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Beschreibung

Empörte Aktivisten im Hambacher Forst, wütende SchülerInnen bei den Fridays for Future-Protesten, hitzige Debatten im Bundestag und doch nur ein Schmalspurprogramm zum Klimaschutz, Plastik in den Weltmeeren, Mikroplastik im Trinkwasser, Gletscherschmelze, Tiersterben, Flygskam! Natur- und Klimaschutz sind zum beherrschenden Thema einer übererregten Öffentlichkeit geworden – bis der globale Shutdown die Aufmerksamkeitsökonomie auf andere, viralere Themen lenkte. Bevor aber die Autos auf unseren Auto- und die Flugzeuge auf den Startbahnen die globale Wirtschaft wieder anrollen lassen und der Klimaschutz damit an einem Scheidepunkt steht, nutzen wir die Zeit, und sezieren das Klima der Debattenlage: Wer redet wie, was, wann und wo mit wem? Eisige Winde der Negation, Jetstreams der Erzürnung, Monsunregen der Kritik, Orkane des blinden Aktivismus – kann die Gesellschaft der existentiellen Bedrohung durch die Klimakrise auf diese Weise noch Herr werden? Wir schalten noch einmal zum Klima und durchleuchten, warum uns der Tanz der Perspektiven so durcheinanderwirbelt. Mit Beiträgen von Marlen Gabriele Arnold, Franz Josef Radermacher, Joachim Wille, Jörg Staude, Solvejg Nitzke, Berit Glanz u.v.m.

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Seitenzahl: 258

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Inhalt

Armin Nassehi Editorial

Cordt SchnibbenBrief eines Lesers (29)

Franz Josef Radermacher Das Rio/Kyoto/Paris-DilemmaEine klimapolitische Rekonstruktion verpasster Chancen und ein konkreter Ausweg

Jörg Staude, Joachim WilleGreta muss wartenCorona: Wie die Politik den Klimaschutz vermasselt

Marlen Gabriele ArnoldSchwarzer Peter im Kennzahlen-RouletteWer ist verantwortlich für den Klimawandel?

Peter UnfriedWann regnet es endlich?Die begrenzte Wirksamkeit grüner Bewegungen von 68 bis heute

Simon Weber, Jacques ChlopczykWelt wärmer, Gesellschaft kälterDiskursarbeit in hitzigen Zeiten

Oswald EggerPriameln zum Buch vom Prinzip der kleinsten Wirkung 離合詩 Chang Qu (常璩) (291–361 n. Ch.)

Solvejg NitzkeGut Wetter machenEine Reise zu den letzten Narrativen des Klimawandels

Dowell, Zhangshuang, Joao Paulo Burini, Fpm, Peter Zelei Images, Blackjack3d, Andriy OnufriyenkDonner. Wetter. Corona. Galerieansicht

Armin NassehiKlima, Viren, KurvenWas heißt, auf die Wissenschaft zu hören?

Christof BreitsameterUm Gottes willenReligion und Klimaschutz

Berit GlanzWo ist die Steckmuschel?Vom Verlust sinnlicher Erfahrungen in der Klimakatastrophe

Marc WinkelmannPrima Klima mit KIDer neue Schulterschluss von Klimaschutz und Digitalisierung

FLXXSchlussleuchten von und mit Peter Felixberger

Die Autoren

Impressum

Armin Nassehi Editorial

Für die Planungszyklen des Kursbuchs ist die gegenwärtige Krisenfrequenz eindeutig zu schnell. Wir wollten mit Donner. Wetter. Klima. die präsenteste Krise unserer Zeit in den Fokus nehmen, nicht eigentlich das Geschehen selbst, sondern die Art und Weise, wie die Gesellschaft, wie ihre Kommunikation, wie ihre Begriffs- und Konfliktbildung, wie ihre Bewältigungs- und Verarbeitungsstrategien darauf reagieren. Denn der Gesellschaft fällt die Krise durchaus als eine Art äußerer Veränderung von Klima- und Wetterphänomenen auf, vor allem aber als Störung von Routinen, Selbstverständlichkeiten und Bedrohungsszenarien. Eine Gesellschaft kann auf äußere Einflüsse nur im Modus des Innen reagieren – sie brauchte lange genug, sich die äußeren Veränderungen in ihrem Innenverhältnis selbst zuzurechnen. Diese Prozesse sollte dieses Kursbuch im Blick haben. Wie reagiert die Gesellschaft in ihrem Innen­verhältnis auf etwas, das wie etwas Äußeres aussieht und doch alles ist, aber nicht Äußeres, schon weil Gesellschaft nichts Äußeres kennt? Sie kennt die Welt nur als das, was sie sich selbst davon zumutet. Und sie organisiert diese Zumutung nach eigenen Regeln.

Das ist ein gutes Konzept, wie wir finden – und schon wird es, während die Kursbuch-Maschinerie angelaufen ist, von der nächsten Krise ge­stört, von der Corona-Pandemie, die in statu nascendi der Planungen noch wie ein regionales chinesisches Geschehen aussah. Man sieht diese Störung und Verstörung vielen Texten dieses Kursbuchs an – der gegenwärtige Krisenmodus übersteigt in der Drastik seiner Reaktionsform den Krisenmodus in Sachen Klimawandel um ein Vielfaches. Schon des­halb wird dieses Kursbuch sowohl im impliziten als auch im expliziten Rekurs auf die Corona-Krise ganz anders gelesen, als wir es uns bei der Planung haben träumen lassen. Man kann es auch so sagen: Zu einem passenderen Zeitpunkt hätte ein Kursbuch zur Klimakrise nicht erscheinen können.

