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Beschreibung

Kinder standen noch nie so im Scheinwerferlicht wie heute. Helikoptereltern planen und überwachen jeden ihrer Schritte. Werber und PR-Profis schleichen sich mit listigem Headline-Imperialismus an. PädagogInnen und LehrerInnen arbeiten sich an verwöhnten Prinzen und Prinzessinnen ab. Und agile Start-ups verführen sie einzutreten in bunt schillernde Spiele- und Medienwelten. Ein einziger großer Suchscheinwerfer! Das Kursbuch begibt sich deshalb an die Andockpunkte zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt. Wir erforschen Kindersprache, Kinderarmut, Kindermedizin und Kinderrechte. Wir nehmen Kinder ernst und reden über Widersprüche und Gegensätze. Beispielsweise über die steigende Zahl psychischer Erkrankungen, überhöhte Elternansprüche oder das Verschwinden autonom gestalteter Lebensräume. Und darüber, ob nur Kinder Kinder sind. Mit Beiträgen u.a. von: Palliativärztin Monika Führer, Hirnforscher Ernst Pöppel, Kinderbuchautorin Kirsten Boie, StoryDOCKS-Geschäftsführer Till Weitendorf, Armutssoziologe Gottfried Schweiger u.v.a. Special: 64-seitige Bildstrecke "Kinder als Erwachsene" von sieben international renommierten Fotografen.

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Seitenzahl: 222

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Inhalt

Armin Nassehi Editorial

Birgit FranzBrief einer Leserin (28)

Monika FührerWenn ein Kind stirbtBrief einer Palliativärztin

Christine NöstlingerWas Neugeborene wollenDie ersten 448 Tage

Doris Bühler-NiederbergerWarum es Kindheit nicht gibtEine skeptische Geschichte des Aufwachsens

Ernst PöppelWarum Kinder ihrer Freiheit beraubt werdenKindheit als individuelle Versklavung

Anne RöthelWarum Kinder Rechte brauchenÜber die unvollendete Emanzipation im Recht

Gottfried SchweigerWarum Kinder arm sindAnklageschrift inklusive Urteilsverkündung

Kirsten Boie, Till WeitendorfAlles Pippi oder was?Im Gespräch mit Luise Ritter, Peter Felixberger und Armin Nassehi

Alfred Hackensberger, Ricardo García Vilanova, Julia Leeb, Zafir Abdulkarim, Murat Bay, Johanna-Maria Fritz, Sebastian Backhaus, Andoni Lubaki Töten. Kämpfen. Arbeiten. Repeat.Kinder als Erwachsene

Armin NassehiWarum die Gesellschaft kindisch istEine Ehrenrettung des Kindlichen

Marita Metz-BeckerWarum Kinder getötet werdenEine kleine Kulturgeschichte des Kindsmords

FLXXSchlussleuchten von und mit Peter Felixberger

Die Autoren

Impressum

Armin Nassehi Editorial

Alle waren einmal Kinder, manche sind es noch, viele dürfen es nie sein. Was Kinder aber genau sind, wissen wir nicht. Dies fasst in etwa zusammen, was in diesem Kursbuch zu finden ist. Der Marker Kind schleppt mehr Eindeutigkeit mit sich herum, als auf den zweiten Blick deutlich wird und werden kann. Denn was wir mit Kindern verbinden, ist stets imprägniert von Vorstellungen, von Projektionen, von historischen Bildern und gesellschaftlichen Strukturen, in denen Kinder vorkommen. Das gilt nicht nur für die Vorstellungen von, sondern auch für den Umgang mit Kindern, dafür, was ihnen widerfährt, was wir ihnen widerfahren lassen und was sie selbst tun und lassen. Das ist eine offenkundig widersprüchliche Formulierung, weil sie nach der Relativierung des Kindlichen in Bezug auf seine gesellschaftlichen und kulturellen Antezedenzbedingungen eben doch von Kindern spricht, die da sind, mit denen wir täglich zu tun haben. Kinder sind überall anwesend – und doch fällt es schwer, genau zu sagen, womit wir es mit ihnen zu tun haben.

