Küsse voller Zärtlichkeit - Kay Rivers - E-Book

Küsse voller Zärtlichkeit E-Book

Kay Rivers

5,0

Beschreibung

Michelle Carver hat als Managerin von Disney World in Florida einen anstrengenden Job. Für ein Privatleben hat sie kaum Zeit, deshalb beschränkt sie sich auf gelegentliche Affären. 'Liebe' kommt in ihrem Wortschatz nicht vor. Cindy Claybourne ist Studentin und hat einen Ferienjob in Disney World. Sie merkt, dass sie sich zu Michelle hingezogen fühlt, dass sie hinter ihre harte Schale schauen möchte. Aber Michelle lässt das nicht so einfach zu. Doch Cindy gibt nicht auf und kämpft für ihre Liebe zu Michelle. Wird Michelle endlich einsehen, dass Cindy die richtige für sie ist?

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Seitenzahl: 405

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Kay Rivers

KÜSSE VOLLER ZÄRTLICHKEIT

Teil 1 der SerieKüsse voller Zärtlichkeit

Originalausgabe: © 2005 ebook-Edition: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-007-3

Coverfoto:

»Ms. Williams.«

»Ms. Carver.«

Michelle Carver blickte an der hochgewachsenen Gestalt hinauf, die ihr gerade die Hand gab. Ein starker Händedruck. Sie will Eindruck auf mich machen. Sie schmunzelte in sich hinein, ohne dass Cait Williams es merkte. Und das hat sie geschafft. Ein Kribbeln durchzog Michelles Hand und setzte sich in ihren Körper fort. Seit langem hatte sie sich nicht mehr so energiegeladen gefühlt.

Als Chefin von Disney World fühlte sie sich sonst oft eher ausgelaugt. Es war nicht einfach für eine Frau in ihrer Position. Sie hatte sie sich schwer erkämpfen müssen. Und sie musste jeden Tag darum kämpfen, sie zu behalten. Sie war überzeugt davon, dass es Cait Williams ebenso ging. Das hatten sie sicherlich gemeinsam. Und einiges andere.

Sie hatte viel von Cait gehört. Sie war eine außergewöhnliche Erscheinung im IT-Bereich, und sie war nach Orlando gekommen, um mit Michelle über einen Auftrag zu verhandeln, den Disney World zu vergeben hatte. Einen großen Auftrag. Das ganze Areal sollte neu vernetzt werden, was für jede IT-Firma in Amerika einen Leckerbissen darstellte.

»Bitte, setzen Sie sich doch.« Michelle wies auf den Besprechungstisch in ihrem Büro im obersten Stock des Verwaltungsgebäudes von Disney World.

»Wundervoller Ausblick«, sagte Cait, deutete auf die verglaste Fensterfront, hinter der das bunte Treiben von Disney World wogte, und lächelte Michelle an.

Michelle fühlte, wie sich das Kribbeln in ihrem Körper verstärkte. Sie drehte sich um und schaute ebenfalls durch die Glasfront hinaus. »Manchmal sehe ich es schon gar nicht mehr«, sagte sie, »aber ja, wundervoller Ausblick.« Sie drehte sich zurück und lächelte auch. »Meine IT-Verantwortlichen werden gleich kommen«, fuhr sie fort. »Leider verstehe ich nicht allzuviel von Computern. Aber da ich das Geld bewilligen muss, werden Sie hauptsächlich mich davon überzeugen müssen, dass Ihre Firma die richtige für diesen Auftrag ist.«

»Oh, da sehe ich kein Problem.« Cait lehnte sich zurück, und ihre sich öffnende Jacke gab den Blick auf eine Seidenbluse frei, die sich leicht über ihren Brüsten spannte.

Macht sie das absichtlich? dachte Michelle.

»ITC ist die beste IT-Firma in Amerika. Etwas Besseres werden Sie nicht finden.« Cait lächelte noch mehr.

Michelle lächelte zurück. »Wenn Sie mich davon überzeugen können, haben Sie den Auftrag.«

Es klopfte an Michelles Tür, und ihre Sekretärin kam herein. »Die IT ist da.«

Michelle nickte. »Schicken Sie sie rein.«

Zwei Männer betraten den Raum.

»Mein IT-Leiter, Mr. Boyd, und sein Stellvertreter, Mr. Ogushi«, stellte Michelle vor. »Ms. Williams kennen Sie bereits?«

»Ich habe von Ihnen gehört«, sagte Terence Boyd und gab Cait die Hand. »Sie sollen gut sein.«

»Wir sind gut«, sagte Cait und zeigte die Zähne, während sie auch Ogushi die Hand gab. »Wählen Sie ITC als Partner, und Sie werden nie wieder Probleme haben.«

»Das ist ein großes Versprechen«, sagte Terence Boyd.

»Das wir halten können«, sagte Cait, während sich alle setzten. »Ich habe Ihnen hier einiges mitgebracht.« Sie öffnete ihren Aktenkoffer und legte jeweils eine Mappe vor jeden auf den Tisch. »Wie Sie sehen«, sie schlug ihr eigenes Exemplar auf, »haben wir uns schon einige Gedanken gemacht, wie wir Ihre IT-Einrichtungen verbessern können.«

»Viel ist da nicht zu verbessern«, bemerkte Terence Boyd etwas beleidigt.

»Oh doch«, sagte Cait. Sie ließ ihren Blick zu Michelle hinüberschweifen und blinzelte ein wenig. »Ich glaube, da ist eine ganze Menge zu verbessern.« Ihr Blick kehrte zu den beiden Männern zurück.

Michelle hätte fast sichtbar geschmunzelt, aber sie unterdrückte diesen Impuls. Wenn Cait so weitermachte . . . »Was sagen Sie zu Ms. Williams’ Vorschlägen, Terry?« fragte sie ihren IT-Leiter.

»Ich müsste sie mir erst einmal genauer ansehen«, erwiderte Terence Boyd. »Mir scheint, das ist nicht dasselbe, was Sie uns im Vorfeld schon geschickt hatten.« Er blickte Cait Williams etwas vorwurfsvoll an.

»Nein.« Cait zeigte wieder lächelnd die Zähne. »Wir haben das zwischenzeitlich noch verbessert.«

»Wie lange brauchen Sie, Terry?« fragte Michelle.

»Mindestens eine Stunde, besser zwei«, sagte Terence Boyd. »Ich muss das mit unseren Installationen abgleichen.«

Michelle nickte ihm zu. »Tun Sie das.« Die beiden Männer standen auf. »Vielleicht kann ich Ihnen solange ein paar der wichtigsten Punkte von Disney World zeigen«, wandte Michelle sich wieder an Cait, während die Männer den Raum verließen.

»Sehr gern«, sagte Cait und lächelte verheißungsvoll.

Michelle ging zu ihrem Schreibtisch und drückte den Knopf für die Gegensprechanlage. »Ms. Hawkins? Rufen Sie doch im Tourist Board an und sagen Sie, sie sollen eine kleine VIP-Tour arrangieren. Zwei Personen. Wir kommen gleich rüber.«

Eine Weile später saßen sie in einem Restaurant. »Das Areal ist großartig. Ich möchte Ihnen ein ehrliches Kompliment für Ihre Arbeit aussprechen«, sagte Cait.

»Danke.« Michelle neigte leicht den Kopf.

»Die Modernisierung der IT ist allerdings dringend notwendig«, fuhr Cait fort.

Michelle lächelte. »Das müssen Sie natürlich sagen.«

»Es ist wahr. Ich sage das nicht nur wegen des Auftrags«, bemerkte Cait. »Interne IT-Leute werden mit der Zeit immer etwas schlampig. Dann ist es gut, eine externe Firma hinzuzuziehen.«

»Ihre«, sagte Michelle.

Cait grinste. »Am liebsten natürlich meine, das ist wahr.«

Michelles Blick fiel auf Caits tiefgebräuntes Dekolleté. »Wir werden sehen, was sich da machen lässt«, sagte sie.