Wie komplex die beiden Krisen miteinander gekoppelt sind, lässt sich an vielen Bildern demonstrieren, von denen mir zwei aus Indien und Italien besonders eindrücklich erscheinen, die in den letzten Wochen durch die sozialen Netzwerke zogen. Das eine stammt aus der nordindischen Stadt Jalandhar (Punjab). Man kann dort das erste Mal nach 30 Jahren wieder den etwa 200 Kilometer entfernten Himalaja klar und deutlich sehen. Und in Venedig ist das Wasser der Kanäle nicht mehr grünlich-trüb, sondern so klar, dass man bis zum Boden sehen kann. Schon eine kurze Zeit mit weniger Verkehr und damit weniger Emissio­nen hat sichtbare Folgen – die Luft wird so klar, dass alte Bilder wieder­kommen, der ausbleibende Bootsverkehr in der Lagunenstadt lässt die Sedimente ruhen, und es gibt sogar Meldungen darüber, dass seit den welt­weiten Reaktionen auf das Corona-Virus die Erschütterungen der Erdkruste deutlich messbar zurückgegangen sind. Das soll nicht heißen, dass man mit den Mitteln gegen die Pandemie auch den Klimawandel bearbeiten sollte und könnte – aber das unsichtbare Virus mit dem ge­krönten Namen führt in geradezu historischer Ironie den sichtbaren Be­weis, wie anthropogen die Umwelt- und Naturveränderungen sind, mit denen wir zu tun haben. Für die Frage, wie das zu bewältigen ist freilich, kann das gar nichts beitragen. Es könnte aber ein Hinweis auf ver­passte Chancen sein – und womöglich wird auch die Corona-Krise eine Krise durch verpasste Möglichkeiten.

Verpasste Chancen sind ein Motiv, das viele Beiträge dieses Kursbuchs begleitet. Franz Josef Radermacher berichtet von vorübergegangenen Zeitfenstern für die Bearbeitung der Klimakrise. Auch Jörg Staude und Joachim Wille stoßen in dieses Horn und mutmaßen, ob der europäische Green Deal nun unter Corona noch weniger Chancen hat als ohnehin schon, und Peter Unfried trauert politischen Engführungen der Klima­bewegung nach und beklagt vor allem ihre Staatsfixiertheit. Auch die Kos­ten-Nutzen-Analyse der Digitaltechnik und der KI als Energiever­braucher und Lösungskonzept von Marc Winkelmann weist auf verpasste Chancen hin, weil auf die Klimafrage stets nur reagiert wurde. Die Überlegungen über Klimadialoge von Simon Weber und Jacques Chlopczyk versuchen sich ebenfalls daran, verpassten Chancen entgegenzuwirken, indem sie auf die Kraft der Kommunikation setzen. Dieser Beitrag folgt unserem Call for Papers für jüngere Autorinnen und Autoren.

Wie erfahren wir vom Klimawandel, welche Informationen stehen zur Verfügung, wie wird Wissen darüber erzeugt? Marlen Gabriele Arnold spürt der Art und der Qualität von Daten nach, die die Krise repräsentieren sollen und zum Teil zu viel, zum Teil zu wenig Eindeutigkeit er­zeugen. Sie kommt zu der wunderbaren Schlussfolgerung, dass darin die merkwürdige Antinomie aufscheint, dass wir durch diese vielen Daten und Informationen darüber belehrt werden, dass es sich um einen men­schengemachten Wandel handelt, andererseits aber der Illusion mensch­licher Allmachtsfantasien unterliegen, die Sache instrumentell steuern zu können. Auch Solvejg Nitzke kommt auf die Repräsentations- und Präsentationsformen des Klimawandels zu sprechen, deren szientoide Form sie vor allem im Blick hat. Und mein eigener Beitrag stellt die Frage, was es denn eigentlich heißt, auf die Wissenschaft zu hören.

Besonders hervorheben möchte ich zwei Beiträge. Der Moraltheologe Christof Breitsameter zeigt, wie stark der heutige Klimadiskurs auf alte theologische und religiöse Argumentationsformen zurückgreift, mit der Schicksalhaftigkeit oder Bedeutsamkeit von Wetter und Klima umzu­ge­hen. Ist der Klimawandel Gottes eigener Plan oder eine Herausforderung für den Menschen, mit Gottes Schöpfung angemessen umzugehen? Der Theologe jedenfalls empfiehlt, nicht nur den »lieben Gott« lieber aus dem Spiel zu lassen. Und Berit Glanz erzählt über die Erzählbarkeit der Natur, die spätestens mit der Erzählung keine Natur mehr ist, aber eben doch die vorgängige Möglichkeit, Natur zu erreichen. Sie plädiert dafür, den Spuren der Natur durch die Texte der Menschheit zu folgen.