Wem dieser Einstig ins Thema zu verschroben klingt, lese den Beitrag von Doris Bühler-Niederberger, der eine skeptische Lesart der Frage nach der Kindheit anbietet: Hat es sie wirklich gegeben? Kinder ja, aber Kindheit? Letztlich ringen die meisten Beiträge dieses Kursbuchs um diese Frage, um die Frage der gesellschaftlichen Bedeutung von Kindern beziehungsweise Kindheit als Kategorie, etwa als rechtliche Kategorie im Beitrag von Anne Röthel, die am Beispiel von Kinderrechten das Verhältnis von Rechtsgeltung und Rechtswirklichkeit abklopft. Der Beitrag von Marita Metz-Becker über Kindsmord rekonstruiert in historischer Perspektive bei aller kulturhistorischen Veränderung eine starke Kontinuität der Form der Kindstötung. Gottfried Schweiger behandelt die kindspezifischen Aspekte sozialer Ungleichheit. Und Ernst Pöppels kurzer Essay stellt die Kindheit in eine Kontinuität auch mit dem späteren Leben des Menschen. Der Hirnforscher rekonstruiert Sozialisation als eine Art Freiheitsberaubung: Das Gehirn wird in seiner inneren Freiheit durch äußere Parameter eingeschränkt, für Pöppel eine tragische Figur, denn es ist eine notwendige Einschränkung, die gerade in der Kindheitsphase eine besonders formende Kraft auf das Individuum ausübt. Mein eigener Beitrag fragt nach dem Verhältnis der Infantilisierung öffentlicher Rede, symbolisiert etwa in der kindischen Sprache der Werbung, zum Kindlichen. Und in dem Interview, das wir mit dem StoryDOCKS-Geschäftsführer Till Weitendorf und der Kinderbuchautorin Kirsten Boie geführt haben, geht es ebenfalls um die Frage, ob und wie das spezifisch Kindliche bestimmbar ist und was das für Kindermedien bedeutet. Peter Felixbergers Kolumne FLXX begibt sich auf die Suche nach der verlorenen Kindheit – und wenn ich es richtig verstanden habe, wird er wenigstens teilweise fündig: in der Gegenwart.

Zwei Beiträge seien besonders hervorgehoben, weil sie beide auf eine besondere Weise erschütternd und ungewöhnlich sind. Der eine ist die außergewöhnlich lange Fotostrecke in diesem Kursbuch. Auf 64 Seiten zeigen wir Fotografien von zwei Fotografinnen und fünf Fotografen aus aller Welt, die Kinder in auf den ersten Blick nicht kindlichen oder nicht kindgerechten Situationen darstellen – bei der Arbeit, im Krieg, im Haushalt, auf Müllhalden, in Uniform oder als Erwachsene verkleidet. Man muss nicht viel über die Bilder sagen – die Fotografen beschreiben ihr Tun selbst, und die Bilder erzeugen eine Faszination dadurch, dass sie die Spannung zwischen der gesellschaftlichen Rolle und dem Sosein als Kind sichtbar machen. Fast bestätigen die Bilder die eher theoretische Erkenntnis, dass es so etwas wie Kindheit nicht als eigenständige Kategorie gibt, weil sie ja offenkundig Kinder in Situationen und Posen darstellen, die das Kindliche negieren, teils gewaltsam, oder zumindest den Kategorien widersprechen, die wir üblicherweise an das Kindliche anlegen. Zugleich aber dementieren die Bilder diese These, denn sie zeigen in jedem einzelnen Fall ganz offenkundig dies: Kinder. Ohne Wenn und ohne Aber.

Der andere Beitrag ist der posthume Brief an Joshua von Monika Führer. Sie ist Professorin für Kinderpalliativmedizin an der Universität München und Leiterin des Kinderpalliativzentrums unserer Universität, das sie selbst aufgebaut hat. Ich kenne Monika seit vielen Jahren, und sie ist einer der beeindruckendsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Der Brief richtet sich an einen ehemaligen Patienten, der mit 14 Jahren gestorben ist und das Besondere sterbender Kinder auf den Begriff bringt – und die wirklich segensreiche Form einer Krankenbehandlung am Lebensende, deren größtes Kompliment Monika darin sieht, kein Krankenhaus zu sein, wie sie in der kurzen Erläuterung zu ihrem Brief schreibt. Wir danken ihr sehr für dieses äußerst persönliche Dokument, auch den Eltern von Joshua für ihre Einwilligung, den Brief im Kursbuch zu veröffentlichen.

An den Lebensanfang führt uns die Schriftstellerin Christine Nöstlinger in ihrem Beitrag, den wir im Rahmen der Kursbuch Classics aus Kursbuch 72 aus dem Jahre 1984 unter neuer Überschrift nachdrucken. Diese Aufzeichnungen bestätigen sehr schön jenen Weg der notwendigen Freiheitsberaubung des Kindes durch die Gesellschaft, von der Ernst Pöppel in seinem Beitrag spricht.

Schließlich danken wir Birgit Franz für den 28. Brief einer Leserin.

