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Wenn aus Rivalität Liebe wird ... Ein humorvoller Roman voller nordischer Leichtigkeit, turbulenter Begegnungen und herzerwärmender Momente
Für Kleintierärztin Lea könnte es kaum schlimmer laufen: Job verloren, Freund weg - und das alles auf einmal. Eine Auszeit muss her. Da passt die Bitte ihres Opas, ihn in seiner Praxis an der Nordsee zu unterstützen, perfekt. Zurück in ihrer Heimat Krummhörn findet Lea das idyllische Leben wieder, das sie einst so liebte: freundliche Menschen, klare Seeluft und eine beruhigende Bodenständigkeit. Doch nicht alles ist so harmonisch, wie es scheint - vor allem nicht mit Großtierarzt Bajo, der gemeinsam mit ihrem Opa die Praxis führt und Lea mit seiner Sturheit regelmäßig den letzten Nerv raubt ...
Ein Roman wie eine frische Meeresbrise - aufschlagen und durchatmen!
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Seitenzahl: 488
Veröffentlichungsjahr: 2025
Wenn aus Rivalität Liebe wird ... Ein humorvoller Roman voller nordischer Leichtigkeit, turbulenter Begegnungen und herzerwärmender Momente Für Kleintierärztin Lea könnte es kaum schlimmer laufen: Job verloren, Freund weg – und das alles auf einmal. Eine Auszeit muss her. Da passt die Bitte ihres Opas, ihn in seiner Praxis an der Nordsee zu unterstützen, perfekt. Zurück in ihrer Heimat Krummhörn findet Lea das idyllische Leben wieder, das sie einst so liebte: freundliche Menschen, klare Seeluft und eine beruhigende Bodenständigkeit. Doch nicht alles ist so harmonisch, wie es scheint – vor allem nicht mit Großtierarzt Bajo, der gemeinsam mit ihrem Opa die Praxis führt und Lea mit seiner Sturheit regelmäßig den letzten Nerv raubt … Ein Roman wie eine frische Meeresbrise – aufschlagen und durchatmen!
Umgeben von Natur und Tieren wuchs Marieke Hansen in einem kleinen Dorf im Oberbergischen Land auf. Nach einem Studium der Umweltwissenschaften begann sie, sich für Wildtiere einzusetzen. Heute ist sie in der Wildtierrettung tätig und kümmert sich um verwaiste Jungtiere. Als Expertin hat sie mehrfach Radio-Interviews gegeben und vor Fernsehkameras gestanden. Ihre Liebe zum Meer entstand durch zahlreiche Urlaube in ihrer Kindheit – nun lebt sie selbst nahe der Küste und ist vertraut mit Wind und Wellen. In ihrem ersten Roman vereint Marieke Hansen ihre Erfahrung mit wilden Tieren mit ihrer Passion für das Meer.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany.
Copyright © 2025 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Anne Schünemann, Schönberg
Foto »zum Schluss«: © Marieke Hansen
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
Umschlagmotiv: © Willfried Wende/Pixabay; © Patryk Kosmider/iStock/Getty Images Plus; © Hemera Technologies/PHOTOS.com>>/Getty Images Plus; © Mrs-Wilkins/iStock/Getty Images Plus
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-7465-9
luebbe.de
lesejury.de
Für das kleine Mädchen, das vor fünfunddreißig Jahren auf einer Schaukel saß und sich nicht nach Hause traute. Das sich damals schwor, Tieren mit allen Mitteln und gegen jede Herausforderung zu helfen. Und das dieses Versprechen eingelöst hat.
Sonntag, der 03. Mai
Die letzten Sonnenstrahlen kitzelten Leas Gesicht, als sie ihre Schuhe auszog, um sie direkt vor ein Büschel Strandhafer zu legen. Es war nicht weit bis zur Wasserkante, die sich heute nur träge vor- und zurückbewegte. Ein milder Wind wehte, und überhaupt war es für ostfriesische Verhältnisse friedlich. Selbst die Möwen fehlten, und die wenigen Besucher in den Strandkörben lasen oder schauten dem glühenden Sonnenball zu, der gerade hinter dem Horizont versank.
Der Sand fühlte sich warm zwischen Leas Zehen an und war so weich, dass sie die feinen Körnchen kaum spürte. Eine leichte Brise kam auf, die ihr erhitztes Gesicht kühlte. Die Fahrt von München war anstrengend gewesen.
»Na, wie gefällt dir die Nordsee?«, fragte sie ihren Border Collie Peanut, der neugierig das glitzernde Wasser betrachtete. Es war das erste Mal, dass der Rüde den Strand besuchte und das erste Mal, dass Lea ihn mit in ihre Heimat nahm. Sein seidiges Fell schimmerte mit dem Sand um die Wette, und auf seiner Nase klebten einzelne Körner, weil er sie immer wieder senkte, um am Boden zu schnuppern. Er nieste und schaute überrascht drein.
Lea seufzte. »Wie schön es hier doch ist!«, raunte sie verträumt. »Und dieses Farbenspiel.« Sie war viel zu lange nicht mehr hier gewesen, sechzehn Monate, um genau zu sein, aber jetzt würde sie ihre Heimat ganze sechs Wochen lang genießen können – solange, bis ihre Großeltern von der Kreuzfahrt zurückkamen und Opa Enno seine Tierarztpraxis am Riedenschloot wieder übernehmen würde, die sie in der Zwischenzeit für ihn leitete. Sie streckte sich, um die Müdigkeit der langen Autofahrt von sich abzuschütteln. Es war nicht so, dass sie sich in München unwohl gefühlt hatte – zumindest, bis Konstantin ihr fremdgegangen war und sie zeitgleich ihren Job verloren hatte –, aber es war kein Vergleich zum freien Lebensgefühl in Ostfriesland. Das platte Land, über dem der Wind so oft die grauen Wolken vorantrieb und an Bäumen und Schafen zerrte. Wo unnachgiebiger Regen durch jede Faser der Kleidung drang und Gummistiefel oft das beste Schuhwerk waren.
Aber heute war nichts davon zu spüren. Das dunkle Meer war glatt und warf nur winzige Wellen an den Strand, der wolkenlose Himmel strahlte eine Gelassenheit aus, die Sehnsucht nach Geborgenheit in Lea weckte. Sie spürte diese Verbundenheit mit ihrer Heimat, die sie in München nie gehabt hatte. Ja, München, ganz Süddeutschland, war schön mit seinen zuckersüßen Fachwerkhäuschen, den Dorfkirchen und den sagenhaften Bergpanoramen. Aber Norddeutschlands raue, ungestüme Natur, die herzlichen Menschen und diese endlose Weite, das war etwas ganz Besonderes. »Das Küstenkind in dir wirst du nie los – und wenn du an den Amazonas ziehst«, pflegte Opa Enno zu sagen.
Ihr Handy klingelte, und sie hielt es ein Stück vom Ohr entfernt, als ihre Schwester Merle laut quietschte: »Mensch, Lea, wo bleibst du?«
»Ich bin noch kurz am Meer. Ich komme gleich.« Sie erreichte das Wasser, hielt probeweise ihren Zeh hinein, rief »Brrr!«, und Merle riet: »Bist du gerade ins Wasser gelatscht?«
»Ja«, gab Lea zu. »Ist kälter als gedacht, aber gleichzeitig auch erfrischend.« Sie seufzte und betrachtete die einzelnen Muscheln, die um sie herum lagen, die meisten davon kleiner als ein Fingernagel.
»Na gut, aber lass dir nicht zu viel Zeit«, mischte sich Jannas deutlich ruhigere Stimme ein. »Wir sitzen alle auf glühenden Kohlen. Mama hat den Salat schon mindestens ein halbes Dutzend Mal umgerührt.«
Janna war ihre andere Schwester, das mittlere Kind und mit ihren zweiundzwanzig Jahren deutlich näher an der neunzehnjährigen Merle als an Lea, die gerade siebenundzwanzig geworden war. Ihr Vater neckte Lea gern indem er behauptete: »Du hast als Kind so viele Fragen gestellt, dass wir sieben Jahre gebraucht haben, bis wir eine Minute Zeit fanden, um ein weiteres Kind zu zeugen.«
Merle legte auf, und Lea wagte einen zweiten Schritt ins Wasser. Jetzt sah Peanut sie schräg an und hob mutig seine Pfote. Plötzlich gab es einen Ruck an der Leine, als er erschrocken zurücksprang. Lea lachte und hockte sich hin, um ihren Border Collie zu streicheln. »Keine Sorge, das Wasser tut dir nichts.«
Peanut kräuselte skeptisch die Nase, aber wagte sich wieder an die nächste Welle heran, die sanft an den Strand rollte. Dieses Mal war er vorsichtiger, wartete, bis sie schäumte und roch dann am nassen Sand. »Wuff«, machte er, drückte seinen Oberkörper nach unten und den Hintern nach oben, als versuchte er sich an einer Yoga-Pose.