Wir freuen uns sehr über Oswald Eggers Priameln – und sagen nicht mehr als das, was er uns selbst dazu gesagt hat: »Bei Gedichten ist Verstehen: Wirken.«

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Virus-Bilder von sieben ver­­schiedenen Künstlern. Die Bilder sind in einem 3-D-Verfahren auf Basis von Mikroskopansichten entstanden, also digital optimierte Viren, künstlerisch weiterbearbeitet. Sie können wie eine Parabel gelesen wer­den – auf beide Krisen. Bilder sind anschaulicher, als sie es wirklich sind, denn das Bild liefert zugleich mit, dass wir uns nur ein Bild von dem Geschehen machen können, das Geschehen selbst aber unerreichbar ist. Das ist das Merkwürdige an bildlichen Darstellungen, die anders als Text so tun, als können das Gezeigte und das Zeigen zur Deckung gebracht werden. Darauf verweist das Bild stets – weil es stets dies bleibt: ein Bild. Es ist aber kein Zufall, dass diese Bilder unter Kunstverdacht geraten, nicht nur weil sie ja künstlerische Darstellungen sind, sondern weil die Grenze zwischen Abbild und Gegenstand verschwimmt, es verschränkt sich hier fast die wissenschaftliche mit der künstlerischen Form – denn die Kunst verweist auf beides: auf die Dinge, wie sie sind, und darauf, dass man sie nicht zeigen kann, wie sie wirklich sind.

In seiner Kolumne FLXX speist Peter Felixberger diesmal mit Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède de Montesquieu, der offenbar nicht nur die Gewalten, sondern auch die Klimazonen geteilt hat.

Wir freuen uns über den nunmehr 29. Brief eines Lesers, für den uns Cord Schnibben seinen Beitrag über das Kursbuch 200.Revolte 2020 zur Verfügung gestellt hat, der bereits in seiner Kolumne »Bahnhofs­kiosk« im Online-Magazin Übermedien erschienen ist.

Cordt SchnibbenBrief eines Lesers (29)

Da steht es, gelb, schmal, kleiner als DIN A4. Wie ein Fels im Meer aus Bullshit, einsam, nur ein Exemplar, während die Zeitschriften rundherum mindestens im halben Dutzend um Aufmerksamkeit betteln. Das Heft steht so, dass man das gesamte Cover erkennen kann, wie von einem Kioskverkäufer inszeniert, der weiß: Dieses Heft ist etwas Besonderes. Kursbuch 200! Und dann auch noch dieses Thema: »Revolte 2020«!

Ich begrüße das Heft lächelnd, wie einen Hund, der weggelaufen war und nun nach Jahren schwanzwedelnd im Garten steht. Kursbuch lesen, das war mal so etwas wie Italowestern schauen und »Beat-Club«.

Mein erstes Kursbuch war das mit der Nummer 11, im Januar 1968. In meinem Bücherregal stehen heutzutage, nach vielen Umzügen, noch drei Kursbücher – und ein Sammelband mit den ersten 20 Ausgaben.

Das Kursbuch sei »der Begleiter aller Revolten seit 1965« gewesen, schreibt Herausgeber Armin Nassehi im Editorial des aktuellen Hefts, das nicht »nostalgisch« zurückblicken, sondern lieber – einmal um die Welt schauend – eine »strenge Gegenwartsanalyse« liefern wolle. Was dann thematisch heißt: Hongkong. Rechtspopulismus. Klimaproteste. Digitale Revolte. Protestsongs. Kirchenfrauenprotest. ­Mädchenprotest. Und zurückgeblickt wird doch auch: Der Zeichner und Anarchist Gerhard Seyfried, Zeichnungen von eins bis jetzt.

In der ersten Ausgabe, im Juni 1965, schrieb der Herausgeber Hans Magnus Enzensberger, im Heft »wird gehandelt von Grenzübertritten in Berlin, vom Verlust einer Kneipe, von einer Stadt in Finnland, von der Lage der Intelligenz, von den Rechten und den Möglichkeiten der Schriftsteller, vom Frankfurter Auschwitz-Prozess«.

Gelegentlich – beunruhigt von der fortschreitenden Enthemmung, der Müdigkeit intellektueller Debatten, der Kraftlosigkeit von SPD und CDU – schaue ich in die Kursbücher im Regal, die 1968, 1978, 1993 ver­sucht haben, die Gesellschaft zu beschreiben. Sie spiegeln die Themen des aktuellen Heftes wie in einem Hologramm.

Der Journalistin Hannah Lühmann, Autorin des »Briefes einer Leserin«, muss es ähnlich gehen. In ihrem Text erzählt sie von einem Text aus dem Kursbuch 54, Dezember 1978; er ist von Rainald Maria Goetz. Sie blickt, den Goetz-Text kommentierend, zurück auf das Zeitalter der Ironie vor 2014: »Wir wollten uns informieren, uns interessieren, gleich­zeitig hatten wir das Gefühl, alles, was man tun könne – in eine Partei eintreten, selber etwas gründen, Politisches posten –, wäre irgendwie auf­gesetzt, unauthentisch, unecht. Wir waren noch nicht an dem Punkt, an dem wir, um mit Goetz zu sprechen, ›unsere Wirklichkeit auf diese Abs­trakta beziehen können‹.«

Heute sei das Politische zurück, aber damit auch die »Etiketten und Schablonen«, sie sind denkfeindlich wie eh und je, bringen, wie eh und je, Erleichterung. Heute haben wir einen neuen, aus den Gender- und Kul­turwissenschaften hervorgegangenen Diskurs, der sich so wunderbar selbst sortiert, dass man ihn nicht mehr durchdenken muss, um in der aus ihm hervorgegangenen Sprache zu sprechen. Etiketten und Schablo­nen? Ja, gibt es auch, aber sind nicht Druck und Bereitschaft, sie zu über­winden, inzwischen viel bestimmender?

Kursbücher waren immer Denkbefehle, waren immer anstrengend, auch die 200. Ausgabe fördert Widerspruch, Reflexion, Weiterdenken. Das große Nein von Armin Nassehi schlägt den Bogen von den Ostermärschen der Fünfziger zu den studentischen Protesten der Sechziger, den Alternativbewegungen in den Siebzigern, der Friedensbewegung in den Achtzigern, den Montagsdemos in der DDR über die Pegida-Demos bis zu den aktuellen Klimaprotesten, »die sich anschicken, die Dimension der Achtundsechziger-Proteste zu übersteigen«.

