gestern gefeiert haben."

Beim nächsten Becher ging ihm das Du schon leichter über die Zunge. Es zeigte sich, dass sie noch mehr gemeinsam hatten. Wendt hatte einmal Möbelgestalter werden wollen und es bis zum Tischlergesellen gebracht, bevor er zur Fahne, zur Schutzpolizei und auf die Polizeischule gegangen war. Jennys Berufswunsch, Theaterwissenschaft, hatte sich nach drei vergeblichen Bewerbungen gleichfalls nicht erfüllt. Aus der Bevormundung durch die Eltern – ihr Vater schien tyrannisch zu sein – war sie in eine Ehe geflüchtet, die auch schiefgegangen war. Zwei von den vielen Menschen, dachte er, deren Platz in der Gesellschaft nicht ganz ihren ursprünglichen Neigungen entspricht, weil es für ihr Talent einfach nicht genug Verwendung gibt, und denen es dennoch glückt, aus ihrem Leben das Beste zu machen, jedenfalls im Beruf... Damit endete die Gemeinsamkeit, es trennten sie achtzehn Jahre, heute schon fast eine Generation.

"Mein erstes Stück gibt es noch", erzählte er ihr. "Ein runder Holzhocker steht bei mir, das andere Zeug hat meine Exfrau behalten. Trümmer nach dem Untergang. Mir hat der Platz gefehlt dafür."

Während das Gespräch weiterging in dieser Höhle aus Mahagoni und Kunststoff, war es ihm, als brächte er Jenny mit irgendetwas in Zusammenhang. Eine Gedankenverknüpfung, die sich dem Zugriff entzog, substanzlos blieb, jedenfalls nicht zutage trat... Dann aber, als Wendt anfing, von dem Fall zu reden, der ihn hergeführt hatte und den sie soweit kannte wie jedermann in Cumin, dämmerte ihm, was es war: seine Einschätzung gegenüber dem Hauptmann Drews, das Bild der mutmaßlichen Persönlichkeit des Täters. Als intelligent, ironisch und kunstverständig hatte er Drews doch vorhin den oder die Täter beschrieben. Und jetzt – kraft jener Logik, die Teil seines Wesens geworden war – kam es ihm so vor, als treffe dies auf jemanden wie Jenny zu. Wer wie sie beiläufig Goethe zitierte oder mittelalterliche Epen ins Spiel brachte, dem war auch Karl Moor aus den "Räubern" nicht fremd.

"Woran denkst du?", fragte sie. "Jagt dein wacher Geist inzwischen wieder den Verbrechern nach?"

"Hm, ja. Ich stelle mir gerade den Tätertyp vor."

"Wie sieht es aus, das Phantom dieses Unbekannten?"

"Es hat eine flüchtige Ähnlichkeit mit dir."

"Ach, mit mir? Ist das dein Ernst? Der soll so lieb und charmant sein wie ich?"

"Äußerlich können Täter harmlos sein, so brav wirken, wie wir zwei es sind. Ich meine den Charakter, den Kern."

"Meinen Kern, den kennst du doch gar nicht." Ihre Stimme klang härter, leicht aufgebracht, ihr Gesicht war in der Dämmerung kaum zu erkennen. Immerhin, sie fing an, sich zu wehren.

"Ein wenig schon..." Wendt ließ sich das auf der Zunge zergehen. Eben erst hatte sie ihn genüsslich enttarnt, Katze und Maus mit ihm gespielt, jetzt zahlte er's ihr ein bisschen heim. "Unterschätze nicht die Berufserfahrung! Du weißt, wie man ein raffiniertes Kleid zuschneidet, Udo weiß, wo der Fisch steht, und ich wittere eben, wo ein Tatverdacht möglich ist."

"Bei mir etwa? Ich bin dir verdächtig? Asozial und kriminell, meldet das dein Instinkt? Na gut. Wo sind die Handschellen, Genosse? Komm schon raus damit!"

"Lieber erst, wenn wir wieder im Hafen sind."

"Nein, da fällt die Rückfahrt aus. Bleib auf der Oie und spiel Robinson, bis der Bodden zufriert."

"Das verschlimmert deine Lage, es erfüllt den Tatbestand der Nötigung. Also du zwingst mich unter Androhung von Nachteilen für Leben und Gesundheit, einiges zurückzunehmen?"

"Alles! Du nimmst alles zurück."

"Immer langsam... Sieh mal, von Natur aus sind wir doch zu manchem fähig. Du zum Beispiel bist leichtsinnig, impulsiv, ein wenig boshaft. Von daher hättest du's am Ende fertig bringen können, das sagt mir mein Gespür. Aber leider fehlt dir offenbar ein durchgehendes Tatmotiv."

"Du hörst mich aufatmen."

"Nur für Rasmus hättest du eins. Auf den bist du sauer, weil er ein großes Licht ist am Theater, wo du selber nicht angekommen bist. Hast du mal mit ihm zu tun gehabt oder es an seinem Haus versucht – vergebens versucht? Du nennst ihn immer 'Generalintendant', mit aggressivem Unterton!"

"Es reicht, Christian. Mir wird das unheimlich. Es scheint, du bist ehrgeizig, ein ganz beklemmender Typ, eine Art Kopfjäger, ist dir das klar? Du selber hast einen schlechten Kern, bist voller Angriffslust oder tust doch so. Gehörst du zu denen, die es freut, so lange zu bohren und zu basteln, bis eine Beweiskette sich schließt, die nur in ihrer Einbildung besteht? Macht man so bei euch Karriere?"

"Kaum. Ich hab's auch nur bis zum Hauptmann gebracht."

"Und das genügt dir nicht. Vielleicht suchst du den Erfolg um jeden Preis, willst überführen, egal, ob einer schuldig ist oder nicht."

"Dann wär's ja kein Erfolg. Du widersprichst dir selbst. Sieh mal, ein Unschuldiger legt grundsätzlich kein Geständnis ab. Die Indizien müssten, ohne ein Geständnis, wasserdicht sein, damit es überhaupt zur Anklageerhebung reicht. Wie aber sollten sie das im Falle der Unschuld?"

"Ist alles schon dagewesen. Es gibt genug Filme, die genau das zeigen!"

Sie sprach jetzt ernsthaft und mit Nachdruck. Wendt lauschte ihren Worten, verdutzt darüber, wie heftig, ja betroffen sie reagierte. Er merkte, der Regen hörte auf, es nieselte bloß noch. Im Schwertkasten gluckerte das Wasser, es rann auch aus dem Abfluss am Heck, das Trommeln des Wolkenbruchs hatte diese Laute überdeckt. Wellen klatschten, in dem Bootsrumpf wurde ihm allmählich übel, wie immer, wenn sein Blick auf einem schwankenden Schiff ohne festen Bezugspunkt blieb. "Filme", sagte er. "Aus dem Westen natürlich..."