Nehmen Sie doch mal mich ... - Lisa Weichart - E-Book

Nehmen Sie doch mal mich ... E-Book

Lisa Weichart

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Beschreibung

28 kurze Geschichten ganz aus dem Leben. Sie haben meine Geschichten also zur Hand genommen: Schauen Sie nach der Lektüre auch mit meinen Augen auf Ihre eigene Geschichte. Vielleicht erscheint sie Ihnen anders als zuvor, nach diesen neunundzwanzig Short Stories. Oder es bleibt sogar ein ganz anderer Blick auf das Dasein zurück – womöglich ein Lächeln, sicher jedoch eine veränderte Perspektive auf den Zufall oder das, was wir leichthin dafür halten. Eventuell sogar ein Schillern von Heiterkeit. Und hoffentlich Freude über das unscheinbare, vermeintlich nicht sichtbare Glück.

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Seitenzahl: 166

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Nehmen Sie doch mal mich

28 kurze Geschichten

Erzählungen

Lisa Weichart

Erstausgabe im November 2017

Alle Rechte bei Verlag/Verleger

Copyright © 2017

Fehnland-Verlag

26817 Rhauderfehn

Dr.-Leewog-Str. 27

www.fehnland-verlag.de

Cover: Scandals under Cover

Inhalt

Zeichen

Zemmiphobia

Perlmutt

Kindlein

Alles gut

Freude

Ameisen

Endlich

Schweineglück

Gewitternacht

Bringt Glück

Neues Leben

Nachmittagsspitzen

Schwarzwaldvoodoo

Westminster

Leiderleider

Wetten

Blattschuss

Erdbeertage

Nehmen Sie doch mal mich

Positiv

Löwen-Zähne

Im Wandel

Einsturzgefahr

Komm

Brauner

Der Duft des Herbstes

Bücherfreunde

Zeichen

Aus dem win­zi­gen, glü­hen­den Oran­ge der Räu­chers­täb­chen­spit­ze stie­gen er­ste Fä­den auf wie aus ei­nem win­zi­gen Mund, der aus­at­met, be­vor er mit dem Er­zäh­len be­gin­nen will. Erst mal die Fü­ße hoch­le­gen, zu­se­hen, ent­span­nen. Lau­ra und ihr lan­ger Tag im Ar­chiv, fast spür­te sie den Staub der Ak­ten, den es gar nicht gab, denn sie war bis vor zwei Stun­den na­he­zu aus­schließ­lich mit Com­pu­ter­ar­bei­ten be­schäf­tig ge­we­sen. Re­cher­chen, Sta­tis­tik, ach – ein­fach die Bei­ne auf den Stuhl le­gen und dem Rauch zu­se­hen. Staub geht gar nicht, ein »No Go«. Ein sau­be­res Wort ge­gen all den Dreck, wie über­haupt die Wor­te auf Eng­lisch hy­gie­ni­scher klin­gen, nicht so or­di­när nach Um­gangs­spra­che.

Musik gab es nicht, denn der Fern­se­her, oder was auch immer der Al­te ein Stock­werk hö­her abends in vol­ler Lauts­tär­ke an­warf, war nicht zu hö­ren. Nur der Re­gen am Fens­ter­brett. Was könn­te man alles her­aus­hö­ren, aber Lau­ra woll­te nicht hö­ren heu­te, sie woll­te nur se­hen. Die Kris­tall­kugel glich ei­nem Brief­be­schwe­rer, aber es war nichts da­rin ein­ge­schlos­sen, nicht ein­mal die win­zigs­te Luft­bla­se (von Blu­men oder an­de­rem Un­sinn ganz zu schwei­gen), denn er ent­stamm­te Eso-Karm, dem Wahr­sa­gers­hop aus dem In­ter­net. Heut­zu­ta­ge gibt es in der Stadt kei­ne rich­ti­gen Lä­den mehr für sol­che Din­ge. Die Stadt ist schmut­zig, un­geord­net, die Fra­gen der Leu­te sind un­prä­zi­se, will­kür­lich und ge­wöhn­lich. Erst neu­lich war Lau­ra zum Schuh­kauf »lo­kal« ge­zwun­gen ge­we­sen. Schu­he gab es nur im Ge­schäft, nicht on­li­ne. Lei­der. Zu­min­dest die Mo­del­le, wel­che für Lau­ra in Fra­ge ka­men. Es hat­te Stun­den ge­dau­ert, bis sie end­lich von ei­ner mond­ge­sich­ti­gen Zwan­zig­jäh­ri­gen be­ra­ten wor­den war (was sie eigent­lich pein­lichst ver­mie­den hat­te, war ein­ge­tre­ten). Ein Mäd­chen mit ma­kel­lo­sem Lids­trich und Lip­pen­stift, der nicht ver­rann, son­dern die un­ver­schäm­te Glatt­heit der gan­zen Per­son noch un­ter­mal­te. Acht­los auf die Schnel­le ge­schmink­te Kon­tu­ren, die trotz­dem fein wirk­ten, mit ei­ner lie­der­li­chen Prall­heit prah­lend. Zu fla­chen Ab­sät­zen hat­te sie ge­ra­ten, es waren bei­nahe so­ge­nann­te Ge­sund­heits­schu­he ge­we­sen, die Lau­ra ab­so­lut nicht woll­te. Nun ta­ten ihr die Fü­ße weh. Sie be­trach­te­te ih­re Flausch­so­cken. Vier­eckig an den Ze­hen, wie kam das? Sie muss­te den lin­ken rechts und um­ge­kehrt an­ge­zo­gen ha­ben, an­ders war die­ser Faux­pas nicht er­klär­bar. So­fort wech­seln. Bes­ser.

