Zeig mir, was Liebe ist - Claudia Westphal - E-Book

Zeig mir, was Liebe ist E-Book

Claudia Westphal

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Beschreibung

Äußerlich die Vorzeige-Lipsticklesbe, innerlich der größte Butch: Jefferson Fynn passt in keine Schublade. Im Beruf erfolgreich, das Privatleben in einen Schrank gesperrt. Doch eines Tages werden die Sehnsucht nach Liebe und der Wunsch nach Familie groß genug, so dass Jefferson ihre Karriere an den Nagel hängt und in ihre Heimat zurückkehrt. Wo neben neuen familiären Herausforderungen auch tatsächlich die große Liebe auf sie wartet ...

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Claudia Westphal

ZEIG MIR, WAS LIEBE IST

Roman

Originalausgabe: © 2012 ePUB-Edition: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-063-9

Coverfoto:

Kapitel 1

»Was habe ich nur getan?«

Jefferson Fynn stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Vor allem die Frage nach dem Warum quälte sie. Wahlweise hatten Psychiater ihr einzureden versucht, der Hass auf den Vater sei Ursache ihrer Traumata. Oder die Dominanz ihrer Mutter. Dass sie Anerkennung suche. Vielleicht sogar Liebe. Dass sie sexsüchtig sei. Und karrierebesessen. Alles konfuse Theorien! Keiner ihrer Seelenheiler hatte sich je mit der Erforschung des Gesamtprodukts ›Jefferson Fynn‹ beschäftigt.

Fahles Mondlicht fiel auf das abbruchreife Haus. Jefferson ließ ihren brandneuen BMW Z3 in der Auffahrt ausrollen und stieg aus. Ein weißes Schild im Vorgarten pries die Vorzüge des Verkaufsobjekts an. Die sich in Grenzen hielten, wenn Jefferson sich recht erinnerte.

In ihren hochhackigen Pumps stakste sie über Schotter und Grasnarben zur Veranda. Die Vordertür hing aus den Angeln. Oben im Fenster blähte sich ein Vorhang im Wind.

Jefferson kam eine Idee. Eine jener spontanen Einfälle, die oft ebenso schnell wieder in Vergessenheit gerieten. Sie fischte ihr Handy aus der Kostümtasche und wählte die Telefonnummer der Maklerfirma.

»Ja?«, meldete sich eine aufgeschreckte Stimme nach dem dritten Klingeln.

»Hallo. Mein Name ist Jefferson Fynn. Ich . . .« Fahrig strich sie sich eine Strähne ihres langen, dunklen Haares aus dem Gesicht. Sollte sie es wirklich durchziehen?

»Sind Sie noch dran?«, fragte die Frauenstimme am anderen Ende.

»Ja, ich würde mir gern eines Ihrer Objekte ansehen. 1783 Hillside Drive.«

»Oh?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang überrascht. Wahrscheinlich hatte die Frau nicht erwartet, dass irgendwer sich jemals für den alten, baufälligen Kasten interessieren würde.

»Ginge es morgen Nachmittag?« Allen Zweifeln zum Trotz blieb Jefferson auf ihrem Kurs.

»Natürlich, ich muss nur nachsehen . . .« Rascheln von Stoff. Offenbar quälte sich die Maklerin aus dem Bett.

Jefferson schaute auf die Uhr. Es war schon nach elf. Nicht spät für Menschen in L.A., doch in Halifax ging man früher schlafen.

»Würde es Ihnen gegen halb fünf passen, Miss . . .?« Sie machte eine Pause.

»Fynn. F-Y-N-N. Ja, das passt mir gut. Und Ihr Name ist?«

»Oh, Entschuldigung. Violet Benson. Ich treffe Sie dann um halb fünf bei dem . . . Objekt.« Die Bezeichnung ›Haus‹ wäre auch bei Weitem zu schmeichelhaft für das Gemäuer gewesen, das schon während Jeffersons Kindheit halb verfallen gewesen war.

Sie verabschiedeten sich. Jefferson sah auf ihr Handy herab. Vier Nachrichten. Jede Wette, sie kamen alle von Jill. Ihre Rechtfertigungen konnte sie sich getrost schenken!

Gedankenverloren spielte Jefferson mit den Schlüsseln ihres Luxusschlittens. Dieses baufällige Gemäuer war Teil ihrer Vergangenheit. Ebenso wie Jill. Beide erinnerten sie an Leidenschaft. Sehnsüchtiges Verlangen. Sündigen Sex.

Vor sieben Stunden hatte sie Jill zuletzt gesehen. In ihrem engen, kurzen Nachthemd, das ihre tolle weibliche Figur bestens zur Geltung brachte. An sie geklammert und splitternackt, ihre neue Sekretärin. »Seid ihr etwa ein Paar, Jill?«, hatte die Blondine gewispert.

Was für ein Witz! Bis auf dieses Flittchen wusste jeder in der Firma, dass Jill ihre Frau seit über vier Jahren mit Jefferson, ihrer persönlichen Assistentin, betrog. Jeffersons Anflug von Belustigung war rasch abgrundtiefer Bitterkeit gewichen. Gerade erst achtundzwanzig, und schon war sie durch etwas Jüngeres ersetzt worden!

Dabei galten sie als das perfekte Paar. Ob bei Konferenzen, Geschäftsessen oder Segelausflügen mit anderen Industriekapitänen – Jefferson war an Jills Seite gewesen. Sie besaß zwar nur einen mittelmäßigen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften, in der Praxis jedoch war sie unschlagbar. Mit Charme, Ehrgeiz und dem Aussehen eines Supermodels koordinierte, spekulierte, arrangierte sie – und katapultierte mit Jill die Firma in wenigen Jahren auf den Rang eines Multimillionen-Dollar-Unternehmens.

Jeder kannte Jills Frau. Ebenso war jeder über deren Beziehung mit Jefferson im Bilde. Dieses Arrangement war so viel einfacher als das Versteckspiel, das andere so trieben.

Jefferson genoss ihre sexuelle Macht und ihren Status. Sie verlangte keine Treueschwüre oder gar eine Legitimierung ihrer Beziehung. Wozu auch? Ironischerweise war ihr jetzt beides gleichzeitig genommen worden. Von einer zwanzigjährigen Sekretärin. Eine erniedrigende Erfahrung.

Um die Demütigung vollkommen zu machen, hatte sie die beiden auch noch in Jills Apartment erwischt. Dort, wo sie normalerweise Jills Frau betrogen. Zugegeben, sie und Jill hatten einander nie Treue geschworen, doch es war ein Unterschied, ob sie Jefferson in einem Hotelzimmer betrog oder in ihrem gemeinsamen Liebesnest.

Die Schultern gestrafft und mit versteinerter Miene war Jefferson die wenigen Schritte zum Sideboard gegangen. Dort hatte sie sich einen marmornen Briefbeschwerer geschnappt und ihn ihrer Ex-Geliebten zum Abschied an die Brust geworfen.

Halifax, Kalifornien. Nur wenige Meilen hinter der Golden Gate Bridge. Eine typische Kleinstadt. Keine zehntausend Einwohner. Auch Jeffersons Eltern lebten hier. Seit sie für Jill arbeitete, hatte sie Besuche vermieden. Jill hegte eine Abneigung gegen derlei familiären »Ballast«. Eine Frau und eine Geliebte, das reichte ihr.