Proteste sind »Themengeneratoren« in der Demokratie, sie unterbre­chen den »Machtkreislauf« und zwingen »den Machthaber dazu, sich dazu zu verhalten«. In der Natur von Protesten liegt es, einen Protestkreislauf auszulösen, eine »Steigerungslogik«. Darum gebe es eine direkte Linie von der 68er-Bewegung zur RAF oder von »einer rechten Protestszene zu den Mördern des NSU«. Und es gebe eine »direkte lineare Logik von dem etwas verschrobenen Parteigründer Bernd Lucke hin zu veritablen Faschisten wie Höcke, die das Kampagnengeschäft ge­lernt haben«.

Die soziale Logik von Protesten sei ähnlich, was man daran sehe, dass der rechte Propagandist Götz Kubitschek in seiner Schrift Provokation mit dieser Logik spiele, »die sich ihre Erfolgsbedingung bei linken Protestformen früherer Generationen abgeschaut hat«. Die »Steigerungslo­g­ik des Protestierens« führe in vielen Fällen zur Gewalt. Die Frage ist: Gilt das auch für die Fridays-for-Future-Proteste? Reicht den Klima-Kids irgendwann der 300. Schulstreik nicht mehr? Was kommt nach Extinc­tion Rebellion? Eine Öko-RAF?

Der Therapeut Wolfgang Schmidbauer geht in seinem Text »Die hei­lige Johanna des Waldbrandes« der Frage nach, warum es zu Gestalten wie Jeanne d’Arc, Katharina von Siena und Greta Thunberg kein männliches Pendant gibt, also warum das Mädchen, das mit einer großen Be­rufung gegen die Welt der Erwachsenen kämpft, keine Brüder hat. Eine der Antworten: Erwachsenen gelingt es besser als Jugend­li­chen, Ängste zu verdrängen, sie lenken sich ab, fangen an zu trinken, konsumieren mehr statt weniger. Offenbar gilt das auch für männliche Jugendliche.

Die Wissenschaftlerin Cornelia Koppetsch kritisiert den »Hashtag-Fe­­­minismus« (#Aufschrei, #MeToo) als Medienaufstand auf Nebenkriegs­schauplätzen: »Lohnungleichheiten und ökonomische Ausbeutung, Karriereblockaden, Altersarmut und alltägliche Form der Diskriminie­rung sind gesellschaftlich bedeutsamer, können medial aber kaum Auf­merksamkeit erzielen.« Und sie fragt: »Worin besteht der politische Nutzen, öffentliche Kunstwerke, wissenschaftliche Klassiker und prominente Persönlichkeiten öffentlichkeitswirksam anzugreifen und zu diskreditieren?«

»Sind Frauen die besseren Revolutionäre?« Das fragt logischerweise die Historikerin Hedwig Richter, räumt aber ein: »Die Frau als Hort der Demokratie, der Mann als Despot – so klar lagen die Dinge eher sel­ten zutage«; sie erinnert an den Aufstand der 68er-Frauen gegen die aufständischen Männer und den hilflosen Vorschlag von Fritz Teufel, alle »Genossinnen auszuschließen, weil sie noch entfremdeter und blö­der daherquatschen als die Genossen«; sie streift die feministische Revolutionshymne »The Pill« von Loretta Lynn aus dem Jahr 1975 (»All the years I stayed at home while you had all your fun«); um mit Mao Tse-tung zu enden, nicht mit Clara Zetkin, Rosa Luxemburg, oder Sahra Wagenknecht: »Die Revolution ist keine Stickerei.«

Was kommt nach der Revolution? Die Konterrevolution. In seinem Manifest »Wider die Schönfärberei« gesteht der Schriftsteller Gert Hei­­denreich: »Lasst uns Tacheles reden. Die neue Gegenreformation ist gelungen, die Täuscher haben es geschafft: Sie sind zur Macht gelangt. Gewohnheitsmäßige Lügner mit Amt und ohne Würde bestimmen den öffentlichen Diskurs.« Die Revolution gegen das Fremde werde von den Schönfärbern als Rechtspopulismus euphemisiert. »Populisten sind Leute, die dem Volk nach dem Maul reden. Das ist auf Dauer eine er­mü­dende Strategie … Faschisten aber sind Leute, die dem populus so lange ihre scheinbar vaterländischen Parolen einhämmern, bis das Volk ihnen nach dem Maul redet und sich an den Parolen so begeistert, als habe es sie selbst erfunden.« Euphemismen und Fake News seien der Boden, auf dem solches Unheil gedeiht.

Im ersten Kursbuch 1965 skizziert Hans Magnus Enzensberger das Pro­gramm seiner Neugründung: »Kursbücher schreiben keine Richtungen vor. Sie geben Verbindungen an, und sie gelten so lange wie diese Verbindungen. So versteht die Zeitschrift ihre Aktualität.« Was be­deutete das für die Ausgaben in den verschiedenen Jahrzehnten?

