Küsse lügen nicht - Kay Rivers - E-Book

Küsse lügen nicht E-Book

Kay Rivers

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Beschreibung

Um sich über ihre Gefühle für Kelly klarzuwerden, fährt Dale nach Hause nach Texas, allein. Doch ihre Hoffnung, in der Heimat zu sich finden zu können, zerschlägt sich schnell, denn ihre Mutter und ihre jüngere Schwester haben ihr noch immer nicht verziehen, dass sie zur Army gegangen war, statt die Firma zu übernehmen, nachdem ihr Vater starb. Die hat sich dann nämlich ihr schmieriger Cousin Wayne unter den Nagel gerissen. Doch seine Geldgier und seine Unfähigkeit als Unternehmer treiben die Richards Oil Corporation auf Kosten der Umwelt so langsam in den Ruin. Kelly macht sich unterdessen Sorgen, ob sie sich Dales Treue sicher sein kann, hält es in Florida nicht lange aus und reist Dale hinterher. Sie kommt gerade rechtzeitig, um Dale dabei zu unterstützen, in ihrer Familie aufzuräumen – doch können sie es schaffen, Wayne und seinen Lakaien die Firma zu entreißen und endlich den Bund der Liebe einzugehen?

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Kay Rivers

KÜSSE LÜGEN NICHT

Teil 2 der Serie»Dale & Kelly«

© 2021édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-329-6

Coverfotos: RAUL RODRIGUEZ/iStock.com

1

»Hey Dale, kommst du auch mal wieder nach Hause?« Der Tankwart grinste von einem Ohr zum anderen.

»Ja.« Dale schob ihm ihre Kreditkarte hin. Das Platin glänzte in der Sonne.

»Deine Mutter war gestern hier, hatte Probleme mit ihrem Wagen. Na ja, Frauen und Technik. – Sorry.« Er räusperte sich. »War nicht so gemeint.«

»Schon gut.« Dale ärgerte sich, dass sie nicht bei der letzten Gelegenheit auf der Strecke getankt hatte, dann hätte sie dieses Gespräch mit dem Tankwart der kleinen Stadt in Texas, in der sie aufgewachsen war, vermeiden können.

»Na, bist du mittlerweile General?« Er grinste weiter.

»Ich bin nicht mehr –« Dale brach ab und räusperte sich. »Nein«, sagte sie. »Immer noch Colonel.«

»Auf Heimaturlaub«, ergänzte er ganz selbstverständlich.

Mehr konnte er auch nicht wissen, denn Dale war viele Jahre nicht mehr zu Hause gewesen. Niemand wusste, was sie jetzt tat. Das letzte Mal, als sie hiergewesen war, war sie mit – sie schluckte und versuchte, es zu verstecken – Kat hiergewesen, beide in Uniform, der Stolz der Stadt. Man hatte sogar eine Parade für sie veranstaltet.

Der Stolz der Stadt, nicht aber der Stolz von Dales Mutter. Sie hatte Dale nie vergeben, dass sie zur Armee gegangen war, sie schämte sich regelrecht dafür, obwohl sie das selbstverständlich niemals öffentlich zugegeben hätte und bei der Parade natürlich auch nicht gezeigt hatte. Da hatte sie so gelächelt, dass man es für Stolz hätte halten können. Nach außen hin war sie immer bemüht, den Schein zu wahren. Den schönen Schein einer heilen Familie, die sie spätestens seit dem Tod von Dales Vater nicht mehr waren.

»Schön. Wir müssen unsere Jungs und Mädels an der Front ja auch fit halten«, unterbrach Tom, der diese Tankstelle schon länger führte, als Dale denken konnte, ihre Gedanken, während er mit der Kreditkarte an der Kasse hantierte. Er drehte sich zu einem Abzeichen an der Wand um, das Auskunft darüber gab, dass er Mitglied der Nationalgarde war. »Wir von der Nationalgarde machen das auch.« Patriotisch legte er eine Hand auf sein Herz. »Damit wir euch im Notfall unterstützen können.«

»Ihr seid wichtig. An der Heimatfront«, sagte Dale. Sie deutete ein Lächeln an. »Das wissen wir.«

Tom gab ihr die Kreditkarte zurück. »Dann auf ins Gefecht, Colonel.« Er legte zackig die Hand an die Stirn, während er versuchte, seine recht beleibte Gestalt zu einer Art militärischer Haltung zu straffen.

Dale grüßte nur mit einer leichten Handbewegung zurück. Sie wollte einen allzu militärischen Eindruck vermeiden. »Wir sehen uns sicher noch, Tom«, nickte sie ihm verabschiedend zu.

»Bleibst du diesmal länger?« Toms graue Augenbrauen hoben sich fragend.

Dale zögerte. »Weiß noch nicht«, sagte sie dann. »Hängt davon ab.« Bevor er fragen konnte, wovon, stieg sie in ihren Wagen und fuhr los.

Wieder zu Hause, dachte sie, als sie die altbekannten Straßen entlangglitt, in denen sich so wenig verändert hatte. Sollte das nicht eigentlich ein schönes Gefühl sein?

Das war es allerdings nicht. Anstatt sich wohl und zuhause zu fühlen, fühlte sie sich fremd und äußerst unbehaglich. Sie hatte nicht vorgehabt, noch einmal herzukommen, auch wenn sie sich hin und wieder deswegen Vorwürfe gemacht hatte. Aber jeder Versuch, ihre Mutter oder ihre Schwester telefonisch zu kontaktieren, um eventuell den Pfad für einen weiteren Besuch zu ebnen, hatte sie davon überzeugt, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Dass es besser war, wegzubleiben.

Kat hatte sie das letzte Mal, als sie nach Presidio County gekommen war, regelrecht dazu überreden müssen. Thanksgiving sollte man bei seiner Familie verbringen, hatte Kat gemeint, und Weihnachten noch mehr. Denn sie hatte keine Familie. Sie war ein Waisenkind gewesen, das sich Thanksgiving oder Weihnachten im Kreise einer liebenden – oder überhaupt irgendeiner – Familie immer als besonders schön ausgemalt hatte. Anders als im Waisenhaus.