Birgit FranzBrief einer Leserin (28)

Als Leserin bringt mich der Themenschwerpunkt dieses Kursbuchs schnell zur Frage, welchen Stellenwert das Lesen in unserem Menschsein hat. Ich vermute forsch, es geht Ihnen wie mir: Sie können sich ein Leben ohne Lesen und, im engeren Sinne, ohne Bücher nicht vorstellen. Doch was für uns so selbstverständlich ist, scheint für heutige Heranwachsende seine Selbstverständlichkeit zu verlieren. Lesen ist kein genetisch verankertes Programm, sondern eine erlernte Kulturtechnik. Dass wir es überhaupt tun, ist bereits revolutionär. Missverständlich wird es heute zu oft mit einer reinen Freizeitbeschäftigung gleichgesetzt, de facto aber lesen wir in Zeiten der Informationsflut mehr denn je. Eine Studie aus Kalifornien kommt zum Ergebnis, dass der Durchschnittsbürger sich täglich mit 34 Gigabyte, verteilt auf verschiedene Geräte, konfrontiert sehe.1 Das entspricht einem Buch von fast 400 Seiten Umfang.2

Lesen lernen wir in der Kindheit. Bücher waren dort bislang das zentrale Medium. Auch ihre Erfindung war einst eine Revolution, eine Revolution überholt von der nächsten, der digitalen? Kinder brauchen Bücher hieß die deutsche Ausgabe des 1982 erschienenen und lange Zeit als Standardwerk der Leseforschung geltenden Buchs von Bruno Bettelheim.3 Aus dem Faktum der 1980er-Jahre ist im Zeitalter digitaler Mediennutzung – ungeachtet obiger Ergebnisse zum Lesen – eine Frage geworden: Brauchen Kinder Bücher? titelte jüngst ein Kolloquium an der Universität Mainz. »Wozu brauchen Kinder noch Bücher?«, fragte Katrin Hörnlein in der Zeit noch provokativer.4

Die Erkenntnisse der internationalen Forschergruppe E-READ, zusammengefasst in der Stavanger-Erklärung kommen zu einer klaren Antwort auf diese Frage: Ja, wir brauchen Bücher, weil wir auf digitalen und gedruckten Medien unterschiedlich lesen: »Die Forschung zeigt, dass Papier weiterhin das bevorzugte Lesemedium für einzelne längere Texte bleiben wird, vor allem, wenn es um ein tieferes Verständnis der Texte und um das Behalten geht. Außerdem ist Papier der beste Träger für das Lesen langer informativer Texte. Das Lesen langer Texte ist von unschätzbarem Wert für eine Reihe kognitiver Leistungen wie Konzentration, Aufbau eines Wortschatzes und Gedächtnis.« 5

Auch die Leseforscherin Maryanne Wolf verweist auf den fundamentalen Unterschied zwischen digitalem und vertieftem Lesen. Auf die Frage, warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen, gibt sie eine sehr eindringliche Antwort: für unsere Gesellschaft. Denn vertieftes Lesen fördert die Empathie und die Fähigkeit, die Perspektive anderer einzunehmen, »eine unabdingbare Voraussetzung in einer Welt, in der immer mehr Kulturen, immer häufiger aufeinandertreffen.« 6 Während das schnelle Lesen Informationen im Arbeitsgedächtnis abspeichert, werden sie beim vertieften Lesen im Langzeitgedächtnis abgelegt und helfen, Neues mit vorhandenem Wissen abzugleichen, kritisch zu analysieren und Rückschlüsse zu ziehen. Es ist unser Schutz vor leichter Beeinflussbarkeit und Fake News.7

Die vierte Klasse bildet so etwas wie eine Demarkationslinie beim Lesenlernen. Daher untersucht die IGLU-Studie im Ländervergleich das Leseverhalten von Zehnjährigen.8 Zuletzt mit erschütternden Ergebnissen: Fast ein Fünftel der deutschen Schüler kann nicht gut genug lesen, um den Text auch zu verstehen. Ein Grund mehr für die Kinderbuchautorin und ehemalige Grundschullehrerin Kirsten Boie, mit der Hamburger Erklärung »Jedes Kind muss lesen lernen!« politisch aktiv zu werden: »Lesen ist noch immer DIE Schlüsselqualifikation für die Teilhabe an der Gesellschaft. Die betroffenen 18,9 % der Kinder werden einmal unsere Erwachsenen sein. Neben den Folgen, die eine fehlende Lesefähigkeit für jeden Einzelnen von ihnen haben wird, sind auch die Folgen für die Gesellschaft insgesamt erschreckend. Ohne die Möglichkeit, einen qualifizierten Beruf zu erlernen, werden die meisten dieser Menschen vermutlich jahrzehntelang auf staatliche Unterstützung angewiesen sein.« 9

