Kuckucksparadies - Lisa Weichart - E-Book

Kuckucksparadies E-Book

Lisa Weichart

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Beschreibung

Der Zauber ihrer Kindheit endet, als Mona aus dem Kuckucksnest fällt. Und doch wird ihr Leben mehr vom Vater beeinflusst, als von ihrem Mann einschließlich ihrer eigenen Söhne. Mona bastelt Trolle. Eine Metamorphose: Ist Mona verrückt? Ja, ver-rückt ist sie, denn sie hört auf innere Stimmen. Eigenständigkeit, Hollywood, die Liebe – und doch liegt der Schlüssel zum Selbstbewusstsein in den Begegnungen.

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Inhalt

Kuckucksparadies

Bubikopf

Einig

Spiel-Ende

Sonntag

Fensterzug

Die Mieter

Drachentränen

Treppenkind

Männerglück

Erster Schultag

Blaulicht

Die Katze

Bodenlos

Krieg

Samstag

Hollywood

Keller

Speicher

Einbruch

Zwei

Garten

Gabe

Treppe

Lied

Schule

Mathematik

Abflug

Elena

Wohnung

Real

Retter

Frauen

Beruf

Spiele

Morgenrot

Patient

Endzeit

Ausflug

Güte

Schneckenhaus

Äste

Marktfang

Zurück

Triumph

Ehe

Kapelle

Weiterleben

Korsett

Tag

Jim

Heim

Labyrinth

Rainer

Fort

Eheleben

Urlaub

Dorf

Alltag

Tagesmutter

Eingelebt

Die Neue

Rückkehr

Familie

Väterlich

Unvollendet

Gezeiten

Amanda

Danach

Freiheit

Kinder

Leinwand

Zeitreise

Gottes Haus

Sternstunde

Murat

Regie

Rudel

Bällebad

Drehbuch-Drehungen

Besuch

Himmel

Boot

Gäste

Buttercreme

Zora

Elie

Lisa Weichart
Kuckucksparadies

1. Auflage 2017 Cover: Scandals under Cover unter Verwendung eines Gemäldes von: Kornelius Wilkens Satz: André Piotrowski Lektorat: Michael Kracht © Fehnland-Verlag, Rhauderfehnwww.fehnland-verlag.de ISBN: 978-3-947220-02-1 (HC) ISBN: 978-3-947220-03-8 (TB) ISBN: 978-3-947220-04-5 (EPUB)

Für Sabine

Kuckucksparadies

In Monas Paradies stand eine Kreissäge mitten im Garten auf einem freigetrampelten Areal unter zwei Birnbäumen mit Früchten ohne Glanz, aber mit einem Aroma, an das Mona sich erst erinnern sollte, als sich ihre Welt in einem einzigen Moment veränderte.

Autoreifen lehnten an Ölfässern, im Moos hockte eine Zinkwanne voller Kaulquappen, während in den Nachbarsgärten Gemüsebeete sprossen und Zierpflanzen in Blumentrögen kokettierten. Dafür war der wilde Ort verzaubert: Der Apfelbaum neben dem Sandkasten konnte abwechselnd Schoß oder Wildpferd sein: Mona schwang sich auf den Stumpf des amputierten Teils und gab ihm die Sporen. Und sie saß und ritt, dass die Borke ihre Strumpfhose kaputtriss. Immer Löcher, immer abgestoßene Schuhe, stets Kratzer auf der Haut.

»Gar nicht wie ein Mädchen«,

nörgelte Mom oft. Und sie hatte wohl recht, aber es änderte nichts an Mona, dieses Gerede. Ein hübscher Bub sei das, sagten Fremde – und Fremde gab es immer wieder in den beiden Zimmern, die im Haus vermietet wurden. Ein kleines Haus, aber Paps war Geld sehr wichtig. Daher handelte er mit Gebrauchtwaren, die in der Doppelgarage zum Verkauf standen. Kühlschränke, Öfen, Radios und Möbelstücke vom Toten Emil. Wer war der Tote Emil? Der Ausdruck stand für entschlafene Besitzer der Ware von Haushaltsauflösungen. Ölgemälde, Geschirr, Werkzeug und sogar Küchenutensilien. Ein Sammelsurium voller Geheimnisse für die Fünfjährige. Sie selbst besaß bereits das dritte Dreirad, den vierten Roller, denn ständig wurde weiterverkauft. Der »Lauf der Dinge« – darunter verstand man offensichtlich den ständigen Wechsel von Gegenständen, die nie lange vorhanden waren. Sich daran zu stören war nicht notwendig, Mona kannte das Leben von Anfang an genau so, wie es sich ihr darstellte: veränderlich. Nur Mom war nervös und wirr, wahrscheinlich durch den häufigen Austausch von Couchen und Schränken – nicht einmal das Ehebett war sicher vor ihres Mannes Geschäftssinn. Sie nahm bunte, winzige Tabletten und trank viel Kaffee, vielleicht lag ihr Zustand auch einfach daran. Jede Farbe war wohl für ein anderes Gefühl zuständig. Die blauen bestimmt für schöne Träume, die weißen einfach gegen schwarze Schatten und dunkle Wolken im Kopf. Wozu darüber nachdenken, Mona hoffte lieber, eines Tages ihrerseits ein Etagenbett zu bekommen, ihr jetziges glich einem Sarg in seiner tiefbraunen Holzigkeit, daran änderte auch die Bienchen-Bettwäsche nicht viel. Särge sollten aus Glas sein, dachte Mona, wie bei Schneewittchen. Aber nur, wenn jemand in totem Zustand sehr schön aussah: Schwarz wie Ebenholz, rot wie Blut die Lippen, ganz anders als Mona mit ihrem hellen Haar und den roten Rändern, die sie unter den Augen ganz innen zu ihrem Entsetzen entdeckt hatte. Niemand durfte davon wissen, wahrscheinlich würde sie bald sterben. Egal, es tat nicht weh, vielleicht würde es von selbst vergehen, dieses Rot, das ohnehin nur zu sehen war, wenn sie die Lider mit dem Finger nach unten zog. Sie tat es einfach nicht mehr.

