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Anja führt ein geregeltes Leben. Sie arbeitet erfolgreich in der Immobilienbranche, auf privatem Sektor jedoch kämpft sie hartnäckig um den Weiterbestand ihrer Ehe mit Gero, dem Treue nicht viel bedeutet. Bei einem Unfall während einer gemeinsamen Autofahrt auf dem Heimweg von München kommt Gero ums Leben. Anja weiß nicht, ob sie daran Schuld trägt, ihre Erinnerung an die letzten Augenblicke ist zu lückenhaft und zu verwirrend. Traumatisiert und aus den gewohnten Gleisen geworfen, fährt sie nach einem Jahr der Ängste und einer halbherzig angegangenen Therapie zum ersten Mal wieder selbst mit dem Auto nach München. Ihr Ziel: ein Besuch der Neuen Pinakothek, um das Geschehen von damals Revue passieren zu lassen. Geplant ist, sich auf der Rückfahrt definitiv an der Unfallstelle ihrem Los zu stellen, denn die Stimmen, die sie immer noch verfolgen, quälen sie auf gespenstisch-groteske Weise. Sogar einen Suizid bezieht Anja in ihre Überlegungen mit ein. Bei der U-Bahn-Fahrt in München allerdings begegnet sie ihrem Schicksal, das zunehmend verhängnisvoll seinen Lauf nimmt. Bilderrahmen werden zur Schwelle in eine Welt, in der sich Seelen befreien und überraschenderweise zu wandern beginnen. Der Geist bewegt sich anders als gedacht, wenn man ihn nicht nur als Verstand interpretiert.
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Seitenzahl: 209
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Affenleuchten
Roman
Lisa Weichart
Fehnland-Verlag
Erstausgabe im Juli 2018
Alle Rechte beim Verlag
Copyright © 2018
Fehnland-Verlag
26817 Rhauderfehn
Dr.-Leewog-Str. 27
www.fehnland-verlag.de
Coverdesign durch Tom Jay unter Verwendung eines Gemäldes von G.C.von Max "Affen als Kunstrichter"; Copyright: bpk/Bayerische Staatsgemäldesammlungen.
Lektorat: Dr. Michael Kracht
9783947220342
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Der Spiegel war blind. Anja griff nach dem Rand des Waschbeckens und schob ihren Oberkörper höher. Die Finger glitten am Edelstahl ab. Hoffentlich Seife! So früh am Morgen musste das Parkhaus natürlich sauber sein, aufsteigender Zitronenduft unterstrich diese Hoffnung. Über den Schlieren auf dem Glas tauchte Anjas Gesicht auf. Noch immer zitterten ihre Beine, aber als sie die schwarzen Stellen um die Augen und den roten Fleck neben dem Mund wahrnahm, hörte das Beben auf und sie stand ruhig, nahm den Anblick kritisch hin, nickte ihrem Spiegelbild zu, riss ein Papiertuch aus dem Spender und rieb die verlaufene Schminke ab. Mit den Fingern löste sie das Haar von der Stirn, schüttelte den Kopf und fühlte sich allmählich ansehnlicher. Die Kinder auf dem Parkdeck da draußen hatten sie angestarrt und eines hatte »wow« gesagt. Beäugt worden war sie wie ein Geist. Kein Wunder, es war der Halloween-Tag und Anja musste einem Horrorclown geähnelt haben. Die Fahrt war aber auch wirklich grauenvoll gewesen. Das erste Mal seit zwei Jahren alleine mit dem Auto von Regensburg nach München mit der Angst im Nacken. Die Phobie war ihre Feindin, aber Anja hatte ihr tüchtig Futter gegeben. Ohne Therapie. Papperlapapp. Lust auf die Neue Pinakothek, denn Kunst heilt die Seele. Allerdings steckte schon mehr dahinter. Morgen an Allerheiligen wollte sie nicht wieder wie ein Schatten an Geros Grab stehen. Stolz wollte Anja sein auf ihren Sieg über die Angst. Und auf gewisse Weise wäre auch Gero zufrieden mit ihr. Der Gero in ihrem Kopf – der Echte lag unter der Erde. Aber die Erinnerung an die Verstorbenen ist einem besonders nah um diese Zeit. Die Zeit! Jetzt bloß nicht schon an die Rückfahrt denken, befahl sich Anja und nahm ihren Ring ab, legte ihn neben den Seifenspender und wusch sich eilig die Hände, trocknete sie ab und beschloss, den Lippenstift vorerst nicht nachzuziehen. Ohne einen weiteren Blick in den Spiegel begab sie sich zurück ins Parkhaus, fand den Kassenautomaten und zog ein Streifenticket für die U-Bahn. Womöglich böte sich vor dem Museumsbesuch noch eine Gelegenheit für einen Snack. Und für Kaffee!