Das Räu­chers­täb­chen wür­de Asche ver­lie­ren, aber das mach­te nichts. Da­run­ter hat­te Lau­ra ei­nen Un­ter­set­zer ge­legt, der dort en­de­te, wo der Staub lan­den wür­de. Si­cher­heits­hal­ber so­gar ei­nen Zen­ti­me­ter weiter. Sie hät­te da­ran den­ken sol­len, ei­nen pas­sen­den Un­ter­set­zer gleich mit zu be­stel­len, nun hat­te sie auf das Por­zel­lan­ta­blett zurück­grei­fen müs­sen. Aus­ge­rech­net das Ding von da­mals, es hat­te Blüten. Lau­ra hass­te Blüten, aber sie war auch prak­tisch ver­an­lagt, so war das Teil nun auf dem Tisch. Vieles hass­te sie mitt­ler­wei­le, zum Bei­spiel flo­ra­le Mus­ter, be­tont fe­mi­ni­ne Klei­dung, Spit­zen jed­we­der Art, noch mehr je­doch Dys­funk­tio­na­li­tät und Un­prä­zi­sion als sol­che.

Nichts außer ih­rer ei­ge­nen Na­se er­schien in der Kugel. Ein durch die Wöl­bung des Gla­ses kar­tof­fe­li­ger Knö­del oh­ne Aus­sage von Wert. Lau­ra schob die schwar­ze Ker­ze in Rich­tung Räu­cher­werk, es war ei­ne Fra­ge des Licht­ein­fall­win­kels, klar.

»Er­schei­ne!«, be­fahl sie, räu­sper­te sich, um ih­re Stim­me von ih­rer lä­cher­li­chen Hoff­nung frei­zu­be­kom­men. Dann, schnei­dend:

»Er­schei­ne!«

Wa­rum nicht. Es war ein Zeit­ver­treib, nicht mehr. Und es wür­de tief­grün­di­ger ab­len­ken als die fla­che Bild­schirm­glot­ze­rei. Nutz­los, ja – aber durch­aus ge­eig­net, um sich auf an­de­re Ge­dan­ken zu brin­gen. Was auch immer er­schei­nen wür­de, es wä­re Ab­wech­slung vom All­täg­li­chen. Lau­ra kam sich be­son­ders vor. Macht­voll auf ei­ne Wei­se, die sie nicht er­klä­ren oder ana­ly­sie­ren muss­te. Nicht müs­sen – nur war­ten.