Drei weiße Birken und ein Bach wie ein Spiegel. Was hatte sich der Maler dabei wohl gedacht, überlegte Mona, als sie auf der Wohnzimmercouch lag und sich wunderte, dass sich der Bach auf einmal bewegte. Das Ölbild über ihr (wohl unverkäuflich) flirrte vom Fieber, die Mandelentzündung war schuld. Mom sang heute nicht nebenan in der Küche, sondern kam alle paar Minuten herein, um Wadenwickel um Monas Beine zu schlingen. Immerhin besser als ein Zäpfchen, bei dieser Variante hatte sie schon einmal einen Schnitt vom Silberpapier abbekommen. Um alles lag ein Strahlenkranz: Ums Klavier, um das Fenster, sogar die Hausschuhe flimmerten. Wie gerne wäre Mona alleine gewesen mit diesem Körper, der Berührung angenehmer spürte als sonst, wahrscheinlich kam das vom Glühen. Aber die Mutter erschien nur noch öfter mit Tee, Wasser, dem Fieberthermometer. Schließlich hörte Mona sie telefonieren. Mit der aufgeregten Stimme, die sie immer bekam, wenn etwas eigentlich Unwichtiges passiert war, worüber sich kaum jemand darüber entsetzen würde – außer Mom –, haspelte sie ins Telefon:

»Herr Doktor, bitte kommen Sie! Ich kann sie doch in dem Zustand nicht transportieren!«

Das fehlte noch – der Arzt. Sorge war Moms zweite Haut. Monas Treppensturz im Alter von drei Jahren zum Beispiel hatte eine Wallfahrt nach sich gezogen. Seitdem wurde Weihwasser aus der Kirche geholt und zur »Heiligen Jungfrau« gebetet, mit Tränen in den Augen flehte Mom dann und sah dabei drein wie das Huhn in einem Comic beim Eierlegen. Paps war anders, er behandelte Mona wie einen Jungen – und sie wollte auch lieber ein Junge sein. Die Sorgenhaut trug Mom unter der Unterwäsche, direkt am Körper schien sie zu liegen, und sie roch nach etwas wie Zwiebel mit Kandiszucker, eine Mischung aus Schärfe und etwas Butterweichem, das sich tröpfchenweise über Mona ergoss, wann auch immer sich ein Anlass dazu ergab: Klettern, am Bordstein nahe der Straße balancieren, eine Steckdose genauer untersuchen. Mona hasste die Überbesorgtheit und entkam oft ihr durch Flucht und Verstecken – aber diesmal gab es kein Entrinnen. Als sie Mom am Telefon weinen hörte:

»Eitrige Mandeln, hohes Fieber«, wünschte sie noch kurz, dass der Doktor verhindert wäre, und griff an ihren glühenden Bauch. Wohliges Kribbeln. Aber der Doktor würde kommen, mit kalten Plättchen ihre Brust abhören, schlechtschmeckende Medizin verabreichen und intelligent schauen. Er wusste viel mehr als ihre Eltern, seine Klugheit würde den Raum jämmerlich wirken lassen, und sie selbst gleich mit. Jedes Wort wäre betont warm, doch dahinter tickte die Medizinuhr, die seine Rede mit etwas Eisigem hinterlegte.

An Flucht war nicht zu denken, wenn Mona nur den Kopf drehte, schwankte der Raum. So blieb sie still liegen und hoffte, dass wenigstens alles bald vorüber sei. Wieder einmal dachte sie über die Seele nach, das unfassbare Ding, von dem keiner wusste, an welcher Stelle es saß. Vielleicht im Hals, wo der Knoten beim Weinen entstand? Oder hinter den Rippen beim Herz, wie es Mom aus »Liebe ist nur ein Wort« vorgelesen hatte, dem Roman aus dem Bücherregal? Nein, die Seele wohnte im Kopf, denn nur vom Denken wurde sie einem bewusst, folgerte Mona und sah die Seele bananenförmig. Das Gehirn war der Seele wohl nahe, sonst gäbe es keine Gedanken darüber! Sichelförmig wie der Mond ist sie, durchsichtig und äußerst empfindlich. So zart sie auch sein mag, so lenkt sie doch alles. Gedanken, Organe, Stimme und Schweigen. Sogar und vor allem die Träume steuert sie, macht Bilder im Kopf, man versteht sie nicht richtig. Die Seele ist also unverstanden und daher oft einsam. »Arme Seelen« nannte Mom die Leute im »Fegfeuer«, einem Ort zwischen Himmel und Erde, an dem diejenigen Geister umherirrten, deren zugehörige Menschen weder richtig gut noch richtig böse gewesen waren. Ein Ort wie eine Narkose. Mona kannte die Narkose von der Polypenoperation, kurz hatte sie den Ort gesehen. Sie war in der Zwischenwelt zu Gast gewesen, ohnmächtig ohne Körper war sie nur Geist gewesen und doch voller Furcht, eben nur Seele. Das Fieber würde sie hoffentlich nicht töten. Ein wenig freute sich Mona, keine arme Seele sein zu müssen.

Der Arzt erschien irgendwann zwischen Schwitzen und Frieren. Moms erklärte ihm »Schüttelfrost«, als habe er keine Ahnung, während Monas Zähne klickerten. Hoffentlich hatte er nicht dieses Holzstäbchen dabei. Doch: Er drückte ihren Mund ein wenig auf, das Stäbchen quetschte die Zunge platt, und zusammengekniffene Mediziner-Augen glitten darüber, bis ein Gurgelgeräusch aus der Kehle blubberte. Das Stäbchen verschwand, die Frage nach der Temperatur wurde gestellt. Mom hatte natürlich versäumt, noch einmal Fieber zu messen, und Gott sei Dank sagte sie trotzdem »Neununddreißigfünf« mit ihrer Angststimme, sodass es nicht notwendig war, vor dem Doktor das Hinterteil zu entblößen. Die Angststimme war voller Ehrfurcht und klang flehentlich, als würde Mom um Gnade angesichts der Todesstrafe bitten oder um Wasser, um dem Verdursten zu entgehen.

