Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
28 kurze Geschichten ganz aus dem Leben. Sie haben meine Geschichten also zur Hand genommen: Schauen Sie nach der Lektüre auch mit meinen Augen auf Ihre eigene Geschichte. Vielleicht erscheint sie Ihnen anders als zuvor, nach diesen neunundzwanzig Short Stories. Oder es bleibt sogar ein ganz anderer Blick auf das Dasein zurück – womöglich ein Lächeln, sicher jedoch eine veränderte Perspektive auf den Zufall oder das, was wir leichthin dafür halten. Eventuell sogar ein Schillern von Heiterkeit. Und hoffentlich Freude über das unscheinbare, vermeintlich nicht sichtbare Glück.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 166
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Nehmen Sie doch mal mich
28 kurze Geschichten
Erzählungen
Lisa Weichart
Erstausgabe im November 2017
Alle Rechte bei Verlag/Verleger
Copyright © 2017
Fehnland-Verlag
26817 Rhauderfehn
Dr.-Leewog-Str. 27
www.fehnland-verlag.de
Cover: Scandals under Cover
Zeichen
Zemmiphobia
Perlmutt
Kindlein
Alles gut
Freude
Ameisen
Endlich
Schweineglück
Gewitternacht
Bringt Glück
Neues Leben
Nachmittagsspitzen
Schwarzwaldvoodoo
Westminster
Leiderleider
Wetten
Blattschuss
Erdbeertage
Nehmen Sie doch mal mich
Positiv
Löwen-Zähne
Im Wandel
Einsturzgefahr
Komm
Brauner
Der Duft des Herbstes
Bücherfreunde
Aus dem winzigen, glühenden Orange der Räucherstäbchenspitze stiegen erste Fäden auf wie aus einem winzigen Mund, der ausatmet, bevor er mit dem Erzählen beginnen will. Erst mal die Füße hochlegen, zusehen, entspannen. Laura und ihr langer Tag im Archiv, fast spürte sie den Staub der Akten, den es gar nicht gab, denn sie war bis vor zwei Stunden nahezu ausschließlich mit Computerarbeiten beschäftig gewesen. Recherchen, Statistik, ach – einfach die Beine auf den Stuhl legen und dem Rauch zusehen. Staub geht gar nicht, ein »No Go«. Ein sauberes Wort gegen all den Dreck, wie überhaupt die Worte auf Englisch hygienischer klingen, nicht so ordinär nach Umgangssprache.
Musik gab es nicht, denn der Fernseher, oder was auch immer der Alte ein Stockwerk höher abends in voller Lautstärke anwarf, war nicht zu hören. Nur der Regen am Fensterbrett. Was könnte man alles heraushören, aber Laura wollte nicht hören heute, sie wollte nur sehen. Die Kristallkugel glich einem Briefbeschwerer, aber es war nichts darin eingeschlossen, nicht einmal die winzigste Luftblase (von Blumen oder anderem Unsinn ganz zu schweigen), denn er entstammte Eso-Karm, dem Wahrsagershop aus dem Internet. Heutzutage gibt es in der Stadt keine richtigen Läden mehr für solche Dinge. Die Stadt ist schmutzig, ungeordnet, die Fragen der Leute sind unpräzise, willkürlich und gewöhnlich. Erst neulich war Laura zum Schuhkauf »lokal« gezwungen gewesen. Schuhe gab es nur im Geschäft, nicht online. Leider. Zumindest die Modelle, welche für Laura in Frage kamen. Es hatte Stunden gedauert, bis sie endlich von einer mondgesichtigen Zwanzigjährigen beraten worden war (was sie eigentlich peinlichst vermieden hatte, war eingetreten). Ein Mädchen mit makellosem Lidstrich und Lippenstift, der nicht verrann, sondern die unverschämte Glattheit der ganzen Person noch untermalte. Achtlos auf die Schnelle geschminkte Konturen, die trotzdem fein wirkten, mit einer liederlichen Prallheit prahlend. Zu flachen Absätzen hatte sie geraten, es waren beinahe sogenannte Gesundheitsschuhe gewesen, die Laura absolut nicht wollte. Nun taten ihr die Füße weh. Sie betrachtete ihre Flauschsocken. Viereckig an den Zehen, wie kam das? Sie musste den linken rechts und umgekehrt angezogen haben, anders war dieser Fauxpas nicht erklärbar. Sofort wechseln. Besser.