Sie kehrten gemeinsam in Michelles Büro zurück. »Rufen Sie Mr. Boyd an«, sagte Michelle zu ihrer Sekretärin. »Wir sind wieder da.«

Kurz darauf erschienen Terence Boyd und sein Stellvertreter. Ihre Gesichter wirkten ein wenig betreten. Sie setzten sich alle an den Besprechungstisch.

»Konnten Sie mit Ms. Williams’ Unterlagen etwas anfangen?« fragte Michelle.

»Ja.« Terence Boyd nickte.

»Und? Was halten Sie von ihren Verbesserungsvorschlägen?«

»Sie sind machbar«, sagte Terence Boyd etwas widerwillig.

»Das hoffe ich«, sagte Michelle. »Und sind sie gut?«

Sie sah aus dem Augenwinkel, wie sich ein selbstsicheres Grinsen in Cait Williams’ Gesicht stahl. Beinahe wäre sie ihm gefolgt.

»Das meiste ist akzeptabel«, sagte Terence Boyd.

»Akzeptabel?« Cait explodierte beinahe. »Es ist eine Verbesserung um mindestens fünfzig Prozent! Wenn nicht sogar mehr. Ganz zu schweigen von den neuen Möglichkeiten und Funktionen!«

»Hat sie recht?« Michelles Mundwinkel zuckten.

Terence Boyd wand sich etwas. »Ja, hat sie«, gab er dann zu.

»Dann sollten wir das im Detail besprechen«, sagte Michelle. Sie nickte Cait zu. »Erklären Sie mir genau, was Sie machen wollen. Nicht den technischen Teil . . . das können Sie dann mit Mr. Boyd besprechen. Erklären Sie mir, was es den Besuchern für Vorteile bringt, wenn wir das neue System installieren. Und welche Vorteile für Disney.«

»Die Abläufe werden vereinfacht«, begann Cait. Sie schlug ihren Ordner auf und zeigte auf eine graphische Darstellung. »Sehen Sie, hier. Der Weg ist kürzer und direkter.«

Michelle beugte sich zu ihr. Sie spürte ihre Nähe mit irritierender Deutlichkeit. »Hm-hm«, machte sie. Sie verstand, was Cait meinte und konzentrierte sich auf ihre Erläuterungen, obwohl es ihr schwerfiel.

»Müssen Sie heute schon nach Miami zurückfliegen?« fragte Michelle, als sie die Sitzung beendet hatte. Boyd und Ogushi waren bereits gegangen.

»Das kommt darauf an.« Cait legte den Kopf schief.

»Worauf?« Michelle fühlte ein Zittern in ihrem Inneren.

»Auf dich«, sagte Cait sehr leise. Ihre Augen hielten Michelles fest, sie beugte sich vor, kam immer näher, und ihre Lippen berührten Michelles. Ein Arm umfasste ihre Taille, zog sie heran, hielt sie in festem Griff. Ihre Lippen wurden fordernder.

Michelles Knie wurden weich.

Caits Hand streichelte Michelles Hüfte, wanderte auf ihren Po, drückte ihren Schenkel fest und bestimmend.

Michelle hätte beinahe aufgestöhnt. »Nicht hier«, sagte sie schweratmend. »Heute Abend bei mir zu Hause.«

Cait ließ sie los und grinste. »Wenn du mir sagst, wo das ist, komme ich gern hin.«

Michelle streckte sich, während die ersten Sonnenstrahlen auf ihr Bett fielen. Sie fühlte sich gut. Ihr Körper schmiegte sich wohlig entspannt in die Laken, ein vertrautes Gefühl nach einer Nacht mit einer leidenschaftlichen Frau. Es war ein Erlebnis gewesen, mit Cait zu schlafen. Ein Erlebnis der besonderen Art. Cait war . . . hm . . . ziemlich dominant, das war Michelle nicht gewöhnt. Ihr gut trainierter, muskulöser Körper hatte Michelle einiges abverlangt. In den Armen einer starken Frau zu liegen, sich die Entspannung zu gönnen, die sie nach einem harten Tag gut gebrauchen konnte, war doch eine großartige Sache. Sie mochte große Frauen, vielleicht, weil sie selbst eher klein war. Ihre straffe, wohlgeformte Figur in diese zupackenden Hände zu geben, sich fallenzulassen, zumindest für den Moment, das hatte ihr sehr gefallen.

Cait war bereits gegangen. Sie war zum Flughafen gefahren, um nach Miami zurückzufliegen. Michelle bedauerte das ein wenig, obwohl sonst eher sie diejenige war, die frühzeitig ging. Die Frauen, mit denen sie ansonsten schlief, waren allerdings auch bei weitem nicht so beeindruckend wie Cait. Cait war nicht nur eine Frau fürs Bett, sie war eine erfolgreiche Geschäftsfrau, ebenso wie Michelle selbst, Vizepräsidentin einer großen IT-Gesellschaft, und das schon in jungen Jahren. Michelle wünschte sich beinahe etwas mehr von ihr als nur Sex.

Das Telefon auf ihrem Nachttisch klingelte. Michelle rollte sich hinüber und nahm ab. »Ja?«

»Ich sitze gerade im Flieger und denke an dich«, kam eine dunkle Stimme aus dem Hörer.

»Oh, Cait.« Michelle setzte sich auf. »Ich hätte nicht gedacht, dass du heute morgen noch einmal anrufst.« Caits Stimme jagte ihr Schauer über den Rücken.

»Ich dachte daran, wie du im Bett liegst«, flüsterte Cait, »und da . . . musste ich einfach anrufen.«

»Hm.« Michelle konnte nichts sagen. Sie fühlte, wie Caits Stimme Reaktionen in ihr auslöste, die sie so früh am Morgen nicht gewöhnt war. Jedenfalls meistens nicht. »Das . . . das ist nett von dir«, sagte sie. Ihre Stimme klang heiser.

»Ich würde am liebsten zurückkommen und da weitermachen, wo wir vorhin aufgehört haben«, flüsterte Cait sinnlich. »Kommst du bald mal nach Miami?«

»Das . . . eigentlich . . . ja, warum nicht?« Michelle fühlte sich ein wenig überrascht. Das klang ja fast so, als ob Cait ebenso viel an Michelle lag wie umgekehrt. Als ob auch sie sich von Michelle nicht nur sexuell angezogen fühlte.

»Vielleicht zur Vertragsunterzeichnung«, sagte Cait. »Dann machen wir einen offiziellen Termin draus.«

Michelle lachte ein wenig. »Du bist dir ja sehr sicher. Es gibt auch noch andere Firmen, die sich beworben haben.«

»Haben die genauso gute Argumente wie ich?« fragte Cait mit rauer Stimme.

Michelle fuhr es kalt und heiß durch den Körper. »Kaum«, sagte sie. »Aber nach solchen Kriterien treffe ich meine Entscheidungen nicht. Wenn es um so viel Geld geht, zählt nur, dass Disney das beste Ergebnis für den besten Preis bekommt.«

»Ich glaube, das kann ich bieten«, sagte Cait mit einem leichten Lachen. »In jeder Hinsicht.«

»Du bist unmöglich, Cait«, schmunzelte Michelle. »Aber du hast recht. Ich werde Terry die anderen Angebote noch einmal prüfen lassen, aber ich glaube, du hast gute Karten.«

»Wirst du sie auch selbst prüfen, die Angebote?« fragte Cait.

Michelle lachte. Sie wusste, worauf Cait hinauswollte. »Die anderen Anbieter sind alle Männer, da kommt eine genauere Prüfung meinerseits wohl kaum in Betracht.«

»Wie schön«, sagte Cait. Ihr Grinsen war im Telefon zu hören.

»Ich freue mich sehr, dass wir dieses Geschäft abschließen konnten«, sagte Michelle und stieß mit Cait an. »Euer Angebot war wirklich das beste.« Sie trank und setzte ihr Glas ab. Sie blickte sich um. Es war ein interessantes Restaurant, in dem sie saßen, ein reines Frauenrestaurant. Es wurde von Frauen betrieben, und nur Frauen waren als Gäste zugelassen.