Aber die Kris­tall­kugel ließ le­dig­lich die Kar­tof­fel­na­se flim­mern, als wol­le sie zu Brei zer­flie­ßen, wäh­rend das Re­gen­ge­trom­mel zu­nahm. Be­harr­lich klapp­er­te es sei­ne Bes­ser­wiss­erei auf un­sicht­ba­ren Tas­ten vor sich hin. Rat­schlä­ge der Natur, das fehl­te noch. Die Natur hat­te immer ei­nen Rat zur Hand, ei­ne die­ser sanft­mü­ti­gen Weis­hei­ten, wie sie auf vir­tu­el­len Gruß­kar­ten sprie­ßen. »Le­be heu­te« oder »Wir lie­ben nur mit dem Her­zen«, Ge­plät­scher, Schön­red­ne­rei. Ir­gend­wie war Lau­ra satt, und doch schwel­te der Ap­pe­tit auf Zu­cker in ihr. Bes­ser Scho­ko­la­den­lust als Män­ner­frust, sag­te sie oft. War der Spruch auch aus ei­nem Fo­rum für trau­ri­ge Frau­en? Wie­so eigent­lich trau­rig, sie war kei­nes­wegs be­trübt. Ihr Lä­cheln war das letz­te, was sie – ei­ner Chili­scho­te nicht un­ähn­lich – in der Kugel wahr­nahm, dann nahm das Ge­klop­fe über­hand. Es muss­te noch Ha­sel­nuss-Milch­scho­ki im Kühl­schrank sein. Man soll­te sie vor dem Ge­nuss her­aus­neh­men, da­mit sie zart­schmel­zend schmeckt. Dann, spä­ter, oder doch gleich, so­fort?

Wäh­rend sie vor sich hin mur­mel­te, das Ge­klap­per über­tö­nend, das der Re­gen wohl zu­sätz­lich ein­flocht, nur um sie zu är­gern, da dach­te sie in ei­ner Ne­ben­spur auch an Him­be­er­jog­hurt oder das Stück Kä­se­sah­ne­tor­te ne­ben­an. An die Pra­li­nen im Wohn­zim­mer­schrank und an das ge­sun­de Müs­li samt sei­nem An­teil an Weizen­kleie. Das letz­te Wort schnitt re­gel­recht in die Zun­ge. Weizen­kleie. Lie­ber Ka­pi­tu­la­tion.

Curt ließ sein Au­ge über die Ta­pe­ten-Or­na­men­te zur Zim­mer­de­cke wan­dern, es konn­te den Schlei­fen fol­gen. Gut. Das zwei­te Au­ge war zu­ge­schwol­len und kleb­te, und in­dem Curt Schritt für Schritt nüch­ter­ne Kon­troll­ge­dan­ken über sei­nen ge­sam­ten Körper zie­hen ließ, dia­gno­sti­zier­te er weite­re Ver­let­zun­gen. Die­ses nüch­ter­ne Vor­ge­hen be­täub­te zwar den Schmerz nicht, aber es hat­te zu er­fol­gen, um Mel­dung ma­chen zu kön­nen. Kor­rek­te Mel­dung an die Zen­tra­le, sein Ge­hirn. Eigent­lich hat­te er nur das Ra­dio an­schal­ten wol­len, wie je­den Abend ex­akt ei­ne Mi­nu­te, be­vor die Nach­rich­ten ge­sen­det wur­den. Er muss­te ge­stol­pert sein, aber das war jetzt zwei­tran­gig, denn es galt in er­ster Li­nie, nun den Be­fehl ab­zu­war­ten – dies­mal wür­de er auch er­fol­gen. Und er kam: End­lich, mit sieben­und­acht­zig Jah­ren – und Curt war be­reit zum letz­ten Teil des Kamp­fes, so nann­te er das Le­ben häu­fig für sich selbst. Wer hör­te ihm schon ernst­haft zu außer sei­nem Freund, dem No­tar Gis­bert, aber auch die­ser war nicht mehr mo­bil ge­nug für Be­su­che und zu schwer­hö­rig für Tele­fo­na­te. Das Tes­ta­ment war in tro­cke­nen Tü­chern, Curt hat­te alles dem Kriegs­grä­ber­ver­ein ver­macht. Wem sonst. Sein ein­zi­ger Sohn Carl war Ma­ler, nicht ein­mal or­dent­li­cher Wand­ma­ler, nein: Kunst­ma­ler. Kein ein­zi­ges Bild zeug­te hier von sei­nem Ge­kle­ckse. Curts Blick ver­harr­te kurz auf der Foto­gra­fie von sei­ner Er­nen­nung zum Ge­ne­ral­ma­jor.