Penicillin. Weiß hinter braunem Glas, zähflüssig und gleich nach Sellerie das widerlichste Zeug, das Mona kannte. Aber besser als zu sterben, redete sie sich ein, und sie schluckte, obwohl hinter den Ohren der Ekel drückte, über den Schädel bis zur Stirn nach vorne kroch, das ganze Gesicht zusammenschrumpfen ließ und ein Zittern erzeugte, das den Schüttelfrost übertraf. Zweimal täglich, bis die Flasche leer war, das Fieber verschwunden und Mona gesund.

Bubikopf

»Das kriegen wir schon hin!«, flötete die Friseuse, aber ihr Lächeln passte nicht zu ihren unbeteiligten Eulenaugen. Mona wusste genau, was sie dachte: »Der Geizhals verschneidet sein eigenes Kind!«

Im Spiegel flog Monas Blick in die Unendlichkeit eines weiteren Spiegels gegenüber – dazwischen schwebte ihr blonder Pagenkopf mit den viel zu kurzen Stirnhaaren. Schräg. Diesmal war Paps zu weit gegangen. Aber Mom würde alles noch schlimmer machen mit diesem Rettungsschnitt im »Salon Evi«. Sie mit ihrem Dauerwellen-Kurzhaartraum – nur, weil sie selbst als Mädchen mit langen Zöpfen hatte herumlaufen müssen, ihre Tochter mit diesem Pagenkopf zu strafen – allein die Bezeichnungen: oberpeinlich! Eine alte Mutter hatte sie da, eine überlustige, nach Rosenparfüm riechende Omamutter, liebessüß, goldjackig puppenhaft, mit blinder Perlenkette. Verschnitten war Mona also, das klang wie »beschnitten«. Sie hatte in der Bibel das Wort »Beschneidung« entdeckt, es hatte mit Religion zu tun und mit männlichen Geschlechtsorganen, es war – im Gegensatz zu ihrer Ver-Schneidung jedoch etwas Rituelles, Blutiges. Dies hier war zumindest Haarverstümmelung.

So saß Mona im Geflimmer der Spiegelwelt ohne Wände unter Schere und Lackfingernägeln im Haarspraynebel, bis sie niesen musste vom eigenen Flaum, denn mehr flog nicht. Hoffentlich würde die Friseuse nicht auf ihren Kopf pusten. Nein, sie benutzte einen Pinsel. Erst jetzt sah sich Mona im Spiegel: ein Sonnenkopf mit Zacken und roten Backen, wie das Zwieback-Kind. Entsetzlich.

»Schön«,

gluckste Mom, zahlte, und sie gingen aus dem Friseursalon hinaus in die Abendkälte. Die Nacht patschte mit Nebelhänden die Hitze von den Wangen, Mona nieste den Geruch fort. Vielleicht würde Paps ihr die Haare nun nie mehr schneiden, dachte Mona. Wie Rapunzel sah sie sich schon, mit einem Goldzopf, der die Ponies endlich verschluckt hatte.

Einig

In vielen Dingen waren sich die Eltern einig, das behagte Mona. Sie stellten dann einen Sessel dar, mit gemeinsamem Sitzpolster und zwei verschiedenen Armlehnen, doch mit einer stabilen Rückenlehne. Ein Sessel als Welt der Geborgenheit, dem Geruch nach Erdnussflips und Kerzenwachs. Einig waren sie sich zum Beispiel beim Thema »Frühe Schlafenszeit für Kinder«. Mona schlich jedoch aus dem Kinderzimmer die Treppe hinunter, um trotzdem in der Nähe der Sessel-Eltern sein zu können. Sie sahen fern, im Halbdunkel waren ihre Köpfe Kegel. Vor dem Geflimmer thronten sie – Kinder im Schneegestöber einer Schüttelkugel, und Mona liebte sie von weitem, die Ängstlichen. Ja, ängstlich waren sie beide, selbst Paps war ängstlich wegen der Steuer, sagte er. Schreckhaft war Mom, das kam vom Krieg. Ständig diese Angst, gepaart mit dem Glück, jetzt in Frieden zu leben. Frieden schien Mona langweilig im Vergleich zu all dem Aufregenden, das sie las, sah und hörte. Frieden geben, in Frieden lassen, den Frieden wahren – sie konnte es nicht ausstehen, dieses Gerede. Der Krieg war ewig lang her. Und die beiden Figuren waren ein einziger Sessel, bestehend aus zwei rundlichen Körpern mit ähnlichen Gedanken – ab und zu knackte ein Bein, oder Stoff rieb am Polster. Oder sie lachten. Das war Frieden.

Spiel-Ende

»Ich muss heim«,

erklärte Mona ihrer Freundin Dora. Mitten im Memory nach Hause, sonst gäbe es irgendwann eine Rache von Paps. Ein »Nein«, wenn sie ein »Ja« brauchte oder umgekehrt. Er zahlte es ihr immer heim und nannte das »Konsequenzen«. Dora verstand nicht, keines der anderen Kinder würde es je verstehen, wie es ist, »Konsequenzen« befürchten zu müssen. Mona stand auf, ein Kartenstapel fiel um, und sie ging. Konsequenzen sind etwas Schweres, das zu hundert Prozent auf einen fällt wie ein Stahldeckel auf einen Topf. Dann bleibt einem die Luft weg, man muss den eigenen Dampf atmen, bis einem mulmig und dann übel wird. Dora wirkte säuerlich, sie war am Gewinnen, denn Mona hatte die letzten Paare beim Memory nicht gefunden, weil sie ständig zur Uhr geschaut hatte. Dass sie nun aufsprang und einfach ging, war gemein. Doch Dora würde nun in ihrem ordentlichen Zuhause einfach aufräumen und dabei Stück für Stück den Groll verlieren, bis ihr Samstag in klaren Strukturen allmählich in die Gänge kam, um in einem gesunden Mittagessen zu pausieren, in den Nachmittag hinüberzugleiten und schließlich im Abend zu verschwinden.

Monas Samstage sahen gänzlich anders aus: Die ersten Kunden standen ins Haus, Samstag war Hauptgeschäftstag für Paps. Mona musste daheim sein, sie durfte am Telefon »Moment bitte« sagen oder die Adresse, sie durfte die Tür öffnen und Mom zur Hand gehen. Unter keinen Umständen durfte sie jedoch irgendwo in der Nachbarschaft gesucht werden müssen – der Geschäftsbetrieb hätte gelitten. Die Turmuhr am Heimweg log nie, Mona kam »beizeiten« an. Konsequenzen sind Rache und umgekehrt, dachte sie. Rache ist fast wie Krieg, den sie alle so fürchten.

