Seehundsommer - Marieke Hansen - E-Book
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Seehundsommer E-Book

Marieke Hansen

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Beschreibung

Sommer, Sonne, Strand und jede Menge Seehunde - Lassen Sie sich von Marieke Hansen an die deutsche Nordseeküste entführen!


Nach einem arbeitsreichen Jahr als Konditorin auf einem Kreuzfahrtschiff hat Fenja eine Auszeit dringend nötig. Wie schön, dass Oma Lotti ihr anbietet, den Sommer bei ihr in Ostfriesland zu verbringen! Hier könnte sie endlich zur Ruhe kommen. Wäre da nicht Sven, Omas Mitarbeiter in der Seehundstation, mit dem Fenja von der ersten Minute an aneinandergerät. Sie hält ihn für einen eingebildeten Schnösel, er sieht in ihr die tollpatschige Großstädterin. Als Oma Lotti plötzlich krank wird und die Seehundstation in Schwierigkeiten gerät, ist jedoch schnell klar: Fenja und Sven müssen sich wohl oder übel zusammenraufen ...


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Seitenzahl: 374

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumZitatKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Danksagung

Über dieses Buch

Sommer, Sonne, Strand und jede Menge Seehunde –– Lassen Sie sich von Marieke Hansen an die deutsche Nordseeküste entführen! Nach einem arbeitsreichen Jahr als Konditorin auf einem Kreuzfahrtschiff hat Fenja eine Auszeit dringend nötig. Wie schön, dass Oma Lotti ihr anbietet, den Sommer bei ihr in Ostfriesland zu verbringen! Hier könnte sie endlich zur Ruhe kommen. Wäre da nicht Sven, Omas Mitarbeiter in der Seehundstation, mit dem Fenja von der ersten Minute an aneinandergerät. Sie hält ihn für einen eingebildeten Schnösel, er sieht in ihr die tollpatschige Großstädterin. Als Oma Lotti plötzlich krank wird und die Seehundstation in Schwierigkeiten gerät, ist jedoch schnell klar: Fenja und Sven müssen sich wohl oder übel zusammenraufen –…

Über die Autorin

Umgeben von Natur und Tieren wuchs Marieke Hansen in einem kleinen Dorf im Oberbergischen Land auf. Nach einem Studium der Umweltwissenschaften begann sie, sich für Wildtiere einzusetzen. Heute ist sie in der Wildtierrettung tätig und kümmert sich um verwaiste Jungtiere. Als Expertin hat sie mehrfach Radio-Interviews gegeben und vor Fernsehkameras gestanden. Ihre Liebe zum Meer entstand durch zahlreiche Urlaube in ihrer Kindheit –– nun lebt sie selbst nahe der Küste und ist vertraut mit Wind und Wellen. In ihrem ersten Roman vereint Marieke Hansen ihre Erfahrung mit wilden Tieren mit ihrer Passion für das Meer.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany.

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Textredaktion: Anne Schünemann, Schönberg

Titelmotive: © ah_fotobox /AdobeStock | RelaxFoto.de /istockphoto | dendong / istockphoto | Svetlana-Cherruty/ iStock /Getty Images Plus | momnoi /iStock / Getty Images Plus | creativesunday2016 / iStock / Getty Images Plus | Stefan Ziese / imageBROKER.com

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2089-2

luebbe.de

lesejury.de

»Lüch up un fleu herut«(Hebe auf und fliege weit hinaus)

Wahlspruch der Klootschießer

Wer kennt das Land nicht, wo der Torf die Erde und arger Nebel stets den Himmel bedeckt?

Wer kennt das Land nicht, das bei seinem »Werde!« der Herrgott selber erst zuletzt entdeckt?

Leutnant von Düring in Aurich, 1853

Kapitel 1

Fenja wagte den ersten Schritt ins eiskalte Wasser. Der volle Mond stand hoch über dem Deich und warf ein gespenstisches Licht auf die Buhnen. Der Wellengang war ruhig, auch die Möwen schliefen. Sie wagte sich weiter nach vorne und schloss dann die Augen. Salz. Wind. Dieser einzigartige Gesang des Wassers, der Lieder von Urlaub, den Sommerferien ihrer Kindheit und Oma Lottis Umarmung in ihren Ohren summte. Sie war müde, ausgelaugt, erschöpft.