Wenn Kinder mit Ende des Grundschulalters nicht fließend lesen gelernt haben, so fasst Maryanne Wolf die Erkenntnisse der Kognitions- und Leseforschung auf sehr eindringliche Weise zusammen: »Sie sind im Grunde für alles, was mit Bildung und Lernen zu tun hat, verloren. Tatsächlich werden viele dieser Kinder abgehängt […]. Die Strafvollzugseinrichtungen sämtlicher Bundesstaaten quer durch Amerika wissen ein Lied davon zu singen. Manche darunter gründen ihre Hochrechnungen für den künftigen Bettenbedarf auf die Lesestatistiken von Dritt- und Viertklässlern.« 10

Lesen ist das Fundament für alles: schulischen Erfolg, gesellschaftliche Teilhabe, die eigene beruflich zufriedenstellende Laufbahn und persönliche Weiterentwicklung, also für das Menschsein. Lesenlernen ist eine Präventivmaßnahme für gesellschaftliche Folgekosten, so wirksam und zwingend wie gesundheitliche Prävention. Umso mehr wundert es, dass das Quartett aus Eltern, Schulen, Bibliotheken und Buchbranche mit diesem Thema weitgehend sich selbst überlassen bleibt. Das Engagement der Wirtschaft, die über Azubis klagt, die nicht ordentlich lesen und schreiben können, ist, gelinde gesagt, zurückhaltend. Denn Lesen taugt wenig als PR. Lesen ist eine individuelle Sache und längst nicht so medienwirksam wie Sport, Kunst, Theater oder Tanz. Und nachhaltige Initiativen der Politik fehlen noch immer. In die Bresche springen zwar unzählige Leseförderer, kreativ und engagiert, aber oft ehrenamtlich und fast immer begrenzt durch fehlende finanzielle Mittel.

Lesen ist wie Fahrrad fahren, man kann es erst genießen, wenn man nicht mehr über die Technik nachdenken muss. Im Zeitalter der digitalen Revolution brauchen wir die Revolution des Lesens mehr denn je. Menschenkinder brauchen Bücher. Für ihre und für unsere Zukunft. Sorgen wir dafür.

Anmerkungen

1 Studie am Global Information Industry Center der University of California in San Diego, zitiert in: Maryanne Wolf: Schnelles Lesen, langsames Lesen. Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen. München 2019, S. 97.

2 34 GByte entsprechen in etwa 100 000 Wörtern. Ausgehend von der vom Duden ermittelten Durchschnittslänge eines deutschen Wortes von 6,9 Buchstaben und einer Normseite von 1800 Anschlägen.

3 Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Bücher. Lesen lernen durch Faszination. Stuttgart 1982.

4 Katrin Hörnlein: »Wozu brauchen Kinder noch Bücher?«, in: Zeit online vom 20.03.2019. https://www.zeit.de/2019/13/lesen-kinder-buecher-bildschirm-analog-digital [zuletzt abgerufen am 29.01.2020].

5 Stavanger-Erklärung der Forschungsinitiative E-READ, abgedruckt in FAZ online, aktualisiert am 22.01.2019. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/stavanger-erklaerung-von-e-read-zur-zukunft-des-lesens-16000793.html [zuletzt abgerufen am 29.01.2020].

6 Maryanne Wolf, a. a. O., S. 67. Menschen, die lesen, sind netter, als die, die nicht lesen, ist das Ergebnis einer Studie der Kingston University, London. Sie sind höflicher, empathischer und verhalten sich sozial angemessener. Vgl. auch: »The Language Nerds: People who read books are nicer than those who don’t, study finds«. https://thelanguagenerds.com/people-who-read-books-are-nicer-than-those-who-dont-study-finds/ [zuletzt abgerufen am 29.01.2020].

7 Maryanne Wolf, a. a. O., S. 76.

8 Anke Hußmann, Heike Wendt, Wilfried Bos, Albert Bremerich-Vos, Daniel Kasper, Eva-Maria Lankes, Nele McElvany, Tobias C. Stubbe, Renate Valtin (Hrsg.): »IGLU 2016 Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich«, nachzulesen unter anderem auf der Website der Kultusministerkonferenz. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2017/IGLU_2016_Berichtsband.pdf [zuletzt abgerufen am 29.01.2020].