Zurzeit lebte der jüngste ihrer Brüder, Cleveland, mit seiner Familie wieder im Elternhaus. Pleite durch fehlgeschlagene Immobilienspekulationen. Bei einem Besuch in L.A. hatte Cleveland die ganze traurige Geschichte gebeichtet und nach einem Job gefragt. Stattdessen hatte Jefferson ihm Geld geliehen – das sie vermutlich nie wiedersehen würde. Dafür war Familie schließlich da. Sie gab Rückhalt. Sie fing einen auf.

Seit der Stadtgründung waren die Fynns in Halifax ansässig. Und seitdem gab es in dieser Gegend auch ein Sprichwort: »Wird ein Kind in Halifax geboren, ist es ein glückliches Kind; wird ein Fynn in Halifax geboren, ist es ein Junge.« Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Bis Jefferson geboren wurde. Als erstes Mädchen in zahllosen Generationen männlicher Nachkommen, die alle nach amerikanischen Präsidenten benannt wurden. Somit stand Jeffersons Name bereits am Tag ihrer Empfängnis fest und wurde auch bei der Geburt nicht geändert.

Sie waren eine glückliche Familie. Normal, im normalsten Sinne des Wortes. Auch wenn die Ankunft eines Mädchens nach vier Söhnen ein Schicksalsschlag für Jackson und Noreen Fynn gewesen sein musste. Das machte Jefferson wett, indem sie bei jeder Gelegenheit den Jungen nacheiferte. Sie waren ihre Vorbilder, ihr Ansporn und ihre Raufkameraden.

Bis Kennedy fortging. Nicht, dass er verstoßen worden wäre. Nach seinem Outing musste er gespürt haben, wie unerwünscht Homosexualität im Hause Fynn war.

Genau so, wie sie es eines Tages gemerkt hatte.

Frisch geduscht saß Jefferson gegen halb eins auf dem Doppelbett eines kleinen, anonymen Motels am Highway und surfte durch die Fernsehprogramme. Hier war der Name Fynn so gut wie Smith. Niemand kannte sie. Keiner störte sie. Fern von allen Problemen konnte Jefferson in Ruhe nachdenken.

Wie lange wollte sie bleiben? Womit würde Jill sie zur Rückkehr überreden? Wie viel Zeit wollte sie sich lassen, ehe sie ihr nachgab?

Reglos blickte Jefferson auf ihr kleines, silbernes Telefon. Die Mailbox war voll. Sollte sie ihre Nachrichten abhören?

Sie war erwachsen.

Sie zögerte es hinaus.

Sie musste eine Entscheidung fällen.

Sie fühlte sich nicht stark genug.

Schlaf. Sie brauchte Schlaf.

Als Kind hatte sie gern geschlafen. Als Heranwachsende hatte sie sich lieber nachts aus dem Haus geschlichen und tagsüber den Unterricht verpennt. Als Erwachsene war es ein Konzept, das sie eher vom Hörensagen kannte.

Ihre Nachtstunden verliefen meist ruhelos. Zu viele Gedanken drehten sich in ihrem Kopf: Termine, Verabredungen, Anliegen anderer. Es glich einem Wollknäuel, dessen Anfang verschwunden war und dessen Ende sich endlos fortsetzte. Sie würde es nie entwirren können.

Überraschend daher, dass Jefferson in dieser Nacht fast acht Stunden schlief. Erst Schritte auf der Treppe rissen sie aus ihrem Schlummer.

Desorientiert strich sich Jefferson die dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht und plante ihren Tag.

Ein Familienbesuch stand an. Wie sie es drehte und wendete, es gab kein Entkommen.

Schon im Eingang der Werkstatt hörte Jefferson Musik. Von drinnen ertönten gedämpfte Stimmen, dann lautes Rufen. Ein Telefon klingelte. Es war so betriebsam wie vor zehn Jahren. Damals hatte sie ihren alten Dodge durchsehen lassen, bevor sie nach San Francisco abgedüst war. Besser gesagt war das alte Gefährt davongestottert und hatte bei San Rafael den Geist aufgegeben.

In der großen Werkhalle suchte Jefferson nach der hochgewachsenen, breitschultrigen Gestalt ihres Bruders.

Ehe sie ihn fand, wurde sie von seinen Kollegen entdeckt. »Hey, Fynn. Ich glaube, es ist für dich!«, hallte es durch den Raum.

Alle Blicke richteten sich auf Jefferson. Keiner der Männer kam ihr bekannt vor. Vermutlich basierte die Annahme des Mechanikers weniger auf der frappierenden Familienähnlichkeit als auf Washingtons stadtbekannter Schwäche für gutaussehende, groß gewachsene Brünette.

Der älteste Sohn der Fynns steckte den Kopf unter einer Motorhaube hervor. »Was machst du denn hier?«

»Ich habe Urlaub und dachte, ich schau mal vorbei.«

Da er sich keine Mühe machte sie zu begrüßen, durchquerte Jefferson die Werkstatt. Der Kollege, mit dem Washington sich gerade unterhalten hatte, verdrückte sich unauffällig.

»Urlaub? Seit wann kennt dein Boss dieses Wort? Das wäre das erste Mal in . . . wie vielen Jahren?«

»Vier.«

Washington besah sich das Motorenteil in seinen ölverschmierten Händen. Unter dem Overall sah sie das Spiel seiner Muskeln. Seit dem High-School-Abschluss arbeitete Washington schon in dieser Reparaturwerkstatt. College-Ambitionen hatte er nie besessen. Mit Autos und Motorrädern dagegen kannte er sich aus. »Warst du schon bei Mom und Dad?«

»Nein, vielleicht fahre ich später noch vorbei.«

»Dann erwähne ich diesen Kurzauftritt besser nicht, falls dein voller Terminkalender einem Besuch entgegensteht.« Washington nahm niemals ein Blatt vor den Mund.

Die unausgesprochenen Vorwürfe waren berechtigt. Alle wichtigen Ereignisse des Fynn-Clans fanden ohne Jefferson statt.

»Wie geht es dir?«, überging sie seine Worte. Seit dem letzten Zusammentreffen war ihr Bruder sichtlich älter geworden. Die Spur von Grau an seinen Schläfen verlieh ihm einen Anflug von Seriosität.

»Gut.« Er rang sich zu einem Vorschlag durch. »In zwanzig Minuten habe ich Mittagspause. Wir können im Diner etwas essen, wenn du noch Zeit hast.«

Die Einladung kam überraschend. »Gern. Ich warte auf dich.«

Pünktlich zwanzig Minuten später öffnete Jefferson die Tür zum Diner. Washington saß bereits mit zwei Kollegen an einem Tisch. Jeffersons Eintreten unterbrach die angeregte Unterhaltung. Washingtons Kollegen – ›Will‹ und ›Martin‹ stand auf den Overalls – verließen ohne ein weiteres Wort den Tisch und setzten sich eine Nische weiter.

»Du hängst also noch immer mit Gentlemen herum.« Jefferson ließ sich auf einen der freigewordenen Plätze fallen.

»Nur weil du in L.A. wohnst, bist du nichts Besseres als sie. Also führ dich nicht auf wie eine Großstadtzicke.«

Das saß. In L.A. war es einfach, Leute einzuschüchtern, die nicht mit einem gut gepolsterten Bankkonto geboren worden waren. Hier kamen die meisten aus mittelständischen Familien.