An allen anderen Tagen war sie meist ohne Zeitleine. Eine Ausnahme bildete die wöchentliche Klavierstunde bei Frau Reiser, die als Kostüm-Marionette mit Metronom ins Haus kam. Dabei spielte Mona gerne Klavier, nur die Noten wurden ihr eingeklopft von Frau Reiser, die eng neben ihr hockte und (wie eine Spinne auf Mücken) auf Fehler lauerte. Tote Mücken die Noten, die so gut klangen, wenn man sie nur in den Fingern hatte statt in Zeilen gequetscht. Nach Gehör zu spielen war etwas anderes, aber das ließ Frau Reiser nicht gelten.

Sonntag

Weißer als Milch ist der Sonntag. Das frische Grün eines Frühlingsmorgens ist nur Hintergrund, auch das Grau im Vorwinter oder das Gelb im Herbst, alles nur Leinwand für den strahlend weißen Sonntag.

»Gute Andacht!«

Dieser Satz von Mom galt dem Aufenthalt in der ebenfalls strahlend weißen Kirche, aber dieser Satz kam von frommfürchtigen Lippen und bildete somit die Haut auf der Sonntagsmilch: schlaff und ergeben. Beschämend weich hing die Milchhaut noch ein Stück des Weges in den Gedanken an Mom. Niemals würde Mona während der Wandlung derart schlappfingerig gegen ihre Brust drücken und die Augen halb schließen, um sie dann nach oben zu drehen aus Dankbarkeit für das tägliche Brot. Niemals den Blick zur Heiligen Maria derart feucht-wund zur vor Seligkeit schimmernden Mutter Gottes erheben. Mona dankte Gott schon unterwegs, dann hatte sie diesen Part hinter sich. Danke. Das Weiß des Sonntags lag auch auf den Schuhen, denn mit Fünf war sie bereits zur »Frühkommunion« gegangen, damit Mom ihr einziges Kind so zeitig wie möglich Gott dem Retter geweiht war. Keine Freundin durfte es wissen, so peinlich war es Mona. Auf den Fotos war sie in einem Tüllkleid, mit einer Stumpenkerze und einem Blümchenkranz im Haar zu sehen. Mit Ponies natürlich. Sie war die einzige mit einer altbackenen Mutter, die einem Gott für Selbstverständliches dankbar war, einem Gott, den die anderen einfach nur in seiner Kirche besuchten, wo sie an ganz andere Sachen dachten. Aber Mona ging, derart geweiht, mit inzwischen verkratzten Lackschuhen zur Heiligen Messe.

Mom selbst besuchte die Abendmesse, denn mittags musste gekocht werden – vor allem wegen Paps, der an wenig glaubte außer an Handel, Geld und reichhaltiges Essen. Holzgefühle hatte er, sie waren mit Stahl unterstützt, dadurch klang seine Stimme gefährlich, denn auch er hatte den Krieg im Bauch. Genauer gesagt, in den Hoden, denn dort steckte ein Granatsplitter. Danach zu fragen, wo Hoden sind, würde nur wieder ein »dafür bist du zu klein« nach sich ziehen. Also ließ Mona es bleiben. Sonntags gab es immer Braten. Schweinebraten, Rinderbraten, alle möglichen Tiere. Größer sollte sie werden, sagten die Großen, stark eher nicht – das galt für Jungs. Einfach nur groß schien als Ziel zu genügen. Sie wollte aber lieber klein bleiben, so aß sie vorwiegend Nudeln und Klöße, Reis und Kartoffelbrei, wobei die Soße merkwürdigerweise immer gleich zu schmecken schien: braunfettig nach »Doblers Würzmischung« aus dem Tante-Emma-Laden nebenan. Weder braun noch fett wollte Mona werden, aber nach einer Zeit der Beobachtung stellte sie keinerlei Hautveränderungen fest und aß schließlich bedenkenlos weiter davon.

Fensterzug

Eines Montags durfte Mona Paps auf der Vespa zu dem Kunden begleiten, der Probleme mit einem Ofen hatte. »Defekt!«, hatte der Mann ins Telefon geschrien. Paps hatte ein paarmal ganz ruhig erwidert »gekauft wie besehen«, bis das Gespräch plötzlich geendet hatte. Nun steckte in Paps’ Hemdtasche der Quittungszettel und ein weiterer mit der Adresse wurde mitgenommen. Sie fuhren los, seine Lederjacke quietschte unter Monas Fingern. Warum er sie trotz Moms Gezeter mitnahm, zählte jetzt nicht. Was Paps machte, hatte immer irgendeinen Sinn. »Hand und Fuß«, wie er selbst oft sagte.

Der Mann wohnte in einem grauen Wohnblock, an dem Fahrräder lehnten. Ein Fenster im Untergeschoss stand offen, Zigarrenrauch und säuerliche Wärmewolken waberten heraus. Paps’ Hand hielt Monas so fest, dass sie überlegte, ob sie etwas sagen sollte – da wurde der ganze Vater mit einem Ruck nach oben gerissen, die Hand raspelte an ihrer entlang wie das Sandpapier, das er zum Aufmöbeln von Schränken verwendete.

»Geh nur her!«,

brüllte es von oben, als Paps’ Knie auf einmal vor Monas Augen baumelten. Sie sah den roten Schädel eines Kahlköpfigen an dem ihres Vaters, der Schmerzensschreie auszustoßen begann. Die Schreie klangen nach Kasperltheater, wenn der Polizist den Räuber packt oder umgekehrt. Das »Halsabschneider!« des Kunden dröhnte hässlich, und sie dachte über das Wort nach, bis sie endlich nach Hilfe schreien konnte, das heißt, sie fiepte nur piepsig, doch laut genug, dass der Mann losließ und Paps mit einem Plumps am Boden landete, sich hochrappelte und ausstieß:

»Das kostet Sie eine Stange Geld!«

Ohne sich noch einmal umzudrehen, gingen sie zum Roller, Mona kletterte hinter ihrem Vater auf den Sitz und hielt sich diesmal am Griff fest statt an seiner Jacke. Sie sei Zeugin, sagte er ihr noch.

