Küss mich, Cowgirl (Teil 2) - Claudia Westphal - E-Book

Küss mich, Cowgirl (Teil 2) E-Book

Claudia Westphal

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Beschreibung

Nach BJs Freispruch steht dem Glück der beiden Frauen anscheinend nichts mehr im Wege. Doch sie haben ihre Rechnung ohne James, Mirandas Vater, gemacht. Er lässt nichts unversucht, um Miranda und BJ das Leben zur Hölle zu machen, deren gegenseitige Zuneigung er nicht tolerieren kann. Er setzt sogar seine verrückte Tochter Callie auf BJ an, um sie aus dem Weg zu räumen. Doch Miranda und BJ finden in der Stadt Gleichgesinnte. Gemeinsam mit der mutigen Anwältin Lisa Marie und der verwitweten Sharon tun sie alles, um James Miles' Greueltaten ans Licht zu bringen. Dabei erfahren sie auch Unterstützung von der Prostituierten Eleanor, die eine heimliche Liebe für Sharon hegt. Wird es den Frauen gelingen, die Stadt von dem Tyrannen zu befreien?

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Claudia Westphal

KÜSS MICH, COWGIRL

Teil 2

Originalausgabe: © 2006 ePUB-Edition: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Al King wechselte sein Hemd; es schien das einzige zu sein, das man in dieser Stadt tun konnte und auch mußte, denn die Hitze wurde von Minute zu Minute unerträglicher.

Deshalb widerstrebte es ihm auch, wieder hinauszugehen, doch er hatte noch einiges zu erledigen: BJ mochte es anders sehen, aber er schuldete ihr etwas und konnte nicht zulassen, daß sie starb.

An diesem Gedanken festhaltend trat er aus seinem Zimmer und den Gang hinunter, als sich plötzlich die Tür zu einem anderen Zimmer öffnete und er in Lisa Marie hineinrannte.

»Verzeihung, ich . . .« Der große dunkle Mann hielt inne, als er BJs Anwältin erkannte. Er lächelte sie spitzbübisch an, wie er es wohl bei jeder attraktiven Frau getan hätte.

Lisa Marie verdrehte ungeduldig die Augen und wollte ihren Weg schon wieder fortsetzen, als Al sie am Arm berührte.

»Entschuldigen Sie. Miss Tragger, nicht wahr?«

Sie wandte sich ihm wieder zu und sah ihn fragend an. »Ja, so ist es.«

»Mein Name ist Aloisius King. Ich bin ein Freund von BJ.«

Das überraschte die mittelgroße Frau etwas. »Sie sind nicht aus dieser Stadt«, bemerkte sie. Es war eine Feststellung, keine Frage; sie hatte es ihm angesehen. Es lag etwas in seinem Auftreten, seiner Kleidung, seinem Lächeln. Dies war kein Mann, der sich seit seiner Geburt von James Miles unterdrücken ließ.

»Nein, ich . . . Woher wissen Sie das?«

Lisa Marie lächelte. Al King war nicht der erste, den ihre schnelle Auffassungsgabe überraschte. »Nun, BJ scheint in dieser Stadt keine Freunde zu haben . . .«, sie verbesserte sich, ». . . außer natürlich . . .«

»Miranda Lewis«, stimmte King ein und nickte. »Und genau darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.« King nahm sanft den Arm der Frau und führte sie in sein Zimmer.

Unter normalen Umständen wäre Lisa Marie sicher nicht in das Schlafzimmer eines Wildfremden gegangen, doch »normale Umstände« hatte sie in dieser Stadt bisher nicht erlebt und zweifelte tatsächlich an deren Existenz. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie mit Mr. King ein langes Gespräch begann, das für beide einige Neuigkeiten brachte. Lisa Marie war zumindest nicht enttäuscht über ihren Entschluss, und auch in Kings Kopf formte sich langsam ein Plan. Wie der allerdings durchzusetzen war, wusste er noch nicht.

Sittsam gemütlich, einer Dame würdig, trabte der Einspänner den Hügel zur Canahami hinab.

Doch die Ruhe, die dieses Bild ausstrahlte, war trügerisch, denn die Zügel wurden von verkrampften Fingern gehalten, und Nadines Gedanken rasten.

Mirandas Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf, ebensowenig wie Mrs. Franklins und das Getuschel hinter vorgehaltener Hand. Sie wollte sich nicht einmal vorstellen, was es bedeutete, dass Miranda BJ liebte . . . oder wie sie diese liebte. Und sie wollte das Bild loswerden, das diese Worte bei ihr auslösten.

Der Wagen hielt vor dem großen zweistöckigen Haus, und sofort kam einer der Stallburschen angelaufen, um sich um das Pferd zu kümmern.

»Danke, Kyle. Gib’ ihm nur etwas Wasser. Ich bleibe nicht lange.«

»Ja, Ma’am.« Der Junge nahm die Zügel und führte das Tier mitsamt Gefährt in den Schatten.

Nadine stieg indessen die Treppen zur vorderen Veranda hinauf und wollte gerade nach dem Türknauf greifen, als etwas in den Rahmen unweit ihrer Hand einschlug. Sie starrte auf das Messer, das da zitternd steckte, dann fuhr sie herum und blickte in das kalte Feuer von Callies Augen.

»Was verschafft uns die Ehre deines Besuchs am Tag des Herrn?« fragte die ältere der beiden Schwestern spöttisch.

»Ich wollte zu Vater.«

»Nun, dann musst du dich wohl auf ein Pferd schwingen und die Ranch abreiten. Er ist vor einer Stunde aufgebrochen.« Callie wusste natürlich, dass Nadine niemals ritt. Nadine meinte, das wäre nur etwas für Männer und kleine Kinder. Dies war nicht die einzige Sache, in der sie und Callie nicht übereinstimmten.

»Könntest du ihm bitte sagen, dass ich Miranda die Ankündigung für das Tanzfest gegeben habe?« Nadine wollte sich schon wieder abwenden und ihre Schwester verlassen, bevor dieser noch eine Gemeinheit einfiel, doch Callie hielt sie auf, als sie fragte:

»Und, wie geht es der kleinen Miranda?«

Für einen Moment dachte Nadine, wirkliches Interesse aus Callies Stimme herausgehört zu haben. Sie schaute Callie an.