Cait blickte sie über den Restauranttisch hinweg an und verzog die Lippen. »Ich habe es ja auch engagiert untermauert.«

Michelle hob die Augenbrauen. »Ich habe dir gesagt, dass das nicht die Kriterien sind, nach denen ich urteile – geschäftlich.«

Cait grinste. »Hauptsache, du hast es getan. Jetzt ist der Vertrag unter Dach und Fach. Der Vorstand wird sich kringeln, und mir bringt es eine dicke Provision ein.«

»Das freut mich«, sagte Michelle. »Und außerdem haben wir uns dadurch kennengelernt. Du wirst ja öfter einmal nach Orlando kommen, um die Fortschritte zu überwachen.« Sie lächelte Cait an.

»Das glaube ich kaum«, sagte Cait und trank von ihrem Whisky. »Dafür habe ich meine Leute.«

»Na, dann vielleicht einfach privat«, sagte Michelle und blinzelte. Cait und sie waren sich in den vergangenen Wochen erheblich näher gekommen. Michelle hatte das Gefühl, endlich jemand gefunden zu haben, mit der sie sich nicht nur im Bett austauschen konnte. Cait war ihr so ähnlich. Sie hatten so viel gemeinsam. Ihr Herz hatte sich zum ersten Mal seit Jahren aus seiner Ecke hervorgewagt und zeigte Interesse. Es pochte auch jetzt wieder laut, während sie Cait ansah.

Caits durchdringend blaue Augen richteten sich auf sie. »Auch das glaube ich nicht«, sagte sie.

Michelle runzelte die Stirn. »Erwartest du, dass ich immer nach Miami komme?« fragte sie. Das war ein bisschen viel verlangt, wie sie fand. Ein wenig mehr Gegenseitigkeit hätte sie schon vorausgesetzt.

Cait lehnte sich zurück und verzog abschätzig die Mundwinkel. »Ich erwarte, dass du überhaupt nicht mehr kommst.«

»Wie?« Michelle hatte Mühe zu verstehen, worauf Cait hinauswollte.

»Du glaubst doch nicht etwa, dass das hier irgend etwas mit Sympathie zu tun hatte, oder doch?« Cait sah sie an. »So dumm kannst du nicht sein. Es war ein Geschäft. Von Anfang an.«

»Ich wiederhole, dass ich meine Entscheidungen nicht von so etwas abhängig mache«, entgegnete Michelle automatisch. Sie hatte noch gar nicht richtig erfasst, um was es ging. Vielleicht wollte sie es auch einfach nur nicht erkennen.

»Eben deshalb habe ich so getan, als ginge es nicht darum«, sagte Cait. Sie grinste diabolisch. »Und du hast es geglaubt.« Sie beugte sich vor. »Du bist doch überhaupt nicht mein Typ. Du bist viel zu widerspenstig, viel zu selbstbestimmt. Ich mag meine Frauen lieber . . .«, sie zögerte mit einem noch breiteren Grinsen, ». . . gefügig.« Sie lehnte sich zurück und musterte Michelle zufrieden. »Nimm es einfach so, wie es ist. Es war doch sicher ganz schön für dich. Du magst ja Blümchensex.« Sie schnippte mit den Fingern, und eine kleine, blonde Frau an einem der Nebentische stand auf und kam zu ihr herüber. Sie setzte sich auf Caits Schoß. »Wir gehen jetzt«, sagte Cait zu ihr. Die andere stand gehorsam auf und wartete auf Cait. »Mach’s gut, Michelle – und danke für den Auftrag.« Sie ging und klatschte der anderen so schmerzhaft auf den Po, das die zusammenzuckte. Aber sie wehrte sich nicht.

Michelle saß da und starrte auf den Punkt, an dem die beiden verschwunden waren. Das konnte ja wohl nicht wahr sein. Sie dachte, sie hätte eine Seelenverwandte gefunden, und die – sie fasste es einfach nicht. Wut stieg in ihr hoch. Wie hatte sie sich nur so hereinlegen lassen können? Sie hatte nicht nur mit Cait geschlafen, ihr nicht nur den Auftrag gegeben . . . sie hatte auch von ihr geträumt. Das hatte seit langem keine Frau mehr in ihr ausgelöst.

Sie saß eine Weile da und starrte stumm vor sich hin.

»Darf ich mich zu dir setzen?«

Michelle blickte auf. Eine junge Frau stand vor ihrem Tisch und lächelte. Eine sehr attraktive junge Frau. Nein, wollte Michelle schon sagen, aber dann überlegte sie es sich anders. »Ja, sicher, warum nicht?«

»Bist du zum ersten Mal in Miami?« Die Frau setzte sich.

»Nein«, sagte Michelle. »In letzter Zeit war ich öfter hier.«

»Michelle! Was tust du? Hör auf damit! Du tust mir weh!«

Michelle kam plötzlich wieder zu sich. Sie lag mit der Frau im Bett, die sie erst heute Abend kennengelernt hatte, alles war bis jetzt zufriedenstellend gelaufen, und auf einmal hatte sie sich ausgeklinkt. Als ob in ihrem Kopf ein Schalter umgelegt worden wäre. Sie hatte Cait mit deren Spielgefährtin gesehen, und am liebsten hätte sie sie erwürgt. Anscheinend hatte sie so etwas Ähnliches mit der Frau in ihrem Bett getan.

»Tut mir leid.« Sie rollte sich herunter. Sie sah die Frau neben sich kurz an. »Tut mir wirklich leid, ich wollte das nicht.« Sie fuhr sich erschöpft über die Augen.

»Also wenn du auf so was stehst . . .« Die Frau neben ihr stand auf und zog sich an. »So was mache ich nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte Michelle müde. »Normalerweise nicht.«

»Das beruhigt mich nicht besonders«, sagte die andere. »Selbst wenn du die Wahrheit sagst. Habe ich dich dazu angeregt, so . . . auszuflippen?« Sie schlüpfte in ihre Schuhe.

»Nein, mit dir hat das gar nichts zu tun.« Michelle sah ihr zu.

Die Frau blickte auf Michelle hinunter. »Aber mit einer gewissen Cait Williams, habe ich recht?«

Michelle musterte die Frau im Halbdunkel aufmerksam. Anscheinend hatte sie Caits Namen hervorgestoßen, während sie – Was machte es schon aus? Sie kannte sie nicht einmal. »Ja«, sagte sie. »Das muss wohl so sein.« Sie schluckte und räusperte sich. »Bitte nimm meine Entschuldigung an. Ich habe das wirklich nicht gewollt. Es tut mir entsetzlich leid.«

»Sieht aus, als ob du meinst, was du sagst«, bemerkte die andere, anscheinend wenigstens teilweise versöhnt. »Was ist mit dieser Frau? Warum hasst du sie so?«

»Ich hasse sie nicht, ich –« Michelle brach ab, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte.

Die andere fuhr sich mit einer Hand über die Kehle und lachte verwirrt. »Wenn das Liebe sein sollte, hatte ich bisher eine falsche Vorstellung davon!«

»Nein, ich –« Michelle hob eine Hand und ließ sie wieder fallen. »Ich sagte ja schon, es tut mir leid, . . . hm . . .«

»Cindy«, ergänzte die andere seufzend. »Mein Name ist Cindy.«

»Oh ja, Cindy.« Michelle verzog das Gesicht. »Entschuldige. Ist mir furchtbar peinlich.«

»Dass du meinen Namen vergessen hast oder dass du mich erwürgen wolltest?« lachte Cindy. Sie schien das Ganze nun nicht mehr so schwer zu nehmen. »Macht nichts. Das mit meinem Namen, meine ich. Das mit dem Erwürgen –«

»Oh Gott!« Michelle schlug die Hände vors Gesicht, als ob ihr erst jetzt klar würde, was sie getan hatte. Sie nahm die Hände wieder herunter. »Willst du mich anzeigen? Das könntest du.«

Die andere lächelte. »Und mich von dummen Cops angrinsen lassen, während sie sich wieder und wieder beschreiben lassen, was wir getan haben, als das passierte? Nein, danke.«

»Danke«, sagte Michelle. »Ich habe das wirklich noch nie getan, das musst du mir glauben.«

»Ich glaube dir.« Cindy lächelte auf eine Art, wie Michelle sie bisher noch nie bei einer Frau in ihrem Schlafzimmer gesehen hatte. »Ich glaube dir, weil es bis dahin sehr schön war. Du warst sehr zärtlich.« Ihre Stimme klang weich.