Die U-Bahn, die U 6 – wo fuhr sie nur gleich wieder ab?
Anja wusste um ihren miserablen Orientierungssinn. Eigentlich gar um sein Nichtvorhandensein. Nicht rudimentär, nicht unterentwickelt. Tatsächlich nicht vorhanden. Auf gewisse Fähigkeiten hingegen bildete sie sich etwas ein; Anja hatte schon immer guten Zugang zu Menschen gefunden, was wiederum Sinn für Geschäftliches nicht ausschloss, aber auch Kochen gehörte durchaus zu ihren Stärken. Vor allem jedoch ihr Kunstsinn verlieh ihr etwas, das sie vom Alltäglichen abhob, wie sie fand. Und sich vom Trott zu befreien, ist das nicht ebenfalls Kunst? Ihre Figur war eher drahtig, obwohl sie kaum Sport trieb, lieber ging sie weite Wege zu Fuß und benutzte keinen Lift, nicht einmal in Hochhäusern, die sie durchaus besteigen musste, um Mietern und Käufern Objekte zu präsentieren. Dank Navi klappte die Fahrerei ganz gut. In der Immo-Branche braucht frau einen Extra-Gott, dieser musste maßgeblich an der Erfindung dieser Dinger beteiligt gewesen sein. Wegen der Götter muss man keine Kirchen besuchen, wusste Anja. Glaube, was hatte er schon geholfen? In jüngster Zeit tat sie es trotzdem. Seit ihres Mannes Tod sogar öfter als sie sich eingestand, aber nur in den späten Nachmittagsstunden, wenn keine Leute zu befürchten waren, ging sie in den Dom. Seiner Höhe wegen, um sich darin zu verlieren.
Himmel, wo war nur die verdammte Abfahrtsstelle der U-Bahn? Richtung Großhadern, Klinikum. Bloß nicht Richtung Garching!
Anja sah das Schild mit der Nummer erst, als sie auf der falschen Rolltreppe abwärts fuhr, drehte sich um, rannte treppauf gegen die Rollrichtung und schaffte den Spurt mit ungeahnter Geschwindigkeit. Oben angekommen, sah sie sich um. Ein Abgang weiter links, der richtige! Wieder die Rolltreppe, Anja hielt sich fest, dass die Finger schmerzten. Am Unfalltag damals hatte sie sich auf dieser Rolltreppe an Gero gelehnt, ihre kalte Hand in seiner großen, warmen. Jetzt bestand diese Hand (überhaupt ihr ganzer Gero) nur noch aus Asche und lag am Unteren Friedhof zu Regensburg. Hätte sie ihn sich als Diamanten pressen lassen, er wäre jetzt näher bei ihr als diese imaginäre Staubwolke. Erneut ein Kreuz zu schlagen, kam ihr seltsam vor, sie schluckte nur trocken. Nur nicht mehr daran denken, befahl sie sich. Er war ja noch hier, er war ganz sicher bei ihr, sie flüsterte seinen Namen im menschenleeren Morgen und Gero nebelte ein Stück weit über den Bahnsteig, bis er sich auflöste. In neun Minuten käme die U-Bahn, zeigte die Tafel an. Großhadern, die Richtung stimmt. Ich bin richtig gut, so was von gut, wieder ihr Flüstern, sie sah ihren Atem und schloss den Mund.
Zwei Jugendliche schlurften herbei, Smartphones in den Händen; rasteten dann ein paar Meter weiter zur Ruheposition ein. Das Mädchen gähnte blassmündig und steckte damit den Jungen an. Pickelgesichter über Displays, trotzdem auf geheime Weise in Verbindung. Ein Greis schleppte sich am Arm einer gut Achtzigjährigen näher. Sie stützten einander, schoben und zogen ihre gekrümmten Körper auf eine Bank und ließen sich darauf fallen, als sei es zum letzten Mal. Zwei Tauben im Gänsemarsch tippelten dicht hintereinander an der Bahnsteigkante entlang. Wohl wieder einer dieser Paar-Tage. Nur Anja alleine.