»Nicht gut, dank dir.« Nadine konnte sehen, wie die Antwort Callie stutzig machte, und es gab ihr eine gewisse Genugtuung.

»Wie meinst du das?« Callies Stimme schnitt wie Eis durch die Luft, und sie kam bedrohlich auf Nadine zu.

»Ich meine . . .« Nadine machte eine Pause und atmete tief ein, als Callie noch ein Stück näher kam und ihre braunen Augen sich in ihre eigenen blauen bohrten. Dennoch fuhr sie fort: ». . . dass BJ längst kein Problem mehr wäre, wenn du sie erledigt hättest.«

Jeden anderen hätte die Skrupellosigkeit der Frau des Reverends schockiert, doch Callie kannte ihre Schwester zu gut. Sie grinste, wie sie es immer tat, wenn Nadine ihre wahre Natur vor ihr offenbarte.

»Nun, zumindest habe ich ihrem Gesicht eine hübsche neue Farbe verpasst.« Callie war ihrer Schwester inzwischen so nahe, dass diese den süßen Duft von Sex und frischem Heu bei ihr wahrnehmen konnte. Nadine wusste, was das bedeutete: Callie hatte sich mal wieder mit einem der Cowboys im Heu vergnügt.

Callie war noch nicht einmal 16 gewesen, da hatte Nadine sie einmal auf dem Heuboden erwischt – der Cowboy, der bei ihr war, war etwa doppelt so alt gewesen wie Callie – und ihre Schwester hatte ihr gedroht, sie zu töten, wenn sie ihrem Vater je davon erzählen würde. Nadine hatte ihr damals geglaubt, und sie glaubte es noch immer.

»Das habe ich nicht gemeint«, entgegnete Nadine selbstsicher. Callie sah sie fragend an.

»Ich meinte, BJ wäre längst kein Problem mehr, wenn du als Kind richtig zugestochen hättest.« Sie sah, wie es bei Callie dämmerte. Oh ja, sie erinnerte sich daran.

Es war ein sonniger Tag, doch an dem kleinen Fluss, der an dieser Stelle eine Biegung machte, war es dennoch angenehm kühl. Der Wind trieb Kinderlachen und Geschirrgeklapper über die Hügel, wo es ungehört verhallte.

Ein kleines, blondes Mädchen mit schmutzigem Gesicht duckte sich hinter einen Baum. Misstrauisch blickte sie auf die Idylle vor sich.

Sie war gerade noch Nadines Kaffeekränzchen entkommen, an dem vier Puppen und Baby Hannah teilnahmen, letztere allerdings mit wenig Interesse. Sie schrie mal wieder, wie sie es fast immer tat. Elizabeth Miles hatte nach einem Jahr ständigen Gekreisches gelernt, das durchdringende Stimmchen zu ignorieren, doch ihr Mann war darin weniger erfolgreich. Das war auch einer der Gründe, warum sie nun hier draußen picknickten.

Callie wäre zwar viel lieber bei ihrem Vater geblieben, doch sie war den schnellen Fingern ihrer Stiefmutter nicht entkommen. Jetzt langweilte sie sich furchtbar, während alle anderen furchtbar zufrieden waren:

Nadine widmete sich eingehend ihren Puppen und Baby Hannah und vermochte das kleine Mädchen tatsächlich immer mal wieder für ein paar Minuten zu beschäftigen, bevor es wieder anfing zu schreien. Elizabeth und ihre Freundin Lucinda Jackson saßen am Fluss und badeten ihre Füße, dabei lachten sie ausgelassen. Die Dienstboten kümmerten sich ums Essen . . . Callies missmutiger Blick fiel auf das gleichaltrige dunkelhaarige Mädchen, das im Schatten saß. Billie-Jean hatte sich über Baby Miranda gebeugt und kitzelte das zufriedene kleine Bündel.

Es kam Callie seltsam vor, dass BJ, die sich nicht einmal beim Essen fünf Minuten still hinsetzen konnte, Stunden damit verbrachte, mit einem langweiligen Baby zu spielen.

Sie selbst verbrachte mehr Zeit damit, die kleinen Störenfriede zu ärgern, und Miranda war ihr bevorzugtes Ziel. Zumindest, wenn BJ nicht in der Nähe war, denn die führte sich ständig als Beschützerin des wehrlosen kleinen Mädchens auf.

Callie sah wütend zu dem größeren Mädchen hinüber, doch da die sie nicht einmal bemerkte, wurde es Callie bald zu langweilig und sie trollte sich. Der Weg führte sie zurück zu ihren anderen beiden Schwestern und sie begann von einem Gebüsch aus die schlafende Hannah mit Steinchen zu bewerfen. Es dauerte nicht lange, da fing das Baby an zu schreien, und Nadine beugte sich über sie und entdeckte natürlich die kleinen Steine auf der zartrosa Babydecke. Sofort richtete sie ihre blauen Augen auf das Gebüsch, in dem Callie kauerte. Es war für das ältere Mädchen nicht klar ersichtlich, ob ihre Schwester sie entdeckte, aber kurze Zeit später wandte Nadine sich wieder ab und dem schreienden Baby zu.

Auch Callie widmete sich wieder wichtigeren Dingen und begann, die Bediensteten zu ärgern. Sie versteckte Messer und Gabeln und stibitzte von dem Obst, bis Mrs. O’Malley schon anfing, von Kobolden zu sprechen. Callie in ihrem Versteck grinste und wollte gerade einen erneuten Streich starten, als sie die blauen Augen bemerkte, die sie von rechts beobachteten.

»Was willst du?« zischte Callie gereizt.

»Lass Mrs. O’Malley in Ruhe. Du weißt doch, wie abergläubisch sie ist.«

Callie streckte BJ die Zunge heraus. »Mir doch egal.« Sie wusste, dass BJ recht hatte.

Als die irische Köchin das letzte Mal Kobolde auf der Ranch vermutete, hätte sie die Canahami fast verlassen. Es hatte nicht nur Elizabeth Miles eine ganze Menge Überredungsarbeit gekostet, sie vom Weggehen abzuhalten. Selbst ihr Mann hatte sich eingebracht, und nach einer Gehaltserhöhung und dem Versprechen, dass es wirklich keine Kobolde gab – zumindest nicht auf der Canahami –, hatte sie sich zum Bleiben überreden lassen.

