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Wohin nur, wohin mit den Gedanken, die da sprudeln? Sie dienen dem Zweck, sich daran zu erfrischen und warten in gedruckter Form in diesem Büchlein auf Sie. Neue Short Stories aus der Feder von Lisa Weichart laden zu schrägen Perspektiven ein, zur träumerischen Sicht auf vermeintlich Reales – und zum realen Blick auf Nebulöses. Sie wollen unterhalten, aber auch fragen, wohin der Lesende denn überhaupt möchte mit den Gedanken und liefern mögliche Antworten gleich mit. Mal melancholisch, aber überwiegend heiter. Ein Geschichtenbuch voller überraschender Einsichten.
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Seitenzahl: 237
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WohinWohin
33 kurze Geschichten
Lisa Weichart
Erstausgabe im Oktober 2018
Alle Rechte bei Verlag/Verleger
Copyright © 2018
Fehnland-Verlag
26817 Rhauderfehn
Dr.-Leewog-Str. 27
www.fehnland-verlag.de
Coverdesign: Scandals under Cover
gedruckt bei Bookpress.eu in Polen
Busfahrt
Lenkrad
Mauerdrücker
Rosarot
Wartezeiten
Handarbeit
Umgewandelt
Blechlilien
Apart
Eiskaffee
Jolene
Die Falte
Versteckspiele
Passt schon
Donauwellen
Die Traumklopferin
Einkehrtage
Winterküche
RotHäppchen
Que Será
Satt
Delfin
Honig
Krähengespräche
Krähengespräche, fortgesetzt
Wohin
Wohin, weiter
Die Burg
Regenstück
Badetag
Evis Geschichte
Spinat
Oktovember
Wie: »Für so was«? Babs und ich kringelten uns vor Lachen, als der Bus anfuhr, wir schleuderten mit den Hüften aneinander, das heißt: Meine Hüfte gegen ihre Oberschenkel, denn sie war um einiges größer als ich, obwohl wir gleich alt waren und dieselbe Klasse des Gymnasiums besuchten. Unsere Schultaschen waren Umhängebeutel aus Leder, wir trugen ähnliche Jeans, auf die wir mit Kuli gemalt hatten, meistens während Religion. Oder Mathe, egal – die Welt war uns zu eng, zu klein und vor allem zu alt, und wir ahnten, dass Zukunft etwas völlig anderes ist als das, was uns Lehrer und Eltern uns zu suggerieren versuchten. Babs heißt Barbara, und das Peinlichste, was ihr je widerfahren konnte, war, von ihrer Mutter irgendwo mitten unter Leuten »Bärbel« gerufen zu werden. Einmal hatte ich es gehört, es klang wie der Ruf nach einem Bauernmädchen auf Postkarten, einem »Mädel« mit Milchkanne und Melkschemel, das adrett (wie man sagte) war und nicht Teenager wie wir. Einfach ganz normale Teenager im Vergleich zu den Idealen, die sie im Kopf hatten, es war grausig, darüber nachzudenken. Wir vermieden es.
»Für so was!«, der Alte brodelte weiter sein Zischen im vorderen Drittel des Busses, sein strenger Scheitel kreiste, einem Zeiger gleich, über Dutzenden von wirren Schülerköpfen, während Babs und ich versuchten, ohne festzuhalten Stand zu bekommen. Es klappte, denn der Bus war voll. Auch Jungs, sie trugen damals komisches Zeug: Cordhosen, lappige Turnschuhe, Kämme in den Gesäßtaschen und sie rochen nach Schweiß oder Kaugummi oder einem Gemisch daraus. Nach Turnbeuteln stanken sie, und ihre Stimmen klappten von Hoch bis tief in gemeiner Lautstärke, wie Fohlen klangen sie, und ihre Beine sahen auch so aus wie deren dürre Beine. Bis auf ein paar Dicke, wir beachteten sie nicht.