»Genau, dat dürst du driest doon«, ermutigte Lea ihn. In der Ferne entdeckte sie einen einsamen Krabbenkutter, die Baumkurren, an denen die Fangnetze mit ihren Rollen seitlich in das Wasser gelassen werden konnten, waren unverkennbar. Er trieb so langsam und bedächtig, als wäre er das einzige Schiff in dieser endlosen See. Die Szene wirkte wie ein Gemälde, das von der Zeit vergessen worden war, und sie konnte sich nicht daran erinnern, wie lange es her war, dass sie so etwas Schönes gesehen hatte. Nichts kam an das Schillern der Nordsee an einem Sonnentag heran! Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und ein warmes Gefühl der Geborgenheit breitete sich in ihr aus. »Weißt du was? Ich glaube wir werden uns hier sehr wohl fühlen«, sagte sie zu Peanut, der immer noch in seiner Yoga-Pose verharrte.
Sie atmete tief ein, nahm den Geruch von salziger Seeluft, Seetang und Watt in sich auf, hörte dem Rauschen des Meeres zu, das Tausende Geschichten gleichzeitig zu flüstern schien. Seit sie das Studium beendet und die Stelle in der Tierarztpraxis am Viktualienmarkt angenommen hatte, hatte sie ihre Familie einmal im Jahr zur Weihnachtszeit besucht. Da waren Strandspaziergänge nur mit Fleecepullover und gefüttertem Friesennerz möglich gewesen, und nach wenigen Minuten waren ihre Zehen trotz dicker Wollsocken taub. Aber das war ihr ganz besonderes Ritual, wenn sie in ihre Heimat zurückkehrte: ein Spaziergang am Meer, ganz allein, um wieder anzukommen. Mit dem Unterschied, dass sie heute ihre vierbeinige Begleitung dabeihatte, die sich gerade ausgiebig im feuchten Sand wälzte. Und dass der tiefe Frieden, den sie verspürte, in wenigen Minuten enden würde, wenn sie ihrer Familie gegenübertrat und die Realität sie einholte.
Ihre Mutter wusste noch nicht, dass sie wieder Single war. Der Job bei Opa war nur vorübergehender Natur. Während sie in seiner Tierarztpraxis arbeitete, musste sie sich zeitgleich auf neue Stellen bewerben, um sich eine Zukunft aufzubauen. Und auch wenn sie sich auf ihre Freundinnen Kerstin und Christine freute, so gab es hier jede Menge Menschen, die sie gern nie wieder gesehen hätte. Allen voran Tarja. Sofort richteten sich die feinen Härchen in ihrem Nacken auf, und die Temperatur schien um ein paar Grad zu sinken. Auch Peanut spitzte die Ohren. »Alles gut«, beruhigte Lea ihn und verdrängte die furchtbaren Erinnerungen an ihre Abizeit und den Unfall, der sie damals zur Außenseiterin gemacht hatte und dessen Nachwirkungen sie noch heute verfolgten. Bisher war sie Tarja erfolgreich aus dem Weg gegangen. Trotzdem durchströmte sie eine innere Kälte, die sie frösteln ließ.
Peanut bellte, als eine Küstenseeschwalbe über ihn hinwegflog, und sie konzentrierte sich wieder auf die idyllische Szenerie vor ihr. Als Kind hatte sie hier Drachen steigen lassen und davon geträumt, irgendwann selbst einmal fliegen zu können. Jetzt stand ihr die Welt offen. Ein Flugticket war nur ein paar Klicks auf der Buchungsplattform entfernt. »Was meinst du, Peanut – wohin sollen wir auswandern? Nach London oder Wien? Oder möchtest du lieber nach Prag?«
Peanut schielte dem Vogel hinterher, als wüsste er auch keine Antwort. Aber kurz darauf drehte er den Kopf, weil er einen Mann entdeckt hatte, der etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt am Wasser stand und ihnen den Rücken zugewandt hatte. Das lockere Leinenhemd flatterte um seine Schultern und riss an seinen beigen Boardshorts, er selbst stand ganz still. Er war außergewöhnlich groß, ebenso wie sie selbst, allerdings mit dem Unterschied, dass er um einiges breiter gebaut war. Die letzten Sonnenstrahlen tanzten auf seiner leicht gebräunten Haut, und sein langes Haar, das von der salzigen Meeresbrise zerzaust war, verriet eine Unbeschwertheit, die ihrer angeschlagenen Seele guttat. Gern hätte sie ihn von vorn gesehen, um herauszufinden, ob sein Gesicht ebenso entspannt war, wie seine Haltung versprach. Fror er nicht in den dünnen Klamotten?
Peanut fiepte und hob die Pfote.
»Was ist? Bist du in eine Muschel getreten?« Sie vergaß den Mann und untersuchte Peanuts Pfotenpolster. »Verflixt.« Sie zog eine winzige Glasscherbe heraus, die sich zum Glück nur oberflächlich in die Haut gebohrt hatte. »Armer Peanut«, tröstete sie ihn. Der Border Collie sah selbstmitleidig drein, bevor er sich die wunde Pfote schleckte.
Als sie das nächste Mal aufschaute, war der Mann weg.
»Komm, es wird Zeit, nach Hause zu fahren.« Nach Hause. Die Worte hallten in ihrem Kopf nach, weil Ostfriesland auch nach all den Jahren immer noch ihr Zuhause war, egal, wo sie wohnte. Sie machte einen Bogen um ein verliebtes Pärchen, das in einem Strandkorb kuschelte, und lief zurück zu ihren Schuhen, um sich neben ihnen auf den Boden gleiten zu lassen.
Die Restwärme des Bodens drang durch ihre Kleidung, und sie grub die Finger tief in den Sand. Dann umarmte sie Peanut, dessen Fell sich nach dem Wälzen rau und körnig anfühlte, und beobachtete das Farbenspiel, das die Nordsee mit jeder Minute ein bisschen mehr in die Schatten der Nacht einhüllte. Für diesen kostbaren Moment gehörte der Strand nur ihnen beiden, und sie fühlte sich eng mit dem Border Collie verbunden, den sie vor Kurzem erst vor seinem sicheren Todesurteil gerettet hatte. Auf sie wartete ein Abenteuer – und tief in ihrem Innern ahnte Lea, dass es ihr Leben auf den Kopf stellen würde.
München. Einen Monat vorher.
Die Luft war scharf und klar, als Lea über den Viktualienmarkt schritt, hinüber zum Eingang der Tierarztpraxis, in der die Jalousien noch heruntergelassen waren. Der Frost bedeckte den Boden mit einem funkelnden Schleier, der sich in den ersten Sonnenstrahlen des Tages auflöste. Jetzt herrschte Ruhe in der Münchener Innenstadt, nur vereinzelt sah Lea Menschen über die Straßen huschen. Das würde sich in den nächsten Stunden ändern, wenn die Geschäfte, Cafés und Verkaufshallen öffneten und die Menschenmassen zu ihren Arbeitsplätzen strömten.
Der kalte Aprilwind blies ihr ins Gesicht, als sie den Kragen ihrer Trainingsjacke enger zog. Sie zitterte, aber blieb trotzdem kurz stehen, um Kraft zu tanken. Als sie vor drei Jahren bei Glamour Vets for Glamour Pets anfing, hatte sie jeden Morgen diese ganz besondere Aufregung begleitet, die sie durch den Tag trug. Immerhin handelte es sich um Münchens angesagteste Tierarztpraxis, zu der Lokalpolitiker, Fernsehstars und andere Promis ihre geliebten Weggefährten brachten. In der Zeit hatte sie viel gelernt, aber es war eine harte Schule gewesen. Jetzt spürte sie vor allem eins: Erschöpfung.
Bevor sie die Tür der Praxis aufschloss, um für die nächsten zwölf Stunden im Inneren des Gebäudes zu verschwinden, atmete sie die frische Morgenluft tief ein. Ihr Handy piepte, und sie schaute überrascht auf das Display, weil sie um diese Uhrzeit selten Nachrichten bekam. Es war ein Foto von Kerstin, die mit geschulterter Axt vor einem Holzblock stand. Über ihrem braunen Wollhemd trug sie einen beeindruckend breiten Gürtel. Außerdem hatte sie sich einen Vollbart angeklebt, der bis auf ihre Brust hinabreichte. Und, was machst du so? stand in der Nachricht darunter.
Lea lachte und tippte zurück: Auf dem Weg zur Arbeit, viel Spaß beim Rollenspiel.
Sie schoss ein Selfie, auf dem sie ein Peace-Zeichen machte, und schickte die Nachricht ab. Unschlüssig schaute sie aufs Handy. Ob sie Konstantin zur Sicherheit auch eine Nachricht schicken sollte? Ihr Freund musste erst in einer halben Stunde aufstehen und sollte dann den Kühlschrank wieder einschalten, den sie am Wochenende abgetaut hatte, um das Gefrierfach zu enteisen. Sie hatte ihm zwar einen Notizzettel geschrieben, aber bei Konnie wusste man nie. Der Zettel muss reichen, entschied sie.
Hinter der alpenländischen Fassade mit den Holzverzierungen erwartete Lea die hochmoderne Praxis mit weiß getünchten Wänden, verglastem Wartezimmer und Klappstühlen aus gebürstetem Metall. Die Geräte waren auf dem neuesten Stand der Entwicklung, die Computersysteme basierten auf künstlicher Intelligenz.
Ihr erster Weg führte zur Kaffeemaschine, um sich einen doppelten Espresso zuzubereiten. Sie trank einen Schluck aus der dampfenden Tasse, um die Kälte aus den Gliedern zu vertreiben. Dann ging sie in ihr schickes Eckbüro und blieb erschrocken stehen, als sie den neuen Berg Akten auf ihrem Schreibtisch sah.