Das Räucherstäbchen würde Asche verlieren, aber das machte nichts. Darunter hatte Laura einen Untersetzer gelegt, der dort endete, wo der Staub landen würde. Sicherheitshalber sogar einen Zentimeter weiter. Sie hätte daran denken sollen, einen passenden Untersetzer gleich mit zu bestellen, nun hatte sie auf das Porzellantablett zurückgreifen müssen. Ausgerechnet das Ding von damals, es hatte Blüten. Laura hasste Blüten, aber sie war auch praktisch veranlagt, so war das Teil nun auf dem Tisch. Vieles hasste sie mittlerweile, zum Beispiel florale Muster, betont feminine Kleidung, Spitzen jedweder Art, noch mehr jedoch Dysfunktionalität und Unpräzision als solche.
Nichts außer ihrer eigenen Nase erschien in der Kugel. Ein durch die Wölbung des Glases kartoffeliger Knödel ohne Aussage von Wert. Laura schob die schwarze Kerze in Richtung Räucherwerk, es war eine Frage des Lichteinfallwinkels, klar.
»Erscheine!«, befahl sie, räusperte sich, um ihre Stimme von ihrer lächerlichen Hoffnung freizubekommen. Dann, schneidend:
»Erscheine!«
Warum nicht. Es war ein Zeitvertreib, nicht mehr. Und es würde tiefgründiger ablenken als die flache Bildschirmglotzerei. Nutzlos, ja – aber durchaus geeignet, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Was auch immer erscheinen würde, es wäre Abwechslung vom Alltäglichen. Laura kam sich besonders vor. Machtvoll auf eine Weise, die sie nicht erklären oder analysieren musste. Nicht müssen – nur warten.
Aber die Kristallkugel ließ lediglich die Kartoffelnase flimmern, als wolle sie zu Brei zerfließen, während das Regengetrommel zunahm. Beharrlich klapperte es seine Besserwisserei auf unsichtbaren Tasten vor sich hin. Ratschläge der Natur, das fehlte noch. Die Natur hatte immer einen Rat zur Hand, eine dieser sanftmütigen Weisheiten, wie sie auf virtuellen Grußkarten sprießen. »Lebe heute« oder »Wir lieben nur mit dem Herzen«, Geplätscher, Schönrednerei. Irgendwie war Laura satt, und doch schwelte der Appetit auf Zucker in ihr. Besser Schokoladenlust als Männerfrust, sagte sie oft. War der Spruch auch aus einem Forum für traurige Frauen? Wieso eigentlich traurig, sie war keineswegs betrübt. Ihr Lächeln war das letzte, was sie – einer Chilischote nicht unähnlich – in der Kugel wahrnahm, dann nahm das Geklopfe überhand. Es musste noch Haselnuss-Milchschoki im Kühlschrank sein. Man sollte sie vor dem Genuss herausnehmen, damit sie zartschmelzend schmeckt. Dann, später, oder doch gleich, sofort?
Während sie vor sich hin murmelte, das Geklapper übertönend, das der Regen wohl zusätzlich einflocht, nur um sie zu ärgern, da dachte sie in einer Nebenspur auch an Himbeerjoghurt oder das Stück Käsesahnetorte nebenan. An die Pralinen im Wohnzimmerschrank und an das gesunde Müsli samt seinem Anteil an Weizenkleie. Das letzte Wort schnitt regelrecht in die Zunge. Weizenkleie. Lieber Kapitulation.
Curt ließ sein Auge über die Tapeten-Ornamente zur Zimmerdecke wandern, es konnte den Schleifen folgen. Gut. Das zweite Auge war zugeschwollen und klebte, und indem Curt Schritt für Schritt nüchterne Kontrollgedanken über seinen gesamten Körper ziehen ließ, diagnostizierte er weitere Verletzungen. Dieses nüchterne Vorgehen betäubte zwar den Schmerz nicht, aber es hatte zu erfolgen, um Meldung machen zu können. Korrekte Meldung an die Zentrale, sein Gehirn. Eigentlich hatte er nur das Radio anschalten wollen, wie jeden Abend exakt eine Minute, bevor die Nachrichten gesendet wurden. Er musste gestolpert sein, aber das war jetzt zweitrangig, denn es galt in erster Linie, nun den Befehl abzuwarten – diesmal würde er auch erfolgen. Und er kam: Endlich, mit siebenundachtzig Jahren – und Curt war bereit zum letzten Teil des Kampfes, so nannte er das Leben häufig für sich selbst. Wer hörte ihm schon ernsthaft zu außer seinem Freund, dem Notar Gisbert, aber auch dieser war nicht mehr mobil genug für Besuche und zu schwerhörig für Telefonate. Das Testament war in trockenen Tüchern, Curt hatte alles dem Kriegsgräberverein vermacht. Wem sonst. Sein einziger Sohn Carl war Maler, nicht einmal ordentlicher Wandmaler, nein: Kunstmaler. Kein einziges Bild zeugte hier von seinem Gekleckse. Curts Blick verharrte kurz auf der Fotografie von seiner Ernennung zum Generalmajor.