Wie Kelly, dachte Dale. Kelly ist auch ein Waisenkind. Sie seufzte. Waisenkinder können sich einfach nicht vorstellen, wie belastend eine Familie sein kann. Sie sehen nur das Gute daran.

Romantisch. Sentimental. So waren die Vorstellungen von Familie oft. Insbesondere wenn man keine hatte. Wenn man so etwas nur aus kitschigen Fernsehserien kannte. In denen Vater und Mutter die Kinder unterstützten und Geschwister bis auf kleine, harmlose Neckereien nett waren. So war die Realität aber leider nicht. Jedenfalls nicht immer. Auf der Richards Ranch herrschten andere Zustände.

Das hieß: jetzt. Nicht solange ihr Vater noch gelebt hatte. Er war ein ausgleichender Charakter gewesen, ein Fels in der Brandung. Und für Dale der Einzige, der sie verstand. Er hatte immer dafür gesorgt, dass Gerechtigkeit herrschte. Dass jeder das bekam, was ihm zustand. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Er konnte Streitigkeiten mit einem einzigen Blick beenden. Jeder in der Familie respektierte ihn. Und jeder im County. Man hatte gar keine andere Wahl. Er hatte einfach so eine Ausstrahlung. Er musste noch nicht einmal die Stimme heben.

Der Tod ihres Vaters hatte Dale tief getroffen. Und das, obwohl sie damals fast nur von Tod umgeben gewesen war. Im Krieg. Sie kämpfte im Staub und Sand des Iraks, während ihr Vater im Staub und Sand von Texas begraben wurde. Sie hatte nicht einmal zu seinem Begräbnis kommen können. Es gab keinen Urlaub während der Offensive.

Später dann hatte sie an seinem Grab gestanden. Aber sie hatte sich nicht richtig von ihm verabschieden können. Sie hatte gedacht, sie würde ihn wiedersehen, wenn sie zurückkam. Er war viel zu früh gestorben.

Die breite Straße – in Texas waren alle Straßen breit, selbst in kleinen Städtchen wie diesem hier, es gab ja so viel Platz –, die einen glauben lassen konnte, sie würde zu etwas Bedeutendem führen, trennte sich von der Stadt und verband sich mit der Prärie, der sandigen Savanne, die die Straße, die sie nur wie ein graues Band durchzog, nun einschloss und die es so schwer machte, hier irgendetwas wachsen zu lassen. Oftmals gab es noch nicht einmal genug Wasser, um die Menschen zu versorgen, geschweige denn die Tiere.

Die Richards Ranch war in dieser Hinsicht privilegiert, denn ein kleiner Fluss führte hindurch. Zwar nur für ein paar Meilen, aber wenn das Jahr nicht extrem trocken war, war immer Wasser da. In extrem trockenen Jahren versiegte das kleine Flüsschen jedoch schon, bevor es die Richards Ranch erreichte, und das waren die harten Jahre gewesen.

Die harten Jahre, bevor sie Öl gefunden hatten. Danach hatten die Bohrtürme das Bild der Richards Ranch bestimmt. Bis es sich dann nicht mehr lohnte, das Öl zu fördern, weil die Ölscheichs den Preis für ein Barrel so tief gedrückt hatten, dass kleinere Ölförderer nicht mehr mithalten konnten. Zwar waren viele der Ölvorkommen noch lange nicht ausgeschöpft gewesen, aber es war nicht mehr so leicht, an das Öl heranzukommen, weil es zwischen verschiedenen Gesteinsschichten eingeschlossen war. Es dort herauszuholen war zu aufwändig und damit zu teuer.

So hatten die Bohrtürme ihre Arbeit eingestellt. Bis vor kurzem, als eine Methode entdeckt worden war, die Vorkommen, die man vorher kaum bis gar nicht erschließen konnte, auch noch auszubeuten. Nun arbeiteten wieder viele Menschen auf der Ranch, und Dale hatte an den Einkünften, die auf ihr Konto flossen, gemerkt, dass sie wohl bis an ihr Lebensende nicht mehr würde arbeiten müssen.

Das war jedoch auch vorher schon so gewesen. Sie arbeitete nicht, weil sie musste, sie arbeitete, weil sie es so wollte. Weil ihr ihr Leben sonst sinnlos erschienen wäre.

Eigentlich hätte sie die Richards Oil Corporation leiten sollen. Aber dagegen hatte sie sich immer gewehrt. Das war ein Schreibtischjob, und einen Schreibtischjob hatte sie nie haben wollen.

Sie lachte selbstironisch in sich hinein. Und jetzt hatte sie doch einen. Schon seit Jahren. Ja, es gab auch das Training, aber das war der kleinste Teil. Und dass sie selbst einmal einen Einbrecher verfolgen musste, wobei sie ihre körperlichen Fähigkeiten ausschöpfen konnte, das war seit dem Diebstahl, bei dem sie hätte ausgebootet werden sollen, auch nicht mehr vorgekommen.

Will ich das wirklich? dachte sie, während sie ihre Blicke rechts und links an der Straße entlang in die karge, raue Landschaft gleiten ließ. Es hat sich doch offensichtlich nichts geändert. Wäre Kat damals nicht gewesen, wäre ich noch nicht einmal damals gekommen.

Kat. Ja, Kat war der Grund gewesen damals. Und heute war es Kelly. Kat und Kelly. Sie ließen es einfach nicht zu, dass man sich seinen Gefühlen verschließen konnte. Sie holten alles herauf, selbst aus den tiefsten Tiefen – und wenn Dale sich noch so sehr dagegen wehrte – wie die Ölbohrer das Öl. Nach Kats Tod hatte sie das nie mehr zulassen wollen, hatte sich von allem ferngehalten, was sie hätte dazu bringen können.

Aber dann war Kelly gekommen. Kelly mit ihrer Art, die so sanft und nichts fordernd war und die Dale so sehr bezaubert hatte.

Ein Wort wie bezaubert hätte Dale normalerweise nie in den Mund genommen, aber auf Kelly traf die Beschreibung zu. Sie war bezaubernd.

Und das musste sie auch sein, wenn das, womit Dale sich jetzt herumschlagen musste, weshalb sie nach Hause gekommen war, das Ergebnis war.

Denn nur eine Zauberin konnte das zustandebringen.