Einen Moment verharrte sie, sog alles in sich auf und versuchte loszulassen. Das letzte Jahr war hart gewesen, es hatte sie all ihre Kraft gekostet. Sie hatte als Konditorin auf einem Kreuzfahrtschiff gearbeitet, war von Gibraltar nach Istanbul und von Venedig nach Kairo gefahren und hatte doch das Meer so wenig genießen können. Die Schichten waren lang gewesen, oft zwölf, manchmal vierzehn Stunden am Stück. Während die Gäste an Land gingen, hatte sie mit ihrem Küchenteam die Vorratskammern aufgefüllt. Und in letzter Zeit saß ihr ständig dieses nervige Klingeln im Ohr, das immer dann schlimmer wurde, wenn sie unter Stress stand.

Nun war sie wieder an dem Ort, an dem sie geboren worden war, Greetsiel an der ostfriesischen Küste. Ein Ort, der Erinnerungen weckte, mit dem sie heute jedoch fast nichts mehr verband.

Silberne Wellenkronen tanzten um sie herum, und auch, wenn es nicht sein konnte, glaubte sie, die Muschelbänke im Meer klappern zu hören. Sie löste sich vom Anblick des Mondes, der sich so verheißungsvoll auf der Wasseroberfläche spiegelte, es schien fast, als wäre er im Meer versunken und beleuchte es von unten. Wie verzaubert trat sie einen weiteren Schritt vor. Ein saugendes Geräusch ertönte, als sie knöcheltief im Watt versank. Sie ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu finden, und spürte einen stechenden Schmerz, als eine Muschel ihr die Fußsohle aufriss. Sie war es nicht mehr gewohnt, barfuß zu laufen. Fluchend humpelte sie den Weg zurück, spürte wieder festen Boden unter den Füßen und suchte den Parkplatz neben der Düne, auf dem ihr VW Käfer parkte.

Dort angekommen kramte sie ein Handtuch aus ihrer Tasche und trocknete ihre Füße, um sich die Wunde anzusehen. Ein Kratzer, mehr nicht, aber er war tief und blutete. Unter der Abdeckung des Kofferraums fand sie den Erste-Hilfe-Kasten. Als sie mit klammen Fingern die Mullbinde hervorholte, fiel sie ihr herunter, nur um unter das Auto zu kullern.

»Mist.« Sie beugte sich tief unter den Wagen und tastete im Sand danach, bis sie endlich das knisternde Plastik der Verpackung spürte.

»Kann ik helpen?«, fragte eine tiefe Stimme hinter ihr. Fenja erschrak so sehr, dass sie mit dem Hinterkopf an die Stoßstange knallte.

»Mist«, wiederholte sie. »Aua.« Kleine Sternchen tanzten vor ihren Augen. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich wieder zu orientieren.

Vor ihr stand ein Mann mit dunklen Wuschellocken, einem Fünftagebart und, wenn sie es im schummrigen Licht des Käfers recht erkennen konnte, schokoladenbraunen Augen. Er trug eine verschlissene Jeans, ein löchriges T-Shirt und wirkte nicht besonders vertrauenerweckend.

»Nein, danke. Alles in Ordnung«, murmelte sie und trat einen Schritt zurück.

»Sicher?«

»Ja.«

Der Mann hob eine Augenbraue. Anstatt sich in den Schatten zurückzuziehen, aus dem er gekommen war, blieb er stehen und verschränkte die Arme. »Du solltest um diese Uhrzeit nicht allein hier draußen sein.«

Seine Bemerkung jagte Fenja einen Schauer über den Rücken. Was wollte dieser Typ von ihr? »Wie bitte? Sie sind doch auch hier.«

»Ich komm von hier. Ich kenne mich aus.«

»Wer sagt, dass ich nicht auch hier wohne?«

Der Mann lachte. »Erstens hättest du mir bei meiner ersten Frage auf Plattdüütsk geantwortet. Zweitens trägt kein Einheimischer an einem Mittwochabend eine Seidenbluse am Strand. Drittens kommt nur ein Tourist auf die Idee, ausgerechnet an diesem Abschnitt barfuß ins Wasser zu latschen.«

Fenja stieg die Schamesröte ins Gesicht. Das fing ja gut an.

Und der Lockenkopf war noch nicht fertig. »Viertens kenne ich hier jeden. Es ist eine kleine Gemeinschaft.«

»Soso«, sagte Fenja und verdrängte tapfer das traurige Gefühl, das immer dann in ihr aufstieg, wenn sie sich entwurzelt vorkam. Das hier war eigentlich ihre Heimat, und doch gehörte sie nicht dazu. Auch in Düsseldorf hatte sie sich nie richtig heimisch gefühlt.