***
»Ich habe van Gogh gemocht«, sagte da Gero; direkt aus Anjas Kopf heraus ratterte er »von Gogh gemocht, von Gogh gemocht, von Gogh gemocht, von Gogh …«, ein Rumpeln der Worte mitten in die Morgendüsternis, die blauen Schilder verloren an Farbe, saugten Rot vom Feuermelder, silbrige Kübel schwärzten sich und alles, alles sank zu dem einen Gedanken zusammen. Wenn nun der Zug heranbraust und sein Rattern »von-Gogh-gemocht-von-Gogh-gemocht« rezitiert und wenn Anja einfach aufs Gleis springen würde, ganz schnell vor die Räder, gemochtgemocht, vangoghgemocht, geDONG. Tot. Bei Gero. Einfach Schluss mit dem Stuss mit dem In-die-Pinakothek-Gehen auf seinen Spuren, mit seinen Gedanken, mit diesem brutalen Schmerz einfach Schluss zu machen, ganz schnell und kurz purzeln. Liegen, Metallräder über die Knochen lassen, aus.
Übelkeit drehte am Schwindel, innerlich schwankte Anja, stand aber still. Es sind nur die Erinnerungen, es ist nur der Kopf. Gleich wäre die U 6 da, weg mit den Gedanken, es hatte doch auch eine Zeit vor Gero gegeben! Wie wäre es, wenn er nie existiert hätte all die Jahre vor dem Unfall? Nicht gemocht, van-Gogh-gemocht, doch, Docht. Ein Docht in Anja bog sich im Feuer aus Schmerz, wurde krumm und glomm bläulich, Tränen kamen, ihr wurde schlecht. Etwas schmeckte nach der Frühstücksbanane und auch wie Pfeifenrauch, aber sie rauchte überhaupt nicht – jetzt einen Cognac, dachte sie, aber sie trank doch gar nicht. Da kam plötzlich die U-Bahn, bremste und blieb stehen, als habe sie nie eine Gefahr bedeutet.
Anja stieg ein. Der Wagen war so gut wie leer. Ein Platz am Fenster fiel ihr ins Auge, vielleicht war dort auch eine Heizung. Handschuhe hätte sie mitnehmen sollen. Ihre Finger waren so klamm, dass sich der oberste Jackenknopf wie ein erfrorener Frosch anfühlte. Sie setzte sich auf ihre Finger. Lauwarme Gefühle von der Sitzbank. Anja zog die Hände wieder hervor und klemmte sie unter die Achseln, die Arme über Kreuz. Das hatte etwas Spirituelles, etwas von einer Yogastellung oder einem In-sich-gekehrt-Sein. Wie wirkte sie wohl in dieser Haltung auf andere Leute? Eigentlich egal, hier in der Metropole war alles anonymer als zu Hause. Trotzdem doof, diese Haltung. Ältlich. So saß kein Mensch in der U-Bahn. Höchstens Lehrer, die auf dem Weg zur Arbeit an die Pizzagesichter ihrer pubertierenden Schüler denken oder auch bockige Kleinkinder, denen der Weltschmerz bewusst wird, weil sie keine Barbie oder keinen Goldhamster bekommen; Patienten auf dem Weg zum Gastroenterologen, die der Schmerz im Gedärm zu dieser Position zwingt, vielleicht auch.