»Oh nein.« Sie stöhnte auf, stellte den Kaffee ab und hob den obersten Ordner hoch. Fünfzehn weitere Akten, die durchgearbeitet werden mussten. Auf ihrer Tastatur klebte eine Heftnotiz: Bitte gehe die vor Praxisöffnung durch. Adele.
Der Stapel hatte die gleiche Wirkung wie ein Felsbrocken, der ihr auf die Schultern gelegt wurde. Druck baute sich in ihr auf, dabei hatte der Tag noch nicht mal angefangen. Ihr Anrufbeantworter blinkte, und sie spielte die Nachrichten ab, während sie die erste Akte durchblätterte.
»Hallo Lea, ich bin’s, Adele, du hast sicher die Akten auf deinem Schreibtisch schon gefunden. Bitte priorisiere die heute …«
Lea hörte nur mit einem Ohr hin, sie kannte das Spiel bereits. Sie hatte mit Adele zusammen studiert, damals hatten sie über Histologie gestöhnt und nächtelang Knochen auswendig gelernt. Adele war eine Wackelkandidatin gewesen, und Lea, der das Studium leichtfiel, hatte sich ihr angenommen und mit ihr geübt, bis sie auch die letzte Prüfung bestanden hatte. Das hatte zusammengeschweißt. Als Adele dann die Praxis ihres Vaters erbte, war es für sie selbstverständlich gewesen, Lea ins Boot zu holen. Leider hatte sich seitdem alles verändert. Während Lea weitestgehend Adeles Aufgaben übernommen hatte – die anderen angestellten Tierärzte hatten beide kürzlich gekündigt –, fuhr Adele von einem Interviewtermin zum nächsten. Seit ihrem Auftritt in der Fernsehshow Die Pfotenretter war sie überregional nachgefragt.
Anscheinend war Adele mitten in der Nacht in der Praxis aufgekreuzt, um die Akten auf Leas Tisch zu türmen, und hatte dann die Nachrichten aufgesprochen. Anders war die Extra-Arbeit nicht zu erklären, denn Adele war gestern den ganzen Tag für ein Feature in einem Tiermagazin außer Haus gewesen.
Punkt acht klingelte Leas Timer. Der Kaffee war mittlerweile kalt, ihr Kopf brummte. Dafür war der Aktenberg geschrumpft. Sie schnappte sich den weißen Kittel mit dem Praxislogo – einem Dalmatinerkopf mit Perlenkette – und band sich ihre widerspenstigen langen Haare zu einem Dutt zusammen. Eine dunkle Locke kringelte sich in die Stirn. Das war ihre Glückslocke, die zu kurz für den Zopf war. Ihr Magen grummelte, aber für ein Frühstück blieb keine Zeit, denn es klopfte bereits an der Tür, und Friederikes schmales Gesicht erschien im Rahmen. »Grüß Gott, Frau Doktor Ostendorf, kann ich den ersten Patienten reinschicken? Herr Koch mit Kater Löffel zur Nachuntersuchung nach der Abszessbehandlung.«
Lea nickte müde und massierte ihre pochenden Schläfen. Während der Besprechung spürte sie, wie ihr Kreislauf schwächer wurde. Ich muss nachher dringend etwas essen, dachte sie und ignorierte die silbernen Fäden, die vor ihren Augen hin und her tanzten.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Herr Koch, als sie einen Schritt zur Seite taumelte, aber Lea winkte ab.
»Danke, alles in Ordnung. Mein Fuß ist nur eingeschlafen.«
Kaum waren Herr Koch und Kater verschwunden, eilte sie in ihr Büro. In der obersten Schreibtischschublade befanden sich ihre Not-Müsliriegel. Vielleicht hätte sie die Praxis gestern nicht erst gegen Mitternacht verlassen sollen. Aber es gab so viel zu tun. Der Zucker half, und sie prüfte schnell ihre E-Mails, bevor der nächste Patient eintrudelte. Adele schrieb: Du musst heute Nachmittag und Abend für mich einspringen. Bin auf einer wichtigen Gala fürs öffentliche Programm. Muss vorher passende Klamotten besorgen.
»Nicht heute«, murmelte Lea, aber tippte zurück: Kein Problem. Eine weitere Spätschicht würde sie schon irgendwie überstehen. Aber als sie aufstand, wurden ihre Knie merkwürdig weich, und sie brauchte eine weitere Minute, um Halt zu finden. Zum Glück kam Friederike Kern gerade mit einer weiteren Tasse Kaffee ins Zimmer.
»Sie sehen erschöpft aus«, sagte sie mitleidig und drückte ihr noch eine Packung Kekse in die Hand. »Hier, damit Ihr Blutzuckerspiegel nicht zu stark absinkt.«
Als sie abends nach Hause kam, war Konstantin noch auf der Arbeit. Den Kühlschrank hatte er nicht eingestöpselt, ihr Notizzettel lag unberührt auf dem Esstisch. Ratlos stand sie mit einer Tüte voll mit Eiscreme, Joghurts und Aufschnitt vor dem warmen Gerät.
Zwei Tage später schlief Lea mitten beim Überarbeiten der Kundendatenbank ein. Als sie aufwachte, lagen ihre Arme auf der Tastatur und der Bildschirm zeigte: JJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJJ.
Sofort setzte ihr Herz einen Schlag lang aus, als sie erkannte, dass sie aus Versehen einen Teil der Daten gelöscht hatte. »Das darf doch wohl nicht wahr sein«, raunte sie und tippte wie wild im Programm herum, um die Daten zu retten. Vergeblich. Schnell griff sie zum Hörer und wählte Konstantins Nummer. »Hi Konnie, könntest du mir mal bei einem IT-Problem helfen?«
»Sag mal, spinnst du? Du kannst mich nicht einfach auf der Arbeit anrufen. Ich bin gerade an der letzten Slide vom Pitch Deck, da ist die Deadline einfach nur ASAP.«
»’tschuldige, ich habe gerade aus Versehen wichtige Daten gelöscht und –« Im Hintergrund lachte jemand leise, und ein Glas klirrte. Verwirrt hielt sie inne. Konstantins Eckbüro lag im siebten Stock, hinter dem Konferenzraum und weit weg von anderen Mitarbeitern. »Habt ihr gerade einen Umtrunk?«
Konstantin schnaubte. »Nein, ich sagte dir doch, ich bin schwer busy am Arbeiten. Allein. Wir reden später, ja?« Er legte auf.
Lea kratzte sich am Kopf, der sich ungemein schwer anfühlte. In letzter Zeit verhielt Konstantin sich so distanziert. Vielleicht hätte sie das Thema Verlobung nicht ansprechen sollen? Immerhin waren sie erst zwei Jahre zusammen. Und zwischendurch hatte es mehrfach gekriselt.
Sie schüttelte sich, um das flaue Gefühl loszuwerden, das sich in ihr ausbreitete. Er arbeitet ebenso hart wie ich, entschied sie und öffnete die Webseite des Datenbankanbieters, um nach einer Lösung für ihr Problem zu suchen. Dabei glitt ihr Blick immer wieder sehnsüchtig zu ihrem Globus, der auf dem Eckschrank stand. Rote Aufkleber markierten die englischsprachigen Länder, die sie besuchen wollte. Australien, Irland, USA und Kanada. Ein paar Länder, aber nicht viele, waren mit einem grünen Sticker versehen. Das waren die, die sie schon besucht hatte: Türkei, Österreich, Italien, und in der Oberstufe hatte sie einen Schüleraustausch nach Spanien gemacht. Wie schön es jetzt wäre, ganz weit weg zu sein, dachte sie. Sand unter meinen Zehen, Wind in meinen Haaren, das Rauschen des Meeres … Sie seufzte, riss sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit.
Eine Stunde später kam Adele in ihr Büro gestürmt. »Lea!« rief sie atemlos und knallte ihre Schlangenlederhandtasche auf den Schreibtisch.
Erschrocken setzte sie sich kerzengerade auf und versteifte sich. »Ja?«, fragte sie.
Rote Flecken bildeten sich auf Adeles Wangen, als sie schnaubte und in ihrer Handtasche nach ihrem Mundspray angelte, von dem sie sich ein paar Spritzer in den Mund sprühte. Ein künstlicher Pfefferminzgeruch breitete sich im Büro aus, während Adele sich Luft zufächelte.
Lea nutzte den Moment, um sich zu sammeln. »Ich dachte, du bist beim Radiosender für diese Wohltätigkeitsgeschichte?«
»Ja, das war ich auch. Meine Güte, war das anstrengend.« Adele seufzte und wischte sich theatralisch über die Stirn. Lea bemerkte, dass ihre Bluse falsch zugeknöpft war, und hoffte für sie, dass der Termin nicht mit einem Fotoshooting verbunden gewesen war. »Ich musste mich sehr beeilen, weil ich gleich den nächsten Termin habe. Du kannst meine Schicht übernehmen?« Ihr Blick wanderte unter den Schreibtisch, wo Leas rote Turnschuhe hervorlugten. Adele hatte vor einer ganzen Weile aufgehört, Leas legeren Look in der Praxis zu kritisieren, aber ihre hochgezogenen Augenbrauen verrieten, was sie von dem sportlichen Schuhwerk hielt.