Bei der nächsten Haltestelle stiegen einige Leute aus, neue ein. Damals waren nahezu alle Menschen Regensburger Einheimische, Ausländer eine Seltenheit. Oder wir erkannten die wenigen nicht als solche, ich weiß es nicht mehr. Aber es liegt nah an der Wahrheit, wenn die Erinnerung diese Tatsache als solche abgespeichert hat, da bin ich mir sicher. Babs und ich mussten fast bis zur Endhaltestelle fahren. Irgendwann leerte sich der Bus ein wenig, wir sahen, wen der alte Mann anzischte:
Gregor. Der Typ aus dem Pindl-Gymnasium thronte auf dem Schwerversehrtensitz. Seine Haare strahlten blonder als meine zu dieser Zeit, also fast weiß. Etwas Herrisches haftete ihm an, wie er mit stechend blauen Augen zum Fenster hinaus sah, als beobachte er Wildpferde oder als hielte er Verfolger mit purer Willenskraft in Schach. Seine Schultern: Zum Hineinspringen kräftig, sogar von hinten betrachtet. Wir waren Jungs nicht gewöhnt an der Mädchenschule, also schauten wir im Bus genau hin, wenn wir einen sahen. Normalerweise lästerten wir dann, Lästern ist eine stundenfüllende Beschäftigung in dem Alter, und ich denke, daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Aber jetzt vergaßen wir es, denn er war ein Gott, einfach ein Gott. Ich sah Babs sich hoch aufrichten und ihre kümmerliche Brust herausstrecken, als nähme er sie wahr. Ich sah sie komisch lächeln, ihr Haar gekünstelt herumwerfen, hörte sie lachen, als käme ihre Stimme aus einer besonders witzigen Radiosendung und wusste nicht, ob sie noch bei mir war mit diesem Humor oder einfach nur Signale sendete, damit Gregor endlich herschaute.
Ich ließ mich dicht hinter ihr durch die Menge drücken, immer weiter nach vorne, bis wir in der Nähe des Alten zum Stehen kamen. Ich hörte meine eigene Albernheit kichern, viel zu hoch; ich unterhielt mich mit Babs, damit er mich hören konnte, sich endlich umdrehte. Gregor natürlich, aber wer drehte sich um? Der Alte. Von vorne sah er aus wie der Mond. Krater seine Narben, Silberschein die Bartstoppeln. Ein Mund wie ein Loch, er war schief und zitterte grausig. Gottseidank wendete er sich gleich wieder in Fahrtrichtung, sein Nacken: eine Lederschwarte, so braun wie mein Federmäppchen. Wie er roch, kann ich nicht mehr sagen, aber in der Erinnerung waren es Teer und Pulver, wie zu Silvester die Kracher rochen, so stank er aus dem Mantel, den er trug, obwohl Sommer war.
Die Haltestelle vor unserer: Gregor stand schlaksig auf, schaute glasig über den alten Mann hinweg (obwohl sie gleich groß waren oder fast), und er grinste genau so, dass man nicht wissen konnte, ob er überhaupt grinste oder ob es nur ein Zähneblecken war, wie bei Hunden sah das aus, es war hässlich in seiner Schiefheit, obwohl Gregor sonst wirklich hübsch wirkte. Bäh, er hätte sogar meiner Mutter gefallen, ich bin mir sicher. Schon verwarf ich den Gedanken, denn ich machte mich lang und schlank, indem ich mich auf die Zehenspitzen stellte und den Hals hervor steckte, bis er schmerzte, mein Haar nach hinten schleuderte (wie Babs vorher) und gackerte:
»Ach, ist das höllisch heiß«, wobei ich verzweifelt Augenkontakt suchte zu dem Stahlblau, zu dem Flackern zwischen Männlichkeit und Lächerlichkeit. Er sah mich nicht, er sah nicht Babs. Aber der Alte schrie auf einmal seinen ganzen Satz, bevor er sich auf den nun frei gewordenen Schwerbehindertenplatz fallen ließ:
»Wegen so was war ich im Krieg!«
Gregor stieg aus, und ich meine, ein Zittern in seinen langen Gliedern wahrgenommen zu haben, ein ganz feiges, doch seltsam stolzes. Doch, er gefiel mir noch immer, wie er zurückblieb, als der Bus wieder anfuhr, in seinem zu engen schwarzen Totenkopf-Shirt. Aber der Mann war direkt neben mir, und ich sah, dass er sich die Augen abwischte, vielleicht hatte er diese Altersfeuchte, dieses hässliche Zeug, das all die Greise eben haben. Irgendetwas würde es schon sein, verdammt, es musste etwas Krankhaftes sein, ich flehte fast, während ich lachte, um Babs abzulenken, die Gregor hinterher starrte, die Lippen offen wie zum Pfeifen.