Anja fragte sich, wie das Leben wohl mit Vierzig sein mochte. Immerhin war sie neununddreißig. Hatte sie das Ticket eigentlich abgestempelt? Sie durchwühlte ihren kleinen Rucksack und fand es in der Seitentasche, ordentlich mit Stempelaufdruck versehen. Unbewusst entwertet. Was war da wohl noch alles in ihrem Kopf, das automatisch geschah? Der Ring am Finger! Wo war er? Das Händewaschen im Parkhaus! Er musste noch dort liegen, wo sie ihn abgenommen hatte: In der Toilette, direkt am Waschbecken! Ja, genau dort. Und wenn sie zurückkäme, wäre er nicht mehr da. Nur ein Ring, nur ein Ding, nicht der von Gero. Nur ein besonders hübsches Modeschmuckteil, extra im Frühling gekauft für den Mut zum Neuanfang. Ein Symbolring also. Türkis, silbrig eingefasst, er war zu groß gewesen und Anja hatte ihn mit Tesafilm verdickt. Immer kaufte sie etwas Falsches, sie hasste sich auf einmal so sehr, dass ihr jetzt erst ins Bewusstsein drang, was der gesichtslose U-Bahn-Pilot aus dem Lautsprecher-Off genuschelt hatte.
»Zrückbleiben«, das »u« fehlte gänzlich. Bayrisch. Immerhin Heimat. Das Vertraute kam langsam angeschlichen, setzte sich neben den Ärger und dampfte milde vor sich hin. Muffigkeit machte sich breit; die Sitze sahen aus wie von tausenden von Hinterteilen eingeritten, was sie vermutlich auch waren. Weiter vorne unterhielten sich zwei alte Frauen. Eine sprach von dem Gang zu den Gräbern; von Kerzen und einem Gesteck war die Rede, sie beschrieb den morgigen Allerheiligen-Tagesablauf vom Frühstückszwieback bis zum Meistern des unebenen Friedhofweges, das Abreiben von Moos vom Grabstein. Zunehmend breitete die Stimme der Frau Münchens Umland aus: fahle Herbstfelder, farblose Waldstücke, der Ausblick auf Nebel und Graupelschauer in der Vorweihnachtszeit. Die andere Frau machte nur »hmm« und »ahh«, ab und zu würzte sie den Redebrei mit der Bemerkung, dass sie gerne allein sei, gemütlich zu Hause sitze am Abend und dass die Nachbarn schon fragen würden, was sie so triebe. Pure Freundlichkeit wohl vonseiten der Nachbarn, aber sie schien ihr wohlzutun, denn das Nicken kam nicht von der Bewegung, sondern von ihrer Selbstgefälligkeit, das sah Anja ganz deutlich. Oder war die Frau krank und ihr Kopf wackelte immer? Jedenfalls entrang sich ihr nun ein ausführlicher Bericht über den letzten Zahnarztbesuch. Der Doktor musste ein Relikt aus dem Mittelalter sein, wenn man ihren blutigen Schilderungen Glauben schenken durfte.
Draußen flogen Gesichter vorüber, die Blicke huschten wie Eierstich in einer Glasnudelsuppe durcheinander, spurten sich zu Linien, hafteten im Gedächtnis als Fremdes, als das Fremde überhaupt. Immerhin gewann die Umgebung etwas an Farbe. Da war dieses Rehbraun der Waggonwände, auf Tageslicht wartend, das Türkis der Sitze mit Hoffnung auf Sonne. Der heutige Tag würde ein sogenannter schöner Tag werden laut Wetterbericht. Kieferngarten, ein Stopp. Der Mann, der da eingestiegen war, setzte sich direkt neben Anja, als gäbe es sie gar nicht. Zwar berührte er sie leicht mit dem Ellenbogen, aber er entschuldigte sich nicht, hockte in seinem schwarzen Mantel und heller Hose einfach nur da. Ein weißer Seidenschal unterstrich etwas wie Überheblichkeit, zugleich wirkte er mit dem feinen Stoff beinahe unwirklich. Natürlich grüßt man sich nicht in der U-Bahn, auch im Bus zu Hause tat man das nicht, es sei denn, man kannte sich. Und selbst dann kaum Kontakt – oder doch? Nein, er starrte an Anja vorbei auf den Bahnsteig, bis die Bahn mit einem Ruckeln anfuhr, dann sah er starr nach vorne. Die Fensterscheibe zeigte sein Profil. Gute Fünfzig, kantig, aber auf die Unterlippe folgte ein rundlicher Wulst, fast wie das Moos, von dem die Alte eben noch gesprochen hatte. Ein Hügelchen, das ihm Trotz verlieh oder etwas Angriffslustiges aus purem Vergnügen am Stänkern, ein provozierender Knödel. Da löste Anja den Blick von der Scheibe und sah den Mann direkt von der Seite an. Wenn er sich schon einfach hatte hier hinfallen lassen, dann konnte man ihn auch kurz betrachten, sie könnte ja auch an ihm vorbeisehen wollen, auf die Werbung an der Wand zum Beispiel, niemand konnte ihr das verbieten. Wer auch immer für sein Outfit verantwortlich war – er oder vielleicht sie hatte keinen Sinn dafür, wie man einen an sich gut gebauten Körper in entsprechende Kleidung packen kann. Das Hemd lugte faltig aus der Jacke hervor und gab dem an sich maskulinen Hals etwas von einem Truthahn. Schade.