9 »Jedes Kind muss lesen lernen! Hamburger Erklärung«. Nachzulesen unter anderem auf der Website von Lesenetz Hamburg. https://www.lesenetz-hamburg.de/sites/default/files/Hamburger%20Erkl%C3%A4rung_Jedes%20Kind%20muss%20lesen%20lernen_150818.pdf [zuletzt abgerufen am 29.01.2020].

10 Maryanne Wolf, a. a. O., S. 193.

Monika FührerWenn ein Kind stirbtBrief einer Palliativärztin

Lieber Joshua,

es sind noch ein paar übrig von den glutenfreien Schnitten mit der schrecklichen Cremefüllung. Ich bin mir sicher, Du hast sie auch nicht gemocht. Eigentlich kann man die nur essen, wenn es gar nichts anderes gibt – so als Lebensretter kurz vor dem Verhungern.

Essen, das richtig schmeckt und nicht nur so tut, das hast Du Dir gewünscht, als Du mit Birga, unserer wunderbaren Psychologin, über das Sterben gesprochen hast. Du hast gesagt: »Wenn ich weiß, dass ich nicht mehr lange lebe, dann will ich Brezen essen, echte Brezen mit Butter drauf.« Und dann hast Du das auch gemacht, und uns die Bilder geschickt von Deinem Festessen. Du hast die Brezen gegessen, und wir alle haben gedacht, hoffentlich geht das gut. Weil Du uns ja alle überrascht hast, als Du nach den vier Wochen auf der Kinderpalliativstation nach Hause gegangen bist. Vier Wochen gebe ich Euch, hast Du am Anfang gesagt, als es Dir so schlecht ging. Deine Leber war auch noch krank geworden, durch das Medikament, das wir Dir gegen das viele Wasser in Deinem Körper gegeben haben. Es war ein Versuch, verbunden mit ganz viel Hoffnung, dass es Dir vielleicht dadurch wieder für ein paar Jahre, vielleicht auch nur Monate besser gehen könnte. Es war auch ein Risiko. Deine Leber war durch Dein krankes Herz schon sehr belastet, aber Du wolltest es wenigstens versuchen. Der dicke Bauch, das viele Wasser, das Dir die Luft bei jeder kleinsten Anstrengung genommen hat, das hat Dich so verzweifelt und wütend gemacht. Einmal konntest Du nicht mehr allein ins Bett klettern, und als eine Krankenschwester versucht hat, Dich in das Bett zu heben, hast Du aufgeschrien vor Schmerz, denn jede Berührung tat Dir weh, und vor Verzweiflung, und das tat noch viel mehr weh.

Du hast immer wieder etwas hergeben müssen. Körperlich waren Dir Deine kleinen Brüder schon bald überlegen. Irgendwann konntest Du beim Fußballspielen auch als Torwart nicht mehr mithalten. Selbst längere Zeit zu stehen war einfach zu anstrengend. Und die beiden wurden immer geschickter und schneller und größer, und dabei warst Du doch der Älteste von Euch dreien. Ja, schon, natürlich wolltest Du auch dazugehören, wenn Dein Vater und die beiden auf den Fußballplatz gingen. Aber irgendwie tat es Dir weh, nur noch zuzuschauen. Das konntest Du nicht mehr gut verbergen, nicht immer so tun, als ob es Dir Freude macht, im Rollstuhl dabeizusitzen.

Irgendwann hast Du gemerkt, dass Du nicht mehr so gut denken kannst. Im Denken warst Du immer vorn, da hatten Deine Brüder keine Chance. Du hast gewonnen, wenn Ihr Memory gespielt habt, und hast geschummelt beim UNO, und sie haben Dich nicht erwischt. Du hast die Regeln neu erfunden, und sie haben Dir geglaubt, dass das schon immer so war. Und dann hast Du Deine eigenen Regeln vergessen. Die Hausaufgaben in der Schule fielen Dir immer schwerer, und manchmal hast Du sie auch einfach vergessen – nicht absichtlich, aber Du hast Dich geschämt. Es war Dir peinlich, dass Du immer so müde warst und Dich nicht mehr konzentrieren konntest. Eigentlich wolltest Du keine Extrawurst, Du wolltest sein wie die anderen Kinder in Deiner Klasse.