»Also, was hat es mit deinem Urlaub auf sich? Ist dein Boss gestorben?« Genüsslich biss der ältere Fynn in seinen Burger.

Jefferson stibitzte ein paar von Washingtons Fries. »Ich fürchte, ich bin gefeuert.« Auf die näheren Umstände ihres letzten Gesprächs mit Jill wollte sie nicht eingehen.

»Und jetzt?«

Das war die Preisfrage. »Vielleicht bleibe ich eine Weile. Ich habe etwas Geld gespart. Später suche ich mir einen neuen Job.«

»Schon mal was von Arbeitslosigkeit gehört, Jeffey?«

»Sag nicht, dass attraktive Frauen, die für Geld alles tun, nicht immer Arbeit bekommen«, tat Jefferson schockiert.

Washington lachte auf. »War das in L.A. deine Stellenbeschreibung?«

»Wie kommst du darauf?«

Ihr Gegenüber grinste schief. »Mom hielt es für möglich. Na ja, du warst noch nie schüchtern, wenn es um Sex ging.«

Verstohlen schaute sich Jefferson zu Will und Martin um, die sich jedoch über Wichtigeres zu unterhalten schienen. »Du hast ihnen hoffentlich gesagt, dass ich deine Schwester bin, oder?«

»Immerhin habe ich einen Ruf zu verlieren, du Vogelscheuche«, frotzelte Washington und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab.

»Vielen Dank. Die Jungs sollen schließlich nicht denken, sie wären bei mir chancenlos, nur weil ich mit dem Opa unter den Mechanikern schlafe.«

Washington wurde ernst. »Mom und Dad sprechen oft über dich, Jefferson. Sie vermissen dich.«

Erstaunlich. Washington war erwachsen geworden; sensibel für die Gefühle und Bedürfnisse anderer.

»Ich vermisse euch auch. Mein Job hat mich aufgefressen . . .«

»Vor mir musst du dich nicht rechtfertigen. Vor Mom allerdings schon. Also spar’s dir für morgen auf. Dinner um sieben.«

»Um sieben.« Es würde ein langer Abend werden . . .

Nachdem Washington zurück an die Arbeit gegangen war, blieb Jefferson noch Zeit bis zum Termin mit der Maklerin – wie hieß sie gleich? Benson? Eine gute Gelegenheit, sich in ihrer alten Heimatstadt umzusehen. Halifax hatte sich kaum verändert. Ein paar neue Geschäfte, das war es auch schon. Ein neuer Buchladen erregte ihre Aufmerksamkeit.

Kaum war die Ladentür hinter Jefferson ins Schloss gefallen, entdeckte sie ausgerechnet die Person, der sie gern meilenweit aus dem Weg gegangen wäre. In einem Anflug von Panik duckte Jefferson sich hinter das nächste Regal. Bloß jetzt nicht! Am besten nie wieder! Was, wenn . . .

»Bis Morgen, Marcy.«

»Das Buch ist bis dahin bestimmt gekommen, Casey. Bis Morgen.«

Jefferson stieß hörbar den Atem aus.

Ein Regal weiter schaute eine Frau neugierig herüber. »Alles in Ordnung?«

»Nur eine Panikattacke. Ist schon wieder gut.«

»Also, wenn Bücher Sie derart nervös machen . . .«

»Es waren nicht die Bücher. Obwohl . . .«, Jefferson zog einen Bildband mit einem gefräßig aussehenden Hai auf dem Cover aus dem Regal, ». . . der kann einem schon Angst machen.«

Die junge Frau kam näher und streckte Jefferson die Hand entgegen. »Hi, ich bin Tracy.«

»Jefferson.« Trotz des unschuldigen Händedrucks deutete sie Tracys Interesse richtig und startete einen Rückzug. »Ich muss los. Hat mich gefreut, ähm, Tracy.«

So leicht kam sie leider nicht davon. Die zierliche Frau warf ihr schulterlanges, rotbraunes Haar zurück und verstellte ihr den Weg. »Auf die Gefahr hin, dass es wie eine Anmache klingt: Würdest du einen Kaffee mit mir trinken?«

»Danke für die Einladung, aber nein.« Jeffersons Unbehagen wuchs. Sie war es gewohnt, dass Frauen wie Männer mit ihr flirteten. Meistens allerdings waren es Geschäftspartnerinnen von Jill. Doch das war L.A. In L.A. war Sex eine Ware, und somit war ihr Sexappeal Teil ihres Kapitals. In Halifax dagegen verwandelte sie sich wieder die siebzehnjährige Jefferson Fynn, die sich, überwältigt von schmerzvollen Erinnerungen, hinter mannshohen Regalen vor ihrer ersten großen Liebe versteckte.

Jefferson parkte ihren Wagen in der Einfahrt des Banister-Anwesens. Erwartungsgemäß kam sie zu früh. Es gab einfach nichts für sie zu tun. In L.A. rannte ihr die Zeit davon. Immer stand sie unter Stress. Hier dagegen gab es keinen Stress, keinen Terminplaner – und keine Jill.

Das alte Gemäuer hatte sich wenig verändert. Noch immer gab es mehr Graffiti als Farbe an den Wänden. Hinter dem Haus wucherte das Unkraut. Die Hecken waren schon lange nicht mehr gestutzt worden, die Fenster zersplittert.

Wie damals verschaffte sich Jefferson Einlass durch die Seitenveranda. Ein modriger Geruch umfing sie. Hatte sie diesen gruseligen Ort in ihrer Vorstellung romantisiert? In der Ecke lag eine alte, durchgelegene Matratze. War es dieselbe, auf der sie das erste Mal Sex gehabt hatte?

Erinnerungen überfluteten sie: das Lachen eines beschwipsten Mädchens. Die erotische Herausforderung. »Ich wette, du traust dich nicht, mich zu küssen!«

Bitterkeit mischte sich in Jeffersons Erinnerungen. Sie straffte die Schultern und wandte sich dem Bereich zu, der in besseren Tagen eine Küche gewesen war.

»Miss Fynn?« Die Vordertür löste sich aus den Angeln und krachte begleitet von einem schrillen Aufschrei auf den Boden. Staub wallte auf. Eine kleine, blondierte Frau mit Designerbrillenimitat wedelte hustend mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. »Freut mich, Sie kennenzulernen!« Mit einer geübten Geste wischte sie den Staub von ihrer Chanel-Kostüm-Kopie und streckte der Klientin die Hand entgegen. »Violet Benson.«

Die Besichtigung der unteren Etage verlief ernüchternd. Die Zimmer im Erdgeschoss stanken bestialisch. Vermutlich schliefen dort Obdachlose.

». . . gebaut 1927 . . . der Architekt war . . .«, ließ Jefferson eine Tirade architektonischer Fakten auf sich niederprasseln.

Im ersten Stockwerk waren die Badezimmer mit Unaussprechlichem beschmiert, die Schlafzimmer das Heim von Ratten und Kakerlaken. In ihrem eng anliegenden Armani-Kostüm war Jefferson mehr als fehl am Platz.

Ein paar Stufen führten zum Dachboden. Instinktiv zog die Besucherin den Kopf ein und duckte sich durch die halbhohe Tür. Der Krempel von früher fehlte. Damals hatte sich alles Mögliche im Halbdunkel angesammelt: Kleider, Kisten, Bücher, ein Eichenschrank, Krimskrams der Schauspielerin, die lange im Haus gelebt hatte. Heute wirkte der große Raum verwaist.