2

Die Palmen wiegten sich leicht im Wind, als Kelly vor die Haustür trat. Sie lächelte, hob ihr Gesicht an und ließ die weiche, warme Luft darüberstreichen. Die Karibik der USA. Sie konnte immer noch kaum glauben, dass sie hier gelandet war. Und was alles seither geschehen war.

Dale . . . Kellys Lächeln vertiefte sich. Eine Frau wie Dale zu treffen, damit hatte sie wirklich nicht gerechnet. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass es so eine Frau überhaupt gab. Und dass sie sich für sie, Kelly, interessieren könnte.

Die dramatischen Ereignisse, die sie dann endgültig zusammengeschweißt hatten, daran wollte sie manchmal gar nicht denken. Wenn sie jemanden gehabt hätte, eine beste Freundin, eine Mutter oder Schwester, der sie das hätte erzählen können, hätte sie noch nicht einmal gewusst, ob sie das überhaupt erzählen sollte. Ob ihr das jemand glauben würde.

»Vorsicht!« Eine schrille Stimme warnte sie, aber fast zu spät, denn schon schoss etwas an ihr vorbei, und ein heftiger Luftzug warf sie beinah um.

Im nächsten Moment sprang etwas an ihr hoch und drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Nase und halb auf den Mund.

»Iiih Rex!« Die Szene mit dem vorbeirasenden Skater hatte sie so ähnlich schon einmal erlebt, aber da war dieser Hund noch viel kleiner gewesen und sie hatte ihn unter ihrem Auto hervorholen müssen.

Mittlerweile stand Rex jedoch wieder mit allen vier Pfoten auf der Erde, lächelte sie mit seiner weit heraushängenden Zunge glücklich an und drehte den Kopf zu seinem offiziellen Herrchen, das nun mit dem Skateboard unter dem Arm zu Kelly zurückstapfte.

»Irgendwann schaffe ich diese Bremsung«, schimpfte Badger unzufrieden. »Das gibt’s doch gar nicht!«

Kelly lachte. »Du solltest dir vielleicht ein Beispiel an Rex nehmen. Er kann das schon ganz gut.«

»Hat ja auch vier Füße, nicht nur zwei. Und keine Räder drunter«, beklagte sich Badger, aber dabei steckte er Rex schon wieder ein Leckerchen zu und sah wie meistens sehr stolz aus.

»Was tust du überhaupt hier?«, fragte Kelly streng, weil das der einzige Tonfall war, der für Badger angemessen erschien. »Bist du nicht im Dienst?«

Ein breites Strahlen überzog Badgers Gesicht. »Rex wird jetzt zum Schutzhund ausgebildet. Wir sind auf dem Weg zum Training.«

»Schutzhund?« Das war Kelly völlig neu.

»Na ja, er ist ein Schäferhund.« Wieder klang Badgers Stimme sehr stolz. »Die haben einen natürlichen Schutztrieb.«

»Das weiß ich«, sagte Kelly. »Ich habe ja auch keine Zweifel an Rex.« Sie ließ ihre Blicke über Badgers ziemlich verlotterte Gestalt schweifen.

»Och Mensch . . .« Wie so oft schmollte Badger wie ein kleines Kind. »Du kannst einem aber auch jeden Spaß verderben.«

»Weiß Dale davon?«, fragte Kelly misstrauisch.

»Sie ist nicht da.« Badger wandte sich ab, sodass Kelly nicht mehr in sein Gesicht sehen konnte.

Kelly seufzte. »Sie weiß es also nicht. Und wahrscheinlich hast du auch niemand um Erlaubnis gefragt, noch nicht mal deinen direkten Chef.«

»Dieser Kurs wird jetzt angeboten. Wir müssen heute da hin!«, verteidigte Badger sich. »Der nächste fängt erst wieder in zwei Monaten an. Dann ist Rex vielleicht zu alt, und sie nehmen ihn nicht mehr.«

Immer noch war es Kelly so gut wie unmöglich, Badger etwas abzuschlagen. Ganz zu schweigen von Rex. Deshalb schüttelte sie nur tadelnd den Kopf. »Dale hat dir diese Chance gegeben im Sicherheitsdienst bei Matrix International. Und du bist selbst doch noch in der Ausbildung. Du hast kaum damit angefangen.«

»Ich weiß ja.« Schuldbewusst scharrte Badger mit den Füßen. »Aber Rex . . . Für Rex ist das wichtig.«

»Und für dich ist regelmäßige Arbeit nicht wichtig, das ist mir schon klar«, seufzte Kelly. Sie hob mahnend einen Finger. »Aber du wolltest doch das Futter für Rex verdienen.«

»Aber . . . Aber . . .«, stammelte Badger herum, weil er keine richtige Antwort wusste, beziehungsweise weil er wusste, dass die Antwort, die er geben wollte, Kelly nicht gefallen würde.

»Aber was?« Tief durchatmend ging Kelly zu ihrem Wagen. »Kommt. Steigt ein. Wie ich dich so kenne, bist du doch sowieso schon wieder zu spät. Selbst für diesen Kurs, der für Rex angeblich so wichtig ist.«

»Nicht angeblich«, schmollte Badger, während Rex, nachdem Kelly die Tür geöffnet hatte, schon auf die Rückbank sprang. Als wäre er selbst ein Hund, setzte Badger sich daneben. »Es ist wichtig für ihn. Das kann dir jeder sagen. Schäferhunde brauchen eine Aufgabe. Sonst suchen sie sich eine. Und das kann furchtbar schiefgehen. Obwohl Rex natürlich nie jemanden beißen würde. Nicht wahr, Rexi?« Er küsste den Hund mitten auf die Schnauze.