»Natürlich«, entgegnete Lea perplex, aber ihre Brust zog sich schmerzlich zusammen. Heute Abend hatte sie sich eigentlich mit einem guten Buch auf dem Sofa einrollen wollen. Wohlverdiente Ausspannzeit. Damit ihr Blut nicht mehr wie Blei durch ihre Venen lief und sie Kraft schöpfen konnte.
»Und wo wir gerade dabei sind, morgen komme ich drei Stunden später. Nach dem ganzen Stress muss ich erst mal ins Spa.« Sie fragte nicht, ob das in Ordnung sei, aber das wäre ohnehin nur eine Formalie. Es war Adeles Praxis, und sie entschied, wann sie kam und ging.
Spa, dachte Lea, Spa. Dampfbad, Massage, Salzkristallraum. Meer. Möwen. Muscheln. Plötzlich vermisste sie ihre ostfriesische Heimat umso mehr, in der die Zeit stets langsamer zu verlaufen schien als im Rest der Bundesrepublik.
Adele kam um den Schreibtisch herum und schielte ihr über die Schulter. Ein weinroter Fingernagel schoss vor, tippte mehrfach auf den Bildschirm, dass es laut klackte.
»Nicht …«, sagte Lea. Es war ein Touchscreen, aber es war zu spät – mehrere Fenster öffneten sich.
»Was machst du da?«
Lea schloss die Fenster wieder, um Zeit zu gewinnen. Dann atmete sie tief durch. »Es gab ein Problem mit der Kundendatenbank. Ist aber alles wieder gut, ich habe alles repariert. Es sind keine Daten verloren.«
Kurz hörte sie Alarmglocken schrillen. Wieso interessierte sich Adele auf einmal so konkret für ihre Arbeit? Das plötzliche Auftauchen in der Praxis, ihr gehetzter Blick, als hätte sie etwas geahnt.
Adele kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Bist du sicher? Das darf nicht wieder passieren«, sagte sie schmallippig. Dann schoss sie herum und eilte aus dem Büro. Gerade rechtzeitig, bevor Friederike den nächsten Patienten ankündigte.
Müde stand Lea auf und öffnete ein Fenster. Erschöpft lehnte sie sich an den Schrank mit dem Spülbecken, als ein glatt rasierter Mann mit nach hinten gegelten Haaren den Raum betrat. An seiner Leine führte er einen jungen Border Collie, der ängstlich den Schwanz zwischen die Beine geklemmt hatte. Der Rüde hatte ein braunes und ein blaues Auge, mit denen er sie demütigt von unten herauf anschaute, und hielt sich geduckt.
Lea schluckte. Solche Fälle hatte sie schon mehrfach erlebt. Oft hatten die Tiere einfach nur Angst vor dem Tierarzt, aber manchmal … Sie verdrängte die düsteren Gedanken und straffte die Schultern. »Guten Morgen, Herr Walter«, begrüßte sie den Mann, der sich gerade ihren Drehstuhl schnappte, um sich breitbeinig darauf niederzulassen.
»Grüß Gott. Is der Chef net da? Ich habe nen Termin mit Herrn Lechner.«
»Frau Doktor Lechner ist außer Haus. Was kann ich für Sie tun?«
»Ach, des is ne Frau? Ich dachte, weils der Chef halt ist. Jedenfalls, der Brutus is aggressiv und gemeingefährlich. Er hat mich gebissen. Sehen Se?« Er rollte einen Hemdsärmel hoch, und Lea beugte sich über den Arm, auf dem sie einen winzigen roten Punkt entdeckte. Sie scannte die Miene des Mannes, der todernst wirkte. Der Hund hatte nicht gebissen, sondern maximal geschnappt.
»Erzählen Sie mir mehr«, sagte sie möglichst neutral.
»Meine Frau hat die Töle aus dem Tierheim geholt, aber die Schoasblodan bellt den ganzen Tag. Hat keinen Respekt, nicht mal vor dem Stock.«
Lea zog die Augenbrauen zusammen. »Welchem Stock?« Sie spürte, wie Wut in ihr aufstieg und die professionelle Maske bröckelte.
»Na, der spurt halt net. Hab alles versucht. Und jetzt knurrt er mich an, wenn ich nach Hause komme. Der hat aggressive Gene.« Demonstrativ riss er an der Leine, aber dem Border Collie entfuhr nur ein Winseln.
»Ich kann Ihnen gern die Nummern mehrerer Hundeausbilder geben. Sicherlich liegt da nur ein wenig Misskommunikation zwischen Ihnen beiden vor. Mit viel Liebe«, sie betonte das Wort, »Beständigkeit und Geduld kann man viel erreichen. Ihr Hund ist gerade erst …«, sie schaute auf das Datenblatt, »sieben Monate alt, da testen die gern mal ihre Grenzen. Das ist aber meist nicht bösartig, sie haben eben noch viel zu lernen.«
»Himmel, Oarsch und Woiknbruch, dafür habe ich keine Zeit.«
Lea runzelte die Stirn. Der Border Collie hatte sich flach auf den Boden gelegt, sein wuscheliger Kopf ruhte zwischen den Pfoten. Allerdings zuckte sein Schwanz unruhig hin und her, er war weit davon entfernt, sich zu entspannen. Anspannung konnte ein Zeichen für Aggression sein. Testweise ging sie in die Knie, um zu sehen, wie er reagierte. Der Hund machte sich noch flacher, als wollte er mit dem Parkett verschmelzen. Nein, entschied sie, das Problem liegt nicht beim Hund.
»Ich kann Ihnen auch die Nummern mehrerer Vermittlungsstellen geben, falls Sie Brutus abgeben möchten.«
»Ja, wie stehe ich denn da? Wie der letzte Sepp. Können Sie ihn net einfach einschläfern? Immerhin isser gemeingefährlich, des kann man doch auch niemand anders zumuten.«
Ein Mississippi, zwei Mississippi, drei Mississippi zählte Lea innerlich, bevor sie tief Luft holte. Das half, ihre Gedanken zu sortieren. Nun strich sie über das stumpfe Fell des Tieres, unter dem sie Schwellungen spürte, Hämatome von Schlägen. Jetzt holte die Wut sie mit voller Wucht ein. Sie richtete sich zu voller Größe auf und sah Herrn Walter direkt in die verhärteten Augen. Mit fester Stimme sagte sie: »Nein, wir machen das anders. Sie lassen ihn einfach hier. Ich kümmere mich darum, dass er ein neues Zuhause bekommt. Dann haben Sie keinen Ärger mehr, es ist alles ganz anonym. Was meinen Sie?«
Der Mann verzog das Gesicht. Lea mobilisierte ihre letzten Kraftreserven und hielt seinem Blick stand. Endlich rümpfte er die Nase und gab sich einen Ruck. »Na jut«, schnaubte er. Dann kratzte er sich am Bauch, stand auf, reichte ihr die Leine. »Er hat heute noch net gefressen. Ich dachte, das lohnt eh net mehr.«
Der Border Collie schlief tief und fest unter ihrem Schreibtisch, als sie abends die letzten Dokumente bearbeitete. Gerade lag er auf der Seite, die Pfoten weit von sich gestreckt, und fiepte gelegentlich im Schlaf.
»Du bist purer Zucker«, sagte Lea, als sie wieder einmal zu ihm hinunterschielte. Sie hatte noch nie ein eigenes Haustier besessen, als Kind hatten ihre Eltern nur gelegentlich Pflegetiere aufgenommen, während des Studiums hatte sie keine Zeit, danach kamen andere Prioritäten, und jetzt würde Konstantin ihr aufs Dach steigen. Aber dieser Kleine hier würde sicherlich schnell ein gutes neues Zuhause finden, so niedlich wie er war. Stolz erfüllte sie – sie hatte ein junges, gesundes Tier vor einem grausamen Schicksal bewahrt.
Leider sah Adele das anders, als sie später in der Praxis vorbeischaute, um sich einen Kaffee zu holen. »Ja, sag mal, spinnst du? Wenn der Kunde will, dass das Tier eingeschläfert wird, dann machst du das. Du weißt, dass solche Entscheidungen zum Job gehören. Wir können nicht jedes Mal eine Ausnahme machen.«
»Aber –«
»Kein Aber!«, unterbrach Adele sie harsch. »Du kennst nicht die ganze Geschichte des Hundes, und wenn du es nicht machst, geht der Kunde zu einem anderen Arzt – und der verdient dann daran. Oder, wie in deinem Fall, verdient niemand daran.«
Erschrocken schaute Lea sie an. Hier ging es doch nicht um Geld! Wie sehr Adele sich seit dem Studium verändert hatte …
Abgeschlagen knöpfte sie ihren Kittel auf, um sich für den Feierabend bereit zu machen. »Der Hund ist kerngesund. Ich kann doch kein Tier töten, nur weil ein inkompetenter Tierhalter das wünscht. Das geht gegen das Tierschutzgesetz und meine persönlichen Prinzipien. Keine Sorge, ich kümmere mich um alles.«
Adele stemmte die Arme in die Hüften. »Falsch. Ob ein Tier eingeschläfert werden soll, liegt im Ermessen des Tierarztes. Wir sind ein Geschäft, das wirtschaftlich sein muss. Deine persönlichen ethischen Prinzipien spielen hier keine Rolle – das ist eine Arbeitsstelle, kein Tierschutzverein. Dieses Mal bist du zu weit gegangen. Mir reicht es.« Sie trat so nahe an Lea heran, dass sich ihre Nasen fast berührten. Ihr nach zuckrigem Tee riechender Atem schlug unangenehm auf Leas Magen. »Erst löschst du Teile der Kundendatenbank –«
»Die sind alle wiederhergestellt.«
»Das spielt keine Rolle. Es hätte nicht passieren dürfen. Und dann verweigerst du einem Kunden sein Anliegen. Was kommt als Nächstes? Betrug?«
Jetzt drehte sich Leas Magen um, und ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Mund aus. Niemals würde sie ihre Arbeitgeberin betrügen! Ihre Finger zitterten, als sie die Hand auf ihren Bauch legte, um das unruhige Grummeln zu verdrängen. »Adele, ich -« War das noch dieselbe Adele, mit der sie Hunderte Karteikarten mit dem Namen der Blutgefäße beschriftet hatte, während sie sich eine Pizza geteilt hatten?