Mit Dir hab ich meinen ersten Star Wars-Film, die Episode I, gesehen. Du hast uns alle eingeladen, die Schwestern, die Ärzte, die Therapeuten – einige sind sogar extra aus ihrem freien Tag gekommen. Wir wussten alle, wie wichtig es Dir war, und dass es vielleicht keine zweite gemeinsame Episode geben würde. Popcorn und Limo – und der Held ein Junge, dem außer dem Jedi und seiner Mutter keiner zutraut, dass er dieses mörderische Rennen und damit seine Freiheit gewinnt. Du warst verzweifelt, als wir es zuerst einfach nicht hinbekamen, die richtige Sprache zu wählen. Immer wieder begannen die Dialoge auf Englisch. Und Du wolltest doch, dass wir verstehen, warum Dir dieser Film so wichtig ist. Ich weiß nicht mehr, wer es nach all dem wilden Probieren dann endlich geschafft hat – plötzlich lief der Film auf Deutsch. Du hast uns jede Figur erklärt, diese Welt voll seltsamer Wesen, klein, groß, mit den unterschiedlichsten Gesichtern und Körpern.

Deinen Kampf hast Du schon seit Deiner Geburt geführt. Mit nur einer Herzkammer geboren, hast Du nur mithilfe der modernen Apparatemedizin überlebt. Für Dich bedeutete das unzählige Tage im Krankenhaus, große Operationen, Schmerzen und Angst.

Lange Zeit haben Deine Eltern für Dich entschieden. Sie haben versucht, Deine Krankheit einzubauen in Euer Familienleben und die Medizin irgendwie auf Abstand zu halten, nachdem klar war, dass es keine Heilung für Dich geben würde, nur einen Aufschub. Wie lange, das konnte kein Arzt beantworten.

Als Dein Bauch immer dicker wurde durch das Wasser und Du immer öfter in die Klinik musstest, haben die Kollegen aus dem Herzzentrum bei uns angerufen. Ich kann mich noch gut an unseren ersten Hausbesuch bei Euch erinnern. Nein, wir waren nicht wirklich willkommen. Bisher konnte Deine Mutter den Gedanken an Deine Krankheit wenigstens zum Teil in der Klinik lassen, und jetzt verfolgten Ärzte und Krankenpfleger Euch sogar bis nach Hause. Es hat eine ganze Zeit gedauert, bis Deine Eltern uns vertraut haben. Das Kinderpalliativteam kommt zu uns – das erzählt man nicht eben mal der netten Nachbarin, die zum Kaffee kommt und sich so gerne um Dich und Deine Brüder kümmert. Der Name unseres Teams hat Deine Mutter erschreckt.

Du hattest schon mehrere schwere Krisen, die schlimmste war Deine Lungenblutung. »Da hatte ich richtig Angst, da hab ich nicht gewusst, was sie mit mir machen und ob das wieder gut wird«, so hast Du das Gefühl später beschrieben. Bisher konnten die Ärzte im Herzzentrum Dir immer wieder helfen. Du hast sie alle gut gekannt, ihnen vertraut, und hast mit ihnen um jeden Tag geschachert, den Du in der Klinik bleiben musstest. Das war unser Eintrittsticket. Wir haben alles mitgebracht – die Eiweißinfusionen, den Ultraschall, sogar ein Minilabor. Nicht mehr in die Klinik für die Infusionen, das hat dann sogar Deine Mutter überzeugt.

Und dann musstest Du gerade an Weihnachten zu uns auf die Kinderpalliativstation am Klinikum Großhadern. Der Kommentar Deines Vaters: »Wenigstens müssen wir nicht ins Krankenhaus.« Deine Mutter hatte schnell in einen großen Korb alles eingepackt, was sie für das Weihnachtsessen brauchte. Mein hilfloser Versuch, sie zu trösten, scheiterte krachend. Sie brauchte alle Kraft und auch den Zorn auf uns Ärzte und unsere leeren Versprechungen, um weiter zu funktionieren und trotz der riesigen Enttäuschung für Dich und Deine Brüder Weihnachten zu feiern.

Die Verschlechterung kam schleichend. Auch wir haben uns im Team immer wieder darum gedrückt, das anzuerkennen. Deine Haut wurde immer empfindlicher, jede kleinste Schramme wollte ewig nicht heilen. Die Stufen hinauf in Dein Zimmer im ersten Stock fielen Dir immer schwerer. Deine Sätze wurden kürzer, die Luft reichte nicht mehr. Wir haben diskutiert, mit Spezialisten telefoniert, haben uns mit Dir und Deinen Eltern gefreut, wenn es Dir für ein paar Wochen wieder etwas besser ging. Lange schon hast Du Morphin gebraucht, für Deine Atemnot und die Schmerzen. Du hättest Dich bei uns nie beklagt, über Deine Krankheit, die Schmerzen, die immer schlimmer wurden, über das Wasser in Deinem Bauch, das Dir das Atmen schwer machte. »Sauer bin ich eigentlich nicht auf meine Krankheit«, hast Du einmal der Reporterin gesagt, als sie diesen berührenden Film über Dich gedreht haben, den ich immer noch in meinen Vorträgen zeige.