»Ich –« Michelle schwang sich aus dem Bett und warf sich schnell einen Kimono über. »Ich hatte nicht viel Mühe damit«, sagte sie verlegen. »Du hast . . . du bist – es lag an dir.«

»Schade, dass wir es nicht zu Ende bringen konnten.« Cindy trat auf sie zu und hauchte Michelle einen sanften Kuss auf die Nase. »Das hätte ich mir sehr schön vorgestellt.«

Etwas klang in ihrer Stimme mit, das Michelle die Stirn runzeln ließ. Ein merkwürdiger Ton, den sie nicht kannte. »Ja«, sagte sie nur. Sie war irritiert. Hätte diese Frau einfach türknallend das Zimmer verlassen, wäre es ihr angenehmer gewesen, ein sauberer Schlussstrich, aber nun stand etwas im Raum – 

»Ich geh dann«, sagte Cindy.

»Ja«, wiederholte Michelle. »Und noch mal: Es tut mir leid. Ich hoffe, du trägst mir nichts nach.«

»Höchstens eine Träne!« erwiderte Cindy lachend und verschwand.

Michelle wusste nicht, was sie davon halten sollte. Ihre One-night-stands verliefen sonst anders. Nicht nur, was dieses merkwürdige Ausflippen betraf. Auch die Frauen waren anders. Aber vielleicht lag es nur daran, dass sie in Miami war. Die Frauen in Miami. Die Frauen in Miami. Sie biss grimmig die Zähne zusammen und ging wieder ins Bett.

So früh am Morgen, dass keiner mit ihr gerechnet hatte, betrat Michelle am nächsten Tag ihr Büro in Orlando. Sie hatte den ersten Flug genommen, um das verhasste Miami zu verlassen.

»Ms. Carver, tut mir leid, ich . . .« Ihre Sekretärin stolperte völlig verwirrt hinter ihr her in ihr Büro. Michelle war an ihr vorbeigerauscht, ohne Guten Morgen zu sagen. »Ich bin noch nicht fertig mit der Post, ich meine . . . die Post ist noch gar nicht da«, entschuldigte Ms. Hawkins sich verängstigt. Sie kannte Michelles Wutausbrüche, wenn etwas nicht nach ihren Wünschen lief, nur zu gut.

Michelle hob die Hand und stellte ihren Aktenkoffer ab. »Schon gut. Ich weiß, dass ich früh bin.«

Die Sekretärin atmete erleichtert aus. Aber immer noch zeigte ihr Blick eine verunsicherte Spannung. Die Laune ihrer Chefin konnte sehr schnell umschlagen.

»Besorgen Sie mir doch ein paar Aufnahmen aus dem Park, Ms. Hawkins.« Mit einer Hand knöpfte Michelle ihre Jacke auf, während sie mit der anderen in dem aufgeschlagenen Terminkalender auf ihrem Schreibtisch blätterte. »Ich will für die nächste Werbekampagne nicht wieder diese gestellten Fotos. Am besten bringen Sie mir alle, die unsere versteckten Kameras in den letzten Tagen geschossen haben.«

»Alle?« fragte Ms. Hawkins erstaunt.

Michelle starrte sie an. »Haben Sie irgend etwas an dem Auftrag nicht verstanden?« Ihre Stimme klang scharf.

»Oh doch . . . ja . . . natürlich. Alle«, stammelte Ms. Hawkins. Sie wandte sich ab, um zu gehen oder wohl eher zu flüchten.

»Und bringen Sie mir eine Tasse Kaffee! Stark!« brüllte Michelle ihr hinterher.

»Oh Gott, die hat ja wieder eine Laune . . .«, sagte eine andere Sekretärin, die gerade aus dem Aufzug getreten war, während Ms. Hawkins fahrig zwischen Bildschirm und Tür hin und her blickte. »Wie lange willst du das noch mitmachen, Patsy?«

»Ich weiß nicht . . . ich kann nicht . . . Sie hat auch ihre guten Seiten . . .«, murmelte Patsy vor sich hin, anscheinend immer noch etwas suchend. Auf ihre Kollegin achtete sie kaum.

»Wann?« Die andere schnaubte durch die Nase. »Zwischen Mitternacht und null Uhr eins?« Sie trat auf Patsy Hawkins’ Schreibtisch zu. »Beruhige dich. Was suchst du denn?«

Patsy blickte auf. »Den Schlüssel . . . ich meine . . . die Tasse . . . ihre Tasse . . . sie trinkt nur aus einer, und die habe ich eingeschlossen, aber ich kann den Schlüssel nicht finden. Und dann – ich soll noch ein paar Bilder besorgen, und sie will einen Kaffee. Ich kann nicht alles gleichzeitig machen . . .« Tränen traten in ihre Augen.

»Setz dich«, befahl ihre Kollegin. »Kümmere dich um die Bilder. Ich mache das mit dem Kaffee.«

»Aber ihre Tasse –« Patsy war immer noch den Tränen nahe.

»Sie soll froh sein, wenn sie einen Kaffee bekommt, so, wie sie sich aufführt«, bemerkte ihre Kollegin trocken. »Ich werde ihr den Kaffee bringen, und wenn sie einen Mucks sagt, schütte ich ihn ihr ins Gesicht. Dann sieht sie, was sie davon hat.«

Patsy ließ sich erschöpft auf ihren Stuhl fallen. »Sie kann dich entlassen«, flüsterte sie.

»Wird sie schon nicht. Und wenn – mein Gott, es gibt genug andere Jobs.« Ihre Kollegin entfernte sich in Richtung Kaffeeküche. Kurz darauf kehrte sie zurück, mit einer Tasse auf einem Tablett mit Zucker und Milch.

Patsy telefonierte wegen der Bilder. »Danke, Mary Beth«, formten ihre Lippen lautlos.

Mary Beth nickte und betrat Michelles Büro. »Ihr Kaffee!« verkündete sie laut.

Michelle blickte auf. »Wo ist Ms. Hawkins?«

»Die telefoniert wegen der Bilder.« Mary Beth setzte das Tablett auf Michelles Schreibtisch ab.

Michelle starrte darauf. »Das ist nicht meine Tasse«, sagte sie irritiert.

»Ich bin auch nicht Ihre Sekretärin«, parierte Mary Beth. »Also passt es wieder.«

Michelle blickte sie überrascht an. Soviel Selbstbewusstsein hatte sie selten bei einer ihrer Angestellten erlebt. »Sie wissen schon, wer ich bin, oder?« fragte sie.

»Wer weiß das nicht? Sie sind der oberste Boss«, erwiderte Mary Beth. »Sie können mich und Patsy und uns alle feuern. Sie können ganz Disney World leerfegen, wenn Sie wollen.«

»Und trotzdem haben Sie keine Angst vor mir?« Michelle lehnte sich in ihren Chefsessel zurück, kaute an ihrem Bleistift und betrachtete Mary Beth interessiert.

»Warum sollte ich?« sagte Mary Beth. »Sie sind ein Mensch wie wir alle. Zumindest waren Sie mal einer, als Sie nackt auf die Welt kamen.«

Michelle blieb die Luft weg. Dann brach ein enormes Lachen aus ihr heraus. »Sie sind unglaublich!« prustete sie.