Callie wollte jetzt nur, dass BJ verschwand, damit sie wieder ungestört Schabernack treiben konnte.

»Gib’ die Gabeln zurück«, forderte BJ das kleinere Mädchen auf.

»Nein!« Callie rieb sich die Hände an ihrer Hose ab, bereit, BJ eine zu verpassen, wenn sie nicht verschwinden würde. Dabei fühlte sie das kleine Küchenmesser, das auf geheimnisvolle Weise seinen Weg vom Picknickkorb in ihre Hosentasche gefunden hatte.

»Gib’ jetzt alles zurück!« Mit unbewegter Miene kam BJ auf Callie zu und zog dann eine ihrer Augenbrauen hoch.

»Versuch doch, mich zu zwingen!« zwitscherte Callie.

BJ machte sich bereit Callie anzugreifen, doch darauf hatte das blonde Mädchen nur gewartet. Als BJ auf sie losstürmte, zog sie blitzschnell das Messer aus ihrer Tasche und rammte es BJ in die Brust. Fassungslos und vor Schmerz winselnd brach das dunkelhaarige Mädchen zusammen.

Callie war einen Moment erschüttert, dann verwirrt; schließlich grinste sie wieder. Ihre Stimme klang in BJs Ohren älter, als sie sie sagen hörte: »Zwing mich doch!«

Da hörten beide ein Geräusch und entdeckten Nadine, die nur wenige Schritte von ihnen entfernt stand. Sie sah von der blutenden BJ zu Callie, die noch immer das Messer festhielt.

»Lauf weg!« sagte Nadine dann zu ihrer Schwester, und die tat nach einer weiteren Schrecksekunde genau das.

Miranda hatte sich umgezogen und ihre Unterröcke waren nicht das einzige, das sie hinzugefügt hatte. Zittrige Finger fühlten noch einmal nach dem kalten Stahl unter all dem Stoff, und sie musste ein paarmal tief durchatmen, bevor sie den Mut aufbrachte, die wenigen Schritte über die Straße und ins Sheriffbüro zu wagen.

Es war Nachmittag, und die Sonne brannte. Miranda wurde sich erneut bewusst, wie vorteilhaft Hosen gegenüber Petticoats waren, denn der Schweiß rann ihr bereits jetzt wieder die Beine hinab. Allerdings konnte man in Hosen schlecht einen Revolver verstecken.

Ihre Hand zitterte, als sie den Knauf drehte, der ins Gefängnis führte, doch als sie eintrat, sahen BJ und Ryan nur das entzückende Lächeln der jungen Miranda.

»Hallo«, sagte sie und war selbst erstaunt, wie ruhig es klang.

»Hallo. Wie war der Gottesdienst?« fragte Ryan, und Miranda verdrehte die Augen. BJ grinste, und Ryan nickte wissend. Er machte es sich wieder hinter seinem Schreibtisch bequem.

Miranda zog etwas aus ihrer Rocktasche und sah ihn fragend an. Es war ein Päckchen Tabak.

»Da ist doch hoffentlich keine Feile drin?«

Miranda grinste. »Wer weiß!« Sie reichte BJ das Päckchen. Etwas zögerlich nahm die große Frau es entgegen. Sie blickte etwas versonnen auf das Geschenk und steckte es dann in ihre Hemdtasche. Ohne ein weiteres Wort schlurfte sie zu ihrer Pritsche zurück und setzte sich wieder.

Miranda sah Ryan fragend an.

»Wenn ich rauchen würde, hätten Ihre Horrorgeschichten mich bestimmt kuriert«, bemerkte der Mann hinter seinem Schreibtisch und spielte damit auf die Artikel an, die Miranda BJ vorgelesen hatte und die davon handelten, wie schädlich das Rauchen war.

BJ saß da. Sie war ein wenig verwirrt von diesem »Geschenk«. Bedeutete das nun, da sie sowieso sterben würde, dass sie so viel rauchen konnte, wie sie wollte? Hatte Miranda sie aufgegeben? Und war das nicht genau das, was BJ gewollt hatte?

Nein! schrie es in ihr. Sie sah mit leeren Augen zu ihrer Freundin auf.

Es traf Miranda mitten ins Herz, und sie sah wieder zu Ryan hinüber. »Sheriff . . .« Sie deutete auf die Zellentür. Ryan erwiderte Mirandas Blick verständnislos, dann dämmerte ihm, was sie wollte: Sie wollte tatsächlich zu BJ Jackson in die Zelle!

Unter anderen Umständen hätte er sie ohne ein weiteres Wort vor die Tür gesetzt. Andere Umstände beinhalteten aber nicht Miranda Lewis und ihren Hilf-mir-Blick.

Ryan sah zur Tür, zu BJ, die ausdruckslos vor sich hinstarrte, und zurück zu Miranda. Schwerfällig stand er auf, und beide Frauen sahen ihn überrascht an. Keine hätte geglaubt, dass er Mirandas stummer Bitte nachkommen würde. Er nahm den Schlüsselbund vom Brett und steckte schließlich den passenden Schlüssel in das Schloss. Bevor er ihn jedoch herumdrehte, sah er Miranda an und fragte, allerdings eher scherzhaft: »Sie haben darunter doch keinen Revolver, oder?«

Miranda meinte, ihr Herz müsse stehenbleiben, doch nach außen kam nur ein Lächeln und: »Sie können mich ja durchsuchen.«

Ryan schüttelte den Kopf und öffnete die Tür zu BJs Zelle.

Deren Blick war undurchsichtig, sie dachte an die Zeit, als sie eine solche Möglichkeit nicht hätte vorübergehen lassen, ohne dass sie aufgesprungen wäre und den Sheriff k.o. geschlagen hätte, bevor er überhaupt reagieren konnte.

Doch dieses Mal rührte sie sich nicht. Es waren nicht nur Miles’ Leute, die hinter den Fenstern, auf den Dächern und in Hinterhöfen platziert waren, bereit, sie zu erschießen, wenn sie auch nur den Kopf herausstreckte, nein, sie wollte es nicht.

Miranda trat in die Zelle, und Ryan schloss die Tür hinter ihr ab.

Eine unangenehme Stille breitete sich aus, denn beide Frauen unterdrückten Worte, Handlungen, Blicke, die sie gern getauscht hätten. Doch ehe die Stimmung drückender werden konnte als die Hitze, die draußen herrschte, bewegte sich Miranda, und der Bann war gebrochen. Sie lächelte BJ an und setzte sich zu ihr auf die schmucklose Pritsche.