In meinem ersten Kursbuch, dem von Januar 1968, wurde Che Guevara – er war gerade in Bolivien erschossen worden – von Peter Weiss begraben: »Wir sind Optimisten. Wir glauben an die eingeborene Kraft, die den Menschen dazu befähigt, seine Unterdrücker zu stürzen.« Der Dramatiker beschreibt, ganz Superoptimist, »den Tag, an dem Millionen Arbeiter die Fabriken und Werkstätten verlassen und fordern werden: Schluss mit der Schlächterei – dieser Tag wird der Anfang vom Ende sein, vom Ende des Imperialismus.« 150 Seiten später, im Text »Berliner Gemeinplätze« allerdings räumt Hans Magnus Enzensberger ein: »Das Gespenst der Revolution flößt Millionen unserer Mitbürger sinnlose Angst ein.«

Am Ende des Kursbuchs 20, wir sind im März 1970, also fünf Jahre später, entwickelt Hans Magnus Enzensberger seinen Baukasten zu einer »Theorie der Medien«, einen erstaunlich weitsichtigen Blick, der bis in die Gegenwart 50 Jahre später reicht. »Mit der Entwicklung der elektronischen Medien ist die Bewusstseinsindustrie zum Schrittmacher der sozioökonomischen Entwicklung spätindustrieller Gesellschaf­ten geworden.« Und: »Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozess möglich, dessen praktische Mit­tel sich in der Hand der Masse selbst befinden.«

Die Kursbücher der ersten beiden Jahrzehnte waren viel stärker als heute auch eine literarische Zeitschrift, offen für »neue Prosa und neue Poesie«. Und wo die literarische Vermittlung versagt, »wird das Kursbuch den unvermittelten Niederschlag der Realien zu fassen suchen: in Protokollen, Gutachten, Reportagen, Aktenstücken, polemischen und unpolemischen Gesprächen«.

Im Kursbuch 54, Dezember 1978, reiht sich Reportage an Reportage, Essay an Essay, Gespräch an Gespräch. Mittendrin der sehr subjektive, sehr erschöpfte Blick eines Einzelgängers, mitten im Deutschen Herbst aufgeschrieben vom Medizinstudenten Rainald Maria Goetz, zu Papier gebracht in seinem ersten Text:

»Und so sitze ich, während ich dies schreibe, in meiner Studentenbude mitten in Schwabing, allmonatlich überweist der Vater die Miete. Ich habe mir den anerzogenen Weg gewählt, das Medizinstudium also, ein geordnetes, höchst braves Privatleben, ohne Alkohol, ohne Drogen, ganz ohne Studentenboheme. Ich werde das Soll erfüllen, Ausbrüche, Einbrüche, Abbrüche, nein, Brüche irgendeiner Art, sichtbar nach außen, erwarte ich nicht. Die Erwachsenen werden mir wieder anerkennend auf die Schulter klopfen, der macht seinen Weg.«

Im Kursbuch 113, September 1993, formuliert ein Dutzend Jugendli­cher in Selbstporträts ihre Hoffnung und Enttäuschung im wiedervereinigten Deutschland.

Der Schriftsteller Bodo Morshäuser surft mit spitzen Fingern durch die Sechziger, Siebziger, Achtziger: »In den Sechzigern wurde Identität von den Protestierenden gesellschaftlich begriffen und als Veränderung gedacht. In den Siebzigern wurde sie persönlich als Selbstverwirklichung verstanden. Achtzigerjahrejugendliche, die sich von Jugendlichen vorhe­riger Jahrzehnte unterschieden, hatten nicht das Ziel der Identität … Die Sechziger und Siebziger waren Jahrzehnte inhaltlicher politischer Aus­einandersetzung, die Achtziger waren das Jahrzehnt des Bestreitens von Inhaltlichem.«

Der Journalist Klaus Hartung schreibt 1993 – nach Rostock, Hoyers­werda, Hünxe, Mölln und Solingen –, als hätte Gert Heidenreich 2020 von ihm abgeschrieben: »Wir sind in die Defensive geraten … Bedroht sind Frauen und Kinder, türkische Frauen und türkische Kinder. Ausländer. Wir müssen etwas Selbstverständliches verteidigen. Etwas, das so selbstverständlich ist wie der Satz: Frauen und Kinder dürfen in unserer Gesellschaft nicht umgebracht werden.« Und auch Ernst Uhrlau, der Leiter des Hamburger Verfassungsschutzes, klingt wie aus der Zu­kunft: »Für das Selbstbewusstsein des organisierten Rechtsextremis­mus bedeutet die Legitimation durch die Zustimmung von Teilen der Gesellschaft einen Motivationsschub.«

Am Ende des 200. Kursbuchs bilanziert Herausgeber Peter Felixberger: »Seit ich lebe, geht die Welt unter.« Ich bin gespannt auf das 220. Kursbuch.

Franz Josef Radermacher Das Rio/Kyoto/Paris-DilemmaEine klimapolitische Rekonstruktion verpasster Chancen und ein konkreter Ausweg