Lobenswert, wie klar sein Verstand trotz der Schmerzen funktionierte. Nicht die üblichen Schmerzen im Kreuz – nein, bei Weitem brutaler und in Verbindung mit einem Geruch wie Angst. Blut zum würdigen Abgang, natürlich. Er stöhnte. Hätte er doch das Fenster geschlossen, zu dem kühlen Geruch von Schweiß waberte ein Gestank wie Weihrauch oder Räucherstäbchen, er kannte das Zeug vom Physiotherapeuten. Dort wollte er auch nicht mehr hin, dieses verweichlichte Getue um seinen Körper ließ, kam ihm jetzt besonders sinnlos vor. Das Zeug kam von unten herauf, diese Frau, die unter ihm wohnte, war ihm zuwider. Keine war wie seine verstorbene Frau Margarethe (er hatte sie zeitlebens mit vollem Namen angesprochen, keine Abkürzungen!), sie hatte ihm als Einzige wahrhaft gedient. Vorgewärmte Schuhe, pochierte Eier, niemals versalzen. Eine Frau, wie sie im Buche steht. Er dachte an sie, bis ihm der Gedanke unerträglich wurde, denn er hing mit dem Umstand zusammen, dass er ihr sozusagen in absehbarer, immer kürzer werdender Zeit folgen würde, wohin auch immer. Verbrannt wollte er werden. Asche zu Asche, er hatte es Gisbert übertragen, dafür Sorge zu tragen. Alles geregelt, alles korrekt. Fast hätte Curt versucht, Haltung anzunehmen, doch er ließ es.
Stattdessen schleuderte er den Notruf-Anhänger weit von sich (er war beim Sturz ohnehin vom Halsband abgerissen, ein weiteres Indiz für den rechten Zeitpunkt zum letzten Abschied) und rückte den unversehrten Arm näher an die Heizungsrippen. Um Hilfe zu rufen wäre das Letzte, was er tun würde. Seine Stunde hatte geschlagen, obwohl er nicht ganz sicher war, ob die Pumpe es nicht doch noch eine Zeit lang machen würde – selbst ohne Tabletteneinnahme, die überfällig war, er nahm sie stets nach den Nachrichten, zur Beruhigung gegen den unsagbaren Schwachsinn, der allem weichgespülten Gedankengut heutzutage anhaftet. Allmählich gewöhnte sich Curt an das Stechen im Rücken und den Schmerz, der auf ihm lag, als wolle er gleich beginnen, sich lasziv weiter zu bewegen. Nur das Atmen brächte den flachen Schatten der Endgültigkeit mit jedem Zug näher. Es ging zu Ende. So sagt man doch. Es geht zu Ende. Curt klopfte mit dem Siegelring der heilen Hand gegen die Metallrippen des Heizkörpers. All diese Gedanken zu morsen: eine Idee von Größe und ein letztes, ehrenvolles Zeichen militärischer Disziplin. Hier gab es noch Disziplin, hier in der Küche, die jetzt zum Stützpunkt wurde, während der Feind aufrückte.
»Kapitulation«, begann Curt, und sein Finger folgte eisern, der Ring erwies sich als geeignet. Er trug ihn schon seit Jahrzehnten, in guten wie in schlechten Tagen, aber dass er ihm diesen Ehrendienst erweisen würde – erstaunlich. Pause. Man musste am anderen Ende entziffern, was er signalisierte. Dann würden die Ereignisse rasch ihren geordneten Lauf nehmen. Der Tod liest gründlich, entziffert jeden Buchstaben mit Genuss. Plötzlich die höchst sentimentale Erinnerung an ein Maisfeld, wie darüber der kleine Flugdrache aufsteigt, die Leine reißt. Ein Heimweg mit Tränen, dann der Geschmack von Malzbonbons aus den bröseligen Schürzentaschen seiner Mutter. Ein Kuss, eine weiche Umarmung. Malz als etwas Echtes, vielleicht einzig Wahres.