Was ist ein Halsabschneider, was eine Stange Geld? Einer, der Hälse durchtrennt, damit die Köpfe direkt am Körper sind? Einer, der Hälse sammelt, um sie zu verkaufen wie der Fleischer? Eine Stange Geld – das ist eine Röhre, gefüllt mit Münzen. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Die Worte waren voller Kraft gewesen. Der Mann war nicht grundlos in Wut, und Paps hatte einen Triumph in der Stimme gehabt am Ende, als wäre er der Gewinner. Im gleichen Tonfall sagte er manchmal »na warte«, wenn er ihr eine Strafe androhte. Eine fiese Strafe, unerwartet kam sie als Fernsehverbot vor einer Lieblingssendung, als Eiscremeentzug. Er würde auch den Mann bestrafen. Zu Hause sprang Mona vom Roller, verwandelte sich in einen Cowboy und suchte nach ihren Waffen, fand den Faschingscolt in der Truhe des Puppenhauses und erschoss den Feind in Gestalt des Kirschbaums beim Nachbarn. Der Angriff auf den Vater war gerächt, sie vergrub den Revolver in der Nähe der Kreissäge, die seit Beginn der Welt an derselben Stelle stand. Die Zackenscheibe ragte unten durch das selbstgezimmerten Holzgestell und ähnelte einem Ziffernblatt. Mit den Reißzähnen jedoch schnitt sie die Zeit in Sekunden und die Sekunden in noch kleinere Teile, Mona war sicher, dass hier Momente wie Späne zu Boden fielen, um sich mit Lehm und Erde als Ursuppe zu vereinen. Ohne »H«, denn die Urzeit hat mit der Uhrzeit so wenig zu tun wie Saurier mit Robotern. Hier lagen die Teile der Momente, die viel zu kurz gewesen waren: Nougat-Eierschmelz auf der Zunge nach der Osternestsuche zum Beispiel, das Klingeln des Glöckchens vom Heiligen Abend, der Trickfilm vom Donnerstag. Zwischen Holzstückchen und Moosklumpen lagen also das Lob einer Lehrerin, das Mikadospielen mit Paps und der Traum vom Fliegen. Mona krabbelte vorsichtig unter dem Tisch hervor, damit ihr die Zeitmaschine nicht auch noch Haare ausreißen konnte.

Die Mieter

In dem unteren Zimmer wohnten meist »Wochenend-Heimfahrer«, zum Beispiel Angestellte der Forstdirektion. Der obere Raum, ein Zimmer mit Dachschräge, wurde überwiegend an ausländische Studenten vermietet. So auch Marie-Claire, sie hatte Brandwunden, weil sie als Kind in einen Wasserzuber gestürzt war, am ganzen Körper war sie verschrumpelt, doch das sah man nicht – Mona hatte sie sie gezeigt, die Kaffeefilterhaut hatte sie freigelegt unterm Pullover. Trotzdem war Marie-Claire wunderschön, eigentlich noch schöner im Kontrast ihres überirdisch hübschen Gesichtes mit dem Haar, das so rund fiel und mit dem fremden Duft am Hals. Vor allem mit ihren grazilen Bewegungen, Mona ahmte sie nach, Paris war zu fern.

Zum ersten Mal verliebte sie sich, als Herr Metzger, ein junger Forstbeamter, der in Gesichtsausdruck und Haltung Ähnlichkeit mit König Ludwig aufwies, das Dachzimmer bezogen hatte. Zwar trug er im Gegensatz zu Ludwig in einem Bildband Grün statt Royalblau mit Gold, doch das tat seiner Schönheit keinen Abbruch. Locken umflossen sein helles Antlitz, das gab ihm eine Entrücktheit, als träume er ebenfalls vom Bau eines Märchenschlosses.

In ein Marmeladenbrot mit sehr viel Butter zu beißen, kam dem neuen Gefühl am nächsten. Mona trieb sich möglichst oft in Metzgers Nähe herum. Kam er die Treppe herunter, hängte sie sich kopfüber an die Holzstufen, um sich als Akrobatin zu präsentieren. Sie konnte gut turnen, und zu diesem Zeitpunkt dachte sie über eine entsprechende Karriere nach. Metzger ging dann langsamer abwärts, (wohl um ihr nicht auf die Fingerchen zu treten) und sah, sich bückend und wendend, zwischen den Stufen hindurch. Diese Augenblicke, wenn des Königs Blick sie traf, ließen die Kraft in Mona wachsen. Sie schwang hin und her, ihre eigene Eleganz genießend oder das, was sie dafür hielt. Schwarze Locken hatte der Mann, und als sie einmal wieder an der unteren Querstrebe hing, den Rock halb übers Gesicht, darunter leider eine beigefarbene Strickstrumpfhose – aber mit schönen Waden –, sah sie ihn unter dem Schwarz erröten. Es gab einen Schokoriegel, dessen Verpackung sah genauso aus: schwarz-rot und verboten. Von diesem Moment an stellte sie Metzger nach. Nahezu überall, wo er sich im Haus aufhielt oder vorbei musste, da hing oder lag Mona im Versuch von Eleganz. Wieder und wieder genoss sie den Farbton seiner Wangen, der von Mal zu Mal dunkler schien, ein Lidflattern ließ seine Augen schimmern. Er tat, als sähe er sie nicht, doch das Rot zog sich bis über seinen Hals, als sie sich im Hemdchen auf dem Sofa rekelte, als bewege sie sich im Tiefschlaf. Zwischen den Wimpern hindurch sah sie ihn dort stehen und wusste: Verliebt war sie nicht, denn sie selbst war die Jägerin, er nur ein Förster. Ein grün-roter Förster. Ab da verlor sie das Interesse. Sich in einen Schwächling zu verlieben ging überhaupt nicht. Stark müsste er sein, der Richtige, viel stärker als sie selbst und viel schlauer. Außerdem geheimnisvoll, er müsste ihr einen richtigen Liebesbrief schreiben, den er ihr heimlich zukommen ließe. Außerdem fiel Mona mit einem Schlag die wahre Bedeutung seines Namens »Metzger« ins Bewusstsein, gepaart mit der Tatsache, die sie bislang übersehen hatte: Er trug Cord-Hausschuhe mit Gummisohlen im Farbton alter Karamellbonbons.