Da sah mir der Mann direkt in die Augen, und ich blickte zu Boden. Nicht diesen Blick abbekommen, nicht diesen Blick. Ich sah seine Prothese an einem Bein durch die Hose gebeult, unnatürlich dick das Knie im Verhältnis zum anderen. Und über dem Schuh das Holz, er hatte keine Socken an. Er hatte sich gar nicht die Mühe gemacht, Socken anzuziehen. Oder er hatte sie vergessen, ein Holzbein fror ohnehin nicht. Vielleicht hatte er kein Gefühl. Kein Gefühl für die Zukunft. Ich stand bis zuletzt neben ihm, beim Aussteigen half ich ihm keineswegs. Wozu auch, er war nicht aus unserer Zeit, er existierte gewissermaßen überhaupt nicht hier in dieser Zeit, er war im Panzer, an der Front oder im Graben. Aber er traf mich noch einmal, der Blick. Jetzt mit trockenen Augen, es waren stahlblaue, wie die von Gregor, und sie schwammen in einem Meer von Traurigkeit.
Der Spiegel log, denn das Licht fiel nicht richtig ein an diesem Oktobernachmittag, sondern es zitterte vor Schwäche, weil ihm die Kraft des Sommers abhandengekommen war. Und doch lag die Imperfektion alles Echten darin, sich so zu sehen. Pia stand vor dem Spiegelschrank im Schlafzimmer, eigentlich hatte sie nur die Pullover vom oberen Fach herunter holen wollen, diese leichten, pastellfarbenen, für die Jahreszeit angenehmen. Dann war sie über die Hemdchen mit Ärmeln gekommen, auch Wollsachen. Wärme suchte sie da, und Erinnerungen ans Vorjahr krochen aus Duftkissen, als seien sie einfach mit etwas Atem wieder frisch zu hauchen. Eingenähte Blüten in Gazestoff, kleine Bündel mit Sommer, irgendwann mit Parfüm benetzt, weil sie Pia zu schade waren zum Wegwerfen und weil es sinnlos war, neue Blätter hinein zu geben. Wozu. Man konnte die Dinger im Drogeriemarkt kaufen, einfach besorgen oder schicken lassen konnte man sie heutzutage. So schmal war Pia, so klein der Bauch, so flach ihre Brust. Das Kind, das Kind. Es war so nah, als sei es da; es bohrte in Pia herum mit Gelenken wie Holz und Gummi. Schwarze Haare, flunkerte das Licht durchs Fenster, und sie sah ihr gläsernes Lächeln sehr zerbrechlich daneben, wusste sie doch: Mirkos Flaum war heller als dieser trockene Sandstrand damals auf Rhodos, als sie merkte, dass sie mit ihm schwanger war.
Man bekommt sie so schnell, die Kinder. Sie bekam ihn schnell, den Sohn, er bekam ihr gut. Sie hatte ihn bekommen, er kam nicht mehr. Wortspiele im Spiegel, hinter dessen Türen die Fotoalben. So etwas gehört in den Schlafzimmerschrank, dachte Pia, das ist der Ort, den Einbrecher zuerst durchsuchen. Vielleicht würden dabei die Alben heraus fallen. Man sollte das Fenster offenlassen, sperrangelweit offen für Eindringlinge, die beim Wühlen die Alben aus dem Schrank auf den Boden würfen, die Seiten könnten aufklappen. Pia konnte es nicht. Und doch wusste sie, was sie sehen würde.
Mirko war ein Pummelchen mit kräftigen Gliedmaßen und stämmig. Ein großer Kopf für ein kleines Baby. Er behielt die Proportionen. Kindergartenbilder zeigten ihn lachend, seine Lippen: der Saugmund, Bussi, jetzt Pausenbrote und erste Chips ein wenig später. Irgendwann der Männerblick in der Grundschule, von unten herauf und doch von oben herab, etwas Schlitzäugiges, Herablassendes hatte sich eingeschlichen. Und doch war sein Lachen ihr Leben. Die Bilder anzusehen würde ihr die Kraft rauben, sein Anblick würde daran saugen wie damals er selbst an ihrer Brust. Wieder zog in ihr das innere Glockenseil, dass sie schwankte, die Hand an den Spiegel legte. Überall waren damals seine Fingerabdrücke gewesen. Patschhände an Möbeln, Türstöcken, Türen. Spielzeug auch überall, das batteriebetriebene Lenkrad mit drei Sounds (Hupe, Quietschen und Bremsen) war das Schlimmste gewesen. Sie hatte es immer wieder versteckt, einmal hatte er es gefunden und in die Dusche gelegt, abgebraust, dann war es endlich kaputt. Seine Tränen waren immer als Bubble-Tea-Kugeln, nie als Tröpfchen geperlt.