Jefferson fühlte einen kleinen Stich in der Brust. Hier oben war sie am glücklichsten gewesen. Ungestört. Keines der anderen Kinder ihrer Nachbarschaft hatte sich über die schmale, brüchige Treppe heraufgewagt. Jefferson verkniff sich die Frage nach dem Verbleib der Sachen und trat an die Dachluke. Dielen knarrten. Direkt unter dem verstaubten Fenster stieß ihr hochhackiger Pumps an ein loses Brett.

Ihr altes Versteck! Jefferson schluckte. Verstohlen blickte sie zur Maklerin. Ihr Herz raste, ihre Hände wurden feucht. Lagen die Geheimnisse ihrer Jugend etwa noch immer hier oben verborgen?

»Nicht viel zu sehen. Wollen wir wieder hinuntergehen?«, erklang Miss Bensons Stimme vom Türeingang. Offenbar misstraute sie den morschen Bodendielen.

»Es hat sich verändert.« Zurück im Treppenhaus, beugte sich Jefferson über das Geländer. Sie sah hinunter in die Eingangshalle, dann nach oben: Der riesige Kronleuchter war verschwunden. Drähte ragten aus der Decke.

Spielte ihr das Gedächtnis Streiche? Vergeblich versuchte Jefferson ihre Erinnerungen mit dem tatsächlichen Zustand des Hauses in Einklang zu bringen. Gab es die durchgelegene Matratze im Untergeschoss wirklich? War es dieselbe wie vor dreizehn Jahren?

War sie noch dieselbe? Ein schlaksiges Mädchen mit Lederjacke und Elvis-Tolle, das immer eine Zigarette hinters Ohr geklemmt hatte?

Beim ersten Wiedersehen gestern schien alles noch wie früher. Und jetzt? Reine Illusion.

»Ihre Familie freut sich bestimmt, dass Sie wieder hierher ziehen wollen.« Die Maklerin steckte die Hausbroschüre zurück in ihre Aktentasche und steuerte gen Ausgang.

»Sie wissen es noch nicht.« Jefferson bahnte sich vorsichtig den Weg um ein paar verrostete Farbdosen. »Außerdem gibt es vorher eine Menge zu tun. Man muss erst alles niederreißen, bevor man . . .«

»Einen Moment! Sie wollen das Haus abreißen? Tut mir leid, Miss Fynn. In dem Fall darf ich Ihnen das Grundstück nicht verkaufen. Das Anwesen muss in seiner alten Form bestehen bleiben. Diese Bedingung ist unumstößlich. Renovieren, ja, Abreißen, nein.«

Fassungslosigkeit machte sich in Jefferson breit. »Wie bitte? Ich wollte auf diesem Grundstück etwas Neues bauen. Ein Haus, das meinen Stil repräsentiert!« Mit einem tiefen Atemzug bändigte Jefferson ihre Empörung. Wieso berührte diese Klausel sie so? Es war nur ein Haus! Ein altes, hässliches, baufälliges Gemäuer.

Aber auch der geheime Ort, an dem sie ihre Unschuld verloren hatte.

In ihrem dunkelblauen Cabrio kurvte Jefferson durch die kleine Stadt auf der Suche nach Spuren ihrer Jugend. Alte Treffpunkte wurden inzwischen von neuen Teenagern heimgesucht. Ob ihre früheren Freunde noch alle in Halifax lebten? Nun, immerhin Casey war da. Die stand allerdings ganz unten auf Jeffersons Liste.

Die Hausbesichtigung hätte sie sich schenken sollen. Schließlich konnte sie nicht einfach nach Halifax zurückkommen. Besonders, wo sie jeden Tag Casey in die Arme laufen könnte. Überhaupt, so lange die Beziehung zu Jill ungeklärt blieb, gab es zu viele »Wenn« und »Aber« in ihrem Leben. In L.A. waren die Dinge einfach. Dort lagen Gegenwart und Zukunft. Halifax war ihre Vergangenheit.

Die schrille Sirene eines Streifenwagens riss Jefferson aus ihren Selbstzweifeln.

»Noch ein Strafzettel! Na großartig!« Reichlich genervt hielt sie das Cabrio an. Im Rückspiegel beobachtete sie den Cop, der erst einmal ihr Nummernschild genauer inspizierte. Sekunden später leuchtete ihr der Strahl einer Taschenlampe ins Gesicht. »Das gibt’s ja nicht! Fynn?«

Das brachte Jefferson aus dem Konzept. Sie wollte dem Uniformierten gerade eine herzzerreißende Geschichte über einen familiären Notfall auftischen.

»Ich bin’s. Hank Lundy. Ich war mit Kennedy in einem Jahrgang. Wir sind oft zusammen angeln gegangen.« Rotes Haar, blasse Haut und Sommersprossen erinnerten an den farblosen Jungen von damals. »Besuchst du deine Eltern? Geht es ihnen gut?«

Das konnte er wahrscheinlich besser beantworten. In Halifax kannten die Leute einander. Jefferson selbst erhielt seit vier Jahren nur spärliche Nachrichten von der Familienfront. »Ja, es geht ihnen sehr gut. Und was machst du so?«

»Ich bin gerade Vater geworden. Hast du mal was von Kennedy gehört?« Hank musste der Einzige sein, zu dem dieser Kleinstadttratsch nicht vorgedrungen war.

»Schon lange nicht mehr.« Die Worte taten weh.

»Schade.« Hank räusperte sich vernehmlich. »Du warst zu schnell unterwegs. Diesmal verwarne ich dich nur.«

»Danke, Hank. Das ist sehr nett von dir.« Auf ihr strahlendes Lächeln hin errötete er leicht.

»Grüß deine Eltern, und fahr vorsichtig. Halte dich bitte an das Tempolimit.« Er nickte resolut und ging, ohne eine Erwiderung abzuwarten, zurück zu seinem Wagen.

Kurz nach dem Zusammentreffen mit Hank betrat Jefferson einen 7-Eleven. Um kurz nach acht Uhr gab es nur wenige Kunden. Jefferson ließ sich Zeit beim Durchschlendern der Gänge.

Ihr stand der Sinn nach Schokolade und Eiscreme. Dazu eine gute Dosis Alkohol. Und womöglich noch die hinreißende junge Frau in der Hygieneartikelabteilung, die gerade das Regal mit den Tampons inspizierte.

Während Jefferson sie von ihrem Platz bei den Shampoos aus beobachtete, hörte sie plötzlich Schritte hinter sich.

»Jefferson?«

»Jackson.« Seit vier Jahren hatte sie den großen, grauhaarigen Mann weder gesehen noch gesprochen. Bei Anrufen war immer ihre Mutter am Telefon.

»Bist du zu alt, mich Dad zu nennen?«

»War das deine Funktion in meinem Leben?« Jefferson riss sich zusammen. Woher sollte Jackson auch wissen, wovon sie sprach? Er hatte ja nicht mit ihr auf der Couch bei zahllosen Seelenklempnern gesessen und mit angehört, wie sie ihm die Schuld für ihre Verfehlungen gab. »Wie geht es dir?« Jefferson setzte ein gekünsteltes Lächeln auf.