Lo­bens­wert, wie klar sein Ver­stand trotz der Schmer­zen funk­tio­nier­te. Nicht die üb­li­chen Schmer­zen im Kreuz – nein, bei Wei­tem bru­ta­ler und in Ver­bin­dung mit ei­nem Ge­ruch wie Angst. Blut zum wür­di­gen Ab­gang, na­tür­lich. Er stöhn­te. Hät­te er doch das Fens­ter ge­schlos­sen, zu dem küh­len Ge­ruch von Schweiß wa­ber­te ein Ge­stank wie Weih­rauch oder Räu­chers­täb­chen, er kann­te das Zeug vom Phy­sio­thera­peu­ten. Dort woll­te er auch nicht mehr hin, die­ses ver­weich­lich­te Ge­tue um sei­nen Körper ließ, kam ihm jetzt be­son­ders sinn­los vor. Das Zeug kam von un­ten her­auf, die­se Frau, die un­ter ihm wohn­te, war ihm zu­wi­der. Kei­ne war wie sei­ne ver­stor­be­ne Frau Mar­ga­ret­he (er hat­te sie zeit­lebens mit vol­lem Na­men an­ge­spro­chen, kei­ne Ab­kür­zun­gen!), sie hat­te ihm als Ein­zi­ge wahr­haft ge­dient. Vor­ge­wärm­te Schu­he, po­chier­te Ei­er, nie­mals ver­sal­zen. Ei­ne Frau, wie sie im Bu­che steht. Er dach­te an sie, bis ihm der Ge­dan­ke un­er­träg­lich wur­de, denn er hing mit dem Um­stand zu­sam­men, dass er ihr so­zu­sa­gen in ab­seh­ba­rer, immer kür­zer wer­den­der Zeit fol­gen wür­de, wo­hin auch immer. Ver­brannt woll­te er wer­den. Asche zu Asche, er hat­te es Gis­bert über­tra­gen, da­für Sor­ge zu tra­gen. Alles ge­re­gelt, alles kor­rekt. Fast hät­te Curt ver­sucht, Hal­tung an­zu­neh­men, doch er ließ es.

Statt­des­sen schleu­der­te er den Not­ruf-An­hän­ger weit von sich (er war beim Sturz oh­ne­hin vom Hals­band ab­ge­ris­sen, ein wei­te­res In­diz für den rech­ten Zeit­punkt zum letz­ten Ab­schied) und rück­te den un­ver­sehr­ten Arm nä­her an die Hei­zungs­rip­pen. Um Hil­fe zu ru­fen wä­re das Letz­te, was er tun wür­de. Sei­ne Stun­de hat­te ge­schla­gen, ob­wohl er nicht ganz si­cher war, ob die Pum­pe es nicht doch noch ei­ne Zeit lang ma­chen wür­de – selbst oh­ne Ta­blet­ten­ein­nah­me, die über­fäl­lig war, er nahm sie stets nach den Nach­rich­ten, zur Be­ru­hi­gung ge­gen den un­sag­ba­ren Schwach­sinn, der al­lem weich­ge­spül­ten Ge­dan­ken­gut heut­zu­ta­ge an­haf­tet. All­mäh­lich ge­wöhn­te sich Curt an das Ste­chen im Rü­cken und den Schmerz, der auf ihm lag, als wol­le er gleich be­gin­nen, sich las­ziv weiter zu be­we­gen. Nur das At­men bräch­te den fla­chen Schat­ten der End­gül­tig­keit mit je­dem Zug nä­her. Es ging zu En­de. So sagt man doch. Es geht zu En­de. Curt klopf­te mit dem Sie­gel­ring der hei­len Hand ge­gen die Me­tall­rip­pen des Heiz­körpers. All die­se Ge­dan­ken zu mor­sen: ei­ne Idee von Grö­ße und ein letz­tes, ehren­vol­les Zeichen mi­li­tä­ri­scher Dis­zi­plin. Hier gab es noch Dis­zi­plin, hier in der Kü­che, die jetzt zum Stütz­punkt wur­de, wäh­rend der Feind auf­rück­te.

»Ka­pi­tu­la­tion«, be­gann Curt, und sein Fin­ger folg­te eisern, der Ring er­wies sich als ge­eig­net. Er trug ihn schon seit Jahr­zehn­ten, in gu­ten wie in schlech­ten Ta­gen, aber dass er ihm die­sen Ehren­dienst er­wei­sen wür­de – er­staun­lich. Pau­se. Man muss­te am an­de­ren En­de ent­zif­fern, was er sig­na­li­sier­te. Dann wür­den die Er­eig­nis­se rasch ih­ren geord­ne­ten Lauf neh­men. Der Tod liest gründ­lich, ent­zif­fert je­den Buch­sta­ben mit Ge­nuss. Plötz­lich die höchst sen­ti­men­ta­le Er­in­ne­rung an ein Mais­feld, wie da­rüber der klei­ne Flug­dra­che auf­steigt, die Lei­ne reißt. Ein Heim­weg mit Trä­nen, dann der Ge­schmack von Malz­bon­bons aus den brö­se­li­gen Schür­zen­taschen sei­ner Mutter. Ein Kuss, ei­ne wei­che Um­ar­mung. Malz als et­was Ech­tes, viel­leicht ein­zig Wah­res.