»Ich habe die Faxen dicke! Du setzt mir keinen Fuß mehr in meine Praxis. Lea, du bist gefeuert.«
»Aber …« Ungläubig schaute Lea auf die Akten auf ihrem Schreibtisch, auf den Kalender, der voller Termine war. Sie schluckte, um die Übelkeit zu verdrängen, die mit jeder Sekunde stärker wurde. Adele kam ihr so fremd vor.
»Ab morgen. Heute Abend arbeitest du noch meine E-Mails ab. Und wage es nicht, mir zu widersprechen, wenn du ein gutes Arbeitszeugnis erhalten willst.«
Lea biss sich auf die Lippe. Adele konnte drohen, so viel sie wollte, aber sie hatte eine gute Rechtsschutzversicherung und würde dafür sorgen, dass diese Kündigung fair vonstattenging. Aber um weiteren Ärger zu vermeiden, nickte sie. Sie hatte Tiermedizin studiert, um Tieren zu helfen. Nicht, um sie gewissenlos zu entsorgen, wenn sie anderen nicht in den Kram passten. Wie Konstantin wohl auf den Rauswurf reagieren würde? Die Vorstellung ließ ihr Herz schneller schlagen. Konstantin war scharf auf das Penthouse, das die indische Rechtsanwältin drei Stockwerke über ihnen demnächst verkaufen wollte. Aber allein würde er die Kosten dafür nicht stemmen können.
Wie in Trance arbeitete sie Adeles E-Mails ab. Das waren überraschend wenige, nur ein paar Interviewtermine, die sie in Adeles Kalender eintrug, Spam, Werbung, eine Einladung zu einer Konferenz. Es dauerte nicht lange, bis sie sich Brutus’ Leine schnappte und zur Rezeption eilte, die schon lange nicht mehr besetzt war, um ihre Post einzusammeln. Da sie tagsüber nie zu Hause war, ließ sie sich die immer direkt in die Praxis schicken. Nachdenklich wog sie ein kleines Päckchen in den Händen, das an sie adressiert war. Sie hatte doch nichts bestellt, oder?
»Was soll’s?«, murmelte sie und öffnete es. Seide in Gelb-Schwarz glitt durch ihre Finger. »Ein Leoparden-Negligé?« Sie hielt es sich vor die Brust.
Die pinkfarbene Spitze, die den Ausschnitt umrundete, wanderte hinunter bis zum Bauchnabel. Puh, wie geschmacklos. Ein Seufzer entfuhr ihr. Das kam bestimmt von Konstantin, der stand auf solche Fummel. Aber gut, wenn es ihn glücklich machte …
Sie hatten seit drei Monaten nicht mehr miteinander geschlafen, was vor allem daran lag, dass sie auch am Wochenende arbeitete und Konstantin oft bis spät in die Nacht unterwegs war. Wenn dieser seidene Fetzen half, wieder Pfeffer in ihre Beziehung zu bringen, dann war es die Sache wert. »Lea in Leo«, murmelte sie und kicherte, mehr aus Verlegenheit.
Brutus sträubte das Fell und trat einen Schritt zurück. »Alles gut, das ist nicht echt«, beruhigte sie ihn. »Oder beleidigt das einfach nur deine Geschmacksnerven?«
Zu Hause angekommen zog sie sich sofort im Gästebad um, das direkt neben der Wohnungstür lag. Das kontrastreiche Muster des Negligés ließ ihre helle Haut glänzen, sodass sie noch blasser wirkte, als sie ohnehin schon war. Unglücklich betrachtete sie sich im Spiegel, legte versuchsweise eine Hand an die Hüfte. »Grrr.« Aber die Wildkatze im Spiegel wirkte eher wie ein unsicheres Kätzchen. Und die glanzlosen kurzen Fingernägel, auf denen ein paar resistente Jodflecken zu sehen waren, verbesserten den Eindruck nicht.
»Wuff?«, machte Brutus, der brav hinter ihr wartete.
»Pscht, verrate mich nicht.« Sie hockte sich hin, streichelte den Border Collie. »Ich hole dich in einer halben Stunde hier wieder raus, okay? Solange kannst du dich ausruhen.« Sie faltete ihm ein paar Handtücher zu einem Bett, legte ihren Pullover dazu und stellte eine Wasserschüssel daneben. Sie tätschelte ihn am Hals, aber der Hund rollte sich bereits auf den Handtüchern zusammen. Auch für ihn war es ein langer Tag gewesen.
Dann schlich sie auf Zehenspitzen in den Flur und Richtung Schlafzimmer. Sie wollte Konstantin überraschen, der sicherlich auf dem Bett lag und im Internet surfte. Oft trug er dabei Kopfhörer und hörte Musik, bekam nicht mit, was um ihn herum passierte, bis Lea ihn zum Abendessen rief. »Ich kann nicht kochen«, behauptete er immer, und nachdem er ihr mehrfach Eigenkreationen wie verbrannte Spiegeleier mit Dosentomaten und Senf zum Abendessen serviert hatte, hatte sie den Küchendienst lieber selbst übernommen. Sie zupfte an den kratzigen Rüschen, die im Nacken an ihrer Haut rieben.
Es rumorte im Schlafzimmer, dann hörte Lea eine viel zu vertraute Stimme: »Du dreckiger Mistkerl, geh auf alle viere.«
Alles in ihr gefror. Ihre Knie wurden wackelig und drohten nachzugeben, tastend suchte sie Halt an der Wand. Binnen Sekunden trocknete ihre Kehle aus, und jeder Atemzug wurde zur Qual.
»Na, wie gefällt dir das?« Es klatschte, so als ob Leder auf Haut traf.
Konstantin stöhnte: »Ja, Meischterin, dasch ischt gut.«
»Du bist ein böser Junge, Konnie-Boy.«
Konnie-Boy stöhnte dumpf.
Das brach den Bann. Leas Muskeln spannten sich an, und sie stieß sich von der Wand ab. Ihre Fingerknöchel verfärbten sich weiß, so fest ballte sie die Hände zu Fäusten, bevor sie die Tür mit einem Stoß aufkrachen ließ.
Auf der Matratze hockte ein splitternackter Konstantin, einen schwarzen Knebelball im Mund, der mit einem Lederband an seinem Kopf befestigt war. Rote Striemen zogen sich über seinen Rücken. Hinter ihm stand Adele, eine Peitsche in der Hand. Sie trug das gleiche Leoparden-Negligé wie Lea.
»Konstantin?« Leas Kehle war so trocken, dass ihre Stimme krächzte. Die Luft im Raum schien drückender zu werden, und sie kämpfte gegen den Drang an, laut aufzuschluchzen. Es fühlte sich an, als ob all die Sicherheit und das Vertrauen, die sie in dieser Beziehung aufgebaut hatte, in diesem Moment in sich zusammenfielen. Dass Konstantin fremdging, war eine Sache. Aber mit Adele? In ihrem Schlafzimmer? Sado-Maso?
»Wasch mascht du denn hier?« Konstantins Gesicht war eine Fratze des Entsetzens. Hektisch richtete er sich auf und versuchte, sich den Knebel aus dem Mund zu ziehen. Er hustete, als es ihm gelang. »Du solltest doch auf der Arbeit sein.«
Lea schüttelte den Kopf und ließ den Vorwurf im Raum stehen. Adele lachte nur und richtete sich die dunkelblonden Haare. »Du bist wie eine Filzlaus. Dich wird man einfach nicht los.«
Leas Blick verharrte auf den beiden Personen im Bett – den vertrauten Zügen des Mannes, den sie so gut kannte, und der hämischen Miene ihrer Ex-Kommilitonin und Ex-Chefin, die jetzt zur Konkurrentin geworden war. Die Mischung aus Ekel und Neugierde trieb sie dazu, genauer hinzusehen, obwohl sie am liebsten ihre Augen vor dieser schmerzvollen Realität verschlossen hätte. Adeles solariumgebräunte Beine, ihre prallen Riesenbrüste, die kurz davor waren, aus dem Dekolleté zu springen, und Konstantins behaartes Unterteil, das er nun hinter einem Kissen zu verstecken versuchte, als hätte sie ihn noch nie zuvor nackt gesehen. Das alles brannte sich in ihr Gedächtnis, es würde unmöglich sein, diese Bilder jemals wieder loszuwerden. Ihr Atem wurde flach und unregelmäßig, während sie um ihre Fassung rang.