»Bestens. Deine Mom hatte letzten Monat eine Knieoperation. Inzwischen läuft sie wieder. Washington sagt, du hättest deinen Job verloren?« Jackson klang besorgt. Vermutlich fürchtete er, neben Cleveland und dessen Familie nun auch sie durchfüttern zu müssen.

»Ich mache wohl eher eine schöpferische Pause.«

»Du kommst doch morgen zum Essen, oder? Die Jungs werden auch alle da sein.«

Alle wohl nicht. »Sicher.«

Jefferson wollte sich schon abwenden, da ergriff Jackson ihren Arm. »Du siehst mitgenommen aus.«

»Nur müde. Das ist mein erster Urlaub seit vier Jahren.« Der bislang wenig entspannend verlief.

»Ja. Deine Chefin ist . . .«

»Jill baut auf mich«, unterbrach sie die Anklage.

»Bestimmt. Bis morgen dann.« In einer unbeholfenen Geste drückte Jackson die Schulter seiner Tochter. Bevor er den Laden verließ, nickte er ihr nochmals zu und lächelte leicht.

Übelkeit ergriff Jefferson. Sie atmete tief durch. Nur raus hier! Schnellen Schrittes verließ sie das Geschäft.

Kapitel 2

Es war ein schöner Morgen. Selten waberte der Nebel aus der Bay bis nach Halifax, was die Stadt an den meisten Tagen des Jahres mit schönem Wetter beschenkte. Regen hätte Jeffersons mieser Laune auch den Rest gegeben. Auf der Suche nach einem Blumenladen durchstreifte sie das Stadtzentrum. Dabei traute sie sich kaum aufzublicken, aus Angst, jemand könne sie erkennen. Jemand wie Hank Lundy. Oder sie könnte über jemanden stolpern wie diese . . . Tracy! Tracy mit dem hübschen Lächeln . . .

Das nächste Schaufenster enthielt ein Sammelsurium aus bunten Blüten. Glockengebimmel meldete Jeffersons Ankunft. Der Verkaufsbereich schien leer.

»Ich bin sofort bei Ihnen!«, rief eine Stimme aus dem hinteren Teil des Ladens.

Jefferson zermarterte sich den Kopf nach den Lieblingsblumen ihrer Mutter. Mit etwas Glück kannte die Floristin Noreen Fynns Vorlieben. Die Vorteile einer Kleinstadt.

»Wenn das nicht Jefferson Fynn ist!«

Jefferson fuhr herum. Es war die Stimme aus ihren Albträumen.

Casey Lowell baute sich vor ihrer ehemaligen Freundin auf. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Eine junge Verkäuferin war mit Casey aus dem Lagerraum gekommen und blickte betreten von einer Frau zur anderen.

»Casey.« Jefferson schluckte schwer.

Beide wurden sich der jungen Floristin bewusst. »Danke, Julie. Ich kümmere mich um Miss Fynn.« Der Name entwich Casey wie ein Schuss.

Julie trat den Rückzug an.

Unter Caseys eindringlichem Blick überfluteten Jefferson uralte Erinnerungen.

»Ich wette, du traust dich nicht, mich zu küssen, Fynn!« Das leicht beschwipste Mädchen auf der verlausten Matratze kicherte und fuhr sich lockend mit der Zunge über die blutroten Lippen.

Jefferson selbst lehnte an der Wand, einen Fuß locker hinter sich abgestützt. Eine Flasche Fusel baumelte zwischen zwei Fingern. Was war sie sich erwachsen vorgekommen. »Du bist betrunken, Cas!« Für einen Moment lichtete sich der Nebel in ihrem Kopf. Ein Rest von Verstand riet ihr, dieses sinnliche Spiel sofort abzubrechen.

»Nicht betrunkener als du, Fynn.« Casey beugte sich vor, was Fynn einen ungehinderten Blick in ihr üppiges Dekolletee erlaubte.

Fynn lief ein köstliches Prickeln über die Haut. »Und ich wette, du traust dich nicht, dein Oberteil auszuziehen und mir deine Brüste zu zeigen«, nahm sie die Herausforderung an.

Beide Wetten gingen verloren.

»Was kann ich für dich tun, Jefferson?«, erkundigte Casey sich kühl und zog unwillkürlich die Strickjacke enger um ihre aufreizend weibliche Figur.

Dreizehn Jahre hatten aus Casey eine erwachsene Frau gemacht. Kurzes, blondes Haar umrahmte ihr herzförmiges Gesicht. Bis auf einen Hauch von Lippenstift brauchte ihre natürliche Schönheit kein Make-up.

»Ich . . . ähm . . . Blumen für meine Mom?« Du lieber Himmel, sie klang wie eine Idiotin! Ihr Selbstbewusstsein befand sich auf dem Niveau einer Elfjährigen.

»Woran dachtest du?« Dabei war offensichtlich, dass Jefferson zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht denken konnte.

Normalerweise half allein die Vorstellung von Jill an ihrer Seite, Jefferson wieder in eine erfolgreiche achtundzwanzigjährige Geschäftsfrau zu verwandeln. Allerdings hatte Jill in dieser Erinnerung keinen Platz. Und es musste eine Erinnerung sein. Sie konnte nicht tatsächlich vor Casey Lowell stehen. Es sei denn, man sühnte für seine Sünden nicht erst im Tod.

»Ich . . . ich weiß nicht.« Jefferson wandte sich auf der Suche nach ihrer verlorenen Jugend um. Sie musste hier irgendwo sein. Schließlich war Casey auch hier. »Vielleicht . . . äh . . . ein paar Rosen?«

Diese kleine Folter begann die Blondine zu langweilen. »Deine Mutter liebt Orchideen«, unterbrach Casey Jeffersons Gestammel. Routiniert machte sie sich an die Arbeit und hielt Jefferson wenig später ein perfektes Blumenarrangement hin. Ebenso teilnahmslos erledigte sie die finanzielle Transaktion.

Für den Betrachter mochte es wie eine normale Geschäftsabwicklung aussehen; für die beiden Frauen indes ging es um Schuld und Sühne.

Jefferson Fynn gehörte nicht zu den Menschen, die sich nach einer bewältigten Katastrophe ausruhten. Sie erledigte alle Dinge auf ihrer Liste ohne Rücksicht auf Verluste. So wählte sie kurz darauf von einer kleinen Bank auf dem Rathausplatz aus Jills Telefonnummer.

Bereits beim zweiten Klingeln hob sie ab. »Jefferson!«

Einen langen Moment blieb es still. Jills Unbehagen war fast spürbar. Das gab Jefferson die Oberhand. Prompt stieg ihr Selbstbewusstsein wieder auf das von Jefferson Fynn, persönliche Assistentin.

»Jill. Lass uns reden, nicht streiten.« Sie wollte keine Konfrontation, sie wollte die Situation erklären. »Ich bin ausgelaugt.« Welch eine Untertreibung. »Ich brauche eine Auszeit. Vielleicht habe ich deshalb überreagiert, als ich dich . . .« Stopp! War sie etwa dabei, sich bei Jill für ihre Affäre zu entschuldigen?

Vor ihrem inneren Auge sah Jefferson das Bild der halbnackten jungen Frau, die stöhnend unter Jill gelegen hatte. Die langen, blonden Haare, die dunkelblauen Augen, das herzförmige Gesicht mit der Kerbe im Kinn verwandelte sich in Casey, die stöhnend unter ihr lag.