Curt mors­te »Blut­ver­lust. Herz­schlag un­re­gel­mä­ßig« ans Ge­hirn.

Sie war ei­ne Hei­li­ge ge­we­sen, immer die Ge­be­te um Frie­den. In die­se mo­der­nen Zeiten hät­te Mutter gut ge­passt mit ih­rem un­beugs­amen Wunsch nach Ver­söh­nung, Lie­be, es war nicht ein­mal so sehr der Glau­be. Oder doch? Immer, wenn Vater ihn ge­züch­tigt hat­te, war Curt sei­ner Mutter fern ge­blie­ben, aber sie war zu ihm in die Kam­mer ge­kom­men und hat­te ihm Kreuz­zeichen auf die Stirn ge­macht. Ih­re Fin­ger waren sanf­te Flü­gel, ob­wohl sie vor Rau­heit auf der Haut kratz­ten, wo jetzt das Blut rann.

»Vater…«, be­gann Curt, weiter zu mor­sen.

Lau­ra muss­te ihr Ge­mur­mel be­en­den, sie brauch­te nun de­fi­ni­tiv et­was Sü­ßes. Das Ge­trom­mel, die Trop­fen, die zu­neh­men­de Fins­ter­nis, all das war ein gu­ter, ein wich­ti­ger An­lass da­für, es war ver­nünf­tig, jetzt zu na­schen. Si­cher ver­nünf­tig. Was hat­te sie da über­haupt vor sich hin ge­flüs­tert? Nicht ih­re Art, so et­was Dum­mes. Sie wie­der­hol­te (nur um si­cher zu sein, um was es sich eigent­lich han­del­te, so­zu­sa­gen ein klei­nes »Re­pe­at« vom in­ne­ren Voi­ce Re­cor­der):

»…der du bist im Himmel«,

Was?! Was zum Teu­fel …

Wie­so »der du bist«, es hieß ein­fach und schlicht »Vater un­ser im Himmel«, wo­her kam die­ses »der du bist«? Sie be­te­te das ge­sam­te Vater­un­ser, wäh­rend sie sich zeit­gleich wun­der­te, dass sie noch den ge­sam­ten Text er­in­ner­te. Es war Jahr­zehn­te her, dass sie ihn ge­spro­chen hat­te. Fremd und doch ver­traut war er.

Ne­bel wir­bel­te vor dem Fens­ter um die Stra­ßen­la­ter­ne, das Räu­chers­täb­chen war ne­ben dem Un­ter­set­zer zer­brö­selt, es roch ganz schwach nach Ver­gäng­lich­keit, bei­nahe nach Blu­men, die zu lan­ge in der Va­se ge­stan­den hat­ten. Der fal­sche Duft, wie­so hat­te sie sich das Zeug nur schi­cken las­sen! Alles an Lau­ra war zu eng mit ei­nem Mal. Sie riss die Blu­se auf, nahm die Span­ge aus dem Haar und stand auf.

»Dein Reich kom­me, wie im Himmel, so auch auf Er­den«.

Wo­her die­ses »auch«? Auch, auch, auch. Wie vielen Lau­ras moch­te es ge­nau­so ge­hen wie ihr, und wel­che von ih­nen wür­de jetzt auch wei­nen? Lan­ge nicht mehr ge­heult, konn­te sie noch den­ken, dann pack­te sie der Jam­mer zur Gän­ze.