»Sie auch, Ms. Carver«, entgegnete Mary Beth. »Deshalb bewundere ich Sie. Aber bitte . . . Patsy hat nur ein paar Nerven. Trampeln Sie nicht so darauf herum. Sie macht ihren Job gut und tut alles für Sie.«

Michelle war sprachlos. Sie wusste nicht, ob sie schreien oder lachen sollte. Sie räusperte sich. »Möchten Sie wechseln?« fragte sie. »Ihre Nerven sind offensichtlich sehr stabil. So eine Sekretärin brauche ich.«

»Nein, danke«, sagte Mary Beth. »Ich möchte Patsy nicht den Job wegnehmen, und außerdem fühle ich mich wohl, da, wo ich jetzt bin.«

»Wo sind Sie denn?«

»Bei Mr. Marinello.«

Michelle unterdrückte ein Grinsen. »Der ist viel ruhiger als ich, da haben Sie recht«, bemerkte sie statt dessen nüchtern. Eigentlich fand sie, Steve Marinello war ein Schlappschwanz, aber er war ein nützlicher Mitarbeiter, denn er und seine Abteilung führten immer genau das aus, was Michelle ihm befahl. Er diskutierte nicht. Im Gegensatz zu seiner Sekretärin. Wahrscheinlich stand er bei ihr voll unter dem Pantoffel. »Sollten Sie es sich anders überlegen, melden Sie sich bei mir«, schloss Michelle. Sie wandte sich wieder ihren Papieren zu.

Mary Beth verließ den Raum und drehte sich noch einmal um. Geistesabwesend griff Michelle nach der Tasse und trank daraus. Wozu braucht sie eine spezielle Tasse? dachte Mary Beth kopfschüttelnd. Sie schaut doch gar nicht hin.

»Alles in Ordnung?« fragte Patsy ängstlich, als Mary Beth herauskam.

»Scheint so.« Mary Beth verschränkte die Arme und überlegte. »Ich glaube, du hast recht. Sie hat bestimmt auch ihre guten Seiten, nur zeigt sie die nicht. Vielleicht musst du ihr einfach nur öfter die Stirn bieten. Ich dachte wirklich, sie feuert mich auf der Stelle, so frech, wie ich war. Aber das hat sie nicht getan.«

»Kann noch kommen«, bemerkte Patsy furchtsam.

Mary Beth schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Das glaube ich wirklich nicht.« Sie winkte Patsy zu und nahm den Weg in ihre eigene Abteilung wieder auf.

»Ich habe die Bilder auf den Server gespielt«, verkündete Patsy ihrer Chefin kurze Zeit später. »Es sind mehrere Ordner.« Sie zog den Kopf ein, weil sie auf eine schroffe Erwiderung wartete.

»Ist gut.« Michelle sah nicht hoch.

Patsy zog ihren Kopf aus der Tür zurück.

»Ms. Hawkins?« Michelle rief ihren Namen.

Patsys Blutdruck sprang in die Höhe. Sie hatte schon gehofft, es wäre vorbei. »Ja, Ms. Carver?« fragte sie vorsichtig, während sie noch einmal um die Ecke ins Büro hineinschaute.

»Danke«, sagte Michelle.

Patsy wäre fast in Ohnmacht gefallen. »Oh . . . ja . . . bitte . . . gern geschehen«, stammelte sie hilflos. »Ist noch –?« Sie schluckte. »Kann ich noch etwas für Sie tun?«

»Besorgen Sie mir einen Lunch«, Michelle zögerte, »bitte.«

Patsy nickte und schloss die Tür hinter sich. Sie ließ sich schweratmend auf ihrem Stuhl nieder, dann wählte sie eine Nummer. Mary Beth meldete sich. »Was hast du heute morgen mit Ms. Carver gemacht?« fragte Patsy.

Mary Beth lachte. »Ich weiß nicht? Weshalb fragst du?«

»Sie hat danke gesagt.« Patsy atmete heftig. »Und dann bitte.«

»Reizend«, sagte Mary Beth. »Tut sie das sonst nicht?« Sie wartete die Antwort nicht ab. »Nein, vermutlich nicht.« Sie lachte. »Ich sagte doch, du musst ihr nur öfter die Stirn bieten, sie braucht das!«

»Eigentlich hasst sie es«, sagte Patsy leise. »Schon beim leisesten Anflug von Widerspruch geht sie in die Luft. Ich habe noch nie erlebt, dass sie gut auf jemand zu sprechen war, der ihr nicht gehorcht hat.«

»Meinst du, sie treibt es in Leder?« Mary Beth flüsterte.

»Mary Beth!« Patsy wurde rot. »So was sagt man doch nicht!«

»Hast du dir noch nie Gedanken darüber gemacht?« fragte Mary Beth, jetzt wieder in normaler Lautstärke. »Ich meine, es liegt doch nahe, oder nicht? Vielleicht ist sie frisch verliebt in eines ihrer Schoßhündchen und deshalb sanfter.«

»Heute morgen sah das nicht so aus. Im Gegenteil.« Patsy schauderte.

»Ich kann mir auch niemand vorstellen, in den sie verliebt sein könnte – oder der sie lieben könnte«, sagte Mary Beth. »Das ist wahrscheinlich ihre Tragödie. Toller Job, aber zu Hause ein kaltes Bett.«

»Oh Gott!« Patsy fühlte, wie das Rot in ihrem Gesicht noch mehr brannte. »Hör auf damit. Doch nicht übers Telefon!«

»Du hast recht. Sie könnte mithören«, lachte Mary Beth. »Treffen wir uns heute Abend zur Happy Hour unten in der Bar, da können wir tratschen.«

»Bis dann.« Patsy legte auf.

Am späten Nachmittag lehnte Michelle sich erschöpft in ihren Sessel zurück. Sie sehnte sich nach jemandem, mit dem sie reden konnte. Reden. Das, was dem am nächsten kam, war wohl die Auseinandersetzung mit Marinellos Sekretärin heute morgen. Sie musste lachen. Sie war immer noch perplex über diese Frau. Sie konnte sich nicht vorstellen, woher sie den Mut genommen hatte, ihr, Michelle Carver, dem obersten Boss von Disney World, zu widersprechen. Aber sie konnte es sich schon vorstellen, wenn sie darüber nachdachte. Wahrscheinlich war sie verheiratet, ging nach Hause zu einem Mann, der sie liebte und der ihr Sicherheit gab. Der sie in dem bestätigte, was sie tat, und unterstützte. Der mit ihr redete . . .

Michelle fühlte ein Brennen in ihre Augen steigen. Sie wusste schon lange nicht mehr, was Weinen war. Sie hatte es sich abgewöhnt wie vieles andere, das allzu menschlich ihre Karriere und damit ihr Leben hätte gefährden können. Aber manchmal wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Es war vorteilhaft in Geschäftsbeziehungen – wer wollte die Chefin eines Riesenunternehmens in einer Besprechung weinen sehen? –, aber es war ein Verlust auf privatem Gebiet, das war Michelle wohl bewusst.

Sie überlegte, jemanden anzurufen. Eine der Frauen, die sie kannte und die sich glücklich schätzen würden, ihr zu Diensten zu sein. Es gab genug davon. Sekretärinnen, Managerinnen, eine Nachrichtensprecherin – die sie für einen Moment ernsthaft in Betracht zog. Ja, Candice vielleicht. Eventuell würde sie ihr zuhören. Sie hatte das Telefon schon in der Hand. Nein. Sie legte wieder auf. Was sie brauchte, war eine Freundin, keine Sexpartnerin. Und das eben war das Problem. Eine Freundin. Nicht nur eine fürs Bett. Eine, die auch zuhören würde, wenn es ihr schlecht ging. Eine, die sie in den Arm nehmen würde, ohne mit ihr schlafen zu wollen. So etwas hatte sie nicht. Noch nie gehabt. Sie war immer einsam gewesen. Einsam und allein. Sie hätte jeden Tag eine andere Frau in ihrem Bett haben können – in der Tat hatte sie das auch einige Zeit gehabt –, aber nicht eine dieser Frauen würde sie trösten. Keine würde ihr übers Haar streichen und zärtlich flüstern: »Es ist alles in Ordnung. Sei ganz ruhig.«

Hatte sie das vermisst? Hatte sie nicht immer behauptet, sie brauche so etwas nicht? Ja, das hatte sie. Eine Frau muss für sich selbst sorgen können, war ihr Credo. Eine Frau muss autonom sein, unabhängig. Geld war das beste Mittel dazu. Eine Karriere, die ihr einen Job einbrachte, der Millionen wert war. Und den hatte sie nun. Geld, Karriere, Macht. Aber ein leeres Haus. Ein leeres Herz. Damit hatte sie nicht gerechnet.