»Woher hast du das denn?« Kelly lachte und stieg vorn ein. »Bisher hatte ich das Gefühl, du weißt gar nichts über Hunde.«

»Jim hat einen Hund. Einen Dobermann«, sagte Badger. »Und er hat gesagt, Rex braucht eine Ausbildung.«

»Ach so, Jim.« Kelly lächelte. Sie mochte Jim Patterson sehr gern, und sie vertraute seinem Urteil. Möglicherweise hatte er das nur zu Badger gesagt, damit Badger eine Ausbildung in Disziplin und Ordnung bekam, denn bei Rex sah Kelly da weniger Probleme. »Hat er diesen Kurs empfohlen?«

»Ja.« Badger nickte heftig. »Er hat den mit seinem Dobermann auch gemacht. Er sagt, der wäre sehr gut.«

»Dann ist er es bestimmt auch.« Kelly nickte, während sie am Ende der Straße wie üblich nach links auf die Hauptstraße abbog. »Ist das die richtige Richtung?«, fragte sie. »Wo findet der Kurs statt?«

»Du hättest nach rechts abbiegen müssen«, erklärte Badger, während er sich vorbeugte. »Es ist in Hialeah.«

»Hialeah?« Fast hätte Kelly aufgestöhnt, aber sie unterdrückte es. »Na, das ist ja genau meine Richtung«, fügte sie sarkastisch hinzu. »Und das wolltest du mit dem Skateboard schaffen?«

»Damit bin ich unheimlich schnell«, behauptete Badger beleidigt. »Nur mit dem Bremsen habe ich es nicht so.«

»Also gut. Ich habe es versprochen, also halte ich es auch.« Bei der nächsten Gelegenheit wechselte Kelly die Richtung und fuhr den Weg, den sie gekommen war, zurück. »Weißt du genau, wo es ist, oder soll ich das lieber auch noch herausfinden?«

»Nicht so richtig«, gab Badger kleinlaut zu. »Aber ich habe den Namen des Kennels. Und die Adresse. Ungefähr.«

»Ungefähr.« Kelly schüttelte den Kopf, musste aber innerlich lächeln. Was hatte sie eigentlich von Badger erwartet? Mit einem Druck auf das Telefonsymbol am Lenkrad aktivierte sie den Anrufmodus. »Jim Patterson anrufen«, sagte sie, und gleich darauf ertönte das Rufzeichen aus den Lautsprechern im Wagen. Als Jim sich meldete, erklärte sie ihm die Situation. »Und ich nehme an, du hast die genaue Adresse«, schloss sie.

»Ja, habe ich.« Jim lachte. »Ich hatte sie aber auch Badger gesagt.«

Im Rückspiegel warf Kelly einen strafenden Blick nach hinten. Badger zog die Schultern ein.

»Davon bin ich überzeugt«, nickte sie.

»Ich schicke dir schnell die Koordinaten, dann kannst du das gleich in dein Navi übernehmen.« Jim war in solchen Dingen äußerst pragmatisch. »Der Betreiber ist ein ehemaliger Kollege, ein ehemaliger Polizist, der schon viele Polizeihunde ausgebildet hat. Er ist wirklich gut. Man kann sich auf ihn verlassen. Und er trainiert die Hunde mit positiven Methoden, nicht mit Strafen. Das ist immer besser.«

»Allerdings.« Kelly schüttelte den Kopf. »Stell dir mal vor, unser lieber Rex . . . Wenn ich wüsste, dass er dort bestraft wird, würde ich ihn nicht hinbringen.«

»Damit hättest du auch völlig recht.« Jims Stimme klang so, als ob er nickte. »Mein Gus stammt ja sowieso aus dem Tierschutz. Der hatte schon so einiges durchgemacht. Und deshalb hat er jeden gebissen, der ihm zu nahe kam. Aber eigentlich ist er ein ganz lieber Kerl. Bei Ethan hat sich das dann schon nach kurzer Zeit gezeigt. Er hatte keine Angst vor ihm und wusste sofort, dass Gus nur Angst hat. Obwohl alle denken, ein Dobermann kennt so was gar nicht.«

»Das hätte ich auch gedacht«, erwiderte Kelly lächelnd. »Da kann man mal sehen, wie man sich irren kann. Ich kenne Gus ja. Niemals hätte ich angenommen, dass der Angst vor irgendetwas hat.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Jim. »Aber das haben wir nur Ethan zu verdanken. Und ein bisschen auch Ava.«

»Ach ja, stimmt. Sie hat ja auch einen Hund«, erinnerte Kelly sich.

»Wir haben uns bei Ethan kennengelernt«, erklärte Jim. »Hatte ich das nicht erzählt?«

»Wir haben uns schon eine Weile nicht gesehen.« Kelly bog jetzt in Richtung Hialeah ab und musste sich auf die Straße konzentrieren. »Und als wir uns damals in der Stadt getroffen haben, hatten wir ja nicht viel Zeit, uns zu unterhalten. Da konnte ich nur feststellen, dass Ava sehr nett ist.« Sie lächelte wieder. »Und es freut mich zu hören, dass es so gut zwischen euch klappt.«

»Oh ja«, sagte Jim. Dann machte er eine lange Pause, und Kelly dachte schon, er hätte aufgelegt, als er plötzlich weitersprach. »Können wir uns vielleicht mal unterhalten? Du bist doch auch eine Frau.«

Kelly lachte. »Soweit ich weiß, ja. Aber was soll das bedeuten?«

»Ich hätte da . . .«, Jim zögerte, »ein paar Fragen. Und ich dachte, da Dale ja im Moment nicht da ist . . . vielleicht könnten wir uns mal treffen.«

»Das könnten wir auch, wenn Dale da wäre«, antwortete Kelly locker, obwohl ihr kurz ein Kribbeln über die Haut gefahren war. Ja, Dale war nicht da. Und Kelly vermisste sie sehr. Deshalb dachte sie am liebsten nicht daran, wenn sie sich mit etwas anderem ablenken konnte. Aber jetzt hatte Jim sie wieder schmerzhaft an Dales Abwesenheit erinnert. »Du weißt, dass das kein Problem ist.«

»Ja, weiß ich. Oh, Mist!« Ein lauter Ausruf ließ Kelly zusammenzucken. »Ich muss los, Kelly. Ist was passiert. Die Koordinaten hast du ja.« Und schon war er weg.