Curt morste »Blutverlust. Herzschlag unregelmäßig« ans Gehirn.
Sie war eine Heilige gewesen, immer die Gebete um Frieden. In diese modernen Zeiten hätte Mutter gut gepasst mit ihrem unbeugsamen Wunsch nach Versöhnung, Liebe, es war nicht einmal so sehr der Glaube. Oder doch? Immer, wenn Vater ihn gezüchtigt hatte, war Curt seiner Mutter fern geblieben, aber sie war zu ihm in die Kammer gekommen und hatte ihm Kreuzzeichen auf die Stirn gemacht. Ihre Finger waren sanfte Flügel, obwohl sie vor Rauheit auf der Haut kratzten, wo jetzt das Blut rann.
»Vater…«, begann Curt, weiter zu morsen.
Laura musste ihr Gemurmel beenden, sie brauchte nun definitiv etwas Süßes. Das Getrommel, die Tropfen, die zunehmende Finsternis, all das war ein guter, ein wichtiger Anlass dafür, es war vernünftig, jetzt zu naschen. Sicher vernünftig. Was hatte sie da überhaupt vor sich hin geflüstert? Nicht ihre Art, so etwas Dummes. Sie wiederholte (nur um sicher zu sein, um was es sich eigentlich handelte, sozusagen ein kleines »Repeat« vom inneren Voice Recorder):
»…der du bist im Himmel«,
Was?! Was zum Teufel …
Wieso »der du bist«, es hieß einfach und schlicht »Vater unser im Himmel«, woher kam dieses »der du bist«? Sie betete das gesamte Vaterunser, während sie sich zeitgleich wunderte, dass sie noch den gesamten Text erinnerte. Es war Jahrzehnte her, dass sie ihn gesprochen hatte. Fremd und doch vertraut war er.
Nebel wirbelte vor dem Fenster um die Straßenlaterne, das Räucherstäbchen war neben dem Untersetzer zerbröselt, es roch ganz schwach nach Vergänglichkeit, beinahe nach Blumen, die zu lange in der Vase gestanden hatten. Der falsche Duft, wieso hatte sie sich das Zeug nur schicken lassen! Alles an Laura war zu eng mit einem Mal. Sie riss die Bluse auf, nahm die Spange aus dem Haar und stand auf.
»Dein Reich komme, wie im Himmel, so auch auf Erden«.
Woher dieses »auch«? Auch, auch, auch. Wie vielen Lauras mochte es genauso gehen wie ihr, und welche von ihnen würde jetzt auch weinen? Lange nicht mehr geheult, konnte sie noch denken, dann packte sie der Jammer zur Gänze.
Der Regen applaudierte. Fast wie bei Lauras Rede anlässlich des Amtsabschiedes von Herrn Meixner, ein Höflichkeitsgeklatsche, durchbrochen von einer feinen Spur Spott. Genau so klopften die Tropfen, aber es lag etwas Wehmütiges darin, das Abschieden innewohnt. Dem Abschied von ihrem Geliebten, natürlich wieder im Schoße seiner Frau (zum Beispiel). Nein, nicht nur zum Beispiel, er war es. Der Abschied war es, er tat mit einem Mal so weh, als wäre er nicht nur einseitig und per sms erfolgt. Sie spürte die Umarmung, als wäre sie tatsächlich erfolgt, fühlte seinen Körper an ihrem, seinen Schmerz, den es überhaupt nicht gab. Sie war sich nun sicher. Es gab den Schmerz nur für sie, Laura. Und er musste ein Ende haben. Laura schaltete das Licht an, suchte den Schirm und machte sich auf den Weg nach draußen, in die Stadt, ins Leben – egal, was es durcheinanderbringen würde, nur fort von der Einsamkeit hier. In der Wohnung brannte heute keine Lampe, Laura registrierte es von der Straße aus. Der Nebel hatte sich dort, wo sonst der ockerfarbene Lichtkegel stand, verklumpt. Wie zu einem Geist.
»Amen«, sie wusste nicht, warum das Wort in seiner Endgültigkeit derart wärmte.