»Wenn ich gewusst hätte, dass du mich besuchst, hätte ich aufgeräumt«, bemerkte BJ, und ein Mundwinkel bewegte sich nach oben.

»Keine Umstände«, brachte Miranda an dem Kloß in ihrem Hals vorbei. Sie konnte allerdings die Tränen nicht aufhalten, die den Worten folgten. Instinktiv zog BJ Miranda in ihre Arme, und der Kopf der kleineren Frau kam an ihrer Schulter zur Ruhe.

Ryan beobachtete die beiden Frauen eine Weile und merkte kaum, dass er dabei lächelte. Da es ihn bei der Hitze nicht nach draußen zog, machte er es sich wieder mal in seinem Stuhl bequem und zog seinen Hut über die Augen. Bald darauf war er eingenickt.

Mirandas Tränen versiegten, und sie sah mit geröteten Augen zu BJ auf. Obwohl sie sich so nah waren, konnte die große Frau die Worte kaum verstehen, die Mirandas Lippen hervorbrachten:

»Ich habe eine Waffe.«

Sofort blickte BJ zu Ryan hinüber, dann zurück zu Miranda. Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein!«

Flehentlich blickten grüne Augen in blaue. »Aber du wirst . . .«

Sanft legten sich zwei Finger über Mirandas Lippen, und BJ wünschte sich verzweifelt, es wären ihre Lippen, nicht ihre Finger. Wieder schüttelte sie den Kopf.

Es war kaum mehr zu hören als das gleichmäßige Atmen des Sheriffs und die gedämpften Geräusche von draußen, die in das einzige Steingebäude der Stadt drangen.

BJ löste sich aus der verzweifelten Umarmung ihrer Freundin und stand auf. Sie trat an das Gitter und legte ihre starken Hände an den groben Stahl. Sie sah Miranda nicht an, als sie sagte: »Wie kann ich dir nur begreiflich machen, was ich getan habe? Ich bin es nicht wert, glaub’ mir!« Sie drehte sich um, ihr Gesicht eine steinerne Maske. »Vielleicht . . . würdest du mir einen Gefallen tun?« fragte sie nach einer – wie es ihrer Freundin vorkam – endlosen Pause.

Miranda nickte und hoffte, dass dieser Gefallen etwas mit ihrer Befreiung zu tun hatte.

»Mein Vater . . . er . . . ich würde ihm gern einen Brief schreiben, aber ich fürchte, meine Schrift ist nicht die beste. Würdest du vielleicht aufschreiben, was ich diktiere?«

Ein Abschiedsbrief, dachte Miranda. Sie wollte nicht wirklich wissen, was BJ dem einzigen Menschen, den sie liebte, zu sagen hatte, doch wie konnte sie ihr eine solche Bitte abschlagen?

»Natürlich«, sagte sie deshalb, obwohl sie am liebsten davongelaufen wäre. Doch ihr Schuldkomplex und die verschlossene Zellentür machten dies unmöglich. Und so zog sie ihren Block und einen Bleistift hervor – Utensilien, die ein guter Journalist immer dabeihat – und sah BJ abwartend an.

BJ konzentrierte sich auf ihren Vater, auf Dinge, die sie ihm noch sagen wollte, und sie wusste, dass sie nur Frieden finden würde, wenn sie ihm alles sagte. Und nicht nur ihm, auch Miranda sollte Bescheid wissen. Ihre blauen Augen wanderten von dem konzentrierten Gesicht der Schreiberin zu den Gittern des Fensters und sie begann:

»Papa. Es mag dir seltsam vorkommen, dass du einen Brief von mir bekommst. Es ist nicht weniger seltsam, ihn zu schreiben. Ich . . .«

»BJ?«

Die Unterbrechung war unwillkommen, denn die blauen Augen der großen Frau durchbohrten Miranda sofort.

»Ich dachte, dass du ihm vielleicht erklären möchtest, wessen Schrift das ist«, bemerkte die rotblonde Frau kleinlaut.

»Oh . . . ja . . .«

Miles’ Creek, 14. Juli 1858

Papa. Es mag Dir seltsam vorkommen, dass Du einen Brief von mir bekommst. Es ist nicht weniger seltsam, ihn zu schreiben. Ich weiß, was Du jetzt denkst: Das ist nicht meine Handschrift. Ich diktiere den Brief einer guten Freundin, die dafür sorgen wird, dass Du ihn auch bekommst. Ich bin im Moment in Miles’ Creek, und obwohl ich mich nicht an vieles aus meiner Kindheit erinnern kann, weiß ich doch, dass hier noch immer dieselben von James Miles aufgestellten Regeln gelten wie damals. Ich bin hier im Gefängnis, nicht mein erster Aufenthalt in einer Zelle, aber wohl mein letzter. Ich werde hängen, Vater. Du hast so etwas immer kommen sehen, nicht wahr? Ich habe nur noch wenige Tage, aber ich kann nicht gehen, ohne Dir einige Dinge erzählt zu haben. Ich will nämlich nicht, dass Du irgendwelche Dummheiten machst. Wir wissen beide, dass ich kein Unschuldslamm war, eher das Gegenteil: Ich war ein Racheengel. Ich habe Menschen getötet, viele Menschen. Ihre Namen alle aufzuschreiben, würde Dämonen heraufbeschwören, denen ich früh genug wieder begegnen werde, denn sie werden auf mich warten, wo immer ich jetzt hingehe. Doch es waren nicht nur Gesetzesbrecher, die ich für Geld hingerichtet habe, es waren Familienväter, Politiker, Ranger. Wer gut bezahlte, hatte auch einen guten Killer. Ich bin nicht stolz darauf, jetzt nicht, damals nicht. Doch als ich es tat, war es Arbeit, jetzt ist es eine Schuld. Ich kann von Dir keine Vergebung erwarten, ich war Dir keine gute Tochter. Niemand, auf den Du stolz sein konntest. Ich werde alles verlieren, was wahrlich nicht viel ist, aber ich will nicht, dass Du aus einem falschen Rachegefühl heraus Dein Leben wegwirfst. Was immer mit mir in den nächsten Tagen passiert, habe ich verdient. Ich liebe dich. Billie-Jean

Miranda sah mit geröteten Augen zu BJ auf. Neue Tränen waren ihr beim Schreiben über die Wangen gelaufen und hatten ihre Spuren hinterlassen. »Ich werde dich trotzdem nicht aufgeben«, krächzte sie.