Mit ein paar Tastendrücken übernahm Kelly die Koordinaten, die Jim ihr geschickt hatte, in ihr Navi. Einige Sekunden später ertönte die weibliche Stimme aus den Lautsprechern. »In dreihundert Yards links abbiegen auf . . .«

»Jetzt kommen wir auf jeden Fall an, ohne viel suchen zu müssen.« Sie lachte. »Ich habe nämlich auch noch was anderes zu tun heute.«

»Du hast selbst angeboten, uns zu fahren«, entgegnete Badger vorwurfsvoll. »Rex und ich wollten ja mit dem Skateboard –«

»Rex, was sagst du denn dazu?« Kelly schaute in den Rückspiegel, aber sie wusste, dass Rex das nicht sehen konnte. »Hättest du gern ein Skateboard?«

Auch wenn er nicht verstanden hatte, was sie gesagt hatte, hatte Rex seinen Namen gehört und spitzte die Ohren, schaute aufmerksam nach vorn zu Kelly, was man als Mensch als fragendes Anblicken hätte interpretieren können.

»Hmhm«, machte Kelly und nickte. »Das denke ich auch.«

»Rex hat überhaupt nichts gesagt«, protestierte Badger, als ob das wirklich eine Möglichkeit gewesen wäre. »Klar hätte er gern ein Skateboard, wenn er ein Junge wäre.«

»Das legst du ihm in den Mund.« Kelly lachte. »Sehr bequem mit einem Hund. Versuch das nur nie mit einem Mädchen.«

Badger errötete leicht, das war selbst im Rückspiegel zu sehen. Mädchen waren immer ein schwieriges Thema für ihn. Er verstand sie einfach nicht, und obwohl seine tollpatschige Art sie manchmal zum Lachen brachte, interessierten sie sich auch nicht für ihn. »Hast du mit Celia gesprochen?«, fragte er mit zerknautschtem Gesicht.

»Celia?« Da Kelly nicht mehr mit Celia zusammenwohnte, hatte sie gar nicht mitgekriegt, dass Badger und sie sich jetzt anscheinend näher kannten. »Was hast du zu ihr gesagt?«

»Ach nichts.« Badger winkte ab. »Sie hat es wohl in den falschen Hals bekommen.«

Note to self, dachte Kelly. Ich muss Celia fragen, was da los war. Badger wird es mir nicht erzählen. »Du magst sie, hm?«, fragte sie über den Rückspiegel nach hinten.

»Mädchen sind verrückt«, sagte Badger.

Kelly musste innerlich grinsen. Eigentlich dachte Badger bestimmt das Gegenteil, und wenn er ihre Frage nicht beantwortete, war das auch eine Antwort.

»Sie sind an Ihrem Ziel angekommen.« Kelly sah die Hundeschule schon, bevor die leblose Stimme aus dem Lautsprecher das verkündete.

»Na dann . . .«, sie drehte sich im Sitz um und lächelte ihre beiden Fahrgäste an, »wünsche ich euch viel Spaß.« Missbilligend warf sie einen scharfen Blick auf Badger. »Und ich sage deinem Chef Bescheid. Damit er Ersatz für dich besorgt. Es müssen ja schließlich zwei Mann in jeder Schicht sein auf jeder Etage, oder nicht?«

»Ja-a.« Badger wand sich unbehaglich, während er so tat, als müsste er irgendetwas an Rex’ Halsband überprüfen. »Sagst du . . .«, er blinzelte sie ein wenig von unten herauf an, »sagst du es auch Ms. Richards?«

»Das überlege ich mir noch«, gab Kelly zurück und musste mit aller Kraft gegen ein Zucken ihrer Mundwinkel ankämpfen.

Badger hatte einen Mordsrespekt vor Dale, und da er heute Morgen wahrscheinlich mal wieder ganz spontan beschlossen hatte, nicht zur Arbeit zu gehen, sondern lieber zu dem Kurs mit Rex, war ihm wohl erst im Laufe der Fahrt klargeworden, dass das keinen guten Eindruck auf Dale machen würde. Oder als Kelly ihm Vorhaltungen darüber machte, wie undankbar es Dale gegenüber war, die sich über alle Sicherheitsbedenken hinweggesetzt und ihm eine Chance gegeben hatte. Und das schlechte Gewissen hatte sich die Fahrt über verfestigt.

Aber ein schlechtes Gewissen hatte bei Badger nie lange eine Chance. Schon als er nun mit Rex ausstieg, lachte er wieder. »Dann wünsche ich dir auch viel Spaß. Bei der Arbeit.«

Warnend wedelte Kelly mit einem Finger in der Luft herum. »Das ist eine Ausnahme. Verlass dich das nächste Mal nicht mehr darauf, dass ich für dich die Kastanien aus dem Feuer hole. Ich habe Dale versprochen, dass du dir Mühe gibst. Und ich breche ein Versprechen nicht gern. Normalerweise überhaupt nicht.«

»Ist ja schon gut. Ich bin ja auch dankbar.« Badgers Schulterzucken sah zwar nicht danach aus, aber Kelly wusste, wie sie das zu nehmen hatte.

»Du wirst die Schicht natürlich nacharbeiten«, sagte sie. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Aber Rex muss seine Ausbildung haben, da hat Jim auf jeden Fall recht. Also müssen wir einen Plan machen, wie wir das mit deiner Arbeitszeit abstimmen können.«

Gequält verzog Badger das Gesicht.

»Hast du etwa gedacht, das wird dir erlassen?« Jetzt konnte Kelly ein Grinsen nicht mehr unterdrücken. »Du weißt, dass ich dafür geradestehen muss.«

»Och Kelly . . .« Badger sah jetzt doch etwas schuldbewusst aus. »Ich wollte dich doch nicht in Schwierigkeiten bringen.«

»Hast du nicht.« Kelly startete den Wagen wieder. »Wie du ganz richtig sagtest, habe ich das selbst entschieden. Das drücke ich dir nicht aufs Auge. Aber du musst das Futter für Rex verdienen. Darauf bestehe ich. Rex soll nicht darunter leiden.«

»Cool.« Wenn Badger ein Talent hatte, dann selbst in für ihn gar nicht gut aussehenden Situationen noch etwas Gutes zu finden. »Dann sehen wir uns!« Winkend lief er mit Rex zum Eingang der Hundeschule.

Kelly schüttelte den Kopf. »Hast du dir da nicht vielleicht ein bisschen zu viel vorgenommen, Kelly Bennett?«, fragte sie sich selbst und seufzte.