Die Tränen kamen, so fest Carla auch die Schneidezähne gegen die Unterlippe drückte, wie prall auch der Hautwulst nach innen schwoll, so schnell sie auch über das Glatt züngelte – hin und her rollte ein Schmerz. Die Tränen tropften aufs Papier. Kitschig fand Carla diesen Umstand, filmreif für einen Werbespot über Taschentücher oder Briefpapier. Hauptsache, es würde trotzdem brennen. Vielleicht eher ein Werbefilmchen für Kaminöfen? Aber dreihundert Seiten, in den letzten acht Jahren mit dem angekauten Schulfüller geschrieben, einfach den Flammen zu überlassen – wollte sie es wirklich tun? Andererseits war genau dieses geduldige Papier daran schuld, dass sie nie etwas gegen Christofs (sie suchte nach einem Wort) Attacken unternommen, sondern sie akribisch notiert hatte. Sie betrachtete den Deckel der Schachtel mit dem Stapel von losem Schreibpapier. Dort hätte ihr Mann nie gesucht: »Heizdecke Medusa«. Der ursprüngliche Inhalt war längst verschlissen und weit entfernt von ihrem Haus entsorgt worden, damit Christof nicht wieder den Müll aus der Tonne holte und diese entsetzlichen Reden hielt. Wie bei der Sache mit dem Toaster, welchen Carla (wie dumm war sie damals gewesen!) in Tüten gewickelt und ganz unten in die Aschentonne gelegt hatte, darüber Schichten von Katzenstreu, Zigarettenkippen und Putzlappen. Christof hatte den Toaster mit der Instinktsicherheit eines Goldgräbers ausgebuddelt und samt Kaffeesatz und Kartoffelschalen in die Küche getragen (das stand auf Seite achtundneunzig, die Tinte war verschmiert, damals hatte Carla beim Schreiben geheult). Diese Schwäche war im Laufe der Zeit verschwunden, um einer gewissen Konzentration zu weichen, welche die Handschrift verbessert zu haben schien. Nie war ihr das aufgefallen, erst jetzt, wo das Werk vernichtet werden musste.
Der Toaster war operiert worden. Reparatur wäre das falsche Wort, Carla hatte damals tagelang den Fortschritt der Wiederherstellung beobachtet. Zärtlich ging Christof mit all seinen »Patienten« um, als gäbe es keine Anästhesie. Aber wenn sie stromlos waren, spürten sie wohl keinen Schmerz, dachte Carla. Einmal (Seite hundertzwölf) hatte sie ihn mit dem Stabmixer ertappt. Gestreichelt hatte er ihn, das Schneidekreuzchen lag auf dem Tisch, während das Gehäuse auf Christophs Oberschenkel lag. Und als sie versucht hatte, einfach so zu tun, als habe sie nichts gesehen, überhaupt nicht bemerkt, wie er die Lippen zum Kuss für den Stecker spitzte, den er bereits in den wurstähnlichen und doch so feinmotorischen (das Wort liebte er besonders, »Feinmotorik«) Fingern hielt. Da hatte er ihr in die Augen gestarrt. Sein Blick hatte sie getroffen wie eine glühende Nadel. Sie begann, diese Blicke zu fürchten und zu vermeiden, dass er sie überhaupt aussandte, indem sie zu Boden blickte, wenn sich ähnliche Situationen anbahnten. Dann spürte sie die Augen jedoch auf sich, und das war noch schlimmer, denn sie wurden augenblicklich zu Eishänden auf der Seele, ein Umstand, der den Tag einfror und verdunkelte wie einen See, auf dem Christofs Schweigen Ringe bildete, die bis zum Grund sanken, um dort das Moos zu vergiften, die Fische zu versäuern und zu etwas abgrundtief Bösem zu wuchern.
Auf der Waschmaschine liebte Christof seine Frau am heftigsten. Zumindest nannte Christof das so, obwohl es mehr mit Schleuderbewegungen und Schmerzen zu tun hatte als mit Liebe. Sie waren ab Seite zweihundert dokumentiert, die Stiche mit dem Schraubenzieher, mit der Pinzette; das Blut war mit der Zeit nicht mehr so schlimm, aber irgendwann hatte Carola den Gedanken, sie könnte es statt Tinte benutzen für ihre Notizen. Natürlich tat sie das nicht, wozu auch. Aber der Gedanke war schön, fast wie die Idee vom Pakt mit dem Teufel. Auch der liebt die Menschen auf sonderliche Weise.