BJ setzte sich wieder zu ihr auf die Pritsche. Es brach ihr das Herz, Miranda weinen zu sehen. Sie legte ihre großen Hände auf die Wangen der jungen Frau und strich mit ihren Daumen die Tränen weg.

»Sheriff Ryan, ich . . .« Ryker erstarrte in der Tür und blickte auf die beiden Frauen in der Zelle. BJ konnte gar nicht schnell genug ihre Hände von Mirandas Wangen nehmen, und Miranda errötete bis tief unter die Haarwurzeln.

Ryan öffnete langsam die Augen. »Mr. Ryker . . .«

»Was soll das? Sind Sie wahnsinnig?« Der Staatsanwalt schrie den Sheriff an und griff sich den Zellenschlüssel vom Brett an der Wand. Er zögerte, als er BJ in die eiskalten blauen Augen sah, und sein Mut verließ ihn. Er wandte sich dem Sheriff hilfesuchend zu. Der verdrehte die Augen und zog seine Waffe. Als er sie endlich auf BJ richtete, schloss Ryker die Tür auf. Erst jetzt bemerkte er, dass nicht nur eiskalte blaue Augen ihn durchbohrten, das grüne Feuer in Mirandas Augen war nicht halb so dankbar, wie er vermutet hätte.

In der kleinen Frau wütete ein Sturm, und er richtete sich gegen den Staatsanwalt, der nun die Tür für sie aufhielt. Sie sah BJ noch einmal flehend an, doch ein leichtes Kopfschütteln war die einzige Antwort, die sie bekam. Sie verließ die Zelle, und Ryker schloss schnell wieder ab.

Sofort fing er wieder zu zetern an: »Wie konnten Sie sie nur zu dieser Bestie in die Zelle sperren? Drehen Sie jetzt völlig durch, Mann?«

»Halten Sie den Mund!«

Alle sahen Miranda überrascht an. Ihr Gesicht war rot angelaufen, ihre Augen vom vielen Weinen gerötet, ihren Unterkiefer hatte sie vorgeschoben, und es kam Ryker vor, als fletschte sie ihre Zähne.

»BJ ist keine Bestie, und Sie haben kein Recht, den Sheriff so anzuschreien! Es war meine Idee!« Sie wartete auf eine Entgegnung des Mannes, der sie mit offenem Mund und ebenso geweiteten Augen anstarrte. Doch er wäre kein guter Anwalt gewesen, wenn er sich so hätte überfahren lassen.

»Mal sehen, ob Ihr Vater das genauso sieht. Es wird ihm sicher nicht gefallen, dass Sie seine jüngste Tochter zu einer Mörderin gesteckt haben. Ich hoffe, Sie können mit den Konsequenzen leben, Sheriff.« Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Gebäude, fest entschlossen, diesem Humbug ein Ende zu bereiten.

Ryan sah Miranda geschockt an. »Mit den Konsequenzen leben . . .« wiederholte der Gesetzeshüter und erbleichte.

Auch Miranda war klar, dass Ryan kein Leben mehr haben würde, wenn Miles von diesem Vorfall erfuhr. Sofort stürmte die junge Frau aus dem Büro und Ryker hinterher.

»Mr. Ryker.«

Jason drehte sich um. Er hätte die nun folgende Auseinandersetzung gern vermieden, so wie er jede Auseinandersetzung gern vermied, die nicht im Gerichtssaal stattfand. »Mrs. Lewis, Sie sollten . . .«

»Sagen Sie mir nicht, was ich tun soll!« keifte die kleine Frau ihr Gegenüber an. »Sie kommen in diese Stadt mit Ihrer Aktentasche, Ihrem teuren Anzug und diesem albernen kleinen Bärtchen und mischen sich in Dinge ein, die Sie nichts angehen, die Sie nicht verstehen . . .«

Er unterbrach sie, obwohl ihre Bemerkung über seinen Bart ihn doch etwas verwirrt hatte. »Das Gesetz geht mich sehr wohl etwas an!« verteidigte er sich.

»Das Gesetz? In dieser Stadt herrscht nur das Gesetz eines Mannes, und ich glaube, das wissen Sie genau.«

Er hätte sie gern gefragt, was sie damit andeuten wollte, doch sie fuhr unbeirrt fort:

»Sie sind sich nicht im klaren darüber, was passieren wird, wenn Sie Mr. Miles von diesem Vorfall berichten! Ryan wird nicht einfach seinen Job verlieren, er wird sein Leben verlieren. Können Sie mit diesen Konsequenzen leben?« Sie sah ihn fragend an.

Er schüttelte langsam den Kopf. »Das würde er nicht . . .« Doch die Worte des Kutschers in der vergangenen Woche kamen ihm wieder ins Gedächtnis. Die Geschichten von Familien, die vertrieben oder getötet worden waren. Er senkte den Blick.

»Sie haben recht, was diese Sache angeht, aber . . .« Er sah sie mit seinen traurigen grauen Augen an. ». . . was Miss Jackson angeht, sollten Sie auf mich hören. Sie wissen nicht, was sie getan hat, ich schon. Halten Sie sich von ihr fern, zu Ihrer eigenen Sicherheit.«

Miranda wollte etwas entgegnen, doch was hätte sie sagen können? Die Worte, die ihr vor wenigen Stunden gegenüber ihrer Schwester einfach von der Zunge gegangen waren, wollten sich jetzt nicht bilden. »Sie werden meinen Vater also nicht informieren?« fragte sie statt dessen noch einmal nach.

»Nein.« Er nickte ihr aufmunternd zu, als ihm plötzlich Callies Drohung wieder einfiel, sich von ihren Schwestern fernzuhalten. Er schaute sich unsicher um und wandte sich dann zum Gehen. Doch Miranda legte eine Hand auf seinen Unterarm, und er drehte sich noch einmal zu ihr um.

»Danke«, sagte sie einfach und schenkte ihm ein Lächeln.

Sein Herz machte plötzlich einen Satz, und er konnte nichts mehr sagen, nur dämlich grinsen, als sie sich umdrehte und zurück ins Gefängnis ging.