Nur wenn wir wieder einmal mit neuen Ideen kamen, die Deinen Speiseplan noch weiter eingeschränkt hätten, dann hat sich Deine Mutter vor Dich gestellt und für Deine Lebensqualität gekämpft. Die glutenfreie Diät, die Du zusätzlich wegen Deiner Zöliakie einhalten musstest, hat Dir viel Verzicht abverlangt.

Deine Enttäuschung und Deine Wut haben manchmal Deine Brüder abgekriegt. »So sollen sie ihn nicht in Erinnerung behalten«, mit diesem Satz Deiner Mutter wurde mir zum ersten Mal klar, dass sie sich doch mit Deinem Sterben auseinandersetzte, auch wenn es ihr immer schwerfiel, darüber zu sprechen. Du hast immer gerne gesprochen, hast versucht, so Deine Angst und Deine Trauer zu kontrollieren. Das waren dann die Kopfgespräche, wie sie Birga genannt hat. Damit hast Du alle beeindruckt. Es war, als wolltest Du die dunklen Mächte der Krankheit im Sprechen besiegen. Du warst ein Jedi-Ritter, und Dein Lichtschwert war die Sprache. Jedi-Ritter geben nie auf.

Mit Birga hast Du auch Herzgespräche geführt. Aber eigentlich hat die Gespräche ja Fridolin geführt, Deine Froschpuppe und gleichzeitig Dein Stellvertreter. Er durfte all das sagen und fragen, was Dir zu viel Angst gemacht hätte. Fridolin war bei den Gesprächen dabei, als wir Dir und Deinen Eltern sagten, dass wir uns Sorgen machen. »Wenn Ärzte ratlos sind, das hat schon etwas zu bedeuten«, hat Fridolin nach so einem Gespräch gesagt. »Der Körper schafft das Leben nicht mehr?«, hat Fridolin gefragt und die Ärztin hat genickt. Das war hart und schwer zu begreifen. Du hast geweint, und Fridolin konnte nichts mehr sagen. »Ich habe Angst, dass ich dann nicht mehr atmen kann, dass ich Schmerzen habe oder dass es wieder blutet.« Du wolltest wissen, wie wir Dir helfen können. Und dass wir Dir sagen, wenn nicht mehr viel Zeit bleibt. Irgendwann hast Du Birga gefragt, ob sie auch »hinterher« noch zu Deinen Eltern fahren wird. Das hat sie Dir versprochen.

Du hast Dich gut vorbereitet. Die Menschen, mit denen Du über Deine Gefühle, Deine Ängste und Deinen Glauben sprechen wolltest, hast Du Dir gut ausgesucht. Und dann kam Dein Tod doch plötzlich. Unbegreiflich, für Deine Eltern, auch für uns. Unbegreiflich wird der Tod immer bleiben.

Joshua wurde 14 Jahre alt. Er ist eines von etwa 3000 Kindern und Jugendlichen, die in Deutschland jedes Jahr an schweren Erkrankungen sterben. Viele dieser Kinder leiden an einer angeborenen Krankheit, oder sie erleiden eine schwere Schädigung des Gehirns bei der Geburt oder durch einen Unfall. Die großen Fortschritte in der Kinderheilkunde haben in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass Kinder mit schweren Erkrankungen heute deutlich länger leben. Kinder mit Krebserkrankungen können in bis zu 80 Prozent der Fälle geheilt werden. Und auch wenn die Krankheit unheilbar ist, leben viele der Kinder über zehn Jahre und länger mit ihrem Tumor oder ihrer Leukämie. Auch bei vielen anderen lebensverkürzenden Erkrankungen hat sich die Überlebenszeit deutlich verlängert.

Was bedeutet das für die Kinder und ihre Familien? Zunächst mehr gemeinsame Zeit, was sich alle wünschen. Zeit, zu leben wie andere Kinder. Es bedeutet aber auch, mit der Krankheit aufzuwachsen, mit der ständigen Angst vor dem nächsten Rückfall, der nächsten Komplikation, vor dem frühen Tod. Es bedeutet leben mit stundenlangem Warten in Ambulanzen, Wochen im Krankenhaus, manchmal wiederkehrende Aufenthalte auf der Intensivstation. Solange Heilung noch möglich ist, sind Eltern und Kinder meist bereit, all das auf sich zu nehmen. Aber was ist, wenn die Krankheit unaufhaltsam fortschreitet und die Heilungsmöglichkeiten verschwinden?