»Okay, Jefferson, du hattest seit vier Jahren keinen richtigen Urlaub. Aber musstest du deshalb gleich die Stadt verlassen? Hier ist das Chaos ausgebrochen. Ich finde überhaupt nichts wieder!«

Jefferson erklärte ihr, dass sie vor einer Rückkehr noch Verschiedenes zu erledigen hätte. Auf eine Verlängerung ihres Aufenthalts in Halifax war sie zwar nicht allzu erpicht, sie wusste aber auch nicht, wohin sie sonst gehen sollte. L.A. war zu dicht bei Jill.

»Ich vermisse dich, Jefferson.«

»Ich melde mich, sobald ich Genaueres weiß.«

Nach dem Telefonat streckte Jefferson die Beine von sich, stützte die Hände in den Nacken und hielt ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen. Erstaunlich, wie frei und unbeschwert sie sich plötzlich fühlte. Vor allem angesichts des bevorstehenden Abendessens mit der Familie. Fühlte sich so Urlaub an?

»Ein Schläfchen mitten am Nachmittag?«

Ein Schatten fiel auf Jeffersons Gesicht. Die Stimme kam ihr vage bekannt vor. Jefferson schirmte die Augen vor den grellen Sonnenstrahlen ab. Vor ihr stand ihre neue Bekanntschaft. »Hallo, Tracy.«

»Hallo, Jefferson. Sind die für mich?« Tracy deutete auf den Blumenstrauß neben Jefferson auf der Bank.

»Für meine Mutter.« Jefferson rutschte ein wenig zur Seite.

Tracy nahm die Einladung an. »Das ist die einzige Entschuldigung, die ich gelten lasse.« Die gute Laune der zierlichen jungen Frau war ansteckend. Auch der fast schon ungebührlich vertrauliche Umgangston gefiel Jefferson. »Was für ein schöner Tag!«

»Ja. Ich hatte vergessen, wie schön es in Halifax ist.«

»Du warst schon einmal hier?«

»Ich bin hier aufgewachsen.«

»Und wie schön du gewachsen bist!« Jeffersons schockierte Miene entlockte Tracy ein helles Lachen. »Trinken wir heute einen Kaffee miteinander, oder gibst du mir wieder einen Korb?«

»Ich kann nicht. Ich . . .«

»Du bist verabredet? Gerade auf der Suche nach einer passenden Ausrede?« Jefferson errötete leicht. »Hör zu, Jefferson. Wenn du keinen Kaffee mit mir trinken möchtest, sag es einfach. Ich will mich nicht aufdrängen.«

Jefferson fielen Hunderte guter Gründe ein, die gegen eine Kaffeepause mit Tracy sprachen. »Es wäre nicht richtig.«

»Schade.« Die junge Frau sprang auf und winkte zum Abschied. »Dann lass ich dich jetzt weiterschlafen. Wir sehen uns.«

Versonnen blickte Jefferson Tracy hinterher und entdeckte noch etwas, das ihr gefiel.

Wenige Minuten nach sieben stand Jefferson vor ihrem Elternhaus. Stundenlang hatte sie nach einer Ausrede gesucht. Ehe sie im letzten Moment fliehen konnte, öffnete sich die Tür. Zum ersten Mal seit vier Jahren stand Jefferson ihrer Mutter gegenüber. Bei ihrer letzten lautstarken Auseinandersetzung hatten sie sich sämtliche Verfehlungen an den Kopf geworfen: die Vertreibung Kennedys, die Tatsache, dass Noreen Jefferson nie als Mädchen behandelt hatte. Jefferson hatte es gewundert, dass ihre Mutter dabei nicht auch noch ihren Unmut über ihr Geschlecht hinausschrie.

Die ersten Telefonate, Monate später, waren schmerzhaft und voll Ungesagtem gewesen. Es hatte zwei Jahre gedauert, bis Mutter und Tochter ihre Gespräche mit einem »Bis dann« und nicht mit einem bitteren Vorwurf beenden konnten.

»Jefferson.« Es gab eine Pause, als hätte Noreen Fynn ein jungenhaft anmutendes Mädchen in Lederjacke und Jeans erwartet. »Komm herein, Kind. Alle sind schon da.«

Jefferson konnte fast fühlen, wie ihre Mutter zu einer Umarmung ansetzte, bevor sie die Hand unverrichteter Dinge wieder senkte. Jefferson hatte sich verändert, gerade in den vergangenen vier Jahren. Jill hatte eine Frau aus ihr gemacht; sie trug die Kleider einer Frau; sie trug ihr Haar wie eine Frau. Sie war eine Frau. Trotz allem.

Dazu demonstrierte sie ein neu gewonnenes Selbstbewusstsein, das auch Noreen beeindruckte. Es lag nicht nur an der hochgewachsenen Figur. Jefferson war immer groß gewesen. Da war eine Präsenz, eine gewisse Unnahbarkeit, die ihre Tochter umgab.

Die ganze Familie war anwesend – alle, außer Kennedy, den Jefferson schon seit mehr als vierzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Unter den Blicken der versammelten Familie begrüßte Jefferson zwei bis dahin unbekannte Neffen und machte den dazugehörigen Müttern Komplimente. Sie ließ sich von Cleveland und Washington necken. Sie nannte ihre Mutter sogar »Mom« und ihren Vater »Dad«. Aber sie war noch lange nicht vom Haken. Irgendwann musste sie erklären, warum sie zurück war und wie lange sie bleiben würde.

Als hätte ihr jüngster Bruder ihre Gedanken gelesen, fragte er auch gleich: »Dad hat von deinem Urlaub erzählt. Hat deine Chefin dich so ausgelaugt?«

Natürlich war dieser Angriff ein Versuch, von seinen eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken.

»Das ist kein Thema für gepflegte Konversation, Cleveland«, mahnte Noreen und stellte die letzte Servierschüssel auf den Tisch.

Jefferson wollte das Missverständnis richtigstellen. »Es ist mehr eine Auszeit.«

»Gestern hast du von Urlaub gesprochen«, bemerkte Jackson zu seiner Verteidigung.

»Ach, das ist doch Jacke wie Hose, Urlaub oder Auszeit. Es gab eine kleine Auseinandersetzung mit meiner Chefin, das ist alles.« Gelassen bediente sich Jefferson vom Süßkartoffelsoufflé und ignorierte geflissentlich die allgemeine Neugier.

»Was? Habt ihr euch gestritten und euch gegenseitig die Haare gerauft?« Für diese freche Frage erntete Washington von Noreen einen Schlag auf den Hinterkopf.

»Wie gesagt, es ist egal. Um was es dabei ging, geht hier niemanden etwas an. Können wir jetzt essen? Es sieht köstlich aus, Mom.« Damit nahm sie sich ein großes Stück Hackbraten. Auch wenn das Thema für den Moment erledigt war – alle wussten, dass später ein Kreuzverhör durch Noreen folgen würde.

»Nun rede schon. Was ist zwischen dir und deiner Chefin vorgefallen?«, drängte Noreen ihre Tochter beim Geschirrspülen.

»Bitte, ich habe doch gesagt, dass euch das nichts angeht.« Jefferson antwortete so emotionslos wie möglich. Sobald eine von ihnen eine Gefühlsregung zeigte, eskalierte jedes Gespräch im Nullkommanichts.

»Als du klein warst, haben wir noch miteinander reden können«, insistierte Noreen.