»Das sieht schmerzhaft aus.« Er deutete auf ihren Fuß.

»Nein, ist es nicht. Nur ein Kratzer. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Ich habe zu tun.«

Er hob beschwichtigend die Hände und grinste, verzog sich aber tatsächlich, sodass sie in Ruhe den pochenden Schnitt verarzten konnte. Vorsichtig schlüpfte sie wieder in den Schuh – Oma sollte nichts von dieser peinlichen Begegnung erfahren.

Ihre Mutter hatte sie gewarnt: »Die Greetsieler lieben ihre Heimat. Mach dir keine Illusionen, sie werden dich nicht als eine von ihnen akzeptieren. Für die waschechten Krummhörner bist du eine Touristin.«

Wie recht sie gehabt hatte! Doch eigentlich konnte Fenja das herzlich egal sein. Sie wollte ihre Oma besuchen, entspannen, runterkommen und endlich wieder tief durchatmen. Das würde allerdings schwierig werden, wenn alle Greetsieler solche arroganten Torfnasen waren wie dieser Typ.

Sie seufzte und schüttelte auch den Sand aus ihrem anderen Schuh, bevor sie hineinstieg. Es war viel zu viel Zeit vergangen, seit sie Oma zuletzt gesehen hatte. Ihr Leben in der Großstadt und zuletzt auf dem Schiff hatte sie so beansprucht, dass sie jahrelang nicht mehr in den Norden gefahren war. Immer war etwas dazwischengekommen, und vielleicht hatte sie es auch vermieden, auf die Krummhörn zurückzukehren, weil sie bittersüße Erinnerungen damit verband.

Fünf Minuten später tuckerte sie durch die verlassenen Straßen von Greetsiel, die im Dunkeln unwirklich und verwunschen wirkten. Tagsüber zog das Dorf in der Hochsaison viele Besucher an, aber nachts, wenn die Werbetafeln und Postkartenständer fehlten, erinnerte es sie an eine verlassene Filmkulisse in Hollywood. Gerne hätte sie sich den Ortskern angeschaut, aber das musste bis morgen warten, denn dort durften keine Autos fahren. Früher hatte sie es genossen, an der Hand ihrer Oma entlang der Souvenirläden, Modeboutiquen und Cafés zu schlendern und sich in der Eisdiele am Hafen eine Kugel Erdbeereis zu kaufen. Damals kostete die Kugel noch 60 Pfennig, das war jetzt fünfundzwanzig Jahre her. Die Zahl gruselte sie.

Ihre Eltern hatten sich noch vor ihrer Geburt getrennt, aber ihr Vater hatte sie jeden Sommer für mehrere Wochen zu sich nach Greetsiel eingeladen. Da er viel mit seinem Boot unterwegs gewesen war, hatte Oma Lotti meist auf sie aufgepasst. Sie hatte ihr Freiheiten gelassen, die sie zu Hause nicht gehabt hatte. Nur eins hatte sie nie gedurft: die Seehundstation betreten, die Oma leitete.

Ihre Mutter hatte ihr erst viele Jahre später den Grund erklärt. Es lag an Garlef, Oma Lottis zweitem Mann, der ein Alkoholproblem hatte. Papa und Garlef konnten einander nicht leiden. Ihr Vater hatte ihrem Stiefopa nie verziehen, dass seine Mutter einen Großteil ihrer Energie damit verbrachte, seine Schnapsflaschen zu verstecken und sich für sein Verhalten zu entschuldigen. Es war zu einem Streit zwischen Papa und Oma gekommen, der irgendwann sogar zum Bruch geführt hatte. Papa zog nach Hamburg und gründete dort eine neue Familie, und mit dem Wegzug ihres Vaters aus der Krummhörn hatte auch Fenja den Kontakt zu ihrer Oma verloren. Sie hatten zwar telefoniert, und Oma Lotti war einige Male mit dem Zug nach Düsseldorf gekommen, aber es war nie mehr so gewesen wie früher.

Nun lebte Opa Garlef schon lange nicht mehr, und Fenja freute sich darauf, Oma endlich einmal in der Krummhörn zu besuchen. Und natürlich auch, endlich ihre legendäre Seehundstation kennenzulernen und mitzuhelfen, sich um die Tiere zu kümmern.