Der Re­gen ap­plau­dier­te. Fast wie bei Lau­ras Re­de an­läss­lich des Amts­ab­schie­des von Herrn Meix­ner, ein Höf­lich­keits­ge­klat­sche, durch­bro­chen von ei­ner fei­nen Spur Spott. Ge­nau so klopf­ten die Trop­fen, aber es lag et­was Weh­mü­ti­ges da­rin, das Ab­schie­den in­ne­wohnt. Dem Ab­schied von ih­rem Ge­lieb­ten, na­tür­lich wie­der im Scho­ße sei­ner Frau (zum Bei­spiel). Nein, nicht nur zum Bei­spiel, er war es. Der Ab­schied war es, er tat mit ei­nem Mal so weh, als wä­re er nicht nur ein­sei­tig und per sms er­folgt. Sie spür­te die Um­ar­mung, als wä­re sie tat­säch­lich er­folgt, fühl­te sei­nen Körper an ih­rem, sei­nen Schmerz, den es über­haupt nicht gab. Sie war sich nun si­cher. Es gab den Schmerz nur für sie, Lau­ra. Und er muss­te ein En­de ha­ben. Lau­ra schal­te­te das Licht an, such­te den Schirm und mach­te sich auf den Weg nach drau­ßen, in die Stadt, ins Le­ben – egal, was es durch­ein­an­der­brin­gen wür­de, nur fort von der Ein­sam­keit hier. In der Woh­nung brann­te heu­te kei­ne Lam­pe, Lau­ra re­gis­trier­te es von der Stra­ße aus. Der Ne­bel hat­te sich dort, wo sonst der ocker­far­be­ne Licht­ke­gel stand, ver­klumpt. Wie zu ei­nem Geist.

»Amen«, sie wuss­te nicht, wa­rum das Wort in sei­ner End­gül­tig­keit der­art wärm­te.

Zemmiphobia

Die Trä­nen ka­men, so fest Car­la auch die Schnei­de­zäh­ne ge­gen die Un­ter­lip­pe drück­te, wie prall auch der Haut­wulst nach in­nen schwoll, so schnell sie auch über das Glatt zün­gel­te – hin und her roll­te ein Schmerz. Die Trä­nen tropf­ten aufs Papier. Kit­schig fand Car­la die­sen Um­stand, film­reif für ei­nen Wer­be­spot über Taschen­tü­cher oder Brief­papier. Haupt­sa­che, es wür­de trotz­dem bren­nen. Viel­leicht eher ein Wer­be­film­chen für Ka­mi­nö­fen? Aber drei­hun­dert Sei­ten, in den letz­ten acht Jah­ren mit dem an­ge­kau­ten Schul­fül­ler ge­schrie­ben, ein­fach den Flam­men zu über­las­sen – woll­te sie es wirk­lich tun? An­de­rer­seits war ge­nau die­ses ge­dul­di­ge Papier da­ran schuld, dass sie nie et­was ge­gen Christ­ofs (sie such­te nach ei­nem Wort) At­ta­cken un­ter­nom­men, son­dern sie akri­bisch no­tiert hat­te. Sie be­trach­te­te den De­ckel der Schach­tel mit dem Sta­pel von lo­sem Schreib­papier. Dort hät­te ihr Mann nie ge­sucht: »Heiz­de­cke Me­du­sa«. Der ur­sprüng­li­che In­halt war längst ver­schlis­sen und weit ent­fernt von ih­rem Haus ent­sorgt wor­den, da­mit Chris­tof nicht wie­der den Müll aus der Ton­ne hol­te und die­se ent­setz­li­chen Re­den hielt. Wie bei der Sa­che mit dem To­as­ter, wel­chen Car­la (wie dumm war sie da­mals ge­we­sen!) in Tü­ten ge­wi­ckelt und ganz un­ten in die Aschen­ton­ne ge­legt hat­te, da­rüber Schich­ten von Kat­zen­streu, Ziga­ret­ten­kip­pen und Putz­lap­pen. Chris­tof hat­te den To­as­ter mit der In­stinkt­si­cher­heit ei­nes Gold­grä­bers aus­ge­bud­delt und samt Kaffee­satz und Kar­tof­fel­scha­len in die Kü­che ge­tra­gen (das stand auf Sei­te acht­und­neun­zig, die Tin­te war ver­schmiert, da­mals hat­te Car­la beim Schrei­ben ge­heult). Die­se Schwäche war im Lau­fe der Zeit ver­schwun­den, um ei­ner ge­wis­sen Kon­zen­tra­tion zu weichen, wel­che die Hand­schrift ver­bes­sert zu ha­ben schien. Nie war ihr das auf­ge­fal­len, erst jetzt, wo das Werk ver­nich­tet wer­den muss­te.