Ryan sah nicht glücklich aus über die Entwicklung der Dinge, das konnte BJ sehen, doch wem hätte er die Schuld geben können außer sich selbst? Er blickte unruhig aus dem Fenster und sah Miranda, die mit Ryker sprach, nun, eigentlich schrie sie ihn eher an. Ryan war sich nicht sicher, ob das der diplomatischste Weg war, Ryker davon zu überzeugen, nicht mit seiner Geschichte zu Miles zu gehen, aber da sie damit Erfolg zu haben schien, würde er sich nicht beschweren.

Bald darauf öffnete Miranda wieder die Tür und lächelte Ryan an. »Alles in Ordnung«, sagte sie nur, und er nickte ihr dankend zu.

Dann wandte sich die junge Frau wieder BJ zu. Deren Miene war im besten Fall finster zu nennen, und innerlich machte BJ sich Vorwürfe, sich so weit vorgewagt zu haben. Sie machte auch Ryan Vorwürfe, weil er Miranda in ihre Zelle gelassen hatte, und Ryker . . ., weil er den Moment zerstört hatte. Nur Miranda konnte sie nicht böse sein.

Die trat jetzt an das Zellengitter. BJ stand auf und nahm den Block auf, den Miranda vergessen hatte. Sie reichte ihn der jüngeren Frau durch die Gitterstäbe. »Danke.«

Einen Moment sahen sie einander nur an, dann fragte Miranda: »Wie erreiche ich deinen Vater?«

»Er wohnt in Archidelphia in Arkansas.« BJ dachte einen Moment nach. Es könnte Wochen dauern, bevor der Brief seinen Bestimmungsort erreichte, wenn man ihn der Post anvertraute, doch dann fiel ihr etwas ein: »Ich habe einen Freund, er ist im Moment in der Stadt. Al King, groß, dunkelhaarig, mit Spitzbart . . .«

Miranda meinte, sich aufgrund der Beschreibung an den Mann erinnern zu können. Sie hatte ihn schon gelegentlich gesehen, zuletzt gestern . . . in ihrer Zeitung?

». . . er wird ihn dann mitnehmen«, endete BJ, und Miranda sah sie einen Moment fragend an. Sie hatte nicht mehr alles mitbekommen, doch dann dämmerte es ihr. »Oh ja. Ich werde ihm den Brief geben.«

»Gut.«

Miranda fühlte sich leer und erschöpft. Zu viele Gefühle, zu viele Gedanken und BJs traurige blaue Augen, die sie – wie sie wusste – ihr Leben lang verfolgen würden.

Der Brief in ihrer Hand war tonnenschwer, doch es war ein Gewicht, das sie tragen wollte. Sie wollte losgehen und ihn selbst zu Mr. Jackson bringen, sein Gesicht sehen, wenn er den Brief las und sich von den starken Armen, die BJ als Kind gewiegt hatten, trösten lassen. Sie wollte weinen und schreien und um sich schlagen, sie wollte . . . BJ!

Sie versuchte nicht aufzufallen, als sie den Saloon betrat, in dem um diese Zeit bereits Hochbetrieb herrschte, doch sobald sie durch die Schwingtür trat, wurden die Leute auf sie aufmerksam, stießen einander an und verstummten.

Zum ersten Mal wurde Miranda sich bewusst, wie einschneidend die Veränderung war, die BJ mit ihrem Erscheinen ausgelöst hatte. Sie blieb regungslos stehen und sah in die Gesichter, die sie teilweise schon seit ihrer Kindheit kannte. Da war Matt MacDougall, der beste Zureiter auf der Canahami, Fred Smith, David Groggins, Sven Johansson, alle gute Cowboys. Sam Livingston, Cole Flanders, Jack Cummings, die ebenfalls auf der Ranch gearbeitet hatten und jetzt angestrengt in ihre Gläser starrten.

Was habe ich nur getan? fragte sich Miranda und wollte nur noch fort von hier und sich verstecken, doch dann riss ein tiefes Lachen sie aus ihrer Starre. Sie sah hinüber zu einem der Pokertische.

Ein gutgekleideter, großer Mann saß dort und freute sich über den erneuten Gewinn des Jackpots. Seine Mitspieler sahen weniger glücklich aus. Doch selbst wenn einer von ihnen gewonnen hätte, Miranda hätte gezweifelt, dass er sich so über den Gewinn hätte freuen können. So ein Lachen hatte sie schon seit langer Zeit von niemandem aus der Stadt mehr gehört.

Die plötzliche Stille, die Mirandas Eintreten ausgelöst hatte, war King nicht aufgefallen, so konzentriert war er aufs Spiel gewesen. Doch als der untersetzte Bankangestellte ihm gegenüber die Karten neu zu mischen begann, hatte er den Eindruck, beobachtet zu werden. Und tatsächlich, als er aufblickte, sah er in ein Paar bestechend grüner Augen.

Einen Moment durchzuckte es ihn, und er hatte vielleicht eine Ahnung dessen, was BJ verändert hatte, dann stand er auf. Seine Mitspieler sahen ihn überrascht an.

»Ich bin raus«, sagte er nur und ließ seinen Gewinn achtlos auf dem Tisch liegen. Er durchquerte festen Schrittes den Raum.

Miranda war überrascht: über Al Kings Blick, dass er sie zu erkennen schien, dass er aufstand und schließlich zu ihr herüberkam. Er lächelte sie freundlich und gleichzeitig wissend an und bot ihr seinen Arm an. »Lassen Sie uns einen Spaziergang machen. Draußen ist es kühler.«

Miranda ergriff dankbar den dargebotenen Arm und trat mit ihrem Begleiter hinaus in die schwüle Abendluft.

James Miles genoss seine Rolle als Gastgeber. Er gab sich gern weltmännisch. Sein Publikum – er würde sagen »Gäste« – war an diesem Abend gemischt. Während Richter Nichols und Mrs. Martinez sich von seinen Erzählungen begeistert zeigten, saß Jason Ryker eher nachdenklich über seinem Bohneneintopf. Er begann, hinter die heiteren Berichte seines Gastgebers zu blicken und bemerkte eine unausgesprochene Drohung, wenn er von ehemaligen Pächtern sprach, die entweder tot oder weggezogen waren.