Das erste Mal seit Jahren hatte ihr Herz einen kleinen Sprung gemacht, als sie Cait Williams sah. Sie wusste, sie war ihr ähnlich. Nicht äußerlich, aber innerlich. Sie hatte dieselben Probleme, einen Menschen zu finden, dem sie vertrauen konnte, in ihrer Position. Und Michelle hatte gehofft, dass sie darüber miteinander reden könnten. Dass sie endlich jemand gefunden hatte, der genauso empfand wie sie. Dass eine Freundschaft möglich war. Und dann hatte Cait sie dermaßen vor den Kopf gestoßen.

»Michelle? . . . Ähm, Entschuldigung. Ms. Carver.«

Michelle drehte sich um. Sie hatte sich seit langem einmal wieder einen Spaziergang durch den Park von Disney World gegönnt. Sie hielt es in ihrem Büro einfach nicht mehr aus. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume und konzentrierten sich nur auf eines. Sie hatte gehofft, ein Spaziergang würde sie endlich davon abbringen.

Das Gesicht der Frau, die sie etwas konsterniert anstarrte, kam ihr irgendwie bekannt vor. Hatte sie sie eingestellt? Nein, sie konnte sich nicht erinnern. »Ja?« fragte sie. Und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. »Cindy?«

»Du kennst meinen Namen noch?« fragte Cindy leicht lächelnd. Dann wurde sie ernst. »Entschuldige, ich bin schon wieder ins Fettnäpfchen getreten. Es wundert mich, dass Sie noch wissen, wer ich bin, Ms. Carver. Ich wollte nur . . . ich meine, damals in Miami wusste ich nicht, wer Sie sind, und . . . also jetzt habe ich einen Job hier . . . und da habe ich es erfahren . . . ich –«

Michelle hob die Hand. »Michelle reicht«, sagte sie. »Du musst nicht . . . du hast einen Job hier?«

»Ja, seit ein paar Tagen.« Cindy blickte sie besorgt an. »Wie geht es dir? Bist du krank? Du siehst nicht gut aus.«

»Danke«, sagte Michelle trocken. »Du hast mich bisher nur in abgedunkelten Räumen gesehen, das schmeichelt.«

»Oh nein, so meinte ich es nicht!« Cindy lächelte. »Du arbeitest bestimmt zuviel. Ich habe gehört, dass du dein Büro kaum je verlässt. Deshalb war ich so überrascht, dich jetzt hier zu sehen.«

»Ja, ich arbeite viel«, sagte Michelle. »Als was bist du eingestellt worden?«

»Oh, nur ein Ferienjob hier im International Information Center. Du weißt ja, ich bin Studentin.«

Michelle erinnerte sich lediglich dunkel, aber sie nickte. »Also dann«, sagte sie. »Viel Spaß.« Sie ging weiter.

Cindy kam ihr hinterher. »Michelle?«

Was wollte sie denn noch? Michelle drehte sich leicht genervt um. »Was?«

»Ich weiß, du bist der oberste Boss und so, aber ich finde, du siehst aus, als könntest du ein paar Vitamine vertragen, und ich habe gerade Mittagspause. Darf ich dich zu einem frisch gepressten Orangensaft einladen oder so was?«

Michelle verzog die Mundwinkel. »Du mich?«

Cindy hob entschuldigend die Hände. »Okay, dumme Idee. Eigentlich gehört dir hier ja alles.«

»Nicht wirklich«, sagte Michelle. Sie fand Cindys Aufdringlichkeit zwar einerseits nervig, aber andererseits – sie hatte so wenig Aufmerksamkeit in letzter Zeit, privat so gut wie keine. »Ich wollte eigentlich etwas essen, aber ich habe sowieso keine Zeit mehr.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ein Saft ist vielleicht keine so schlechte Idee.«

»Du solltest auch etwas essen, du bist zu dünn.« Cindy biss sich auf die Zunge.

Aber es war zu spät. »Erst sehe ich nicht gut aus, jetzt bin ich zu dünn – hast du noch mehr Komplimente für mich?« Michelle war sauer. Was war nur mit den Leuten los? Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie bis vor einiger Zeit je soviel Ärger dieser Art in so kurzem Abstand gehabt hatte. So viel Widerspruchsgeist. Diese Sekretärin, Cindy, Cait . . . Cait. Ihre Kiefer mahlten. Schon allein der Name jagte sie in Richtung eines Wutausbruchs. »Ich muss zurück ins Büro«, sagte sie kurzangebunden und drehte sich um.

Cindy blickte ihr mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck hinterher.

Michelle kehrte ins Büro zurück. Ihre Sekretärin war noch in der Mittagspause. Das war Michelle nur recht. Sie setzte sich an ihren Bildschirm und begann eine E-Mail zu schreiben. Es dauerte etwas länger, als sie erwartet hatte.

Plötzlich hörte sie ein Hüsteln an der Tür. Sie hatte die Bürotür nicht geschlossen, das tat normalerweise Ms. Hawkins. Michelle sah auf. Ihr Blick verdunkelte sich. »Was willst du?«

Cindy trat auf sie zu und stellte einen Becher mit Orangensaft vor sie auf den Tisch. »Ich war nicht sicher, ob deine Sekretärin das für dich tut, also . . .« Sie sah Michelle an.

Michelle verzog abschätzig die Mundwinkel. »Hast du Angst um deinen Job? Keine Sorge, ich feuere dich schon nicht.«

Cindy stand da, beobachtete sie und überlegte, was sie sagen sollte. Es war seltsam. Schon das erste Mal, als sie Michelle damals in diesem Restaurant in Miami sah, hatte sie sich zu ihr hingezogen gefühlt. Sie wusste nicht, warum. Als sie sie ansprach, hatte Michelles Charme sie beinahe umgehauen. Sie war eine außergewöhnliche Frau. Nicht sehr warmherzig, das hatte Cindy gleich gemerkt, aber das war ihr an jenem Abend auch nicht so wahnsinnig wichtig gewesen. Sie hatte nur ein wenig Gesellschaft gesucht für die Nacht. Da es Michelle ebenso zu gehen schien, war das Ende absehbar gewesen. Der Vorfall im Hotelzimmer hätte sie eigentlich davon überzeugen sollen, dass Michelle ein Fehlgriff gewesen war. Merkwürdigerweise tat er das nicht. Cindy wäre trotz der Vorkommnisse am liebsten geblieben. Sie war überrascht von diesem Gefühl und floh deshalb um so schneller. Habe ich bisher aus irgendeinem Grunde nicht mitbekommen, dass ich masochistisch veranlagt bin? fragte sie sich noch auf dem Weg nach Hause. Aber dann verblasste die ganze Geschichte, es gab andere Dinge, um die sie sich kümmern musste.

Bis heute, als sie Michelle so völlig unerwartet im Park wiedersah. Erneut war sie überrascht von den Gefühlen, die bei Michelles Anblick in ihr hochkamen. Sie hatte gedacht, das wäre vorbei. Zumal, da sie bei der Einführung zu ihrem Job hier erfahren hatte, wer Michelle war. Michelles Nachnamen hatte sie nicht gekannt, aber es gab eine Tafel mit den Bildern des Vorstands. Für einen Augenblick hatte sie überlegt, den Job nicht anzutreten. Aber dann erschien es ihr allzu unwahrscheinlich, dass Michelle und sie sich auf dem riesigen Areal je begegnen würden. Und nun war es doch geschehen. Ihr war fast das Herz stehengeblieben.