Das Lenkrad lag ganz hinten im Schrank. Unsinn, den Müll aufgehoben zu haben, verdammt. In einer Puderwolke umnebelten Erinnerungen Pias Gedanken, und in jeder davon schwebte ein Kosename für Mirko. Es waren so viele, und jeder Einzelne fiel ihr ein, sie konnte kaum atmen in diesem Staub, so schwer wurde sie darin. Wie der Spiegel log, indem er Sonnenstrahlen bündelte und ihr in die Augen warf, dass sie leuchteten! Grüne Kiesel mit Moos. Grün ist die Hoffnung, grün ist der Frosch, grüne Augen hat er immer noch, der Sohn ist ein Mann, aber die Zeit hat ihn eingegossen mitten in Pia, die da stand und an alles, alles denken wollte, nur nicht an das Herz. Herz ist Kitsch, Herz ist abgedroschen, Herz ist Schmerz, ist ein Muskelklumpen. Es zog sich zusammen und schlug auseinander, rötliche Lappen im Bemühen, Blut zu verteilen, den Körper aufrecht zu halten, das blöde Ding schlug bis zum Hals, und Pia weinte. Zuckerperlentränen, Groschenromantropfen. Schluck für Schluck Salzwasser, allmählich dünner, sie riss die Schiebetür auf und riss die Pullover heraus, zerrte die Tür wieder zu und bleckte dem Spiegel die Zunge.
»Ich bin nur vergangen«, sagte auf einmal die Zeit, und Pia fragte:
»Bist du tot?«
Die Zeit schwieg, dann schlug die Uhr.
Vergangen bist du, Zeit. Heute bist du anders als gestern, man hat weniger. Aber wenn sie kommt, die Sekunde, in der man die Zeit endlich packen kann, dann muss man umarmen, es ist eine heilige Pflicht, dann muss man umarmen, was man liebt oder mag oder wenigstens halten will. Pia beschloss, Mirko zu schreiben. Am Telefon plapperte ihre Stimme nur Blech, sie kannte das. Immer danach hörte sie den Nachhall ihrer Höflichkeitsfloskeln. Heute aber war neu. Ist neu. Sie schrieb auf Briefpapier, aber weil neuerdings eben alles andersherum funktioniert, tippte sie den Inhalt dann als Email ab. Lächerlich, ein Lächeln. Es blieb am Ende ganz wenig vom Text, wie Kaffeesatz im Filter, zusammengefallen:
»Komm bitte Dienstagabend. Ich hab was für dich, wichtig.«
Der Text war reduziert, um ehrlich zu klingen. Der ganze Brief: geschrumpft. Das Original mit »Lieber Mirko, bitte komm am Dienstagabend zu mir, mein Sohn. Ich habe etwas Wichtiges für dich …« (Es waren zwei Seiten) faltete sie zusammen und legte es beiseite.
Das Lenkrad. Es war der einzige Gegenstand von ihm, den sie noch bei sich hatte. Natürlich war das Ganze eine einzige Ausrede, um ihn herzulocken, nach dem Krach vor Jahren. Pias Scheidung, Mirkos Heirat mit Zwanzig. Pias Fehler: Hunderte. Mirkos Fehler: keine. Aber da waren die Bilder in ihr, die aufleuchteten wie eine altmodische Dia-Show, Vorwürfe als Lichtbilder in der Schwärze. Immer wieder, auch im Traum, sogar tagsüber. Sie hätte nichts gegen seine Frau sagen sollen.
Als er kam, war er fremd. Ein Mann mit Bart und Augen wie Pia, jedoch unter buschigen Brauen. Aber schroff war er nicht, nur ein zynisches Lächeln trug er um den Mund, den Mund, ihren Mund, seinen Mund, sie konnte nichts sagen, Pia ließ ihn in ihre Wohnung und schluckte ihre Worte Buchstabe für Buchstabe, bis er endlich nach einem »Hi Mom« fragte: »Was hast du?«
Und Pia holte das kaputte rote Plastikding, das Lenkrad gab sie ihm stumm, ihr Hals war sauer von Scham, schmeckte die Szene nicht nach Metall? Ja, so musste sie schmecken: nach Blut, Verletzung und Scherben.