Auf den Punkt

Die Weltgemeinschaft ist im Hinblick auf den Klimawandel in einer extrem schwierigen Situation. Es spricht sehr viel dafür, dass das 2-°C-Ziel nicht erreicht werden kann – egal, wie viel Energie und Optimismus Aktivisten mit ihren Durchhalteparolen verbreiten. Wie sind wir in diese Lage gekommen? Der vorliegende Beitrag zeigt, dass zu den Stich­jahren 1990, 2000 und 2010 jeweils gute Optionen bestanden hätten, die Si­tuation massiv zu entschärfen, zum Beispiel über kluge Cap-and-Trade-­­Systeme, wie sie damals diskutiert wurden, kombiniert mit massiven In­vestitionen in naturnahe Lösungen, etwa die Aufforstung zur Erzeugung von Negativemissionen. Letztlich wurden derartige Lösungen nicht re­alisiert, unter anderem, weil die reichen Länder zu »dumm« waren, das von den Entwicklungs- und Schwellenländern geforderte Prinzip der Klimagerechtigkeit zur Aufteilung eines vereinbarten Cap für die weltweiten Emissionen zu akzeptieren. Die Folgen waren ganz andere als er­wartet: Die Welt erlebte ein von China getriebenes hohes Wirtschafts­wachstum, das die Klimasituation massiv verschlechterte. Insbesondere die Industrieländer haben – neben China selbst – von diesen Wachs­tums­prozessen profitiert und so indirekt eine substanzielle Externalisierung von Umweltkosten zur Verbesserung ihrer Wohlstandssituation betrieben. Mit den Folgen müssen wir uns jetzt als Weltgemeinschaft auseinandersetzen – ohne jedoch zu wissen, wie wir der heutigen Situa­tion noch Herr werden können.

Die Lage

Die Welt befindet sich bezüglich der Klimasituation in einem höchst pre­kären Zustand. Einerseits hat sich die Weltgemeinschaft mit dem Paris-­Vertrag auf das Ziel verständigt, den Temperaturzuwachs im Verhältnis zur vorindustriellen Zeit auf höchstens 2 °C, besser 1,5 °C zu beschränken. Andererseits reichen die dafür beschlossenen freiwilligen Maßnah­men der Staaten bei Weitem nicht aus. Diese werden bestenfalls zu einer 3-°C-Erwärmung, unter Umständen auch zu einer 4-°C-Erwärmung füh­­ren. Zudem ist mit den USA der stärkste Akteur aus den Vereinbarungen ausgestiegen. Die weltweiten CO2-Emissionen steigen ständig wei­ter – allen Ankündigungen zum Trotz.

Es ist überdies zu erwarten, dass die seit Kurzem wütende Corona-­Krise die Situation weiter verkomplizieren wird. Während in Deutschland und Europa bis zum Ausbruch der Corona-Krise zum Teil in fast schon panischer Atmosphäre Stimmung gemacht wurde und Elemente einer Klimaplanwirtschaft zulasten der wirtschaftlichen Leistungsfähig­keit und des Lebensstandards diskutiert wurden, sorgten die stärksten Akteure auf dem Globus, also die USA, Russland, China und weitere da­für, dass die Nutzung von fossilen Energieträgern, die das Klimaproblem ver­ursachen, weiter zunahm. Fossile Energieträger sind preiswert. Fos­sile Energieträger bieten sich sehr häufig als die ökonomisch naheliegende Lösung an – gerade auch in Entwicklungs- und Schwellenländern, was nach der Corona-Krise noch mehr das Bild bestimmen wird als zuvor.

China setzt als der mit Abstand größte CO2-Emittent – neben anderen Ansätzen – wie auch Japan und Indien weiter auf den Ausbau der Kohle. Die USA sind mit der forcierten Förderung von Schieferöl und Schiefergas mittels Fracking mittlerweile zum größten Ölproduzenten der Welt aufgestiegen.

Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge kann die Weltgemeinschaft ab 2020 bis 2050 noch etwa 450 Milliarden Tonnen CO2 emittieren, wenn das 2-°C-Ziel (mit Wahrscheinlichkeit von etwa 66 Prozent) erreicht werden soll, für das 1,5-°C-Ziel verbleiben nur noch etwa 300 Mil­liarden Tonnen CO2 – und das bei heutigen jährlichen Emissionen im Energiesektor von fast 40 Milliarden Tonnen. Die U. S. Energy Informa­tion Administration (EIA) schätzt in ihrem International Energy Outlook 2019 die Gesamtemissionen, die von 2020 bis 2050 zu erwarten sind, auf etwa 1150 Milliarden Tonnen. Die Internationale Energieagentur, eine Organisation der OECD (der reichen Staaten), kommt auf ähnliche Größenordnungen, was mit der Einschätzung zusammenhängt, dass die Nutzung fossiler Energieträger mindestens bis 2040 im Umfang sogar noch ansteigen wird. Zusammengenommen sieht es heute so aus, dass die Weltgemeinschaft nur wenig Aussichten hat, die Paris-Ziele zu erreichen. Dies um­so mehr, als es gerade die militärisch stärksten Akteure sind, die den fossi­len Weg forcieren. Dagegen ist aus machtpolitischen Gründen nichts auszurichten, schon gar nicht von den Europäern.

Die Lage in Europa, vor allem auch in Deutschland, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen weit überwiegend wollen, dass etwas gegen den Klimawandel unternommen wird. Dies ist auch eine Folge des wirksamen Auftretens von Greta Thunberg und Fridays for Future oder von Felix Finkbeiner und der Organisation Plant-for-the-Planet. Dabei sind die deutschen Emissionen mit zehn Tonnen pro Kopf im Vergleich sehr hoch – fast doppelt so hoch wie die französischen. Aber das wird nicht thematisiert. Die Deutschen glauben, sie seien in Bezug auf das Klima die »Guten« und sie könnten, wenn sie sich nur etwas Mühe geben, ein Vorbild für die Welt sein. Deshalb soll die Regierung mehr tun. Die Maßnahmen zur »Rettung der Welt« sollen aber nicht wehtun. Die meisten Menschen in Deutschland folgen gleichzeitig der fixen Idee, die besten Möglichkeiten, um zur Stabilisierung des Weltklimas beizutragen, bestünden für deutsche Bürger und Unternehmen in Aktivi­täten in Deutschland. Weltweite Betrachtungen kommen fast nicht vor.