Sie setzte den Blinker und verließ den Ort auf der Nordseite. Am Störtebekerkanal entlang fuhr sie Richtung Neuwesteel, bis sie in die kleine Straße bog, in der die Seehundstation lag. Natürlich kannte sie den ehemaligen Gulfhof von Fotos, aber als sie nun vor dem alten Gebäude hielt, staunte sie dennoch. Das Vorderhaus war so groß, dass es mehreren Generationen Platz bieten könnte, und auch die Dimensionen des angrenzenden Scheunentrakts waren enorm. Durch die Abseiten des Daches war die Scheune hinten breiter als das Haus. Dort mussten sich die Anlagen für die Seehunde befinden. Das Dach war mit roten Ziegeln eingedeckt, die im Mondlicht schimmerten, nur auf dem oberen Bereich des Scheunentraktes fand sich Reet.

Ein Schild begrüßte sie: Auffangstation »Seehund in Sicht!«, darunter prangte ein aufgemalter Heuler mit großen Knopfaugen. Kaum war sie ausgestiegen, öffnete sich bereits die Haustür und Oma Lotti stürmte heraus.

»Mien Leev, da bist du ja!«, rief sie und umarmte Fenja so fest, dass ihr die Luft wegblieb.

»Hallo, Oma«, krächzte sie und schnappte nach Luft. »Ich freue mich so, dich wiederzusehen.«

Ihre Großmutter roch wie früher. Da war eine Note von Vanille, vermischt mit etwas Erdigem, das an einen blühenden Garten erinnerte. Sanft schob Oma sie wieder ein Stück von sich weg und betrachtete sie. Auch ihr Gesicht war Fenja sofort wieder vertraut. Ein paar mehr Falten hatten sich in ihre Züge gestohlen, und sie trug nun eine Brille mit modischem Gestell, aber ihr Strahlen war noch genauso herzlich, wie Fenja es in Erinnerung hatte. Die kurzen grauweißen Locken kringelten sich unverändert um ihr schlankes Gesicht, das freundlich und scharfsinnig zugleich wirkte.

Bei genauerem Hinsehen entdeckte Fenja eine lilafarbene Strähne über Lottis Schläfe, die sich frech an den Ohren vorbeischob. So war ihre Oma schon damals gewesen – immer anders, immer ein bisschen verrückt. Fenja lächelte. »Entschuldigung, dass es so spät geworden ist. Die Fahrt hat länger gedauert als geplant. Erst gab es einen Unfall bei Düsseldorf, und später war die A31 streckenweise wegen einer Baustelle gesperrt.«

»Warst du am Wasser, mien Dern?«, fragte Oma Lotti, ohne auf ihre Erklärung einzugehen.

»Ja. Ich habe kurz am Strand gehalten. Woher weißt du das?«

Sie lachte. »Du riechst nach Meer. Außerdem kleben Schlammspritzer auf deinem Ärmel, die holt man sich nicht auf der Autobahn.«

Fenja grinste. »Gut beobachtet, Oma.« Schon früher war ihren Argusaugen nie etwas entgangen.

Als sie ihren Koffer von der Rückbank hievte, ließ Oma es sich nicht nehmen, ihre Reisetasche zu tragen. Seite an Seite marschierten sie über den Kies zum Haus.

Drinnen empfing sie ein köstlicher, heimeliger Duft nach Gewürzen und überbackenem Käse. Es war mollig warm, und mehrere Bleiglaslampen verströmten ein angenehmes Licht.

»Hm, das riecht lecker«, sagte Fenja, während sie ihren Koffer neben einen antiken Hutständer stellte.

»Ich wollte nicht, dass du hungrig ins Bett gehst«, erklärte Oma und führte sie in die alte Wohnküche.

Neugierig schaute Fenja sich um. Die Schränke und der Tisch waren aus einem nussbraunen Holz, alles wirkte einladend und urgemütlich. Der Geruch aus dem Ofen ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Das ist echt lieb. Ich habe seit heute Mittag nichts mehr gegessen.«

»Und das als Konditorin! Ja, sag mal, du bist spargeldürr. Hat man dir auf dem Schiff nichts zu essen gegeben?« Sie piekte Fenja in die Seite, was diese zusammenzucken ließ. Wenn sie eins mit Sicherheit nicht war, dann spargeldürr. Als Konditorin musste man schließlich seine eigenen Kreationen probieren und mögen.