»Das ist zufällig meine Wohnung, Adele«, stellte sie leise fest, als ob das einen Unterschied machte. Auch wenn Konstantin bei ihr eingezogen war, stand sie allein im Mietvertrag. »Hast du mir deshalb die ganze Extra-Arbeit aufgebürdet? Damit du in Ruhe meinen Freund vögeln kannst?«
Adele zuckte mit den Schultern, nur um sich gleich darauf auf ihre Fingernägel zu konzentrieren, die bei dem rauen Spiel anscheinend ein paar Macken abbekommen hatten.
Plötzlich wurde Lea schmerzlich bewusst, dass Adele ihr in letzter Zeit schon oft ihre Arbeit aufgehalst hatte, sodass sie abends erst spät nach Hause kam und Konstantin die Wohnung für sich hatte. Und Konstantin hatte es vermieden, sich vor ihr umzuziehen – vielleicht, um Flecken und Striemen auf seinem Rücken zu verstecken? »Wie lange geht das schon?«
»Lea, du musst verstehen –«, setzte er mit weinerlicher Stimme an.
Doch sie hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. Sie konnte keine verlogene Ausrede ertragen. Nicht, während sie den Abdruck des Knebelriemens auf seiner Wange sah. »Still. Ich rede nicht mit dir.« So krumm sie Konstantin die Affäre nahm, dass Adele, die sie so viele Jahre lang kannte und mit der sie eng zusammengearbeitet hatte, sie betrog, das war schlimmer.
»Spielt doch keine Rolle. Such dir einen anderen Job und einen anderen Mann.«
Obwohl der Schmerz in ihrer Brust nahezu unerträglich war, nickte Lea anerkennend – dieses Selbstbewusstsein, das Adele an den Tag legte, war bemerkenswert. Mit so einem Selbstbewusstsein konnte man ganze Völker unterdrücken und ein Imperium aufbauen. Die Peitsche schwang gefährlich hin und her, streifte die Packung Gleitgel, von der ein künstlicher Erdbeergeruch ausging.
»Das mache ich gern beides. Aber erst einmal verzieht ihr euch aus meiner Wohnung. Meinetwegen könnt ihr miteinander glücklich werden.« Ihre Stimme klang fest, aber innerlich brodelte es in ihr. Die Müdigkeit, die Enttäuschung – und dieses dämliche Negligé, das sich eng um Adeles Körper schmiegte, während es um ihren eigenen Bauch schlackerte, das war zu viel.
Konstantin rappelte sich auf und angelte sich seine Unterhose. Die rote mit dem Rentier drauf, auf der stand Was hier steht … steht in keiner Zeitung. Lea wandte den Blick ab. Die Unterhose hatte sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt, weil er solchen albernen Kram mochte.
»Ich gebe euch fünf Minuten.« Sie schnappte sich einen übergroßen Hoodie, der hinter der Tür hing und zog ihn über, während sie in die Küche lief. Dort brühte sie sich einen Kaffee auf. Dabei zitterten ihre Hände so stark, dass Kaffeepulver in das Wasserfach geriet. »Verdammt«, fluchte sie und versuchte es noch einmal.
Schritte erklangen, und sie wappnete sich. Konstantin trug seinen blauen Seidenbademantel, aber seine Beine waren noch nackt. Reuevoll schaute er sie an. »Es tut mir leid. Aber du musst mich verstehen, Lea. Adele ist eine erfahrene Frau, die genau weiß, was ein Mann braucht. Und sie lässt mich an Stellen ran, die bei dir tabu sind.«
Der Schmerz grub sich wie ein Messer in ihren Bauch. Das waren eindeutig zu viele Informationen. Sie schaute ihn an, suchte in seinen Augen den Grund, weshalb sie sich vor zwei Jahren in ihn verliebt hatte, und fand ihn nicht.
»Nein, ich verstehe dich nicht. Ich dachte, mit uns beiden das hat Bestand. Deshalb haben wir uns doch verlobt, um zu heiraten, eine Familie zu gründen.« Ihre Stimme brach. »War das alles eine Illusion?«
»Das ist das Problem. Du willst zu viel. Ein Mann braucht seine Freiheit. Und naja, wilden Sex, nicht so romantischen Kram.«
Lea entging nicht, dass er wieder versuchte, die Schuld auf sie zu schieben. Aber das konnte er vergessen. »Nein, das Problem ist, dass du nicht treu bist und nicht die Courage besessen hast, mit mir Schluss zu machen.« Trotzdem legte sich ein Schleier um ihr Herz, und der Satz mit der Freiheit waberte trübe in ihrem Inneren.
»Falsch. Zu einer Beziehung gehören immer zwei«, sagte Konstantin nun deutlich überzeugter. »Wenn ich fremdgehe, dann nur, weil du meine Bedürfnisse nicht erfüllt hast. Vielleicht hättest du dich etwas femininer kleiden und nicht immer diese unweiblichen Sportsachen tragen können?«
Lea biss die Zähne zusammen. Ihre lässigen Outfits – die Konstantin ihrer Meinung nach gar nichts angingen – waren praktisch, bequem, und sie fühlte sich darin wohl.
»Kommst du, Schatz?«, klang Adeles Stimme honigsüß durch den Raum. Statt des Negligés trug sie nun ein enges Minikleid.
»Geh, Konnie. Deine Sachen kannst du dir am Wochenende abholen«, brachte Lea trocken hervor.
Nachdem beide endlich verschwunden waren, holte sie Brutus aus dem Bad, der müde hinter ihr her tapste. Dann hockte sie sich auf die Küchenbank und schlang die Arme um die Knie. Und endlich kamen die Tränen, die sich so lange aufgestaut hatten.
Eine feuchte Hundenase berührte Lea in der Achselhöhle.
»Was?«
Brutus schaute sie mit großen Augen an, bevor er eine Pfote auf ihr Knie legte.
Lea lächelte durch ihre Tränen, die ihre Wangen aufgedunsen hatten, spürte Trost in der einfachen Geste. »Du verstehst genau, dass ich traurig bin«, stellte sie fest.
Der Border Collie wedelte mit dem Schwanz, nicht vertikal, um Freude auszudrücken, sondern horizontal, ein Zeichen von Nervosität. Auch seine Ohren waren besorgt zurückgezogen, und sein Körper wirkte steif.
»Weißt du was? Wir zwei Hübschen gehen jetzt eine Runde spazieren. Und du brauchst einen passenderen Namen. Brutus klingt viel zu sehr nach Gladiatorenkampf und römischen Kriegen.« Sie schnappte sich seine Leine und eine Packung Erdnussflips, die sie auf dem Weg essen wollte. Er fiepte, als sie mit der Tüte raschelte. »Du hast Hunger, richtig? Ich koche dir nachher Hühnchen mit Reis. Das bringt den Glanz in dein Fell zurück. Bis dahin musst du dich gedulden.«
Der Border Collie schielte gierig auf die Flips, dann drehte er sich einmal im Kreis. Lea strich sich nachdenklich über das Kinn. »Flips?«, fragte sie versuchsweise.
Er reagierte nicht.
»Erdnuss?«
Nichts.
»Vielleicht Peanut?«
Der Rüde legte den Kopf schief.
»Ach, du sprichst Englisch?« Lea lachte. »Na gut, wenn du dir das wünschst, dann heißt du ab jetzt Peanut. Meinetwegen auch MC Peanut, wenn es stimmt, dass du so viel bellst.« Sie wuschelte ihm durchs Fell, und er drückte seinen Rücken gegen ihre Hand, als sie aufhörte. »Später gibt’s mehr«, versprach sie.
Die klare Nachtluft half, um ihre Gedanken zu sortieren. »Wie ich das sehe, lieber Peanut, sind wir beide im Prinzip Glückspilze«, erklärte sie dem Hund, der immer wieder stehen blieb, um an Zaunpfosten und Laternenpfählen zu riechen. »Du, weil du eine zweite Chance bekommst. Und ich, weil …« Sie kickte einen Kiesel fort, während sie nachdachte. Mit Konstantin war es schon lange nicht mehr gut gelaufen, und ihr Job hatte sie am Ende kaputtgemacht. »Weil ich dich gefunden habe«, beendete sie ihren Satz. »Wir werden gemeinsam nach vorn schauen, okay?«
Der frisch getaufte Peanut hob sein Bein an einer Pflanze, und Lea hielt wieder an. Sobald er fertig war, kniete sie sich zu ihm hinunter und umarmte ihn. »Und dich, dich behalte ich. Du sollst nie wieder in Not geraten. Das verspreche ich dir.«
Er gab unter dem Druck ihrer Arme ein grunzendes Geräusch von sich, und sie lockerte den Griff. Zu langsam, um der feuchten Schlabberzunge auszuweichen, die ihr über das gesamte Gesicht strich.
In den nächsten Tagen packte sie Konstantins Kram, holte ihre Sachen aus der Praxis ab und schlief den Rest der Zeit.