Aber dann fuhr sie los und dachte nicht mehr daran. Denn mehr und mehr drehten ihre Gedanken sich wieder um Dale. Wie sie das eigentlich die ganze Zeit taten, seit Dale abgeflogen war.

Am liebsten hätte sie Dale alle halbe Stunde angerufen, aber sie wusste, dass sie Dale jetzt ein bisschen Zeit lassen musste. Und auch ein bisschen Raum, obwohl sie selbst gern jede Sekunde angekuschelt an Dale verbracht hätte. Was aber sowieso nicht gegangen wäre bei der Arbeit.

Ich habe alles hinter mir gelassen, als ich aus Maine weggezogen bin, hatte sie zu Dale gesagt, aber damals nicht gewusst, dass das bedeutete, dass Dale noch einmal nach Texas zurückmusste, um genau dasselbe zu tun, was Kelly bereits getan hatte.

Kelly hatte nichts in Maine zurückgelassen als schlechte Erinnerungen, sie hatte keinen Menschen auf der Welt, doch für Dale galt das nicht. Ihre Familie lebte immer noch in Texas, außerdem hatten die Richards Grundbesitz, der zum Teil auch Dale gehörte. Sie hatte sich lange Zeit nicht darum gekümmert, weil da irgendetwas gewesen sein musste, was sie Kelly nicht erzählte, aber da waren noch irgendwelche offenen Dinge, die zum Abschluss gebracht werden mussten, bevor Dale sich wirklich frei fühlen konnte. Jedenfalls war das Kellys Eindruck, auch wenn Dale das niemals zugegeben hätte.

Zuerst hatte Kelly gedacht, die größte Belastung für eine Beziehung mit Dale wäre Kathryns Tod – und das war auch tatsächlich eine Belastung, weil Dale sich immer noch die Schuld daran gab –, aber schon nach Kurzem hatte sich herausgestellt, dass Dales Familie auch nicht ganz ohne war.

Offenbar hatte Dale eine sehr gute Beziehung zu ihrem Vater gehabt, solange er noch lebte, aber niemals zu ihrer Mutter und Schwester. In Miami war sie weit genug weg von Texas, um das verdrängen zu können, und im Krieg war sie noch weiter weg gewesen, doch auch wenn sie sich immer so gab, als könnte sie nichts erschüttern, das entsprach nicht den Tatsachen. Familie war wichtiger für sie, als sie zugeben wollte.

Selbst Kelly hatte sich manchmal Gedanken über ihre Familie gemacht – ob ihre Eltern noch lebten, ob sie Geschwister hatte, vielleicht sogar Großeltern und andere Verwandte –, obwohl sie ohne jegliche Familie aufgewachsen war und absolut nichts über ihre Familie wusste. Sie war ein Findelkind.

Wie musste es da für jemanden sein, der zwar eine Familie hatte, sich aber nicht mit den Mitgliedern dieser Familie verstand?

So etwas konnte Kelly sich überhaupt nicht vorstellen.

3

»Du hättest alles hier haben können, alles«, sagte Dales Mutter in dem üblichen vorwurfsvollen Ton, in dem sie immer mit ihrer Tochter sprach. »Aber du wolltest ja nicht. Du wolltest etwas anderes.«

Die alte Leier. Warum habe ich gedacht, dass es anders sein würde? »Ja.« Dale versuchte, keine Miene zu verziehen. »Nicht jeder will das Gleiche. Das ist nun einmal so.«

Verächtlich zog ihre Mutter die Mundwinkel herunter. »Du wolltest unbedingt in den Krieg ziehen. Als ob das irgendetwas bringen würde.« Sie schaute so strafend, als hätte sie ihre Tochter gerade beim Stehlen erwischt oder dabei, wie sie sich als Teenager aus dem Haus schleichen wollte, um sich mit irgendwelchen jugendlichen Nichtsnutzen zu treffen und sich ins Koma zu saufen. »Obwohl du hier so viel zu tun gehabt hättest . . . Obwohl wir dich gebraucht hätten. Dringend gebraucht.«

Eine tiefe Traurigkeit erfasste Dale. »Dad hat mir erlaubt zu gehen. Er hat es verstanden«, sagte sie und musste gegen die Sehnsucht nach ihrem Vater ankämpfen. Wäre er jetzt nur hiergewesen . . .

»Und als er starb? Wie viel konnte er da noch verstehen?«, keifte Janice Richards. »Warum bist du nicht zurückgekommen?« Wie immer klang ihre Stimme rechthaberisch und hysterisch. Es ging ihr gar nicht um echte Argumente, es ging ihr nur darum, ihrer Tochter Schuldgefühle einzupflanzen.

»Kathryn ist . . . Wir waren im Irak, und dann –« Dale schluckte so unauffällig wie möglich. Sie wollte nicht mehr daran denken, sie wollte sich beherrschen, sie musste sich beherrschen.

»Dann ist sie auch gestorben«, sagte ihre Mutter hart. »Es gab keinen Grund mehr für dich, nicht zurückzukommen, aber du hast es trotzdem nicht getan. Du hast dich der Verantwortung einfach entzogen, du hast dich gedrückt.«

Ja, dachte Dale. Ich habe mich gedrückt. Ich bin schwer verwundet, fast erschossen worden, habe für mein Land gekämpft und die Liebe meines Lebens verloren. Ich hatte ein tolles Leben, denn ich habe mich ja vor allem gedrückt und nur im Sessel gesessen.

»Wenn du meinst, Mutter«, sagte sie. »Wenn du das so siehst.«

»Ja, ich sehe es so«, gab Janice Richards beinah trotzig zurück. »Die erste Verantwortung, die man hat, ist die gegenüber der eigenen Familie. Aber das war dir ja egal.«

»Bedeutet dir unser Land nichts?«, fragte Dale, und auch wenn sie das nicht wollte, klang ihre Stimme nun etwas aufgebracht. »Hätte ich mich vor dieser Verantwortung drücken sollen?«

»Was ist ein Land wert ohne Familie?«, fragte ihre Mutter zurück. »Die Familie ist immer noch das Wichtigste. Ohne sie gibt es kein Land, keine Zukunft, gar nichts.«

Dale atmete tief durch und seufzte. Wie sollte sie dem widersprechen? Hatte ihre Mutter recht? Aber dann . . . dann war Kat umsonst gestorben. Nein! Dale schrie innerlich auf. Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! »Wenn es kein Land mehr gibt, in dem die Familie in Ruhe und Frieden leben kann, was dann?«, fragte sie.