Das Pechschwarz seiner Schuhe verbat sich jegliche Kritik und bestimmt quietschten sie, wenn es doch jemand wagen sollte, sie zum Beispiel als spießig zu bezeichnen. Was sie nicht waren. Herrenschuhe haben von Haus aus etwas Riesenhaftes, etwas Bootsmäßiges, etwas von Särgen. Daher der Ernst, egal welche Farbe oder welcher Stil damit zur Geltung kommt. Der Mann war höchstens ein kleines bisschen verknöchert, das sah Anja an seinen Wangen. Sicher konnte er sie aufblasen oder Grimassen schneiden, wenn auch die Längsfalten darauf schließen ließen, dass er dies selten zum Spaß tat.
Flüchtig ist der Augenblick, aber vielleicht prägen sich gerade deshalb so manche Profile ein wie jene, die sich auf Münzen befinden. Dieses gehörte definitiv dazu, fand Anja. Das Gesicht wurde von einer großen Nase dominiert, einem Dreieck mit jähem aber ästhetisch wirkendem Knick. Wie ein Römer aus einem Comic, dachte Anja und konnte einfach nicht wegschauen. Eine Narbe unter dem Auge – ganz klar – oder doch nur ein Schnitt vom Rasieren? Der Mann roch ziemlich frisch, sie kam nicht auf den Namen des Parfüms, es war kein gewöhnliches – eher ausgeklügelt, zum Näher-Hinschnuppern kreiert. Was er wohl denken mochte, wie er so vor sich hinblickte, das graue Haar stramm nach hinten gekämmt aber keinesfalls überkorrekt? War er in Eile gewesen? Oberlippen, von der Seite betrachtet, haben etwas Zartes – selbst bei Erwachsenen – sann Anja. Ein Rest von Kindheit liegt darauf, Puderzucker oder der Staub von Kaugummistreifen, eine Ahnung von Zartgebäck oder gar Schaumküssen.
Da drehte der Mann den Kopf schneller, als Anja sich abwenden konnte. Für einen Augenblick trafen sich beider Augen, maßen einander und konnten es doch nicht in ihrer Rundheit. Er räusperte sich, und sie fand ihn plötzlich alt. Viel älter als Gero gewesen war; sie sah Geros Kopfwunde an dem Fremden wachsen und wünschte, dieser wäre tot, sodass ihr Mann statt seiner hier säße und etwas sagen würde wie
»Ist dir kalt, Schatz?« oder
»Wir sind schön zeitig dran«.
Aber der Mann schwieg, knurrte Unverständliches in sich hinein, als verschlucke er Gedanken, bevor sie zu Worten werden konnten. Die Bahn hielt. Freimann. »Frei, Mann!« assoziierte Anja und rutschte näher ans Fenster. Frei, Frau! Freu dich doch endlich mal über die Freiheit! Metallgeruch lenkte sie von ihrem Suggestivsatz ab. Hatte sie eigentlich Kleingeld für Kaffee dabei oder nur große Scheine? Aber dieser Geruch – je näher sie dem Fenster kam, desto intensiver wurde er. Genau wie im Traum, da hatte etwas genauso metallisch gerochen. Anja träumte selten, aber dann richtig, wie sie immer gesagt hatte, als es noch Menschen in ihrem Leben gab, die ihr zuhörten. Oder vorgaben zuzuhören. Oder nur lachten, nachfragten und dann von ihren eigenen Träumen zu erzählen begannen.