Auch Nichols und Margaret wussten um diese Drohung, wobei der Richter sie mit einem nervösen Lächeln überging, während Margaret ein geradezu diabolisches Grinsen zeigte. Macht zog die dunkelhaarige Frau an, doch Gefahr erregte sie, und ihre Augen leuchteten.

Jason Ryker dachte an Miranda Lewis. Die Leidenschaft, mit der sie den Sheriff in Schutz genommen hatte. Sie wusste, was vorging. Zumindest kannte sie ihren Vater gut genug, um die Konsequenzen für Ryan abschätzen zu können.

Inzwischen konnte Ryker es auch: Miles hatte die Macht, alle zu töten, die ihm nicht in den Kram passten. An diesem Nachmittag wäre es fast Ryan gewesen, weil er – zugegebenermaßen – Miranda in Gefahr gebracht hatte. Morgen könnte es Ryker selbst sein, weil Miles vielleicht seine Schuhe nicht gefielen.

Dem Anwalt lief ein kalter Schauer über den Rücken und er sah hinab auf das Paar schwarzer Stiefel, das er an diesem Abend trug. Als er wieder aufsah, wurde er sich der dunklen Augen gewahr, die ihn von der anderen Seite des Tisches anstarrten. Er schluckte hart.

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Miranda spürte die Anspannung, seine wie auch ihre eigene. Beide dachten fieberhaft nach, was sie sagen wollten, wie sie dem jeweils anderen die Situation verständlich machen sollten.

»Ich möchte Ihnen danken, dass Sie BJ geholfen haben«, begann King schließlich den Dialog.

Miranda war froh über die schützende Dunkelheit, die ihr Erröten verbarg. »Ich wünschte, ich könnte ihr noch besser helfen.« Es war nicht mehr als ein Flüstern, und King erkannte in einem klaren Moment den Grund für ihre Hilfe: Miranda liebte BJ. Er sah eine Weile eindringlich auf Miranda herab, die seinen Blick spürte, und ihre Gesichtsfärbung vertiefte sich noch.

»Ja«, sagte er schließlich und sog die Abendluft ein.

»BJ hat Coleton nicht erschossen«, gestand Miranda nach einer weiteren schweigsamen Minute.

King erwiderte nichts, er hatte es bereits geahnt. Nicht einmal BJ konnte mit einem Loch in der Schulter jemanden so genau ins Herz treffen. Der Schmerz in der Schulter allein beim Anlegen wäre betäubend gewesen, und dennoch waren alle überzeugt, dass sie Coleton erschossen hatte. Absurd.

Andererseits, wer würde die junge Frau verdächtigen, die jetzt neben ihm ging? Sie war schon fast zu naiv, zu unwissend, um wahr zu sein.

»BJ wollte nicht, dass ich es irgend jemandem erzähle. Ich . . . Sie fürchtet, ich würde gehängt werden.« Sie erwähnte nicht, dass auch sie selbst diese Befürchtung quälte, doch es war ihrer Stimme deutlich anzuhören. Die junge Frau war überrascht, als sie ein dunkles Lachen von ihrem Begleiter vernahm.

»Als würde irgend jemand es wagen, Ihnen auch nur ein Haar zu krümmen!«

Miranda war nicht klar, was King meinte, doch schon sein Lachen schien ihr unangebracht. Deshalb fiel auch ihre Erwiderung etwas schärfer aus, als sie beabsichtigt hatte. »Was wollen Sie damit sagen?!« Sie blieb abrupt stehen und sah ihn verärgert an.

»Dass niemand bei Verstand sich in dieser Stadt mit James Miles’ Töchtern anlegt, und Sie sind ja wohl eine davon.« Al King lächelte milde, als er das sagte.

Einen Moment war es Miranda, als würden sich zwei Rädchen in ihrem Kopf drehen, etwas fügte sich ineinander. Doch sie wusste nicht, was. »Nein, wahrscheinlich nicht«, gab sie nachdenklich zu.

»Nein, ganz bestimmt nicht«, verbesserte King.

»Nein, ganz bestimmt nicht«, wiederholte Miranda, und jetzt klang es gedankenverloren.

Sekunden später konnte King sehen, wie bei der jungen Frau ein Licht anging, das ihm gleich darauf aus ihren Augen entgegenleuchtete.

»Schon gar nicht er selbst«, sagte sie, und nun nahm das Leuchten ihr ganzes Gesicht ein. Miranda lächelte. »Danke«, sagte sie, und ihre Stimme versagte fast vor Glück. Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und küßte King auf die Wange.

»Kommen Sie morgen auf jeden Fall zum Prozess! Es wird eine Überraschung geben!« rief sie, während sie sich von ihm entfernte. Dann lief sie zu ihrer Zeitung und war verschwunden, bevor King etwas erwidern konnte. Aber er lächelte wissend.

Jason Ryker saß zu eben jener Zeit ahnungslos in James Miles’ Salon und paffte an einer Zigarre. Er wünschte sich, dass dieser Abend bald enden würde. Er hasste es, bei Gericht nicht ausgeschlafen zu sein, doch Miles schien das als eine Art Siegesfeier anzusehen, in mehr als einer Beziehung: BJ würde gehängt werden, er konnte sich endlich an William Jackson rächen, und Margaret Martinez hatte er – wie er glaubte – mit seinem Charme eingewickelt. Er hatte gewonnen, und er genoss den Triumph mit einem Gehabe, dass Ryker die Galle hochkam.

Auch Callie wollte sich nicht von der guten Laune ihres Vaters anstecken lassen. Sie würde erst feiern, wenn BJ am Galgen baumelte.

Alle anderen waren ausgelassen, sie wussten ja nicht, was auf sie zukam.

Gut anderthalb Stunden später saß Ryker noch immer in Miles’ Salon. Allerdings neigte sich der Abend allmählich seinem Ende zu. Nadine und Tom hatten sich bereits vor einer halben Stunde auf den Weg gemacht, und Callie war ins Bett gegangen – nicht in ihr eigenes. Miles widmete sich jetzt ausschließlich seinem attraktivsten Gast, und da Ryker dies nicht war, musste er sich mit einer schleichenden Unterhaltung mit Richter Nichols begnügen. Und Nichols bestand darauf, sich über neue Gesetzesentwürfe zu unterhalten. Die Ironie dabei entging dem Staatsanwalt nicht, schließlich waren beide Männer Marionetten in einem Schmierenstück, und Miles hielt die Fäden in der Hand. Sie verstießen gegen das Gesetz, doch der Richter ignorierte das einfach. Ryker wünschte, er hätte dieselbe gleichgültige – oder dumme – Einstellung.