Dann brauchen die Kinder und ihre Familien ein Netz, das ihnen erlaubt, möglichst lange zu Hause zu bleiben – in der Gewissheit, dass rund um die Uhr Ärzte und Pflegende bereitstehen, um in Krisensituationen zu helfen. Das ist die Aufgabe der ambulanten Kinderpalliativteams, die es mittlerweile in ganz Deutschland gibt, inzwischen fast flächendeckend. Die Teams fahren oft 100 Kilometer und mehr, um es den Kindern zu erlauben, angstfrei zu Hause zu bleiben. »Nie mehr ins Krankenhaus« ist ein Satz, den man von den Familien oft hört.

Und wenn es doch so schlimm wird, dass es zu Hause nicht mehr geht, dann gibt es in Deutschland einige wenige spezialisierte Kinderpalliativstationen, die versuchen, für die Kinder die bestmögliche medizinische Versorgung anzubieten und gleichzeitig ein »Zuhause auf Zeit« zu sein. Oft werden diese Stationen, trotz aller Medizintechnik, gar nicht als »Krankenhaus« wahrgenommen – so auch von Joshuas Vater. Und das ist vielleicht das größte Kompliment, das uns die Familien machen können.

Christine NöstlingerWas Neugeborene wollenDie ersten 448 Tage*

1. Tag

Heute, gegen 0:30 Uhr, hat man mich aus dem dunklen Warmen ins helle Kalte hinausgepreßt. Zuerst wollte ich mich gegen diesen Transport zur Wehr setzen, weil ich mich in meiner Lage recht ordentlich etabliert hatte und auch weil ich ein Geburtstrauma für mich befürchtete. Doch dann kapierte ich, daß ich eine sogenannte »Hausgeburt« war, und beschleunigte meinen Austritt aus dem Mutterleib, so gut und so heftig ich nur konnte, um das erhöhte Risiko, das Hausgeburten für Mutter und Kind darstellen, in erträglichen Grenzen zu halten.

Mein Vater war bei meiner Austreibung zugegen und begrüßte mich gleichermaßen verstört wie freundlich. Die Anwesenheit und Mithilfe dieses Mannes bei meiner Geburt war mir sehr willkommen, weil es ihm dadurch besser gelingen wird, eine Beziehung zu mir aufzubauen, und ich von Anfang an also zwei fixe Bezugspersonen haben werde; was vor allem dann sehr nützlich werden könnte, wenn meine Mutter einmal abhauen sollte. Dann sitze ich wenigstens nicht mit einem Vater da, der mit mir nichts anzufangen weiß. Für den Fall allerdings, daß es mein Vater sein sollte, der einmal abhauen wird, stehe ich dann schön blöd da und wesentlich belämmerter als andere Kinder, die von Anfang an zu ihren Vätern keine Beziehung haben. Ihr Leid nämlich hält sich durch diesen Umstand bei seinem Abgang in erträglichen Grenzen.

Im Moment ist mir ziemlich langweilig. Ich liege nackend auf meiner Mutter nacktem Bauch, der noch ein ziemlich faltiger ist, herum. Das ist wichtig für mich, sagen sie. Zuerst im Bauch, dann auf dem Bauch! So werden bei mir Entzugserscheinungen vermieden, die ich kriegen könnte, wenn ich plötzlich das mütterliche Herzensticktack nimmer hören kann.

7. Tag

Da ich ausschließlich mit Muttermilch ernährt werde, dürfte ich eigentlich weder Blähungen noch Leibschneiden haben. Da ich aber trotzdem Blähungen und Leibschneiden habe, diskutieren meine Eltern und mehrere Freunde von ihnen im Nebenzimmer darüber, ob man mir Kümmeltee oder Kamillentee verabreichen solle. Aber auch die Kümmelanhänger und die Kamillenanhänger haben untereinander Differenzen. Sie sind sich nicht einig, ob man mir ganz normale, also chemisch gespritzte Ware aufkochen darf, oder ob man aus einem Reformhaus biologisch reinen Tee holen soll.

Außerdem ist Streit um meine Verpackung ausgebrochen. Um die Windeln geht es! Mein Vater möchte mich ohne diese aufziehen. Er sagt, ich läge in ihnen wie in einem permanenten Priesnitz-Umschlage, und das müsse sich – auf die Dauer gesehen – feucht auf mein Gemüt legen. Meine Mutter versteht das, aber sie wendet ein, daß man mir, hielte man mich windellos, ein Stück Plastik zwischen Laken und Matratze schieben müßte. Und da meine Mutter für »Jute statt Plastik« ist, was aber in diesem Falle keine Lösung sein kann, beharrt sie auf der Windelverpackung.