Meist mit Peanut im Arm, der ihr nicht von der Seite wich. Anfangs duckte er sich, wenn sie sich näherte, aber er verstand schnell, dass sie ihm nicht wehtun würde. Und als sie ihm ein kleines blaues Bällchen schenkte, spielte er damit so begeistert, dass Lea ihm gleich zwei weitere kaufte, die er sorgsam hütete. Sie half Konstantin, der übergangsweise bei einem Arbeitskollegen einzog, seine Kartons zum Auto zu tragen, aber weigerte sich, mit ihm zu sprechen. Nicht nur, um sich selbst zu schützen, sondern auch, weil sie für nichts garantieren konnte, falls er seine Affäre mit dummen Sprüchen rechtfertigen wollte.
Am Wochenende rief sie mit klopfendem Herzen bei ihrer Mutter an, um ihr von der aktuellen Situation zu erzählen. Sie konzentrierte sich auf ihren Job – das mit Konstantin tat noch zu weh. Außerdem verkraftete ihre Mutter nicht zu viele schlechte Nachrichten auf einmal.
»Was hast du denn jetzt vor?«, fragte diese besorgt. »Es wird nicht einfach sein, einen Arbeitgeber von dir zu überzeugen, wenn der vorherige dir keine gute Referenz gibt.«
Lea krallte die Finger fester in Peanuts Fell. »Adele wird sich hüten, mir Steine in den Weg zu legen. Ihr Ruf steht auch auf dem Spiel. Und ich habe nicht nur mehrere Jahre Arbeitserfahrung, sondern auch einen hervorragenden Abschluss.« Ein gurgelnder Laut ertönte, dann ein Pfeifen. »Was sind das denn nur für komische Störgeräusche in der Leitung?«
»Das ist meine neue CD mit Walgesängen«, erklärte ihre Mutter ungerührt. »Ganz beruhigend für die Nerven. Lea, dein Abschluss interessiert niemanden mehr. Der ist nur für den ersten Job wichtig. Jetzt geht es um deine berufliche Perspektive. Du musst hart arbeiten, um Karriere zu machen. Dafür brauchst du unbedingt eine Spezialisierung, zum Beispiel im Bereich Zahnheilkunde.«
Lea schüttelte den Kopf. Das war typisch für ihre Mutter, die bisher kein tröstendes Wort gefunden hatte. Immer pragmatisch, zielorientiert und immer hohe Anforderungen an sie. Aber wenn sie sich wehrte, dann wurde ihr ein schlechtes Gewissen eingeredet. Und die Walgesänge klangen eher nach einer Gruppe Außerirdischer, die versuchten, mit einem Rasenmäher zu kommunizieren.
»Damit verliere ich ein paar Jahre. Oder ich finde eine Praxis, die sich bereit erklärt, dass ich das nebenher mache.« Außerdem habe ich momentan keine Kraft für eine Doppelbelastung, dachte Lea, aber das konnte sie ihrer Mutter nicht sagen.
Die seufzte. »Du hättest gleich an der Uni bleiben sollen, um auf eine Professur hinzuarbeiten. Dann hättest du ein sicheres Einkommen. Aber du wolltest ja nicht auf mich hören.«
Und da waren sie – die Schuldvorwürfe. Lea atmete tief ein, um Energie zu tanken. »Ich muss jetzt los. Peanut muss raus.«
Als sein Name fiel, öffnete der Border Collie sein blaues Auge und sah sie erwartungsvoll an. Gegen einen Spaziergang hatte er nie etwas einzuwenden. Er stand auf und streckte sich.
»Ist gut. Zumindest kannst du dich ja noch auf Konstantin verlassen.«
Schmerzlich zuckte Lea zusammen. In diesem Moment war sie froh, dass ihre Mutter sie nicht sehen konnte. Konstantin war Geschichte für sie, auch wenn die Wunde noch offen war, und Mutters Worte Salz, das in ihr brannte.
»Ruf deinen Opa heute noch an. Aber pass auf, was du erzählst. Oma geht es nicht gut. Sie hat wieder Probleme mit dem Herzen.«
Sofort saß Lea kerzengerade. »Wie? Und das sagst du mir erst jetzt?«
»Du hast doch gerade genug um die Ohren.«
Fassungslos starrte sie an die gegenüberliegende Wand, an der ein vergrößertes Foto von einem Krabbenkutter hing – der hatte Opas Vater Janek, also ihrem Urgroßvater, gehört. Erinnerungen an Oma Tildas Teezeremonien stiegen in ihr auf, die faltigen Hände, mit denen sie die Kluntjezange hielt, das Lächeln in ihren Augenwinkeln, wenn sie den ersten Schluck trank. »In jeder Tasse Ostfriesentee steckt die gesamte Gemütlichkeit des Nordens«, sagte sie dann oft.
Oma Tilda war früher Ingenieurin gewesen, ebenso wie Leas Mutter, Leas Vater und ein Großteil ihrer Tanten und Onkel. Opa Enno hingegen war Kleintierarzt und führte eine Praxis in Pewsum, dem Ortsteil der Gemeinde Krummhörn zwischen Greetsiel und Emden, in dem auch die Gemeindeverwaltung und das Haus ihrer Eltern lagen. Er weigerte sich beharrlich, in Rente zu gehen. Als Kind hatte sie ihn oft in der Praxis besucht und über all die Geräte gestaunt, die er verwendete. Manchmal durfte sie sein Stethoskop ausleihen, das ihr bis über die Hüfte gebaumelt hatte. Damals bedeckte noch ein brauner Vollbart sein Gesicht, und sein Hemd spannte sich über einem leichten Bauchansatz, der im Laufe der Jahre verschwunden war. Der würzige Geruch, der entstand, wenn er an seiner Meerschaumpfeife zog, hatte sich tief in ihre Nasenwände gebrannt.
»Die wichtigste Grundregel eines Tierarztes ist es, Respekt vor allen Lebewesen zu haben, unabhängig von Spezies oder Größe«, pflegte er zu sagen. Und Lea hing an seinen Lippen, denn Opa Enno war bei seinen Kunden überaus beliebt, kümmerte sich ebenso liebevoll um einen Hund oder eine Katze wie um ein Meerschweinchen oder ein Huhn. Das hatte Lea imponiert und sie dazu inspiriert, selbst Tiermedizin zu studieren.
Sie kam erst am späten Nachmittag dazu, sich bei Opa Enno per Skype zu melden, weil sie vorher Dutzende E-Mails und Textnachrichten bearbeitete, um sich bei ihren Kunden zu verabschieden. Natürlich auf eine professionelle Art, ohne die Verwerfungen mit Adele zu erwähnen. Aber viele der Kunden kannte sie seit Langem, und sie fragten bei Terminen ausdrücklich nach ihr. Frau Melchior zum Beispiel, Englischprofessorin an der Technischen Universität Isarstadt, die als eingetragene Dackelzüchterin fast monatlich eins ihrer kostbaren Tiere vorbeibrachte. Oder Frau Andrewski, deren chronisch kranke Perserkatze eine Dauerpatientin war.
Auf dem Bildschirm ihres Computers tauchte das wohlvertraute Wohnzimmer ihrer Großeltern auf, mitsamt der selbst bestickten Tischdecken, der Öllampe auf dem hölzernen Beistelltisch und der Wand mit den zahlreichen Fotorahmen im Hintergrund. Auf einem davon, ganz unten links, war sie selbst zu sehen, dreizehn Jahre alt, ein Krabbenbrötchen in der Hand. Die Form des Rahmens war unverkennbar – es war der einzige, der horizontal aufgehängt war.
»Mien Leev, schön dass du dich meldest«, hörte sie die kratzige Stimme ihres Großvaters. »Na, haben die Radiant Rovers das Spiel am Wochenende gewonnen?«
»Opa, du musst die Kamera umdrehen. Ich kann dich gar nicht sehen.«
»Wie umdrehen? Das Tablet? Ach so. Moment.«
Kurz darauf sah Lea in zwei riesige Nasenlöcher. »Und jetzt etwas Abstand zum Tablet, bitte.«
Die Nasenlöcher wichen nach hinten, und Opas glatt rasiertes Gesicht wurde erkennbar. »So, das hätten wir. Jetzt erzähl, habt ihr gewonnen?« Opa Enno verfolgte die Spiele ihres Basketballteams genau und trug sich die Ergebnisse sogar in sein Notizbuch ein.
»Klar«, sagte sie und grinste breit. »98 zu 62.« Sie spielte, seit sie in ihren Teenagerjahren einen Wachstumsschub gehabt und die meisten ihrer Klassenkameraden größentechnisch eingeholt hatte.
Opas nächste Frage, so unscheinbar sie auch sein mochte, brachte sie allerdings aus dem Konzept. »Und, wie geht es dir?«
»Mhm, wat mutt, dat mutt«, murmelte sie ausweichend. Die Sache mit Konstantin lag wie Senkblei auf ihren Schultern. »Und bei euch?«
»Deiner Oma geht es gar nicht gut. Ich wollte dich aber nicht beunruhigen.« Die Falten zwischen seinen buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Opa, ich bin siebenundzwanzig. Du musst mich nicht mehr vor schlechten Nachrichten beschützen.«
»Ich weiß, ich weiß.« Er brummte undeutlich vor sich hin. Es klang nach »isthaltallesnichtmehrsoeinfach«.