Dieser Traum letzte Nacht war definitiv einer von der Sorte, die man nicht so einfach vergessen kann. Anja beschloss, seinen Ablauf zu sortieren. Was sollte daran verkehrt sein? Träume sind oft Wegweiser. Aber ihnen etwas Übersinnliches anzudichten, lag ihr doch etwas zu fern. Anja beschloss, lediglich eine gewisse Ordnung in die Erinnerung zu bringen. Gar nicht so einfach. Wo fängt ein Traum an? Am besten an nichts denken, nur an das erste Bild, das einem im Wachzustand gerade entgleiten will. Nicht festhalten, nur wie eine Seifenblase bestaunen, dann geht’s am besten. Anja hatte Übung, sie hatte früher viel geträumt, auch tagsüber. Geblieben war nun eine gewisse Zerstreutheit, aber daran wollte sie sich nun nicht stören.
Vor ihrem dritten Auge, wie sie es für sich bezeichnete, erschien das Haus der Leute, bei denen sie im Traum zu Besuch gewesen war.
Nette gebildete Leute. Wahrscheinlich Steffi von damals und ihre Familie; wie hießen die noch? Von Stade. Der Mann (Arzt im Praktikum) aufstrebend, vergeistigt aber ebenfalls nett. Die Kinder rotzfrech, jedoch intelligent. Auf einem Art-Deco-Sideboard aus Tujawurzelholz und Palisander hatten erlesene Kunstgegenstände gestanden. Originale. So etwas weiß man im Traum. Als Anja daran vorbeiging, sah sie die Vase. Oder war es eine Urne? Oberhalb des Porzellanbauches befand sich ein ovales Glasfensterchen. Sie bückte sich und kam ganz nah daran.
Da leuchteten ihr aus der Höhle hinter dem Glas zwei bernsteinfarbene Augen ins Gesicht. Hin und her sprangen sie wie Scanner. Sie wurde abgetastet. Anja war einfach weitergegangen, dann aber zurückgekehrt, um das Gefäß nochmals genauer zu betrachten. Sie hatte sich nochmals gebückt, um herauszufinden, was das für ein Ding war. Ein Roboter? Auf einmal wurde Anja die Echtheit des Blickes bewusst. Ein lebendiges Äffchen stand im Inneren des Gehäuses gefangen! Alles an Energie leuchtete aus seinem Blick, ein Licht, das sich nur in Lebendigem findet. Pupillen wie Pusteblumen im Gegenlicht der Morgensonne. Lebensgier.
Anja sprang schreiend zurück. Doch die Dame des Hauses, eine nette Dame, wirklich, sie lächelte nur und meinte »ein Souvenir«, mehr nicht, nur diese Erklärung und alles war gut für den Moment, weil es ein Traum war. Andererseits war dies alles doch Realität gewesen, so auch dieser allgegenwärtige Duft von verbrannten Blättern oder Tabak, etwas Rauchigem, Herbem mit Würze.
Was der Affe da in seinem Blick trug, war ein feuchtes Zittern hinter Glas. Sein magerer Körper bestand fast nur aus diesen Augen, deren braunglühende Blicke flackerten, als würden sie brennen und zugleich ertrinken. Wie konnte das Tier eigentlich fressen, wie war die Verdauung geregelt? Das fragte sich Anja bis ins Erwachen hinein; fragte es sich weiter, als sie mit steifen Gliedern aus dem Bett stieg, aber dann hatte der Tag überwogen. Das Zimmer roch nach Gardinenstärke, keine Spur von dem Räucherwerk. Und doch erinnerte sich Anja daran, kam nicht dahinter, weder hinter den Duft noch hinter eine Bedeutung, wenn es denn eine gab.
Aber nun, als die U-Bahn bremste, da fragte sie es sich wieder. Studentenstadt, wo die Fliesen sie unvermutet an die Urne aus dem Traum erinnerten. Und wo sich die Erde in Richtung Stadtzentrum öffnet. Was hatte der Traum hinterlassen? Dieser kleine Affe, hätte sie ihn befreien sollen? Die Angst wurde wieder spürbar: Er wäre womöglich herausgesprungen, ihr direkt ins Gesicht gejagt mit seinem verkümmerten Körper, den Mumienfingern, und seine winzigen Krallen hätte er in ihre Haut schlagen können, die Fingerchen waren so schwarz gewesen wie die Vitrine und die Nägel weißer als die Perlmutteinlagen in dem Möbel. Von Dankbarkeit über die Befreiung wäre keine Spur gewesen, nur dieses wilde, äffische Kreischen und sein unheimlicher Drang nach Freiheit. Nein, lieber nicht. Oder doch? Schlechtes Gewissen blieb Anja als fader Geschmack. Sie war feige gewesen aus Furcht vor dem Wesen. Es hätte herauskommen können und wäre außer Kontrolle geraten. So musste es gewesen sein.