Mirko nahm das Spielzeug, es lag klein in der Hand, die immer noch die Mirko-Finger hatte, nur größer. Alles war größer geworden, auch der Schmerz. Und der wuchs noch immer, Pia wollte zu ihrem Sohn hinaufsehen, aber sie starrte auf das Ding und auf seine Turnschuhe. Der Fremde roch nach Zigaretten und dem Parfüm seiner Frau. Mit ihr würde er nie nach Kindern riechen, sie hatten nur Katzen und das würde so bleiben. Genau: Nach Katzenstreu roch er, womöglich parfümiert, etwas wie Zitronengras stach durch. Das mit den Kindern war der Grund für den Krach gewesen, der Anfang vom Ende. Man müsste einfach sprechen können, gar nicht kompliziert reden, in Kindersprache verharren müsste man. Man könnte die Zeit zurückspulen, nicht in der Gegenwart torkeln. Man sollte nicht denken beim Fühlen. Mirko, nach dem Zähneputzen keine Gummibärchen. Mirko, ich puste, dann ist’s gleich besser. Satzfetzen als ein Spuk auf der Zunge. Und nun stand er da, nahm doch tatsächlich das Lenkrad und machte »brumm« wie damals, lachte kurz auf und drehte sich gleich wieder zur Tür. Mein Junge, mein Junge, mein Junge, Pia stand starr, als wäre er im Begriff, über die Straße zu rennen, direkt vor die Autos und als wäre er noch ihr Kleiner. Dabei sah sie ihm zu, wie er die Klinke drückte. Das Zeitzahnrad knirschte und lähmte alles Lebendige. Pia war Stein. Aber es gibt ihn, den Zufall. Gewohnheitsgemäß musste sie den Schlüssel herumgedreht haben, wie ganz früher, als er nicht hinauslaufen sollte und selbst noch nicht aufsperren konnte.
Da drehte Mirko sich um. Er ließ das Lenkrad nicht los, als er Pia umarmte, drückte ihre Seele ins Herz hinein, als er sie so packte mit seinem neuen Körper. Was war das, was ist es, wie nennt man den Unsinn? Es ist Liebe, und sie ist kürzer als die Nabelschnur, länger als die Schwangerschaft, sie ist hässlich in ihrer Weinerlichkeit, so erbärmlich wie die Nacht auf der Müllhalde. Manchmal stinkt sie sogar nach Angst, sie zittert vor sich selbst, als sei sie ihr eigener Tod. Aber wenn sie einen Menschen umarmt, weil sie überhaupt nichts anderes mehr kann, dann zerlaufen ihre Farbflecken und bilden eines dieser Himmelsgemälde aus Barockkirchen, sodass man als Mensch darunter zur Kerze wird und lieber schmilzt an der Flamme des Anderen, als nur aufgespießt vor Altären zu stehen.
Mirko blieb noch eine Weile bei seiner Mutter. Die einfachste Form des Zusammenseins ist Essen, es gab nur Pasta und Tomatensoße. Eineinhalb Stunden dauerte es, bis sie zusammen gealtert waren, um wieder jünger zu sein. Pia holte die Fotoalben aus dem Schrank, gab sie Mirko mit nach Hause – zum Scannen, er würde sie wiederbringen. Sie sahen sich nicht oft an beim Durchblättern, doch die Augen auf den Bildern blickten ernsthaft auf die Beiden. Indianer behaupten, jedes Foto, das von einem Menschen geschossen wird, nehme ihm ein Stück seiner Seele. Die Ultraschallfotos gab Pia ihrem Sohn nicht mit, Mutterpass bleibt Mutterpass. Nur den Brief steckte sie ihm noch zu.
Wie lange kannten sie sich schon, Stefan und Angela? Sie zählten nach, es waren fünfundzwanzig Jahre, die Unterbrechung mit eingerechnet. Die Unterbrechung war, genau genommen, länger gewesen als ihre Freundschaft; wie sagt man: Sie waren verschiedene Lebenswege gegangen. Damals hatten sie zusammen bei der Post gearbeitet, jetzt war Stefan schon in Pension und Angela halbtags im Büro einer Spedition tätig. Einfache Sachen, wegen der Kleinen – entsprechend niedrig fiel das Einkommen aus. Die Kleine, das ist Ellie, sieben. Grundschule, neues Umfeld. Der Vater nimmt sie an den Wochenenden. Ein Jahr lag die Scheidung zurück, seit einem Jahr hatte Angela ihren alten Freund wieder. Als guten Freund, nicht mehr. Kino, Besichtigungen, Stadtfeste. Billard, Wandern, Vorträge. Museen, in denen sie ohne Begleiter einsam herumgeschlurft wäre – mit Stefan machte alles mehr Sinn. Spaß wäre übertrieben, sein Humor war eher staubig. Außerdem wollte er nichts von ihr, wie man so schön formuliert, und dieser Umstand verschaffte Angela zunächst ein Sicherheitsgefühl, das dem Schaukeln in einem fabrikneuen Boot gleicht. Angela ruderte, Stefan war das Boot.