»Ach ja? Da trügen dich wohl deine Erinnerungen, oder leidest du am Ende an Demenz? An Alzheimer?« Jefferson lachte bitter und stellte die abgetrockneten Teller an ihren angestammten Platz im Küchenschrank.

»Sei nicht so frech. Was bildest du dir eigentlich ein? So redet man nicht mit seiner Mutter. Ich dachte, wir hätten dich besser erzogen!«, fuhr Noreen sie scharf an.

Auf diese Aburteilung hatte Jefferson gewartet. »Offenbar habt ihr es vermasselt!«

»Kind, ich will doch einfach nur mit dir reden. Aber Frechheiten dulde ich trotzdem nicht, hast du mich verstanden?« Noreen sah ihre Tochter streng an.

»Ach, vergiss es! Einen schönen Abend noch!« Jefferson knallte das Geschirrtuch auf die Anrichte und rannte einmal mehr einfach davon.

Gemeinsam mit ihren neuen Freunden Jack Daniels und Jim Beam lag Jefferson auf der durchgelegenen Matratze im Erdgeschoss des alten Hauses, aus dem sie am gestrigen Nachmittag überstürzt geflohen war. Über die am Boden liegende Tür war sie ins Haus geklettert und hatte in der Dunkelheit eine große Ratte aufgeschreckt. Zwei Stunden und etliche Whiskeyschlucke später befand Jefferson sich in angenehm berauschter Stimmung.

Ihr Tatendrang erwachte. Jefferson hockte sich auf die Knie. Sogleich drehte sich alles vor ihren Augen, und Jefferson fiel wieder auf ihren Hintern zurück.

»Ach, alte Matratze. Du bist mein einziger Freund.« Ihre Finger ertasteten etwas Klebriges auf dem fadenscheinigen Stoff, das sie lieber nicht näher untersuchen wollte. »Dabei bist du gar nicht mein alter Freund! Du bist eine billige Kopie! Bin ich das auch? Eine billige Kopie?« Beschwipst schaute sie zur Decke hoch. »Der Kronleuchter ist auch nicht mehr da . . . Schöner alter Kronleuchter.« Plötzlich fiel ihr ein, was noch da war. Auf dem Dachboden. Bei der Hausbesichtigung hatte sie es unter ihrem Schuh gefühlt. Ihr altes Versteck unter den Dielen am Fenster.

Wackelig erhob Jefferson sich von ihrem Lager und lehnte sich an die Wand, bis der Schwindel verging. Dann torkelte sie zum Auto und holte eine Taschenlampe aus dem Kofferraum. Im schwachen Lichtschein schimmerte das baufällige Anwesen in einem schaurig schönen Hellgelb.

Zurück im Haus erklomm Jefferson die Stufen zum Dachboden. Mondlicht fiel durch das staubige Dachfenster und beleuchtete die leicht vorspringende Bodendiele. Dort lagen ihre Schätze – sofern sonst niemand das Versteck entdeckt hatte. Auf allen vieren krabbelte Jefferson näher und hob das Brett vorsichtig an.

Ihre Erwartungen wurden bitter enttäuscht. Statt Memorabilien ihrer Jugend lag dort lediglich ein Blatt Papier, worauf in Caseys sauberer Handschrift geschrieben stand: »Was hast du hier zu finden erhofft? C. L.«

Ja, was eigentlich?

»Miss Fynn?«

Gehörte die Stimme zu ihrem Traum? Jefferson nahm sie wie durch einen Nebel wahr. Kurz glaubte sie, das blonde Mädchen aus ihrer Vergangenheit stünde an ihrem improvisierten Nachtlager. Nur, warum zum Teufel sollte Casey sie »Miss Fynn« nennen?

»Miss Fynn!«, erklang die Stimme erneut.

Unter hämmernden Kopfschmerzen öffnete Jefferson ein Auge. Plötzlich nahm sie auch den übelkeitserregenden Gestank ihrer Schlafstätte wahr.

Im nächsten Moment drohte ein schriller Aufschrei ihren Kopf zu sprengen. Jefferson fiel zurück auf die Matratze, beide Hände über den Ohren, die Augen fest zugekniffen. Ganz allmählich wurde Jefferson bewusst, was passiert war: Sie hatte sich direkt auf das Lederimitat von Miss Bensons Schuhen übergeben.

Die stürmte gerade laut fluchend aus dem Haus. Wer hätte gedacht, dass so ein zierliches Persönchen wie Violet Benson einen derart blumigen Wortschatz besaß.

Derweil nahm Jefferson ihre Umgebung genauer in Augenschein. Unfassbar! Sie hatte nicht nur in dem alten Haus genächtigt, sondern noch dazu auf der vor Dreck stinkenden, garstigen Matratze. Wie tief war sie nur gesunken?

Nicht tiefer als während deiner letzten Nacht in diesem Haus, erinnerte sie die kleine Stimme in ihrem Hinterkopf.

»Miss Fynn? Geht es Ihnen wieder besser?«, erkundigte sich die Maklerin von der Treppe aus.

Fahrig fuhr sich Jefferson mit den Händen durch das Haar. »Es tut mir leid um Ihre Schuhe, Miss Benson. Ich werde sie natürlich ersetzen.«

»Der Wachdienst hat Ihren Z3 in der Einfahrt bemerkt. Seien Sie froh, dass man Sie nicht wegen Einbruchs verhaftet hat.«

Einbruch? Wie konnte man in ein Haus einbrechen, dessen Eingangstür am Boden lag? Und überhaupt: Wenn Trunkenheit und in Erinnerungen schwelgen sich als Hausfriedensbruch qualifizierten, wie zum Teufel nannten sich ihre damaligen Verfehlungen? Galt heißer Sex in diesen Wänden als Leichtsinn? Jugendlicher Übermut? Homosexualität?

»Ich werde das Haus kaufen, Miss Benson.« Nicht nur die Worte überraschten Jefferson. Auch die innere Überzeugung, die dahinter stand. Ja, das war die richtige Entscheidung.

Jeffersons Familie nahm die Nachricht weniger begeistert auf.

»Hast du den Verstand verloren, Jefferson Fynn?«, läutete Noreen die nächste Runde ein. »Das Banister-Anwesen ist der Schandfleck der Nachbarschaft. Was willst du überhaupt mit dem alten Kasten?«

Wieder war die Küche das Schlachtfeld. Männer nutzten für ähnliche Unterredungen die Garage.

Jefferson stand im Türrahmen, um sich die Möglichkeit eines schnellen Rückzugs freizuhalten. Ihre Mutter saß am Tisch, vor sich eine Tasse Kaffee, in der sie hektisch rührte, obwohl sie das Gebräu schwarz trank.

»Vielleicht will ich ja in eurer Nähe sein«, erwiderte Jefferson halbherzig.

»Jedes Haus in Halifax kannst du einfacher und billiger haben.« Noreen Fynn war eine intelligente Frau, auch wenn sie das Hausfrauendasein einer Karriere vorgezogen hatte.

»Ich will aber dieses Haus. Keine Ahnung, warum. Erinnerungen, wahrscheinlich.«

»Erinnerungen?« Jeder in Halifax kannte das Banister-Anwesen. Es galt als bevorzugter Treffpunkt der Jugendlichen. Dort tranken sie, rauchten nicht nur Zigaretten und hatten Sex. Die meisten Kids der Gegend verloren ihre Unschuld nicht auf dem Rücksitz eines Autos, sondern in dem halb verfallenen Haus. Auf der alten Matratze.