Der Student aus Ghana schleppte einen Riesenrucksack an. Er hatte ihn noch nicht einmal in sein Zimmer getragen, da fragte er Mom geradeheraus:

»Where’s the bus-stop?«

Die keiner Fremdsprache mächtige Mutter antwortete eifrig:

»Überall, nur nicht in der Garage, sonst wird er noch verkauft!«

– sie hatte gedacht, der Mann habe einen Kontrabass dabei. Seine Reaktion: Lenkbewegungen, imaginäres Hinsetzen und ein weiterer Schwall englischer Wörter umschrieben die Frage nach der Bushaltestelle schließlich deutlich genug. Mom begleitete den jungen Mann sogar zur Haltestelle, als Wiedergutmachung für die Tatsache, dass sie kurz – nur für einen winzigen Moment, wie sie später beteuerte, gedacht habe, der Mann würde einen Stammestanz aufführen.

Er hieß Amaru, und er liebte Moms Semmelknödel. Seltsamerweise vertilgte er bis zu sieben dieser Klöße vollkommen trocken, also ohne »Doblers feine Soße«. Außerdem trank er erst nach dem Essen ein paar Schluck Leitungswasser, mehr nicht. Mona brauchte stets mehrere Gläser Wasser, um endlich zur Limonade übergehen zu dürfen, auch davon konnte sie nicht genug bekommen. Sie selbst aß die Knödel am liebsten ohne Fleisch, doch mit viel Soße. Amaru lachte über ihren Durst, dass die Semmelknödel zwischen seinen Zähnen dunkel aussahen, so weiß war sein Gebiss. Er lachte oft und laut, er riss sie alle mit. Paps staunte, dass ein Mathematikstudent so viel Humor besitzen konnte, und versuchte ziemlich übertrieben, sein eigenes Rechengefühl als mangelhaft darzustellen, um ein wenig Hilfe in der Buchhaltung buhlend. Aber Amaru lachte nur, er kannte die Tricks wohl von seinem eigenen Vater.

Ein weiterer Gast kam aus Japan. Sein Name war Kazuhiko und er war für gut sechs Wochen einquartiert. Tütensuppe mit einem Riesenpilz dabei hatte er mitgebracht, die er aufgoss, mit Stäbchen aus dem Suppenteller an den Mund führte, den Pilz voran einsaugend und die Brühe gleich hinterher schlürfte. Sehr höflich kam er Mona vor, denn er verbeugte sich häufig und nie wusste man, ob er wirklich lächelte oder nur freundlich sein wollte. Nur einmal wirkte er äußerst ernst, nämlich als das gemeinsame Badezimmer von Paps besetzt war, der eine Bauchverstimmung durchlitt. Kazuhiko stand da wie am Marterpfahl (das Gelb seiner Haut war voller Furchen), die Augen halb geschlossen, der Mund ein Strich, die Fäuste geballt und war ganz Schmerz. Mona hätte beinahe gelacht, doch was wie würde er dann wohl reagieren? Als Paps endlich die Toilette verließ, verneigte sich Kazuhiko bodentief, um in noch gebückter Haltung an ihm vorbei und ins Klo zu stürmen.

Mit der Häppchenfrau aus dem Erdgeschoss verband den Japaner die Liebe zum Handarbeiten. Beide strickten Pullover und tauschten Muster aus. Die Häppchenfrau war schon alt, ungefähr fünfunddreißig Jahre und sie wurde so genannt, weil sie in einem großen Einkaufszentrum Probehäppchen aus Crackers mit Käseprodukten zubereitete und den Leuten anbot. Das war ihr Beruf, sie zog bald weiter in die nächste Stadt. Eine quirlige Person, Ruhe fand sie erst beim Stricken und oft schlief sie im Garten auf der Liege, wobei ihr Schnarchen erklang. Als sie ausgezogen war, bereitete Mom wochenlang mit großer Begeisterung »Häppchen« zu, denn die Dame hatte ein paar Proben zurückgelassen. Mom steigerte sich in seltsame Kombinationen wie »Chestercreme mit Preiselbeerhäubchen«. Eigentlich benutzte sie konsequent die Käsecremes, um darauf in wilder Folge Reste zu drapieren, doch ebenso eigentlich schmeckten die Kreationen recht gut. Bis Paps eines Tages nach dem Genuss derart schlecht wurde, dass man entschied, die Proben seien »abgelaufen«. Mona schloss daraus, sie wären so etwas wie Gift. Daraufhin verkaufte sie eine Tube »Emmentalercreme« an ihre Freundin Dora, die damit ihren Bruder loswerden wollte. Der Versuch misslang, der Inhalt stank derart, dass Doras Mutter bei Mom anrief und lange mit ihr redete. Mom warf daraufhin die gesamte Kollektion in den Müll, Paps wurde ob der Verschwendung wütend und klaubte die Behälter wieder heraus. Daraufhin zierten sie die Kühlschränke in der Garage, bis sie nach und nach verschwanden.

Der Muselmann wiederum war ein kräftiger, junger Türke. Sein wirklicher Name sei schwer auszusprechen, hatte Paps gesagt. Mona verstand nicht, warum er überhaupt das Zimmer gemietet hatte, denn er wirkte, als wolle er nur Eines: weiter, irgendwo hin, um dort etwas Großes anzufangen. Paps unterhielt sich mit ihm in einer Art Gebärdensprache, die alten Radios interessierten wohl beide. Mona interessierte besonders, wie der Mann versuchte, seinen kleinen Teppich zum Fliegen zu bewegen, indem er sich darauf kniete und dabei sehr konzentriert wirkte. Nach Knoblauch roch er noch ärger als Paps, der sich ab und zu ganze Zehen davon aufs Butterbrot schnitt. Mom rümpfte die Nase, aber sie lachte kokett mit ihrem neuen Lippenstiftmund »Koralle«, wenn der Muselmann in der Nähe war. Mona erklärte sie, er sei Mohammedaner, die hätten einen anderen Glauben und es gäbe bei ihnen Vielweiberei und den Ramadan. Nachfragen brachte nur wirre Antworten, »eines Tages erkläre ich dir das« schloss Mom das Thema ab. Den Ramadan erklärte sie immerhin ein wenig: Die Mohammedaner äßen aus Glaubensgründen den ganzen Tag gar nichts und abends dann alles. Außer Schwein, das war verboten. Wie schön: kein Schwein.