Es lässt sich nachvollziehen, woher dieser Impuls kommt. In einer globalen Welt, in der die USA, Russland und China den Ton angeben, kann man aus Europa heraus politisch nicht viel bewirken. Schon gar nicht mit dem neuen US-Präsidenten und in Zeiten von Brexit und Co­rona. Plakative, sichtbare Entscheidungen – wie das Schließen von Atom­kraftwerken – kann man, wenn überhaupt, nur zu Hause treffen, in der eigenen Demokratie vor Ort. Politisch hat man sich dann sichtbar durch­gesetzt. Allerdings sollte jedem klugen Kopf auffallen, dass das, was man dann zu Hause bewirkt, in Bezug auf die Welt­klimasituation fast keine Auswirkungen hat. Denn die wirklichen Wachstumsprozesse bezüglich CO2 passieren in den Entwicklungs- und Schwellenländern. China hat das mit seinem exorbitanten Wirtschafts- und CO2-Wachstum vorgemacht. Die Folge sind chinesische CO2-Emis­sionen, die heute größer sind als diejenigen der USA, Europas und Japans zusammen. Heute verfolgen Indien und der afrikanische Kontinent ähnliche Wachs­­tumspläne wie China, und das in einem Umfeld, in dem die Bevölkerung noch viel größer ist als diejenige in China, vor allem durch das exorbitante Bevölkerungswachstum in Afrika. Hier wird sich die Bevölkerung in 30 Jahren verdoppeln.

Entwicklungsminister Gerd Müller fragt angesichts dieser Situation, ob noch verhindert werden kann, dass Afrika ein »schwarzer« Kontinent wird. Damit meint er, ob verhindert werden kann, dass in Afrika 500 neue Kohlekraftwerke entstehen, um alle Afrikaner an das Stromnetz anzubinden, was fast schon ein Menschenrecht ist – dies auch im Sinne der Agenda 2030, der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Es spricht aktuell viel dafür, dass die CO2-Emissionen in Indien und seinen Nachbarländern und auf dem afrikanischen Kontinent bis 2050 um insgesamt zehn Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr wachsen werden. Das ist mehr, als für die ganze Weltbevölkerung im Jahr 2050 in Verbindung mit dem 2-°C-Ziel noch zulässig ist.

Die Corona-Pandemie könnte allerdings zur Folge haben, dass das nicht passiert. Die Armut in großen Teilen der Welt wird nicht überwun­den. Die Klimasituation würde dann ein weiteres Mal zulasten der är­meren Teile der Welt stabilisiert, denen eine faire Partizipation an welt­weitem Wohlstand weiterhin vorenthalten würde. Wir alle würden aber mit einem nach wie vor hohen Bevölkerungswachstum in diesen Län­dern konfrontiert werden, dessen Folgen nicht absehbar sind.

Zur Historie

Schaut man sich das aktuelle Scheitern der Klimapolitik an, drängt sich die Frage auf, wie die Weltgemeinschaft in diese Situation gekommen ist. Wann haben die Staaten der Welt an welchen Stellschrauben politisch mögliche Optionen nicht genutzt?

Schaut man in die internationalen Debatten zu Umwelt-, Ressourcen- und Klimaschutz, zu Wachstum und nachhaltiger Entwicklung, ist ein wichtiger Ausgangspunkt die erste Weltumweltkonferenz 1972 in Stock­holm. Es war die Zeit, in der der Club of Rome seinen legendä­ren Bericht Grenzen des Wachstums publiziert hat. Die erste Welt­um­weltkonferenz scheiterte, weil die damalige junge indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi im Namen der sich entwickelnden Länder gegenüber den Industrieländern unmissverständlich klarmachte, dass für die ökonomisch zurückliegenden Länder Entwicklung erste Prio­rität hat, nicht Umweltschutz. Nachholende Entwicklung war das Ziel und ein Wohlstand, wie die Industrieländer ihn vorlebten.

Indira Gandhi hat nachvollziehbar argumentiert, dass der Reichtum der Industrieländer auf wenig nachhaltige Weise entstanden ist. Es gilt noch heute: Wenn man den Entwicklungs- und Schwellenländern verbieten würde, ihr Wachstum in ähnlicher Weise zu gestalten, wie dies die Industrieländer vorexerziert haben, würde man zwar die Umwelt und das Klimasystem schützen, dies jedoch zulasten der Perspektiven der ärmeren Länder. Diese sind dazu nicht bereit. Wer also global die Umwelt schützen, wer global das Klimasystem stabilisieren will, der muss dies auf jeden Fall mit einem Programm der nachholenden Entwicklung im Sinne einer aufholenden Wohlstandsentwicklung der ärmeren Länder koppeln. Dies muss gelingen, während gleichzeitig die Welt­bevölkerung in atemberaubendem Tempo weiterwächst. Heute ist die Zahl der Menschen auf dem Globus mit 7,7 Milliarden Menschen fast doppelt so groß als zur Zeit der ersten Weltumweltkonferenz in Stockholm, und für 2050 muss man von zehn Milliarden Menschen ausgehen.

Die Wissenschaft hat schon damals auf das sich aufbauende Kli­ma­pro­blem hingewiesen, und seit diesem Zeitpunkt hat die Weltgemeinschaft diese große Herausforderung in unterschiedlichen Foren diskutiert.