»Na, erzähl. Was hat sie denn genau?«
»Alles und nichts.« Er seufzte. »Der Arzt sagt, sie braucht dringend eine Kur. Das will sie aber nicht. Stattdessen möchte sie mit mir zur Erholung eine Kreuzfahrt machen.«
»Lass mich auch mal an das Tablet, du Bullerjan!«, fuhr Oma Tilda im Hintergrund dazwischen. Lea hörte es rascheln, Opa Enno fluchte, dann erschien das blasse Gesicht ihrer Oma vor ihr. Die tiefen dunklen Ringe unter ihren Augen erschreckten Lea. »Dein Opa redet Unsinn«, behauptete sie rasselnd. »Ich bin nicht krank.«
»Das sieht der Arzt aber anders. Deine Pumpe pumpt nicht richtig«, schimpfte Opa Enno.
»Jaja. Aber eine Kreuzfahrt wäre schön. Leider ist dein Opa nicht von der Praxis loszueisen.«
»Was? Ich …?«
»Pscht, noch mal!«, fuhr Oma ihn an. »Ich telefoniere.« Sie rückte ein Stück nach hinten, und Lea sah, dass sie eine Topfpflanze im Arm hielt. »Also, die Sache ist die. Es gibt da dieses tolle Angebot im Mittelmeer. Mit dem Traumschiff Summer Star. Barcelona, Palermo, Athen. Hach, herrlich! Das wollte ich immer schon mal machen, aber es gibt immer zu viel zu tun! Du kennst das ja, Kind.« Sie schaute am Tablet vorbei, und ihre Pupillen weiteten sich, als könnte sie dort das Traumschiff vor sich sehen, das im Schatten einiger Palmen vor Anker lag.
Lea nickte. »Ja, das tue ich. Man kommt selten dazu, die Sachen zu verwirklichen, die man sich wünscht.« Sie dachte an das Meer, die weißen Schaumkronen, die auf den Wellen tanzten. Lauter werdendes Möwengekreisch, wenn ein Kutter sich näherte. Oma sehnte sich nach Wärme und Mittelmeer, aber Lea zog die raue Nordsee vor. In diesem Moment vermisste sie ihre Heimat umso mehr. Pewsum lag zwar nicht direkt am Meer, aber dort war es jederzeit in Reichweite. Und an stürmischen Herbsttagen wehte die frische Meeresbrise bis zum Haus ihrer Eltern. Aber da gab es diese schreckliche Sache, die damals passiert war, der Grund, warum sie nie lange in Ostfriesland blieb …
»Sag mal, mein Kind, deine Mutter meint, du arbeitest nicht mehr bei Glamour Vets for Glamour Pets?«
Lea presste die Lippen zusammen. Da hatte ihre Mutter also schon Vorarbeit geleistet. »Das stimmt. Es gab Differenzen mit Adele. Ich muss mir eine neue Stelle suchen.«
»Harrijasses! Wenn die dich freiwillig hergibt, ist sie selbst schuld. Lass mich raten: Du hattest keine Lust mehr, dich von ihr schikanieren zu lassen?«, mischte sich Opa wieder ein.
Auch wenn er damit falschlag, tat es ihr gut, dass er an sie glaubte. Ein Staubtuch raste auf den Bildschirm zu, und für ein paar Sekunden sah Lea nur kreisende Stoffwirbel.
»Tu das weg«, maulte Opa.
»Das ist aber doch ganz verschmiert, man sieht ja gar nichts«, behauptete Oma.
»Du brauchst eine neue Brille.«
»Und du brauchst eine Brille.«
Lea grinste. Die beiden stritten sich immer, aber meinten es nie böse. Oma und Opa hielten zusammen, wenn es ernst wurde. Das war so sicher wie Ebbe und Flut.
Endlich verschwand der Lappen, und Oma sah sie wieder an.
»Ich habe eine ganz, ganz tolle Idee«, verkündete sie. »Was hältst du davon, wenn du eine Weile auf die Krummhörn zurückkehrst? Du kannst bei uns wohnen.« Oma wusste, wie sehr Lea das alte Häuschen ihrer Großeltern liebte, das direkt neben dem Haus ihrer Eltern lag. »Hier blüht alles, es ist wunderschön. Du kannst zur Ruhe kommen und planen, wie es weitergeht«, redete sie weiter. Ein hoffnungsvoller Glanz lag in ihren Augen.
Lea überlegte. »Eine Auszeit wäre nicht schlecht«, gab sie zu. Endlose Spaziergänge am Meer, morgens ausschlafen und danach im Café Zeitung lesen – keine schlechte Idee. »Ja, das könnte ich mir gut vorstellen.«
»Meinst du wirklich?« Omas Stimme quietschte fast. »Das wäre wunderbar. Hach, dann buche ich uns gleich die Tickets. Meine Güte, welch Segen! Also dass du deine Arbeit verloren hast, tut mir wirklich sehr leid, aber dass dein Opa und ich endlich verreisen können! Wie schön!«
»Wie?«, fragte Lea, dann dämmerte es ihr. Ihre Großeltern wollten, dass sie auf das Haus aufpasste, während sie ihre Kreuzfahrt machten.
»Oder ist dir das nicht recht?« Omas Augen waren groß wie Wagenräder, und die Muskeln neben ihnen zuckten nervös.
Lea hasste es, ihre Großeltern zu enttäuschen, aber sie hielt es nie lange in Pewsum aus. Irgendwann holten sie immer die Erinnerungen ein, wenn sie auf alte Schulkameraden traf oder ein blaues Coupé sah, das dem Sportwagen von Tarjas Vater ähnelte.
»Was ist mit Opas Praxis?«, fragte sie, in der Hoffnung, einen Weg zu finden, um die Idee abzuwehren.
Oma wackelte triumphierend mit dem Zeigefinger. »Na, das ist das Beste daran! Du wirst die Praxis so lange führen. Dann gibt es keine Lücke in deinem Lebenslauf, und du kannst stressfrei den Arbeitsmarkt erforschen.« Triumphierend schaute sie nach links, wo Opas unglückliche Miene erschien.
»Aber mien Leevke, die Lea, die hat doch ihr ganz eigenes Leben«, mischte er sich ein.
Doch Oma griff bereits nach einem Katalog und hielt das Bild eines Kreuzers in die Kamera. Ihre Hände zitterten so stark, dass das Schiff wie im Sturm schwankte. »Dreimal am Tag gibt es ein Buffet!«, rief sie, senkte die Broschüre und blätterte darin herum. »Schau mal, Enno, die haben sogar eine digitale Golf-Anlage an Bord. Da kannst du an deinem Handicap arbeiten.« Auf ihre blassen Wangen hatte sich ein zartrosafarbener Schimmer gelegt, und sie sah so glücklich aus, dass Lea ein schlechtes Gewissen bekam. Ohne Oma Tildas Hilfe hätte sie nie die Eins in Mathe geschafft, die sie für den Numerus Clausus gebraucht hatte, der ihr den Zugang zum Tiermedizinstudium sicherte. Stundenlang hatte Oma ihr Formeln erklärt und Karteikarten abgefragt. »Zehn von neun Schülern sind mit Mathe überfordert – du nicht!«, war ihr Motivationsspruch gewesen, wenn Lea an schier unlösbaren Aufgaben verzweifelte.
Opa schaute verlegen zu Boden, und Lea konnte ihn nicht recht lesen. Wünschte er sich die Kreuzfahrt, oder war es ihm nicht recht, wenn sie für ihn einsprang? Seine Praxis war sein Leben, sein ganzer Stolz. Aber als er sehnsüchtig zur Katalogseite schielte, kannte sie die Antwort.
»Das können wir so machen«, sagte sie, erstaunt darüber, wie leicht ihr diese Worte über die Lippen kamen. Nie wieder kehre ich nach Pewsum zurück, nie wieder, selbst wenn der Rest der Erde gefriert, hallte der Schwur in ihr nach, den sie mit neunzehn geleistet hatte. Aber das Wohl ihrer Großeltern war ihr wichtiger.
»Meinst du wirklich?« Omas Stimme überschlug sich vor Begeisterung. »Würdest du das tun? Ist nur für sechs Wochen, danach kommen wir braungebrannt zurück und meine Zipperlein sind Geschichte.«
»Klar. Wenn Opa damit einverstanden ist«, antwortete Lea zögerlich. In ihrem Bauch grummelte es bei der Vorstellung, für einen längeren Zeitraum in ihrer Heimat zu verweilen. Was war, wenn sie Tarja begegnete und mit ihr all die Vorwürfe und Schuldzuweisungen zum Tod ihres Vaters wiederkehrten?
Sonntag, 03. Mai
Die Sonne hing tief über den weiten Wiesen der Krummhörn und warf ein warmes Licht auf die gepflegten Gehöfte und reetgedeckten Häuser. Ein leichter Wind trug den salzigen Duft der Nordsee über die Landschaft. Lea hatte die Fenster ihres uralten Kombis heruntergefahren und sog den Geruch ihrer Heimat tief in sich auf. Küstengräser, Torf, Salzwiesen, Algen. Obwohl sie das letzte Weihnachtsfest durchgearbeitet hatte und seit gut anderthalb Jahren nicht mehr nach Hause gefahren war, kam es ihr vor, als wäre sie nie weg gewesen. Auch Peanut schien der Ausblick zu gefallen. Jedes Mal, wenn sie an einer Schafwiese vorbeifuhren und der Geruch nach Wollfett zu ihnen herüberwehte, spitzte er die Ohren und bellte.