***
Es mochte am Tunnel liegen. Die Gedanken verwebten sich zu einem einzigen neuen, nämlich dem an die Nächte, als Gero noch am Leben gewesen war. Nicht, dass Anja an Sex dachte, das war es nicht. Es war nur alles an Sicherheit, die er ihr vermittelt hatte mit seiner etwas umständlichen Art, seinem schwarzköpfigen Ernst, seinen geschliffenen Umgangsformen, die er sicherlich der langjährigen Tätigkeit am Verwaltungsgericht zu verdanken hatte. All dieses Sicherheits-Fehlen schrumpfte zu einem Schlauch, presste Anja zusammen, erwärmte ihre Stirn, hinter der sich schon erste Novemberkälte von den Steinplatten am Bahnsteig abgespeichert hatte und füllte Anja mit der Erinnerung an Geborgenheit. Aber hier war nur Leere, außer der Stelle mit dem Mann, der immerhin ein Stück der Fremde mit seinem Graubraun ausfüllte. Die Einsamkeit kroch in eine Ecke des Waggons, wo sie lauernd verharrte. Sicher würde der Typ bald aussteigen, dann spränge sie Anja an. Dunkelheit schützt, Anja suchte optisch jeden Winkel des Tunnels ab, kroch seelisch unter Bretter, hinter vorüberjagende Holzkonstrukte, ruhte für Sekundenbruchteile in den Schatten von Werbeplakaten und hechtete hinter knochige Balken. Das Draußen gab dem Drinnen Gemütlichkeit, sodass der Wagen Kutschencharakter annahm. Die Hüllen der Leute stiegen aus, fort waren die beiden alten Frauen; an ihren Plätzen hing nur noch der Schleier ihres Gesprächs und selbst davon nur Fetzen. Nur hingeworfene Worte und doch Reste von Gefühl.
Sie musste nicht dauernd so komisches Zeug denken, beschloss Anja und versteifte den Rücken. Bald wäre sie am Odeonsplatz. Wie flott würde sie dann laufen, um nicht zu frieren! Der Schal lag zu Hause, sie hätte nicht gedacht, dass es so eisig werden würde. Aber es käme ein sonniger Tag, ein lichter Spätherbsttag vor Allerheiligen, hatte der Wetterbericht angekündigt. Wieder stärkte der Stolz ihr den Rücken, sie schwankte stahlfederlich: »Alte Heide« bremste sich als Schild entlang und kam zum Stillstand. Der Mann nebenan hielt sich die Hand vor den Mund, wobei etwas am Kiefer knackte. So gähnen nur Männer mit ihren groben Knochen, dachte sie. Knochen wieder, nein. Nicht Knochen denken, nicht Gebein!
***
»Was schauen sie mich so böse an?«, schien ein Vorwurf seine wasserblauen Augen zu kräuseln. Doch kein Wort war über seine Lippen gekommen. Anja spürte, wie sich ihre Mundwinkel hoben, als müsse sie etwas von sich selbst herzeigen, vielleicht ein entschuldigendes Lächeln. Es misslang und blieb trotzdem da, sie sah es im Fensterglas vor den vorbeihuschenden Köpfen, dann vor erneuter Dunkelheit des Tunnelsystems. In Filmen klappt so etwas, dachte sie und schmeckte Verbitterung. Man lächelt sich an, kommt ins Gespräch. Musik erklingt, meistens Geigen. Oder Piano. Oder etwas mit Harfe – nein, das wäre zu opulent. Übertrieben wäre Harfe für eine Melodie, die nur ein Kennenlernen umspielt. Vage Sympathie würde kein Regisseur mit Harfen unterlegen. Vielleicht überhaupt nur Gitarre, etwas Unverfängliches?