Niemals gingen sie Hand in Hand, höchstens einmal Arm in Arm (bei Glatteis), aber die Nähe allein war schon ein Polster, so beruhigend wie die gemeinsamen Erinnerungen. Ihr stummes Einverständnis in Geschmacksfragen glich dem Schweigen alter Ehepaare, und sicher wurden die Beiden von vielen Leuten für ein solches gehalten, wie sie dahin gingen mit ähnlichen Bewegungen. Denn Angela nahm Stefans Langsamkeit allmählich an, sie tat ihr gut. Viele hielten sie für hektisch, zuweilen war sie das auch. Aber in ihr steckte aufgrund ihrer verhältnismäßigen Jugend mit über Vierzig noch mehr Leben, mehr Zukunftsgier als in dem zehn Jahre älteren Junggesellen. Auch das tat wohl. Ein gutaussehender Mann mit grauem Haar, schlank bis zur Hagerkeit, mit einer aristokratischen Nase und wissendem Blick. Was mochte er alles erlebt haben – sie fragte nicht, sie wartete – und tatsächlich kam mit jedem Treffen ein wenig Neues zu Tage. Angela hingegen sprudelte hingegen vor Mitteilungsdrang. Allein die Zeit vor ihrer Trennung hatte Potenzial für zwei Stunden des Monologes ihrerseits. Stefan war ein guter Zuhörer, er unterbrach sie kaum, und wenn, dann mit anregenden Fragen. Manchmal war er zu direkt, sie dachte für sich, eigentlich unromantisch. Und zu Hause überlegte sie, ob sie ihn anrufen sollte, damit sie ihn fragen könnte, ob er vielleicht nächstes Mal mit zu ihr käme. Allerdings verschob sie diese Idee immer wieder, es passte nicht am Telefon, es passte nicht, am Telefon zu sagen, es passte nicht, am Telefon zu sagen, dass – ach, sie ließ es eben bleiben.
Wir erinnern uns an manche Dinge nicht, wir tragen sie nur wie einen Stempel irgendwo im Leib. Dort vergehen sie langsam oder werden zum Brandmal, manche zu einer Blüte, als hätte man sie uns aufs Herz tätowiert. Zum Beispiel einen Kuss. Angela war damals kaum Zwanzig und ledig, es war in ihrer Ausbildungszeit. Spät abends, sie waren damit beschäftigt gewesen, letzte Dinge in der Filiale aufzuräumen. Stefan hatte sich mit einem Kasten voller Briefmarken an ihr vorbei gedrückt, und plötzlich war da dieser Kuss gewesen. Kein spektakulärer Filmkuss, Angela hatte ihn einfach auf seinen Mund gepresst, wie man einen Stempel auf ein Kuvert gibt. Nichts weiter. Und doch war er noch da, irgendwo in Angela steckte der Kuss ohne Erinnerung und trieb eine feine Wurzel, von der sie nichts ahnte.
Eines Abends im Juni entfaltete sich eine jener lauen Sommernächte, in denen sich Kleidung anfühlt wie die Berührung einer Feenhand, in denen Blumenduft so schwer wird, dass sich die Vernunft umstülpt zu etwas wie Herzblättern. Eine von den Nächten, in denen Sterne vom Himmel geholt und Mehrlinge gezeugt werden, in denen Geigen aus Hinterhöfen selbst Gehörgeschädigte in Flamencotänzer verzaubern. Der Innenhof des französischen Restaurants war in weinrotes Lampionlicht getaucht, unterbrochen von sandgoldenem Flackern der Kerzen auf den Tischen. Jemand spielte irgendwo auf der Straße Geige hinter dem Rundbogen, der zwischen Drinnen vom Draußen lag. Der Salat war hervorragend gewesen: Lauwarme Hühnerbrüstchen an Mangold mit Pinienkernen und einem unvergleichlichen Balsamico-Dressing; französische Ausdrücke flogen zwischen Angela und Stefan hin und her, die sie beide nicht recht kannten und darüber lachten wie Kinder. Angela sah Stefans Augen flackern, den schmalen Mund über dem kantigen Kinn zu einem Lächeln schwellen, das Worte der Zärtlichkeit versprach. Endlich. Angela strengte sich an, nicht zu niesen, irgendein Gewürz oder der Rauch vom Nebentisch reizte ihre Nase, und indem sie rückwärts zu zählen begann, schaffte sie tatsächlich, den Niesreiz zu unterdrücken. Ihre Tochter war beim Vater. Wenn sie an die Beiden dachte, verging der Niesreiz. Er verlor sich in Vergangenem, in der Harmonie der ersten Jahre.