»Du hast immer deine eigenen Prioritäten gesetzt.« Es lag nicht unbedingt in Janice Richards’ Persönlichkeit, auf die Argumente anderer einzugehen. Dafür hörte sie ihre eigenen zu gern. »Die Familie hat dich nie interessiert. Du hättest sie jederzeit aufgegeben für deine Abenteuerlust. Und hast du ja auch. Kaum dass du erwachsen warst.«

Abenteuerlust? Ja. Ja, so etwas war es sicher auch, dachte Dale. Oder vielleicht auch so eine Art Flucht. Ich hatte schon fast vergessen, wie es hier war, bevor ich gegangen bin. »Ich konnte erst mit achtzehn zur Armee gehen«, sagte sie. »Sonst wäre ich schon früher gegangen.«

»Das weiß ich.« Wie schon so viele Male zuvor bei diesem Thema klang die Stimme von Janice Richards jetzt bitter. »Das ist genau das, was ich meinte. Du hast nie daran gedacht, was aus den anderen wird, was aus uns wird. Du hast immer nur an dich gedacht, immer nur deine eigenen Ziele verfolgt.«

»Du hattest immer noch Lainey«, sagte Dale, auch wenn sie sich nicht viel davon versprach. Auch dieses Argument hatten sie schon viel zu oft durchgekaut.

»Lainey war zu jung, als dein Vater starb«, behauptete ihre Mutter wie immer. »Viel zu jung. Sie hat getan, was sie konnte, aber es war zu viel für sie. Deine und ihre Verantwortung zu tragen, Vater zu ersetzen, alles zu übernehmen.«

»Sie ist nur ein Jahr jünger als ich«, erinnerte Dale sie an die Tatsachen.

Wenn sie so zurückdachte, hatte sie ihre Schwester Lainey immer als sehr stark empfunden, obwohl sie die jüngere war. Zwar sah Lainey äußerlich nicht so aus, aber innerlich war sie auf gewisse Art immer stärker gewesen als Dale. Sie hatte Dale oft für Laineys Streiche büßen lassen.

Da sie immer ›die Kleine‹ gewesen war, die scheinbar kein Wässerchen trüben konnte, glaubte jeder sofort, dass Dale die Übeltäterin war, wenn man die beiden zusammen sah. Und Dale hatte nie widersprochen, hatte die Strafe auf sich genommen, obwohl sie es nicht gewesen war.

»Aber sie war immer schwächer als du, kleiner, zarter. Du warst die Große, Starke. Du hättest da sein sollen.« Janice Richards ließ ihrer Verbitterung freien Lauf. Rücksicht auf andere war noch nie einer ihrer Charakterzüge gewesen, auch wenn sie stets Rücksicht für sich selbst einforderte.

»Ja, ich hätte da sein sollen«, sagte Dale. »Ich hätte überall sein sollen.« Kats Gesicht erschien vor ihrem inneren Auge, nicht ihre Familie. »Ich habe versagt.«

»Gut, dass du das endlich mal zugibst.« Eine jüngere Stimme, die sich aber durchaus mit dem Tonfall ihrer Mutter messen konnte, meldete sich plötzlich von der Tür des großen Raumes her, der direkt vom Eingangsbereich des Ranchhauses abging. »Sonst warst du ja immer so perfekt.« Während sie das letzte Wort geringschätzig betonte, schlenderte Lainey Richards lässig herein.

»Das habe ich nie behauptet«, widersprach Dale, auch wenn sie wusste, dass das eigentlich gar keinen Sinn hatte. »Kein Mensch ist perfekt.«

»Du schon«, sagte Lainey, ging zur Bar hinüber und goss sich einen Whiskey ein. »Jedenfalls denken das einige Leute hier in der Stadt bis heute. Kannst du dich noch an die Parade erinnern? Pf!«

»Darum hatten wir nicht gebeten«, entgegnete Dale. »Die Leute haben das selbst entschieden.«

»Weil ihr in Uniform hier ankamt.« Lainey musterte Dale abschätzig von oben bis unten. »Das war doch Absicht. Damit euch alle bewundern sollten.«

»Das ist Vorschrift«, korrigierte Dale sie mit zusammengepressten Lippen. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, um sich wieder zu beruhigen. Mit ihren Worten griff Lainey nicht nur Dale an, sondern auch Kat, und das würde sie nicht zulassen. »Wir hätten Zivil getragen, wenn das erlaubt gewesen wäre. Das wäre uns wesentlich lieber gewesen.«

»Ja, ja.« Desinteressiert winkte Lainey ab. »Du kannst mir viel erzählen. Ich kenne mich ja mit all diesem militärischen Mist nicht aus, für den du so schwärmst.«

Dale merkte sehr deutlich, dass Lainey sie provozieren wollte, aber sie ließ sich nicht darauf ein. Kat hätte sich ebenfalls nicht darauf eingelassen. Und Kelly auch nicht.

Auf einmal musste sie lächeln. »Ich kenne mich damit aus, weil ich zwölf Jahre gedient habe«, antwortete sie ganz gelassen. »Das ist weit entfernt von Schwärmerei.«

»Gedient!« Beinah hysterisch lachte Lainey auf und warf den Kopf in den Nacken. »Was für ein Wort! Darauf bist du stolz? Klingt, als wärst du ein Dienstbote.« Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas und beobachtete Dale über den Rand hinweg wie ein Raubvogel, der gleich auf seine Beute herunterstoßen wollte.