Der To­as­ter war ope­riert wor­den. Re­pa­ra­tur wä­re das fal­sche Wort, Car­la hat­te da­mals ta­ge­lang den Fort­schritt der Wie­der­her­stel­lung be­ob­ach­tet. Zärt­lich ging Chris­tof mit all sei­nen »Pa­tien­ten« um, als gä­be es kei­ne An­äs­the­sie. Aber wenn sie strom­los waren, spür­ten sie wohl kei­nen Schmerz, dach­te Car­la. Ein­mal (Sei­te hun­dert­zwölf) hat­te sie ihn mit dem Stab­mi­xer er­tappt. Ge­strei­chelt hat­te er ihn, das Schnei­de­kreuz­chen lag auf dem Tisch, wäh­rend das Ge­häu­se auf Christ­ophs Ober­schen­kel lag. Und als sie ver­sucht hat­te, ein­fach so zu tun, als ha­be sie nichts ge­se­hen, über­haupt nicht be­merkt, wie er die Lip­pen zum Kuss für den Ste­cker spitz­te, den er be­reits in den wurs­tähn­li­chen und doch so fein­moto­ri­schen (das Wort lieb­te er be­son­ders, »Fein­mo­to­rik«) Fin­gern hielt. Da hat­te er ihr in die Augen ge­starrt. Sein Blick hat­te sie ge­trof­fen wie ei­ne glü­hen­de Na­del. Sie be­gann, die­se Bli­cke zu fürch­ten und zu ver­mei­den, dass er sie über­haupt aus­sand­te, in­dem sie zu Boden blick­te, wenn sich ähn­li­che Si­tua­tio­nen an­bahn­ten. Dann spür­te sie die Augen je­doch auf sich, und das war noch schlim­mer, denn sie wur­den augen­bli­cklich zu Eis­hän­den auf der See­le, ein Um­stand, der den Tag ein­fror und ver­dun­kel­te wie ei­nen See, auf dem Christ­ofs Schwei­gen Rin­ge bil­de­te, die bis zum Grund san­ken, um dort das Moos zu ver­gif­ten, die Fi­sche zu ver­säu­ern und zu et­was ab­grund­tief Bö­sem zu wu­chern.

Auf der Wasch­ma­schi­ne lieb­te Chris­tof sei­ne Frau am hef­tigs­ten. Zu­min­dest nann­te Chris­tof das so, ob­wohl es mehr mit Schleu­der­be­we­gun­gen und Schmer­zen zu tun hat­te als mit Lie­be. Sie waren ab Sei­te zwei­hun­dert do­ku­men­tiert, die Sti­che mit dem Schrau­ben­zie­her, mit der Pin­zet­te; das Blut war mit der Zeit nicht mehr so schlimm, aber ir­gend­wann hat­te Ca­ro­la den Ge­dan­ken, sie könn­te es statt Tin­te be­nut­zen für ih­re No­ti­zen. Na­tür­lich tat sie das nicht, wo­zu auch. Aber der Ge­dan­ke war schön, fast wie die Idee vom Pakt mit dem Teu­fel. Auch der liebt die Men­schen auf son­der­li­che Wei­se.

Die Klei­ne Angst kam zurück, Car­la merk­te es an dem in­ne­ren Zit­tern. Es war die wohl­be­kann­te Mi­nia­tur-Angst, die – ei­nem Ge­ruch ähn­lich – da­her kriecht, um sich dann zum Ge­stank aus­zu­brei­ten. Et­was wie Pfei­fen­ge­ruch oder Ge­schmor­tes. Ganz lei­se, der Furcht ähn­lich, die ei­nen be­fällt, wenn ei­nem schwant, dass man wo­mög­lich den Haus­schlüs­sel ver­lo­ren hat, weil man ihn nicht in der Ja­cken­ta­sche er­tas­tet. »Psssst, ich bin wie­der da, die Klei­ne Angst! Maß­ge­schnei­dert für dich allein, denn das Ge­meins­te an mir ist, dass ich kei­ne lä­cher­li­che Pho­bie bin, die es le­dig­lich zu über­win­den gilt, nein: Ich bin re­al! Du kannst erst nach dem Schlüs­sel su­chen, wenn du dort an­ge­kom­men bist, wo du ihn ver­legt ha­ben könn­test – und das wird dau­ern! Bis da­hin dre­he ich mich als Blei­schei­be auf dei­nen Ein­ge­wei­den, da­her das Zit­tern, das dir nie­mand neh­men kann, der Schweiß, der war­tet, aus­zu­bre­chen und in­zwi­schen nach in­nen fließt bis in den Bauch, wo er dir Übel­keit ver­ur­sacht, ge­gen die kein Kraut ge­wach­sen ist. Nie­mand hilft dir, kann dir hel­fen; ich ge­hö­re dir und du mir ganz allein!«