»Du willst das Haus kaufen, weil du dort deine Jungfräulichkeit verloren hast? Findest du das nicht ein wenig sentimental?«

»Und wenn schon!« Die Wahrheit war zu intim. Jefferson konnte nicht mit ihrer Mutter über das Haus, Casey und eine halbleere Flasche billigen Schnaps reden.

Noreen schüttelte den dunkelblonden Schopf mit den wenigen grauen Strähnen darin und wollte gezielt das Wann und das Wer ansteuern, da beendete Jefferson jede weitere Diskussion.

»Ich kann es mir leisten. Außerdem ist das meine Entscheidung. Ich will das Haus. Punkt. Schluss.«

»Was ist mit deiner Chefin?«

»Sie wird eine neue Assistentin finden. Eine, die ihr keinen Ärger macht.«

»Was willst du hier machen? Beruflich, meine ich.«

»Im Grunde könnte ich jeden Bürojob annehmen. Vielleicht mache ich mich auch selbstständig.«

»Du kommst also zurück nach Halifax.« Der Anflug eines Lächelns umspielte Noreens Mundwinkel. »Schön. Ich habe meine Familie gern um mich.«

Jetzt, wo die Entscheidung feststand, machte sich Jefferson auf die lange Fahrt zurück nach L.A. Das Verdeck geöffnet, ließ sie sich den Wind durch die Haare wehen und sang lauthals zu Alanis Morissette und Avril Lavigne. Das vertrieb die bohrende Frage, wie Jill auf die Nachricht ihres geplanten Umzugs reagieren würde. Vier Jahre lang hatte sie sich für ihren Job – und auch für Jill – aufgeopfert. Bedeutet hatte ihr beides wenig.

Endlich lag eine interessante Aufgabe vor ihr: die Renovierung eines abbruchreifen Hauses. Noch war Jefferson schleierhaft, was sie machen würde, wenn das Haus in altem Glanz erstrahlte. War das wichtig? Irgendetwas würde sich schon finden. Sie war jung. Wenn sie jetzt nicht die Dinge änderte, die sie störten, wann dann?

Vier Tage Halifax hatten Jeffersons Gemütszustand verändert. Wut über Jills Untreue war der Erkenntnis gewichen, dass es niemand loyaleren in ihrem Leben gab als die Mitglieder ihrer Familie. Demütigung und Verbitterung hatten zu einem Neuanfang geführt.

Die Zukunftsaussichten waren vage. Aber auch wenn das Haus jederzeit über ihr einstürzen konnte, noch stand es sicher an seinem Platz und hatte die Geheimnisse ihrer Jugend bewahrt – selbst wenn Casey alle Erinnerungsstücke entfernt hatte.

Los Angeles, Stadt der Träume. Viele davon waren Jefferson in der Vergangenheit erfüllt worden. Die Zukunft lag woanders. Das Apartment in Santa Monica war schnell aufgelöst. Die Requisiten ihres alten Lebens landeten in Kartons. Unwichtiges wurde an Nachbarn verteilt. Möbel brachte Jefferson in einem Lagerhaus unter. Ein paar impressionistische Landschaftsgemälde unbekannter Künstler sollten mit nach Halifax kommen. Inmitten des Chaos stieß Jefferson auch auf verschollene Bücher über Kunst und Fotografie. Daneben ihr Portfolio. Wie lange hatte sie das nicht mehr angeschaut? Zum Fotografieren hatte in den vergangenen Jahren einfach die Zeit gefehlt. Dabei waren ihre Aufnahmen gut. Einige sollte sie unbedingt in ihrem neuen Heim aufhängen.

Mit neu gewonnenem Selbstbewusstsein schnappte Jefferson sich ihre so lange vernachlässigte Kamera und verabschiedete sich von L.A. Wie ein Tourist begab sie sich auf Entdeckungstour: Santa Monicas Strandpromenade. Der Hollywood-Schriftzug. Grauman’s Chinese Theatre. Der Walk of Fame. Die meiste Zeit hatte Jefferson in Sitzungssälen, teuren Restaurants und den umliegenden Skigebieten verbracht. Endlich konnte sie die Stadt unbeschwert genießen.

Von Jill verabschiedete Jefferson sich persönlich. Ihr Auftritt in Jeans und T-Shirt statt des üblichen Büro-Outfits verdeutlichte den Sinneswandel.

»Ich kündige.« Ein Schuss aus dem Hinterhalt mitten in Jills Angriffslinie. »Ich ziehe zurück nach Halifax.«

Jill hätte alles erwartet. Industriespionage oder ein Überlaufen zur Konkurrenz. Das jedoch nicht. Die Hände in die Hüften gestemmt baute sich die attraktive Unternehmerin vor Jefferson auf. »Sag nicht, du hast jemanden kennengelernt. Die Liebe deines Lebens, vielleicht?« Es klang höhnisch.

»Oh, bitte, Jill. Sehe ich so aus, als würde ich einen dieser kleinstädtischen Volltrottel dir vorziehen?«

»Was willst du dann dort? Himmel, Jefferson wir haben quasi miteinander gelebt. Jetzt wirfst du einfach alles hin?« Jill nahm einen tiefen Atemzug und versuchte es mit Logik. »Jefferson, wir beide haben den Hang, Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Doch miteinander haben wir Nähe zugelassen. Machen wir es offiziell. Ich trenne mich und bekenne mich zu dir. Ganz exklusiv. Wir ziehen zusammen, leben zusammen. Wie wäre das?«

Noch vor kurzer Zeit wäre sie über Jills Vorschlag glücklich gewesen, hätte ihn in Betracht gezogen. Doch nun war das für sie keine Option mehr. »Und was machen wir mit deiner neuen Sekretärin? Soll sie auch bei uns einziehen? Eine Ménage à trois – hm, wenn ich so recht darüber nachdenke, halte ich von der Idee recht wenig, Jill.« Sie musste weg von hier. Diese Stadt höhlte sie aus, und Jill war Teil davon.

Jill hörte nicht einmal die Hälfte ihrer Worte. Wie bei Geschäftsverhandlungen ignorierte sie alles, was ihr missfiel. »Was willst du wirklich, Jefferson? Ich dachte, wir hätten dasselbe Ziel. Wir wollten . . .«

»Nein, Jill, du wolltest. Ich wollte nur mit dir ins Bett.« Sex bildete die Grundlage ihrer Beziehung, nicht gemeinsame Ambitionen. Der Erfolg der Firma war ein netter Nebeneffekt. »Hör zu, Jill. In meiner Jugend gab es traumatisierende Erfahrungen. Ich war auf der Suche nach jemandem, der mir meine Ängste nimmt.«

Das traf ihr Ego. »Dir ging es also die ganze Zeit nur um Sex? Schön, dir zu Diensten gewesen zu sein!«

Dabei war dies nur ein Teil der Wahrheit. Als Partnerin hatte Jill ihr so viel mehr gegeben: körperliche Nähe. Sanftheit. Härte, wenn Jefferson sie wollte; Stärke, wenn sie zusammenzubrechen drohte. »Es war mir ein Vergnügen, Jill. Zumindest meistens. Bitte bemüh dich nicht. Ich finde allein hinaus.«