Die Ankündigung des Nordfriedhofs in Gestalt eines Schildes bremste Fahrt und Grübelei. Ein junger Kerl stieg ein, ließ sich gegenüber von den Beiden auf die Sitzbank plumpsen und kantete sich passgenau in den Winkel zwischen Fenster und Lehne, wobei er sein Smartphone mit einer Hand hielt, die andere kramte in der Jeanstasche herum. Er zog etwas heraus und als die U-Bahn anfuhr, klickerte es auf den Boden. Synchron bückten sich Anja und ihr Banknachbar. Nur ein Reflex, sie griffen nicht hin und doch berührten sich ihre Schultern dabei. Aber der Junge zog an einem dünnen Kabel, bis daran zwei Stöpsel emporschwebten, die er schließlich mit geübtem Griff in die Ohren stopfte. Schon nach ein paar Sekunden legte sich ihm ein entrücktes Lächeln übers Antlitz. Die Musik war wohl an einer Stelle in ihm angelangt, wo etwas Liebliches schlief, das jetzt nur ihm allein gehörte.
Anja stellte die Beine auf Zehenspitzen hoch. Sie würde heute viel zu Fuß unterwegs sein, hoffentlich würden die Schuhe nicht scheuern. Unspektakulärer Absatz, ziemlich flippige Stiefeletten, ein Tick zu hoch. Eigentlich nicht unbequem. Ein Fleck an der Spitze, wohl von der Waschaktion im Parkhaus. Wieder fiel Anja der Ring ein, sie griff ihren Finger und rieb ihn. Fast wie im Krankenhaus damals. Dort hatte man ihr vor der Untersuchung den Schmuck abgenommen, sogar die Ohrringe. Alles. Aber ihr war beim Crash fast nichts passiert, ein Schleudertrauma und ein paar unwesentliche Blessuren. Sie hatte sich noch gefreut. Dann hatten sie ihr das Unfassbare von Gero mitgeteilt, zu dritt waren sie gewesen: ein Arzt und ein Psychologe und ein Seelsorger. Als ob die Seele hören könnte in solchen Momenten. Sonore Stimmen, ein Trio mit Bass, Bariton und Tenor. Nicht gleichzeitig, aber in der Erinnerung klang es doch so.
Anja hatte geschrien. Tagelang danach war sie heiser gewesen und später oft wieder, zu Hause und auch im Wald einmal hatte sie wieder genauso gebrüllt, gekreischt hatte sie wie ein Tier, dann war ihre Brust irgendwann leer gewesen. Die Brust hohl und der Kopf wie ein Aktenschrank voller Fakten, ein Wust von Momenten, mittendrin der Song von Pink im Autoradio. Just give me a reason … und plötzlich der kolossale Schlag beim Aufprall; dazwischen fehlte das Stück des »warum«. Es kam nicht, es kam nicht, es wollte und wollte nicht kommen. Warum war es zu dem Unfall gekommen? Wie?
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Wieder bremste die Bahn. Dietlindenstraße. Neue Menschen mit einem Kinderwagen stiegen ein, darin lagen Sportschuhe und Bücher. Verrückt, dieses München. In Anja kam etwas wie Heimweh auf. Zu Hause könnte sie jetzt Kaffee trinken, womöglich doch ein paar Bekannte sehen mitten am Haidplatz und wenn sie keine Lust mehr hätte herumzusitzen, dann würde sie in ein Kaufhaus gehen. Jeden Schritt, jede Gasse kannte sie da und jede Stufe. Eben darum müsste es aber auch wohltun, hier in der Ferne auf eigenen Beinen unterwegs zu sein. Neuland. Obwohl diese Haltestellen wie damals kamen. Eine nach der anderen, wie an dem Tag, als sie im selben Parkhaus das Auto geparkt hatten. Ein schöner Wagen, ein Mercedes. Aber das große Auto hatte nichts geholfen, nicht einmal der Airbag hatte genutzt, nichts nützte jetzt. Nichtsnutz Anja. Nur das Weiterfahren und die Rettungsidee wieder hochzupäppeln machte Sinn. Der Besuch der Neuen Pinakothek, der Anblick der Sonnenblumen im Rahmen, Lichtblicke zum nächsten Raum in der Zeit. Sie würde sich selbst belohnen. Sich selbst befreien, heilen. Es musste etwas bewirken, mit sich alleine unterwegs zu sein, auf eigenen Beinen und Rädern, auf eigenen Schienen.
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