Sie hätte Michelle vorbeigehen lassen können, sie schien dermaßen in Gedanken versunken, dass sie nichts um sich wahrnahm. Aber irgend etwas öffnete ihren Mund, fast gegen ihren Willen, und ließ Michelles Namen entschlüpfen. Michelles Reaktion kam kaum überraschend. Sie hatte ja schon damals im Hotelzimmer Cindys Namen nicht mehr gewusst. Cindy hatte mittlerweile von Michelles Wutausbrüchen gehört – das erklärte auch die Sache im Hotelzimmer – und sich gewundert, dass Michelle so ruhig blieb, obwohl Cindy in Michelles Augen offensichtlich von einem Fettnäpfchen ins nächste stolperte. Doch dann war sie anscheinend in eines getreten, von dem sie nichts wusste. Von einer Sekunde zur anderen verschloss sich Michelles Gesicht, und sie ließ Cindy stehen.

Cindy hatte nicht das Gefühl, dass es etwas mit ihr zu tun hatte, also nahm sie ihren ursprünglichen Plan wieder auf und ergriff die Gelegenheit beim Schopf, gleich auch noch Michelles Büro kennenzulernen. Sie blickte durch die verglaste Front auf das bunte Treiben in Disney World. Michelle schien das jedoch nicht zu interessieren. Sie saß mit dem Rücken zum Fenster. Und sie war unfreundlich wie immer. Na ja, nicht ganz immer. Am Anfang im Restaurant und auch im Hotelzimmer war sie eigentlich – anders gewesen . . . zärtlich, süß auf eine unglaublich anziehende Art. Sie ließ sich streicheln und küssen und schmiegte sich an wie ein scheues Reh. – Etwas, von dem sie jetzt weit entfernt war.

»Ich habe keine Angst um meinen Job«, sagte Cindy. »So wichtig ist der nicht.«

»Jobs scheinen in letzter Zeit für niemand mehr wichtig zu sein«, murmelte Michelle, ohne sie anzusehen. Sie starrte auf ihren Bildschirm.

»Ich hätte dir auch etwas zu essen mitgebracht, aber ich weiß nicht, was du magst.«

»Wie?« Michelle sah auf. Sie hatte ihr gar nicht zugehört.

»Ich hätte dir etwas zu essen mitgebracht, wenn ich gewusst hätte, was du gern isst«, wiederholte Cindy.

Michelle setzte zu einer Erwiderung an, da öffneten sich die Lifttüren, und Patsy kam eilig heraus. Sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie Michelles offene Tür und Michelle dahinter am Schreibtisch sitzen sah. Sie lief rot an. »Oh . . . Ms. Carver . . . Sie sind schon zurück. Es tut mir leid, ich –« Ihre Augen huschten ängstlich zur Uhr. Es war eine Minute nach halb. Eine Minute zu spät.

Michelle blickte ebenfalls auf die Uhr, dann wandte sie sich an Cindy. »Ist deine Mittagspause nicht auch zu Ende?«

Cindy lächelte leise. »Ein weiterer Grund, mich zu feuern«, sagte sie.

Michelle stand auf. »Du machst es mir nicht leicht«, sagte sie genervt. Leiser, damit Patsy sie nicht hören konnte, fügte sie hinzu: »Und jetzt verschwinde, sonst fliegst du wirklich.«

Cindy drehte sich um und ging zum Lift. Hinter sich hörte sie Patsy stammeln: »Ms. Carver, es tut mir leid, dass ich zu spät bin, ich musste zum Zahnarzt . . .« und Michelles barsche Erwiderung: »Geben Sie mir die Unterlagen für die Sitzung heute Nachmittag, Ms. Hawkins, und hören Sie endlich auf zu jammern!«

Cindy trat in den Lift. Sie ist nicht nett. Sie ist wirklich nicht nett, seufzte sie innerlich. Warum denke ich nur darüber nach, wie ich es dahin bringen könnte, sie wiederzusehen? Ich muss definitiv verrückt sein.

»Hey! . . . Das Terminal hier funktioniert nicht!« Ein für den Service eingeteilter Mitarbeiter geriet halb in Panik und hieb verzweifelt auf einem Bildschirm herum.

Cindys Kollege Clark blickte auf. »Die Technik schon wieder. Da ist doch immer was.« Er schaute auf sein eigenes Terminal. »Das hier funktioniert auch nicht mehr. Na, das gibt ja einen Spaß mit den Reservierungen! Die Besucher werden uns die Bude einrennen mit ihren Beschwerden.«

Cindy kam herüber. »Geht das denn nur über die Terminals mit den Reservierungen?«

Clark seufzte. »Leider ja. Seit neuestem. Seit diese verdammte Truppe aus Miami den ganzen Krempel umgestellt hat. Ich habe ja gleich gesagt, das funktioniert nicht.«

»Es muss doch jemand hier sein, der das reparieren kann«, sagte Cindy. »Die müssen nicht erst von Miami rüberfliegen, oder?«

»Nein, da ist schon jemand. Die Nummer liegt dahinten in der Notfallmappe«, sagte Clark.

Cindy ging hinüber und schlug die Mappe auf. Sie wählte die Nummer. Als sich der Mitarbeiter meldete, schilderte sie das Problem.

»Moment.« Sie hörte das Klackern einer Tastatur. »Ah ja, ich seh’ schon. Das Stromnetz. Es schwankt. Und das hat uns ein paar Verbindungen lahmgelegt.«

»Können Sie das reparieren? Möglichst schnell?« fragte Cindy. »Wir sind hier im Infozentrum ziemlich auf die Terminals angewiesen. Wenn die Kunden Wünsche haben . . .«

»Ja, natürlich. Ich kümmere mich darum«, sagte der Mitarbeiter.

»Heute noch?« fragte Cindy misstrauisch.

»Selbstverständlich heute noch.« Der Mitarbeiter lachte. »Sonst reißt mir Ms. Williams den Arsch auf!«

»Ms. Williams?« In Cindy klingelte etwas.

»Die Vizepräsidentin in Miami. Sie ist für den ganzen Kram zuständig.«

»Ca. . .« Cindy versuchte sich zu erinnern. »Cait . . . Cait Williams? Ist das der Name?«

»Ja, klar.« Sie hörte wieder das Klackern. »Wird nicht lange dauern. In ein paar Minuten haben Sie wieder Strom, und das System fährt hoch.«

»Danke.« Cindy legte nachdenklich auf. Cait Williams. Unwillkürlich fuhr sie sich an die Kehle, als sie sich daran erinnerte, dass Michelle diesen Namen zwischen den Zähnen hervorgepresst hatte, während sie sie damals im Hotelzimmer würgte. Cait Williams . . . Miami . . . Michelle . . . die haben das installiert – alles passte zusammen. Das musste sie sein.

Als die Bildschirme aufflammten und alles wieder funktionierte, nutzte Cindy eine ruhige Minute für die Recherche im Internet. Cait Williams. Da war sie. Nicht schwer zu finden. So jung und schon Vizepräsidentin der Gesellschaft. Sie musste die Personifizierung einer Karrierefrau sein. Nichts anderes im Sinn als Kohle scheffeln, seit sie aus den Windeln gestiegen war. Sie betrachtete das beigefügte Bild. Ein hartes, kantiges Gesicht, kein Gefühl in den blauen Augen, kein Mitleid.

Sie dachte an Michelle. Sie war ebenfalls eine Karrierefrau und kaum älter als Cait. Und wenn Cindy sich daran erinnerte, wie sie ihre arme Sekretärin behandelt hatte . . . Mitgefühl stand bei Michelle sicherlich auch nicht an oberster Stelle im Wörterbuch. Dennoch . . . sie war klein und zart . . . eine Frau, die man gern in den Arm nehmen und beschützen wollte. – Wenn sie es denn zuließ.