Die Kleine Angst kam zurück, Carla merkte es an dem inneren Zittern. Es war die wohlbekannte Miniatur-Angst, die – einem Geruch ähnlich – daher kriecht, um sich dann zum Gestank auszubreiten. Etwas wie Pfeifengeruch oder Geschmortes. Ganz leise, der Furcht ähnlich, die einen befällt, wenn einem schwant, dass man womöglich den Hausschlüssel verloren hat, weil man ihn nicht in der Jackentasche ertastet. »Psssst, ich bin wieder da, die Kleine Angst! Maßgeschneidert für dich allein, denn das Gemeinste an mir ist, dass ich keine lächerliche Phobie bin, die es lediglich zu überwinden gilt, nein: Ich bin real! Du kannst erst nach dem Schlüssel suchen, wenn du dort angekommen bist, wo du ihn verlegt haben könntest – und das wird dauern! Bis dahin drehe ich mich als Bleischeibe auf deinen Eingeweiden, daher das Zittern, das dir niemand nehmen kann, der Schweiß, der wartet, auszubrechen und inzwischen nach innen fließt bis in den Bauch, wo er dir Übelkeit verursacht, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Niemand hilft dir, kann dir helfen; ich gehöre dir und du mir ganz allein!«
Carla riss den Papierstoß aus der Schachtel, öffnete die Ofentür und schob ihn hinein. Auseinander fielen die letzten Jahre. Endlich klickte das Feuerzeug. Die Blätter brannten sofort, und schneller als gedacht verwandelten sie sich zu Asche. Am wichtigsten war, dass Carla gleich jetzt, noch mit der Tränenstimme, die Leute anrief. »Christof… Schluchzen, Schnäuzen. Er wollte unbedingt rein.«
Die Angst war mit den Aufschreibungen verkohlt. Sie war ohnehin winzig gewesen im Vergleich zu dem Ereignis im Kino, zu Christofs Angst. Ausgerechnet ein harmloser Naturfilm, aber sie hatten das Kino fluchtartig verlassen müssen, zu peinlich war dieser Anfall von Christof beim Anblick der putzigen Tierchen gewesen. Na gut, Geschmackssache, diese Wesen. Aber seine Platzangst dazu, von der Carla schon wusste in Kombination mit seiner Phobie, ausgerechnet und einzig vor Nacktmullen – unglaublich. Den Mann am Nachbarsitz hatte er regelrecht niedergemäht auf seiner Flucht aus dem Saal, der Typ hatte geflucht vor Schmerz über den Tritt auf die Füße, beide Füße!
»Verzeihung, ihm ist übel«, hatte Carla gesagt, wie man sich auf der Flucht entschuldigt, wenn einem die Opfer zwar leidtun, aber man sie verletzt liegen lassen muss, jene Art von eigener Brutalität, die man an anderen so gerne verurteilt, wenn Kriege vorüber, Kämpfe nur noch Erzählungen sind. Später zu Hause Christofs Drohung, er würde ihr die Zunge herausschneiden, wenn sie jemandem von seiner (er nannte es so) »Unruhe« erzählen würde, die Nacht mit seinem Rasiermesser auf dem Radiowecker – Carla überlegte die Seitenzahl. Wie er im Schlaf geschrien hatte – sein Schweiß roch wie Öl und Lötzinn – gebrüllt hatte Christof und sich umher geworfen, dass sie sich schließlich in die Zudecke gewickelt auf den Boden neben das Bett gelegt hatte, damit ihr nichts entgehen konnte, sie aber dennoch geschützt war vor dem massigen Rotationskörper.
Nacktmulle zu googeln wäre zu riskant gewesen, er hätte es herausgefunden. Irgendwie schaffte er Dinge, die andere nicht konnten. Carla hatte Vergnügen in der Universitätsbibliothek. Die Gesichter der Lesenden, die Stille – Klugheit lag im Raum. Nach kurzer Suche fand Carla einen Bildband über Heterocephalus glaber, so der lateinische Name, und vergrub sich regelrecht darin. Sofort war sie fasziniert von den Tieren, die in unterirdischen Höhlensystemen der Halbwüsten Ostafrikas ein außergewöhnlich soziales Leben führen, erstaunlich schmerzunempfindlich sind und – wie der Name schon sagt – nahezu nackt. Die Ähnlichkeit der Wesen mit einem Penis (vor allem die lose am Körper liegende Faltenhaut verstärkt diesen Eindruck) bemerkte Carla durchaus, aber sie verschob die Wahrnehmung, denn die Verbindung mit Christof und allem, was an ihm hing oder stand, zwang sie dazu.