Gerade als der Mann mit der Nickelbrille, der Ryker gegenübersaß, zu einer Tirade über die Verbrechen der Indianer ansetzen wollte – als wüsste Ryker nicht am besten darüber Bescheid, sie hatten schließlich seine Brüder getötet –, betrat jemand den Salon.

Ryker erwartete, einen von Miles’ Männern zu sehen, doch als er sich umwandte, blickte er in die ruhigen grünen Augen von Miranda Lewis. Sie trug Hosen und war an der Röte ihrer Wangen gemessen aus der Stadt hierhergeritten. Schweißtropfen glitzerten in ihrem zurückgebundenen Haar.

Für den Staatsanwalt hatte sie in diesem Moment etwas von einer Erscheinung. Er sah sich nach seinem Gastgeber um und wollte sehen, ob er nicht vielleicht einer Halluzination erlegen war. Doch das war er offensichtlich nicht, denn auch Miles hatte seine jüngste Tochter bemerkt.

»Miranda, was für eine Überraschung!«

Die Männer erhoben sich, als Miranda einen Schritt nähertrat und nun endgültig im Salon stand.

»Ich muss mit dir sprechen, es ist sehr wichtig.« Die junge Frau ignorierte die anderen Anwesenden und sah ihren Vater fest an. Sie war nicht überrascht gewesen, alle Beteiligten des Komplotts versammelt zu sehen, nur angewidert.

»Wie du siehst, habe ich Gäste. Setz dich . . .«

»Es ist sehr wichtig«, unterbrach Miranda ihren Vater und schritt ohne zu zögern auf das Esszimmer und das dahinter liegende Arbeitszimmer ihres Vaters zu. Miles war überrascht, er murmelte eine kurze Entschuldigung und folgte seiner Tochter.

Miranda stand in dem mit Tierpräparaten dekorierten Raum, der ihr schon als Kind Angst eingejagt hatte. Auch jetzt sahen die toten Augen der Tiere auf sie herab, doch sie weigerte sich, das erschreckende Bild aus ihrer Kindheit zuzulassen. Sie durfte sich jetzt keine Schwächen oder Fehler leisten.

Ihre Entschlossenheit kehrte in dem Moment zu ihr zurück, als ihr Vater die Tür schloss. Er ging um seinen großen Schreibtisch herum und setzte sich. Seine Miene war die eines Vaters, der sein ungezogenes Kind bestrafen musste, doch Miranda hatte gelernt, diesem Blick ihren eigenen trotzigen entgegenzusetzen.

»Ich dachte, ich hätte dir bessere Manieren beigebracht«, bemerkte er ob ihrer Unhöflichkeit seinen Gästen gegenüber.

»Meine Manieren habe ich von Mutter, und sie sind tadellos«, entgegnete Miranda kühl.

»Zeig ein bisschen Respekt. Ich bin immer noch dein Vater.«

»Ich zeige Respekt, wo es angebracht ist«, schnappte Miranda zurück, bevor sie sich auf die Zunge beißen konnte. Sie hatte sich vorgenommen, sich nicht von ihm provozieren zu lassen, doch wie immer brachte seine Arroganz sie aus der Ruhe. Sie atmete tief durch, um sich wieder zu fassen.

Auch Miles schien einzusehen, dass ihn diese Einschüchterungsversuche nicht weiterbrachten, also änderte er seine Strategie. »Du hast gesagt, du hättest etwas Wichtiges mit mir zu besprechen. Mach’ es bitte kurz.«

»Gut. Ich weiß, dass Nichols und Ryker für dich arbeiten und dass der Prozess eine einzige Farce war. Du hast dieses ganze Theater nur für mich veranstaltet.« Miranda hielt inne. Vielleicht hoffte sie tief in ihrem Inneren, dass er es bestreiten würde; er tat es nicht.

»Du hattest nie vor, BJ eine faire Verhandlung zuzusprechen, nicht wahr?« Sie bemerkte, wie eine Gefühlsaufwallung ihre Stimme schriller werden ließ, als sie BJ erwähnte. Sie bekämpfte die Wut, die sich aufbäumte, während ihr Vater ruhig antwortete: »Sie hat einen Sheriff erschossen, noch dazu in meiner Stadt. Sie hat keinen fairen Prozess verdient.«

Die Arroganz, die hinter diesen wenigen Worten steckte, drohte Miranda ihre Selbstbeherrschung zu nehmen. Sie zwang sich erneut zur Ruhe. »Das ist genau der Punkt: BJ hat Coleton nicht erschossen. Ich war es!«

Nur für den Bruchteil einer Sekunde sah Miranda ihren Vater erbleichen, doch er fing sich schnell. »Versuche nicht, sie zu schützen. Sie . . .«

»Ich versuche nicht, sie zu schützen. Es ist wahr. Ich war bei ihr, als Coleton das Feuer eröffnete. Er hat sie in die Schulter getroffen, da habe ich ihr Gewehr genommen und ihn erschossen. So, wie du es mir beigebracht hast, mitten ins Herz.« Ihre Stimme wurde bitter bei den letzten Worten. Vielleicht war es genau das, was ihren Vater dazu brachte, ihr zu glauben. Zumindest wich sein überheblicher Gesichtsausdruck einem nachdenklichen. »Ich nehme nicht an, dass du hier bist, um mir für diese Lektion zu danken.« Seine Stimme klang jetzt geschäftlich. Er wusste noch immer nicht, worauf Miranda hinauswollte, und das gefiel ihm nicht.

»Nein, ich bin hier, weil ich will, dass du dafür sorgst, dass BJ morgen freigesprochen wird.«

Normalerweise wäre Miles aufgrund einer solchen Forderung in Gelächter ausgebrochen, doch er ahnte, dass Miranda einen Plan verfolgte. Sie war weder so durchschaubar wie Nadine noch so unbeherrscht wie Callie. Sie war clever. Sie wäre ihm nicht in dieser Weise entgegengetreten, wenn sie nicht einen Trumpf im Ärmel hätte.

»Und warum sollte ich das wohl tun?« Er leugnete nicht einmal, dass er die Macht hatte, es zu tun.