Ausgerechnet jetzt. Angela starrte ihre Nachbarin an, die in einem Pulk von zwei Kolleginnen oder Freundinnen durch den Torbogen geschwemmt wurde. Clarissa, ganz in Lila, mit ihrem langen blonden Haar und vor allem mit Ballon-Busen, in Seide gepresst. Drall wäre der falsche Ausdruck, sie war eine Sinnlichkeitsgöttin, so viel stand fest. Was nun, wenn sie Stefan anflirten würde, sie tat das immer, grundsätzlich – wieso nicht auch jetzt? Aber Stefan hatte nur Augen für die Speisekarte. Clarissa winkte lasziv herüber, blinzelte vielsagend und ließ sich zwei Tische weiter nieder. Sie konnte so unglaublich gelangweilt schauen, angeödet von allem um sie herum, und genau das tat sie auch jetzt. Der Ober eilte herbei, kaum hatte ihr Hinterteil den Stuhl berührt, die Beflissenheit in Person. Sogar eine Verbeugung deutete er an, die Clarissa ohne Worte hinnahm, indem sie die Karte forderte. Ja, forderte, und der Ober flitzte augenblicklich los, ohne Fragen zu stellen. Ob sie reserviert habe zum Beispiel, von Angela hatte er das immerhin wissen wollen. Und Stefan. Oh, Stefan. Er saß leicht nach hinten geneigt und blickte jetzt zu den Sternen. Was er wohl fühlte, welche Gedanken wohl hinter seiner Stirn lagen? Jetzt die richtigen Worte zu finden, es ihm zu erleichtern, selbst etwas zu sagen, Angela sah über die Lampions zum Mond – und nieste, wie sie noch nie im Leben geniest hatte. Dinge, die im Salat gewesen sein mussten, verfehlten Stefan nur knapp, nur eine Franse Mangold streifte sein Kinn und blieb an seinen noch Grübchen kleben, was den Drang, diese zu berühren, empfindlich unterbrach.
Clarissa und Angela kamen gleichzeitig zu Hause an, Angela mit dem Rad, Clarissa natürlich mit dem Taxi. Es war ziemlich spät, aber Angela fragte trotzdem, wie »er« ihr gefallen habe. Sei tauschten sich oft aus, und auch Angela hatte oft ihre Meinung abgeben müssen, die jedoch meistens gnädig ausgefallen war, denn Clarissa verliebte sich nicht, sondern wählte erst aus, taxierte, entschied – und ließ fallen. Ihre Galane waren allesamt höchst attraktiv, das ließ sich nicht schlechtreden.
»Na ja, ich weiß ja nicht«, surrte eben diese verwöhnte Clarissa mit derselben Stimme, die sie benutzte, wenn ein Parfüm nicht süß genug roch, Bodylotion klumpte oder Schmuck ungenügend glitzerte. Dabei betrachtete sie ihre perfekten Fingernägel und senkte die Wimpern, dass sie an extrastarke Zahnbürsten erinnerten. Oder an Hummeln, jedenfalls an etwas Dickes, das grundsätzlich recht hat.
»Diese Wolfskin-Sandalen, und auch noch Socken …«, fuhr sie gähnend fort, wohl um die Schärfe ihrer Beurteilung zu mildern. Wollte sie Angela schonen, indem sie dieses Gähnen über das Gemeine der Wahrheit hauchte, über die Niedertracht, die nur der Realität innewohnt? Denn sie hatte recht, es waren Sandalen an Stefans Füßen gewesen, nur Angela hatte sie nicht beachtet angesichts der Szene, die ihr vor wenigen Sekunden noch als Kulisse im Gedächtnis gestanden hatte, bereit für die Traum-Inszenierung dieser Nacht. Das Bühnenbild zerfiel, rohe Bretter blieben, darauf Sandalen und Socken. Der imaginäre Theatervorhang riss unter rohem Gelächter gespensterhafter Kritiker in perfektem Outfit.
»Du kannst nur lästern.«
Kaum hörbar war Angelas Stimme, und sie zuckte die Schultern, als sei ihr die ganze Sache mit Stefan egal.
»Hat er denn nicht angegriffen?«, goss Clarissa Öl ins Feuer, während sie einen Schmollmund zog. Und sie traf ins Schwarze, denn Angela platzte, alle Vorsätze vergessend, heraus:
»Er ist eben schüchtern, nicht alle sind so hektisch wie dein Letzter!«
Das hatte gesessen. Der »Letzte« Clarissas war ein sogenannter Nestflüchter gewesen, nichts wie heim zu Weib und Kind, mitten in der Nacht. Angela hatte die Wohnungstür nebenan sehr wohl gehört, auch Clarissas Heulen. Deren Schmollen wich nun einem Schutzgrinsen, dann ließ sie die Freundin einfach stehen, und jede ging in ihre eigene Wohnung.