Cindy lachte in sich hinein. Michelle würde es zulassen, wenn sie es nur richtig anfasste, davon war Cindy überzeugt. Es war sicherlich nicht einfach, doch . . . eine Herausforderung. Sie blickte noch einmal in die kalten blauen Augen auf dem Bildschirm. Was hatte Michelle nur von dieser Cait Williams gewollt? Der sah man doch an, dass Gefühle ein Fremdwort für sie waren. Michelle war nicht dumm, sie hätte es wissen müssen. Wie konnte Cait Williams sie dann trotzdem so verletzt haben? Cindy schüttelte den Kopf. Zwei Karrierefrauen auf dem Kriegspfad – sie konnte nur hoffen, dass Michelle darüber hinwegkam und die Gefühle, die sie offensichtlich an Cait Williams verschwendet hatte, in etwas Sinnvolleres investierte. Cindy lächelte. Sie hatte schon eine Idee, in was.

»Wollen Sie damit etwa sagen, die weigern sich, uns das Terrain zu verkaufen, und wir können nichts dagegen tun?« Michelles Augen sprühten Blitze. Sie saß am obersten Ende des Konferenztisches und blickte durch die Runde. Auf einem der Teilnehmer blieb ihr Blick hängen. »Steve?« fragte sie scharf.

Steve Marinello schien noch tiefer in den schwarzen Sitzungssessel zu versinken. »Wir haben alles versucht, Michelle, sie wollen einfach nicht. Die Gesetzeslage –«

Michelle unterbrach ihn schnaubend. »Wen interessiert die Gesetzeslage? Wir brauchen dieses Areal, wenn wir den neuen Themenpark einrichten wollen. Also sorgen Sie dafür, dass wir das Land bekommen. Erschießen Sie den Besitzer, wenn es sein muss. Wie in den guten alten Eisenbahnzeiten.«

Steve Marinello schluckte. »Das würde aber eventuell noch mehr Probleme heraufbeschwören«, wagte er einzuwenden.

Michelle lächelte ihn geringschätzig an. »Wenn Sie glauben, ich habe das ernst gemeint, sollte man eigentlich Sie erschießen, Steve. Geld ist erheblich mächtiger als jede Kugel. Bieten Sie ihm das Doppelte – oder finden Sie etwas heraus, das ihm die Entscheidung erleichtert.«

»Mit Erpressung haben wir es auch schon versucht«, sagte Steve eingeschüchtert, »aber es wirkt nicht. Er hat nicht viel zu verbergen, und es ist ihm egal.«

»Es muss doch irgend etwas geben, das er haben will . . . etwas, das ihm mehr wert ist als dieses Land. Sie können mir nicht erzählen, dass es das nicht gibt!« Michelle tobte innerlich noch mehr, als sie es nach außen hin zeigte. Diese Versager! Kein Mumm in den Knochen! Da saßen sie, Männlein wie Weiblein, in ihren schnieken Business-Anzügen und -Kostümen, und starrten sie an wie ein Haufen Dreijähriger im Kindergarten, die darauf warteten, dass die Erwachsenen das Programm bestimmten. Der Vorstand eines Unternehmens, das mehr Umsatz machte, als sich die meisten Leute in ihren kühnsten Träumen auch nur vorstellen konnten. Eine Zahl mit soviel Nullen, das einem schwindlig davon wurde. Und sie, Michelle, war dafür verantwortlich, dass diese Zahl keine einzige Null am Ende verlor, dass eventuell sogar noch welche hinzukamen. Wenn Sie das nicht tat, würden die Aktionäre sie rösten. Aber wie konnte sie etwas erreichen mit einem Haufen Schlappschwänze wie diesen hier? »Ich werde mich selbst darum kümmern«, sagte sie und stand auf. »Die Sitzung ist beendet.«

Sie verließ den Raum, und ihre Gedanken überschlugen sich. Ohne die Erweiterung würde der Umsatz stagnieren oder gar zurückgehen. Die Besucher verlangten immer etwas Neues, auch wenn Disney World schon so viel bot. Das war ja wieder ein schöner Schlamassel! Die Bauten waren bereits geplant, die Verträge geschlossen, die Bagger standen praktisch schon vor der Tür. Sie hatte nicht im entferntesten damit gerechnet, dass ein kleines Stückchen Land in der Mitte des neu geplanten Parks nicht den Besitzer wechseln wollte. Die Disney-Gruppe war viel zu mächtig, als dass sich ihr normalerweise jemand entgegenstellte. Und sie zahlten ja auch gut. Das überzeugte eigentlich jeden. Bis auf diese Familie mit ihrer Wild-West-Mentalität. Mein Land ist mein Land, das gebe ich nicht her. Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie man an etwas so hängen konnte. Es war doch nur Land, dreckiges, schmutziges Land. Sie seufzte. Die hatten wahrscheinlich zu viele Cowboy-Filme gesehen, wo der Farmer mit dem Gewehr in der Hand seine Hütte verteidigte. Oder sie waren zu oft in Disney World gewesen und hielten das für die Realität. Michelle konnte so etwas nicht verstehen. Es war alles nur ein Geschäft. Ein Geschäft mit Träumen . . . aber nicht mit ihren . . . sie hatte keine . . . jedenfalls keine, die nicht mit Geld zu erfüllen waren.

Sie erreichte ihr Büro und sah die furchtsame Ms. Hawkins ihr entgegenblicken. Michelle musste ihr vorkommen wie eine Dampfwalze, die sie gleich überrollen würde. Ihre Absätze schlugen einen harten Takt auf dem Boden. Sie wollte sie schon anfauchen, da hatte sie auf einmal wieder die Worte von Steve Marinellos frecher Sekretärin im Ohr: »Sie tut alles für Sie.« Ein merkwürdiges Gefühl ergriff Michelle. Mit ungewohnter Sanftheit sprach sie Patsy an. »Holen Sie mir doch bitte noch einmal die vollständigen Pläne für die Erweiterung, Ms. Hawkins. Ich habe nur die verkleinerten Kopien.«

»Ja. Ja, natürlich, Ms. Carver!« Patsy sprang auf.

Michelle ging weiter in ihr Büro. Der ganze Tag war praktisch für die Katz nach dieser Sitzung. Gab es überhaupt noch einen Menschen außer ihr, der etwas leistete in diesem Land? Sie seufzte. Wenn du willst, dass etwas richtig gemacht wird, musst du es selbst tun, kam ihr in den Sinn. Sie hatte gedacht, diesmal könnte sie sich das sparen. War es nicht einfach genug, ein Stück Land zu kaufen? Anscheinend nicht.

Sie ging zu ihrem Schreibtisch, um nach ihren E-Mails zu sehen. Diejenigen, die jetzt auf eine Antwort von ihr warteten, hatten einen schlechten Zeitpunkt gewählt.

»Ach, du liebe Güte . . . ach, du liebe Güte!« Patsy jammerte in höchsten Tönen, während ihre Hände wild durch die Luft flatterten – den Papieren hinterher, die auf dem Boden lagen oder sich gerade noch langsam darauf verteilten. Sie ging in die Knie und versuchte die Blätter aufzuheben, die sich ihr mit unhandlichem Format entgegenstellten.

Cindy kam hinter dem Schalter hervor. »Ms. Hawkins . . . Sie Arme. Sind Sie gestolpert?«

»Ja . . . irgend so etwas . . . da war so ein Ding –«

Cindy schaute hinunter. Da lag tatsächlich ein Kabel quer über dem Weg. »So eine Gedankenlosigkeit von dem Handwerker!« fluchte sie. »Sie hätten sich den Hals brechen können!«

»Ja . . . nein . . . so schlimm ist das nicht. Aber die Papiere . . .« Sie blickte ängstlich auf das Durcheinander, das sich immer noch zwischen ihren Armen und dem Boden aufteilte. »Ms. Carver wollte sie sofort, und sie sind dreckig. Eins ist sogar zerrissen. Ich muss zurückgehen und schauen, ob sie noch Kopien haben . . . und sie wartet darauf.«

»Ms. Carver wird nicht umkommen, während sie wartet«, sagte Cindy schmunzelnd. »Ich spreche mit ihr.«

»Sie . . . Würden Sie das tun?« Patsy sah sie ungläubig an. »Sie wird Sie feuern. Und Sie haben doch gar nichts damit zu tun«, stammelte sie hilflos.