»Ich habe meinem Land gedient, nicht irgendeinem Menschen, der zu faul ist, sein eigenes Bett zu machen«, erklärte Dale so freundlich und bereitwillig, als würden sie ein Werbevideo für die Army drehen. »Das ist ein kleiner Unterschied.«

»Ist es das?« Anscheinend ärgerte Lainey sich darüber, dass Dale sich nicht streiten wollte. Ihre Mundwinkel verzogen sich unzufrieden. »Na ja, ist ja nicht mein Bier. Ich würde nie jemandem dienen, keinem Land und keinem Menschen.«

»Das ist mir schon klar«, sagte Dale. »Und bei Menschen würde ich dir da sogar zustimmen.«

Das verwirrte Lainey anscheinend noch mehr. Zustimmung von ihrer großen Schwester hatte sie wohl am allerwenigsten erwartet. »Was willst du hier?«, schoss es deshalb mit gesteigerter Unzufriedenheit aus ihr heraus, als hätte sie jetzt doch plötzlich die Vorteile einer militärischen Angriffsweise entdeckt. »Warum bist du hergekommen?« Ihre Augen funkelten mit all der Bösartigkeit, die ihr immer schon zu eigen gewesen war. »Hier braucht dich niemand. Du bringst nur alles durcheinander.«

Dales Augenbrauen hoben sich verwundert. »Was bringe ich durcheinander? Ich bin doch gerade erst angekommen.«

»Schlimm genug«, schnappte Lainey, »dass du uns vorher nicht benachrichtigt hast. Erst kommst du jahrelang nicht, dass man sich schämen muss, weil die Leute fragen, und dann stehst du plötzlich vor der Tür?«

Fast musste Dale innerlich schmunzeln. Weil die Leute fragen . . . Das war alles, worum es Lainey ging. Und ihrer Mutter auch. Schämen taten sie sich natürlich nicht wirklich. Es war ihnen nur peinlich, dass sie nicht aus Dales Leben berichten und damit angeben konnten. Dass sie nicht wussten, was Dale tat. Obwohl es sie selbst gar nicht interessiert hätte. Aber die Leute . . .

Was wäre wohl gewesen, wenn sie vorher angerufen hätte? Das hätte genauso geendet wie jeder Anruf zuvor. Deshalb wäre es völlig sinnlos gewesen.

»Ich habe mitbekommen, dass ihr wieder nach Öl bohrt«, sagte sie deshalb. »Das hat mich interessiert. Denn damals hieß es ja, es ginge nicht weiter. Das restliche Öl könnte man nicht herausholen.«

»Wayne ist eben schlau.« Laineys Gesichtsausdruck hätte man mit dem einer Viper vergleichen können, ein breites Grinsen unter kalten Augen. »Bist du neidisch, weil du das nicht zustandegebracht hättest, was er jetzt erreicht hat?«

»Neidisch?« Auf den Gedanken wäre Dale nie gekommen.

Ihr Cousin Wayne leitete die Richards Oil Corporation, weil nach dem Tod ihres Vaters niemand anderer dagewesen war, weil Dale im Krieg gewesen war. Ihrem Vater wäre es sicher lieber gewesen, wenn sie das Unternehmen übernommen hätte, aber das hatte nicht zur Debatte gestanden.

Und Wayne war schon immer ein schlauer Kopf gewesen, da hatte Lainey recht. Nicht unbedingt überragend intelligent, aber clever. Doch das war im Geschäftsleben ja auch oft viel nützlicher.

»Eifersüchtig, ja. Ihr habt euch früher ja auch schon immer gekloppt«, versuchte Lainey, ein bisschen Salz in die Wunde zu streuen. »Weil du eifersüchtig auf ihn warst.«

Dale sparte es sich, auch das Wort eifersüchtig fragend zu wiederholen, weil das genauso absurd war wie neidisch. Sie hatte ihren Cousin nur dann etwas härter angefasst, wenn sie ihn von etwas Unseligem hatte abhalten wollen oder wenn er sich danebenbenommen hatte. Was leider zu seinen Teenagerzeiten gar nicht so selten vorgekommen war. Er hatte einfach schon immer zu viel getrunken.

»Ich weiß nicht, wie du darauf kommst«, erwiderte sie daher völlig ruhig.

Sie musste sich nur daran erinnern, wie es im Kampf gewesen war, wenn man einen ruhigen Kopf behalten musste. Da hatte sie es gekonnt. Meistens. Nicht mehr nach Kats Tod.

Schnell versuchte sie, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Jeder Einsatz im Krieg, egal welcher, war schlimmer gewesen als das hier, dieses banale Scharmützel.

»Ich weiß nicht, wie du darauf kommst«, äffte ihre Schwester sie nach und verzog das Gesicht wie ein kleines Kind. »Immer die große kühle Dale. Verzieht keine Miene. Kein Gefühl in den ganzen gut trainierten einsfünfundachtzig.«

Immer mehr begriff Dale etwas, das sie früher nie begriffen hatte: Lainey war eifersüchtig und neidisch auf sie, Dale. Deshalb warf sie es ihr vor. Weil sie – im Gegensatz zu Dale – wusste, wie sich das anfühlte.

Kein Gefühl. Lainey hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie sich fühlte. Wie sie sich nach Kats Tod gefühlt hatte. Wie sie sich jetzt noch fühlte, wenn sie an Kat dachte.

Erst seit Kelly in ihr Leben getreten war, hatte sich das langsam geändert. Vor allem zum Schluss, kurz bevor sie sich in Miami von ihr verabschiedet hatte.

Auf einmal spürte sie wieder Kellys Hände auf sich, ihre Lippen, die sie zuerst küssten und dann »Ich liebe dich« murmelten. Immer wieder. Ohne dass Dale ihr das zurückgeben konnte, auch wenn sie das gern getan hätte.

Das schlechte Gewissen kroch in ihr hoch, und das nicht zum ersten Mal. Kelly wartete so sehr darauf, dass Dale endlich diese drei kleinen Wörtchen sagte, und sie hatte sie auch verdient, schon lange verdient. Dale konnte sie nur nicht sagen, weil – 

Bevor sie diesen Gedanken zu Ende denken konnte, meldete sich ihr Handy. Es war ihr privates, das erkannte sie am Klingelton, der sich von dem ihres Geschäftshandys deutlich unterschied. Eigentlich hätte wohl niemand von ihr erwartet, dass sie auch ihr Geschäftshandy mitnahm, aber pflichtbewusst, wie sie war, hatte sie es natürlich dabei. Sie hatte so lange keinen Urlaub mehr gemacht, dass sie gar nicht auf den Gedanken gekommen wäre, es nicht mitzunehmen, weil es zu ungewohnt war.