Einmal erwischte ihn Mona. Mona erwischte gerne Erwachsene. Den Förster beim Spiel mit ihren Schachfiguren zum Beispiel. Er hatte sie nur der Farbe nach aufgestellt, einfach gegenüber und auf falsche Felder. Dann hatte er welche mit einem Kugelschreiber umgeschossen, überwiegend Bauern gekickt – da lagen sie mit ihren plumpen Kegelkörpern und den runden Köpfen. Dann war Mona bemerkt worden und der Förster hatte verlegen getan. Verlegen war auch die Französin gewesen, als Mona sie dabei erwischte, wie sie ihren BH mit Schaumstoffkissen ausstopfte. Am lustigsten reagierte jedoch der türkische Gast, als Mona sich anschlich, während er vor Moms »Herrgottswinkel« stand, einem Brett mit Spitzenbordüre, das im Küchenwinkel über dem Sofa hing. Darauf standen das Jesuskreuz sowie eine Kerze und die Zinnfigur des Heilige Judas Thaddäus. Ganz nah am Herrgottswinkel war der Muselmann mit seiner Knollennase, er betastete des Judas Thaddäus’ Arm. Von schräg unten sah Mona den Kranz seiner Wimpern zittern, als er schließlich mit einem Finger das Holzkreuz berührte.

Mona kicherte. Er erschrak nicht, sondern drehte sich um, als habe er ihr Nahen gespürt, packte die Kleine, hob sie hoch, immer höher, bis an fast an die Zimmerdecke kurbelte er sie mit seinen kräftigen Händen. Als ihr Pferdeschwanz an der Lampe anstieß, lachten seine Kohlen-Augen, und er kitzelte das Mädchen ihre Rippen, als knete er Teig.

»Döner«, sagte er und »Dürüm«.

Sie lachte und lachte, kriegte kaum mehr Luft, und er nudelte die kitzlige Prinzessin, bis sie sich beinahe verschluckte, da stellte er sie ab wie ein kostbares Gefäß, strich ihr über den Kopf und beide sahen zum Fenster hinaus als Freunde. Er erzählte ihr seine Pläne, fuchtelte im Kreis, zeichnete mit seinen Wurstfingern Figuren und kaute ihr etwas vor, das nicht existierte. Wohl ging es ums Essen, Mona kicherte, bis sie spürte, wie sehr er sich auf sein Vorhaben freute. Da wurde sie ernst und nickte. Sie deutete auf das Kreuz und erklärte dem Mann, wie man zu Jesus beten musste, damit Wünsche in Erfüllung gehen, denn sie war sich nun sicher: Genau das hatte er eben versucht. Das Kreuzzeichen machte sie ihm immer wieder vor, so oft hatte sie es noch nie geschlagen. Doch er sah nur den Messingkörper an und schloss langsam die Augen. Lange hielt er sich aufrecht und still, dann verbeugte er sich tief, murmelte weiche Töne, als Lied kamen sie in ihr an; er richtete sich wieder auf und der Messingglanz tanzte im Schein der Küchenlampe in seinem Blick. Ein Neonring mit orangem Teller war die Lampe, und der Kreis schwebte wie ein Heiligenschein über dem Mann. Wieder musste Mona lachen vor Glück, erwachsen in ihrer Andacht. So fühlten sich also die Großen, wenn sie gerührt waren. Gerührt, genau – das passte: Man ist innerlich kreisend in Bewegung, daher die Weichheit und etwas wie Liebe.

Am nächsten Tag war der Muselmann samt seinem klapprigen Transporter verschwunden. Paps erzählte händereibend, er habe gut bezahlt. Er sei ihm sympathisch gewesen, denn auch der Türke wolle ein Geschäft aufmachen. Die Idee sei verrückt, aber wer wollte denn wissen, ob sich dieses Zeug in Deutschland verkaufen würde. Döner, Dürüm. Paps grinste, denn er hatte ihm einen großen Kühlschrank angedreht, wieder rieb er die Hände, dass es raspelte, Sandpapierballen zum Geldzählen.

Drachentränen

Bernd wohnte zwei Häuser weiter, er war ein halbes Jahr älter als Mona und besaß ein großes Sortiment an Jungs-Spielzeug. Seine Pistolen wurden nicht konfisziert, seine Insektenleichen nicht einfach weggeworfen. Ab und zu kam Mona zum Spielen hin, er kam nie zu ihr, denn sie hatte nichts Interessantes. Jetzt besaß Bernd einen Drachen – wohl eben erst neu zusammengebaut, das erkannte sie an Bernds Herumspringen von Weitem, wie er den Drachen (ein Raubvogeldreieck) hochwarf und ihn zum Fliegen bringen wollte, glich er in seiner prallen Blondheit einem hüpfenden Gummiball, glänzend vor Glück. Mona ließ das Gartentürchen offen, stürmte auf ihren Freund zu und rief von Weitem:

»Ich weiß, wie’s geht!«

Bernd gab den Drachen nicht aus der Hand, nein: Er rannte sogar los damit, um Aufwind bemüht. Mona wartete. Ihm würde die Puste ausgehen, dann könnte sie ihm zeigen, dass sie ein viel besserer Junge war als er. In dem Buch aus der Bücherei hatte sie erst kürzlich genau gesehen, wie das Drachensteigen funktioniert, auch im Fernsehen ging es ganz einfach, ob mit oder ohne Wind, sie konnte es besser, sie wusste es mit vollkommener Sicherheit. Endlich gab Bernd ihr Drachen und Griff mit Schnur. Wortlos, atemlos vor Anstrengung. Mona grinste in sein Gesicht, fleckig sah es aus von Schmutz und Schweiß, und sie übernahm energisch die Macht. Tatsächlich setzte genau in dem Moment der Wind zur Unterstützung ein. Mit großen Schritten ging Mona los, zu rennen brauchte sie nicht, denn der Wind nahm ihr die Arbeit ab. Der Drachen wurde emporgewirbelt wie ein großes Herbstblatt, und sein Rascheln machte ihn zum Schiffssegel. Der Adler darauf starrte aus Raubvogelaugen, als er emporstieg, sich drehte und an der Schnur riss. Das Mädchen gab ihm mehr Seil, sah ihn schon zwischen den Wolken kreisen, als das Unglück passierte: Der Adler stellte sich auf den Kopf und sauste nach plötzlichem Sturzflug mit dem krummen Schnabel voran in den Holzstapel, dass es knirschte. Mit gebrochenen Wirbeln zuckte er noch ein wenig und hing schließlich als schlaffer Plastikfetzen herunter. Bernd weinte los. Mona wurde so wütend, dass sie Griff und Leine nach ihm warf, mit dem Fuß gegen den Holzstapel tretend, der an allem schuld war, und den toten Vogel herunter zerrte. Er riss auseinander, lebloser Körper mit Plastikstäben als blutleere Adern. Aber Bernd heulte entsetzlich, fast tat er ihr leid. Ein heulender Junge! Mona selbst weinte nur heimlich, und auch das war kein echtes Weinen. Höchstens zu viel Spucke, man spuckt Verachtung aber nicht aus, irgendwohin muss doch das Wasser, also kamen die blöden Tränen. Sie ging einfach weg, niemals wollte sie wiederkommen, niemals.

Treppenkind

Die Holztreppe vom Erdgeschoss ins Obergeschoss war das dreidimensionale Reich. Mona kletterte, schlang sich zwischen den Stäben am Rand hindurch, verwandelte sich von der Fledermaus in eine Trapezkünstlerin, war Schlange und Seeräuberin, rutschte auf einem Kissen hinunter und machte von unten her Klimmzüge an den Stufen, bis ihr Freund Wolfi sie auf ihre Muskeln ansprach. »Muckis« sagte er, und sie dachte zuerst, er meinte das positiv. Aber als er lästerte, bei Mädchen sähe das komisch aus, wusste sie um seinen Neid, denn er war kraftlos. Trotzdem ließ sie die Turnübungen von dem Zeitpunkt an kürzer ausfallen. Wolfi spielte lahmes Zeug, immer nur Verstecken. Aber Paps schien ihn zu bewundern, er lobte seine Klugheit. Warum, konnte Mona nicht nachvollziehen, und sie begann, Wolfi zu hassen und schließlich die Turnübungen wieder zu steigern. Die Treppenstufen waren aus Buchenholz, das Neueste in dem alten Haus, eine Investition sondergleichen, sagten die Eltern, wenn Besuch kam. Manchmal dachte Mona, sie wäre auf dieser Treppe geboren worden, so sehr mochte sie die Stufen. Das musste die Heimat sein, von der manche sprachen. Wenn ihre Heimat fort wäre, würde auch ihre Stimme so verloren klingen. Auf der obersten Stufe saß sie am liebsten, vor sich den Fußboden des ersten Stockwerks, auf einer Art Empore, ihre Spielfiguren ausgebreitet, überwiegend Tiere aus Plastik, auch Männchen, Autos und ein Parkhaus. Sie baute selbst aus Schaschlikstäbchen und Papiertaschentüchern Zeltdörfer, umgeben von Zäunen. Dort fanden vorwiegend Kriegshandlungen, manchmal auch friedliche Bauvorhaben statt. Legosteine kamen ins Spiel, auch Steine.

Männerglück

Die Zeitschrift war anders als die anderen. Sie lag unter dem Ehebett auf Moms Seite und Mona musste sie nicht einmal aufschlagen, um zu wissen, dass dies ein großer Fund war: nackte Brüste und kurze Texte mit neuen, fremden Wörtern. »Machen Sie IHN glücklich«, der Überschrift folgten Tipps. Das Gefühl beim Lesen glich Naschen. Nicht nur Naschen von Süßigkeiten, sondern von Cognacbohnen. Jeden Moment könnte jemand kommen und sie fragen, sie würde sagen »ich mache Papierschiffchen, es ist so schön bunt«, ja – das würde sie sagen. ER. Er war nicht glücklich, aber SIE wusste nun, man könnte ihm helfen.

Im Bad probierte sie es aus. Doch als das Telefon läutete, rannte sie ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. Jemand fragte umständlich nach einer Waschmaschine. Inzwischen hörte sie Mom ins Bad gehen, ihren spitzen Schrei. Die Stimme am Telefon fragte weiter, Mona ließ den Hörer fallen und baumeln samt der Fragerei, rannte weg, die Treppe hinauf wollte sie – da packte Moms eine Hand zu und die andere gab ihr einen Schlag, der den Arm erwischte. Sie standen sich gegenüber, eigentlich müsste sie in die Knie gehen und um Verzeihung bitten, die Mutter. Sie hatte Mona geschlagen, ihren Liebling geschlagen, die kleine Herrin des Zaubergartens und der magischen Treppe, die Herrscherin über Geisterpferde und Wolkenpaläste! Geschlagen!

»Das werde ich dir nie verzeihen«,

sagte Mona und wusste, dass es bis in die Unendlichkeit stimmte. Einen Moment lang wirkte Mom irritiert, doch dann siegte ihr eigenes Entsetzen.

»Ich werde deinem Vater nichts sagen, aber du wirst das beichten!«,

kreischte sie, drehte sich um und lief ins Bad, um zu beseitigen, zu trennen, zu zerstören. Jesus zu trennen von Barbie, die ihm das Glück brachte, sie lag auf ihm, darunter das Kreuz, an das er genagelt war. Der makellose Plastikkörper auf dem kalten Metall-Jesus, so dürr, dass sein Bauch wie eine Delle aussah, darin war endlich ein Leben, eine Seele, blondes Haar auf seinen ausgemergelten Armen. Glücklich war er gewesen, ganz kurz wenigstens, und Mona triumphierte, während sie die rote Stelle auf ihrem eigenen Ärmchen rieb.

Erster Schultag