Eine erste Weltklimakonferenz (World Climate Conference, WCC-1) unter dem Dach der UN fand 1979 in Genf statt und wurde von der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) organisiert. Hier berieten Experten von Organisationen der Ver­einten Nationen (UN) über die Möglichkeiten der Eindämmung der durch den Menschen verursachten schädlichen Klimaveränderungen. Im selben Jahr erfolgte die Gründung des Weltklimaprogramms (WCP).

Es folgte die Weltklimakonferenz 1988 in Toronto (World Conference on the Changing Atmosphere), 1990 die erneut in Genf tagende zweite Weltklimakonferenz (WCC-2). Die Toronto-Konferenz fand kurz nach Veröffentlichung des Brundtland-Berichtes (1987) statt und war stark beeinflusst von der Idee der nachhaltigen Entwicklung. Ergeb­nis der Konferenz waren die Toronto-Ziele, zu denen die Forderung einer Minderung der Treibhausgasemissionen um 20 Prozent bis 2005 und 50 Prozent bis zum Jahr 2050, gegenüber den Werten von 1988, gehörte. Diese Vorstellungen wurden nie umgesetzt. Das 2005er-Ziel wird auch in den in der Folge diskutierten Szenarien nicht erreicht, das 2050er-Ziel wohl, und zwar in den Szenarien 1990, 2000 und 2010, wie auch im Vor­schlag für eine zukunftsorientierte Politik ab 2020.

Teil der zweiten Weltklimakonferenz 1990 war ein Review des ersten Sach­standsberichts des sogenannten International Panel on Cli­mate Change (IPCC), das die Gründung der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen mit vorbereitete und seitdem mit seinen re­gel­mäßi­gen Berichten die Klimadebatte wesentlich prägt. Im Jahr 1992 wurde dann auf dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro die Klima­rah­men­konven­tion vereinbart. Seit 1995 finden als Institution der Klima­rah­men­konven­tion die UN-Weltklimakonferenzen (United Nations Climate Change Conferences, Conference of Parties, COP) jährlich an wechseln­den Or­ten statt, erster Tagungsort 1995 war Berlin.

Bezugspunkt aller internationalen Verhandlungen zu einem Welt­klima­abkommen ist seit 1992 die erwähnte Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen mit ihrer immer wieder zitierten Formel einer spe­zifischen Arbeitsteilung zwischen den reichen Staaten und den sich entwickelnden Ländern: »gemeinsame, aber je unterschiedliche Ver­ant­wortungen«. Zu den Grundsätzen dieses Vertrages gehören unter anderem die folgenden:

1.Die Vertragsparteien sollen auf der Grundlage der Gerechtigkeit und entsprechend ihren gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und ihren jeweiligen Fähigkeiten das Klimasystem zum Wohl heutiger und künftiger Generationen schützen. Folglich sollen die Vertragsparteien, die entwickelte Länder sind, bei der Bekämpfung der Klimaänderungen und ihrer nachteiligen Auswirkun­gen die Führung übernehmen.

2.Die speziellen Bedürfnisse und besonderen Gegebenheiten der Ver­tragsparteien, die Entwicklungsländer sind, vor allem derjenigen, die besonders anfällig für die nachteiligen Auswirkungen der Klima­änderungen sind, sowie derjenigen Vertragsparteien, vor allem unter den Entwicklungsländern, die nach dem Übereinkommen eine unverhältnismäßige oder ungewöhnliche Last zu tragen hätten, sol­len voll berücksichtigt werden.

Die wichtigsten damaligen Debatten fielen zusammen mit den Dis­kussio­­nen über eine nachhaltige Entwicklung, aufbauend auf dem Brundtland-­Report von 1987. Dies fiel zeitlich und inhaltlich in den internationalen Vorbereitungsprozess für den ersten Rio-Umweltgipfel 1992. Es war eine ereignisreiche Zeit. In Berlin war die Mauer gefallen. Das COMECON-Sys­tem in Osteuropa löste sich auf. Die Idee ei­nes freien Marktes, der alle Probleme lösen würde, fand viele Anhänger – verbunden mit der Vorstellung, dass das westliche System »gesiegt« hätte. All das lenkte stark von einer gezielten Adressierung der Klimaproblematik ab. Letzten En­des passierte in Rio bezüglich des Klimas nicht viel mehr als die Verabschiedung der Weltklimakonvention, deren wichtigste Feststellung, wie dargestellt, darin besteht, dass die Staaten der Welt zwar eine gemeinsame Verantwortung für das Klimasystem haben und aufgerufen sind, das Klimasystem zu stabilisieren, dass aber die Verant­wortungen je spezifisch zu sehen sind, orientiert an der historischen Entwicklung und der ökonomischen und finanziellen Leistungsfähigkeit der verschie­denen Staaten. Kurz gesagt wurden die Industrieländer in der Haupt­ver­antwortung gesehen und sollten vorangehen. Die übrigen Länder b­e­ga­ben sich eher in eine Art Beobachterposition. Alternativ zu diesem Formelkompromiss hätte man aber im Jahr 1990 auch eine kluge internationale Lösung fixieren können. Diese wird in der Folge als Szenario 1 diskutiert.

Zehn Jahre später liefen die Debatten um den Kyoto-Vertrag, das bis heute wohl intelligenteste Werk internationaler Klimapolitik. Dieser Ver­trag wurde 1997 in Kyoto beschlossen, 2003 trat er in Kraft. Um das Jahr 2000 herum gab es eine zweite große Chance, zu einem klugen Weltklimaregime zu kommen. Sie wird in der Folge als Szenario 2 für das Jahr 2000 kurz diskutiert. Auch diese Chance wurde nicht genutzt.