Wenn Wünsche auf dem Boden der Illusionen wachsen, werden sie zu Ranken, die sich an allem festklammern, was ihnen Halt bietet. Im Trotz nach oben strebend, suchen sie das Licht, genau wie die ordentlichen, die aus der Vernunft treibenden Wünsche. Krummstängel sind sie, Unkraut, das niemand pflücken würde. Wilder Wein vielleicht. Unauffällig genug, vernichtet sie selten jemand und wenn, dann bleiben oft Haftfüßchen an den Mauern hängen, Pünktchen als Zeichen für womöglich folgende Texte.
So träumte Angela trotzdem von Stefan, verworren und wild, sie erwachte am Morgen mit Unruhe in den Händen, aber in ihrem Bauch war Hunger, den Essen nie stillen kann. Hunger nach Liebe. Ein Zerren und Ziehen, rote Gedanken an Haut an Haut, Nase an Hals, Lippen auf Brust, Kaffee zu zweit, dass ihr Schweiß auf die Stirn trat, als habe sie Fieber und als sie ihn wegwischte, waren es Tränen. So konnte es nicht weitergehen. Morgens sind die Gedanken am ehrlichsten, und sie trieben Angela zum Handy, sie schrieb ihm, sie müsse ihn sehen, gleich heute Abend. Es sei wichtig. Ferienzeit, eine Woche war ihre Tochter diesmal beim Vater. Wenn nicht jetzt – wann dann?
Bereits um neun, sie hatte die ersten Aufträge getippt, löschte Angela mit einem einzigen falschen Tastendruck die Arbeit der ersten Stunde. Das Handy war stumm, keine Nachricht. Gegen Zehn war sie einigermaßen auf dem Laufenden, der Chef schien nichts von ihrer Unruhe zu bemerken. Nur einmal, als sie das Licht anschaltete statt den Kaffeeautomaten zu aktivieren und ein zweites Mal, als sie behutsam ihren Tee in die Stechpalme goss, während die Gießkanne auf ihrem Schreibtisch wartete, da sah er sie tadelnd an und schüttelte den Kopf. Ein guter Chef. Geschieden, vielleicht wusste er mehr, als ihn anging, aber er hatte den Vorzug des Schweigens an sich – der ihm in der Ehe womöglich zum Verhängnis geworden war. Oh! Endlich kam eine Nachricht:
»Papa Sneakers«, daneben alles gelb und rosa von Smileys.
Die Schuhe, aha. Die Tochter. Soso. Cool. Wo blieb Stefans Antwort? Mittags kam sie. Er wolle ohnehin ins Kino, ein Film über einen griechischen Einödbauern und dessen Leben inmitten seiner Ziegen. Erst dachte Angela, es sei ein Scherz, aber dann fiel ihr ein, dass dieses Kino, in das er wollte, tatsächlich solche Filme im Programm hatte. Originalton, keine Handlung, Ziegen eben. Egal. Umso besser, Kino! Der Tag verging etwas flotter, denn Angela überlegte krampfhaft, was sie anziehen sollte. Immer schneller verrann die Zeit, als sie endlich zu Hause angekommen war. Das Kleid mit dem Rutsch-Träger, einen himmelblauen BH, kein Parfüm. Halt. Doch Parfüm, etwas Engelsgleiches! Inzwischen kam die nächste sms ihrer Tochter an. Fotos der neuen Sneakers, Lobeshymnen auf Papa. Angela entschied sich daraufhin für hohe Schuhe, die man leicht abstreifen kann. Die Haare zum lockeren Zopf geflochten, wasserfestes Augen-Makeup.
»Es ist wichtig«, hatte sie geschrieben und allmählich ängstigte Angela die eigene Ankündigung. Aber es gab immer Rettung: Im Wohnzimmerschrank lagerten Ellies Gummibärchen. Angela riss eine Tüte heraus («extrasaure Pommes«) und stellte fest, dass die Farbe in etwa ihrem eigenen Gemütszustand glich: Neongrün. Sie öffnete die Packung und stopfte den Inhalt in ein Seidentuch, band es mit Haargummi zu und legte zugleich die Worte für die Überreichung zurecht:
»Die wollte ich dir unbedingt geben. Selbstgemachte Gummibärchen!«, wobei sie beschloss, noch kurz zu googeln, wie man die Dinger überhaupt herstellt. Es gibt nichts, was es nicht gibt.