Car­la riss den Papier­stoß aus der Schach­tel, öff­ne­te die Ofen­tür und schob ihn hin­ein. Aus­ein­an­der fie­len die letz­ten Jah­re. End­lich klick­te das Feu­er­zeug. Die Blät­ter brann­ten so­fort, und schnel­ler als ge­dacht ver­wan­del­ten sie sich zu Asche. Am wich­tigs­ten war, dass Car­la gleich jetzt, noch mit der Trä­nens­tim­me, die Leu­te an­rief. »Chris­tof… Schluch­zen, Schnäu­zen. Er woll­te un­be­dingt rein.«

Die Angst war mit den Auf­schrei­bun­gen ver­kohlt. Sie war oh­ne­hin win­zig ge­we­sen im Ver­gleich zu dem Er­eig­nis im Ki­no, zu Christ­ofs Angst. Aus­ge­rech­net ein harm­lo­ser Natur­film, aber sie hat­ten das Ki­no fluch­tar­tig ver­las­sen müs­sen, zu pein­lich war die­ser An­fall von Chris­tof beim An­blick der put­zi­gen Tier­chen ge­we­sen. Na gut, Ge­schmacks­sa­che, die­se We­sen. Aber sei­ne Platz­angst da­zu, von der Car­la schon wuss­te in Kom­bi­na­tion mit sei­ner Pho­bie, aus­ge­rech­net und ein­zig vor Nackt­mul­len – un­glau­blich. Den Mann am Nach­bar­sitz hat­te er re­gel­recht nie­der­ge­mäht auf sei­ner Flucht aus dem Saal, der Typ hat­te ge­flucht vor Schmerz über den Tritt auf die Fü­ße, bei­de Fü­ße!

»Ver­zei­hung, ihm ist übel«, hat­te Car­la ge­sagt, wie man sich auf der Flucht ent­schul­digt, wenn ei­nem die Opfer zwar leid­tun, aber man sie ver­letzt lie­gen las­sen muss, je­ne Art von ei­ge­ner Bru­ta­li­tät, die man an an­de­ren so ger­ne ver­ur­teilt, wenn Krie­ge vor­über, Kämp­fe nur noch Er­zäh­lun­gen sind. Spä­ter zu Hau­se Christ­ofs Dro­hung, er wür­de ihr die Zun­ge her­aus­schnei­den, wenn sie je­man­dem von sei­ner (er nann­te es so) »Un­ru­he« er­zäh­len wür­de, die Nacht mit sei­nem Ra­sier­mes­ser auf dem Ra­dio­we­cker – Car­la über­leg­te die Sei­ten­zahl. Wie er im Schlaf ge­schrien hat­te – sein Schweiß roch wie Öl und Löt­zinn – ge­brüllt hat­te Chris­tof und sich um­her ge­wor­fen, dass sie sich schließ­lich in die Zu­de­cke ge­wi­ckelt auf den Boden ne­ben das Bett ge­legt hat­te, da­mit ihr nichts ent­ge­hen konn­te, sie aber den­noch ge­schützt war vor dem mas­si­gen Ro­ta­ti­ons­körper.

Nackt­mul­le zu goo­geln wä­re zu ris­kant ge­we­sen, er hät­te es her­aus­ge­fun­den. Ir­gend­wie schaff­te er Din­ge, die an­de­re nicht konn­ten. Car­la hat­te Ver­gnü­gen in der Uni­ver­si­täts­biblio­thek. Die Ge­sich­ter der Le­sen­den, die Stil­le – Klug­heit lag im Raum. Nach kur­zer Su­che fand Car­la ei­nen Bild­band über He­te­ro­ce­pha­lus gla­ber, so der la­tei­ni­sche Na­me, und ver­grub sich re­gel­recht da­rin. So­fort war sie fas­zi­niert von den Tie­ren, die in un­ter­ir­di­schen Höh­len­sys­te­men der Halb­wüs­ten Ost­afri­kas ein außer­ge­wöhn­lich so­zia­les Le­ben füh­ren, er­staun­lich schmerz­un­emp­find­lich sind und – wie der Na­me schon sagt – na­he­zu nackt. Die Ähn­lich­keit der We­sen mit ei­nem Pe­nis (vor al­lem die lo­se am Körper lie­gen­de Fal­ten­haut ver­stärkt die­sen Ein­druck) be­merk­te Car­la durch­aus, aber sie ver­schob die Wahr­neh­mung, denn die Ver­bin­dung mit Chris­tof und al­lem, was an ihm hing oder stand, zwang sie da­zu.