»Nu setz dich, min Deern, und trink erst mal einen Schluck«, sagte Oma und holte eine Kanne mit Stövchen aus einem Schrank, was Fenja wenig wunderte. Immerhin war Tee so etwas wie das Nationalgetränk Ostfrieslands. Hier wurde so viel Tee getrunken wie sonst nirgendwo auf der Welt – 300 Liter pro Person pro Jahr, das war mehr als das Elffache des Durchschnittsdeutschen.

Nachdem der Tee gezogen hatte, goss Oma ihn in die Servierkanne um und stellte eine hauchdünne Porzellantasse vor Fenja. Das herbe, würzige Aroma der dunklen Flüssigkeit stieg ihr in die Nase. Mit der Zuckerzange holte sie Kluntjes aus der Dose, hörte, wie es leise knisterte, als der Kandis sich auflöste. Routiniert versah sie den Tee mit Sahne, die sie gegen den Uhrzeigersinn in die Tasse tröpfelte, um symbolisch die Zeit anzuhalten.

»Du hast nichts verlernt«, sagte ihre Oma leise, und Stolz stand in ihren Augen.

»Ich habe dir etwas mitgebracht«, sagte Fenja verlegen und kramte ein rot eingewickeltes Päckchen aus ihrer Handtasche.

»Ach, das wäre doch nicht nötig gewesen.« Oma Lotti nahm das Mitbringsel entgegen und löste die Schleife. Das Geschenkpapier raschelte, als sie den Inhalt herausholte. Ihre Augen weiteten sich beim Anblick der muschelbesetzten Dose, die blau, grün und weiß bemalt war.

»Die haben wir gemeinsam gebastelt«, sagte sie gerührt. Fenja bemerkte, wie ihre Augen feucht wurden. »Da warst du erst fünf und konntest dich noch hinter einem Ölfass verstecken.« Unauffällig drehte sie sich weg und wischte sich über die Wange.

Auch Fenja wurde wehmütig ums Herz. Das schlechte Gewissen nagte an ihr. Sie war wirklich viel zu lange nicht mehr hier gewesen. Es war schön, Oma endlich wiederzusehen.

»Öffne sie«, bat sie, und ihre Großmutter hob den Deckel an.

Auf dunkelblauem Samt lag eine silberne Kette mit Medaillon. Oma ließ es aufschnappen und schaute auf ein Foto ihres jüngeren Ichs. Kopf an Kopf mit einem dunkelblonden Fratz, der in die Kamera grinste.

»Meine Güte hattest du damals helle Haare.« Sie ließ die Kette durch die Finger gleiten. »So ein edles Stück, Fenja. Das hätte nicht sein müssen. Du reichst mir schon als Geschenk.«

Statt zu antworten, nahm Fenja ihr die Kette ab und legte sie ihr um den Hals. Sie stand Oma so gut, wie sie gehofft hatte, und ihr Strahlen verriet, dass sie sich ehrlich darüber freute.

Zufrieden widmete Fenja sich wieder ihrer Tasse. Der heiße Tee tat gut und wärmte sie von innen.

Als Oma den Auflauf servierte, nahm Fenja sich zweimal nach, so gut schmeckte es. Als Nachspeise gab es Butterkuchen. Sie schaufelte zwei Stück in sich hinein. Der Geschmack weckte alte Erinnerungen, denn Oma hatte diesen Kuchen früher öfter gebacken. Zu ihrem sechsten Geburtstag hatte sie ihn sogar in einem Paket nach Düsseldorf geschickt, wo er halb gefroren ankam, denn Fenja war ein Januarkind.

»Der ist natürlich nichts gegen deine Torten«, sagte Oma Lotti, aber Fenja winkte ab. Oma hatte noch nie eine ihrer Torten probiert. »Quatsch, der ist super. Wie kriegst du den nur so fluffig hin?«

»Altes Geheimrezept. Das verrat ich niemandem. Wäre ja sonst nicht mehr geheim.«

Später machten sie gemeinsam den Abwasch – Oma Lotti weigerte sich, eine Spülmaschine zu kaufen – und unterhielten sich dabei. »Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Oma.

Fenja zögerte mit der Antwort. Ihre Mutter litt seit ihrer Jugend immer wieder an Depressionen und hatte nach der Trennung von Fenjas Vater zusammen mit der kleinen Fenja die Krummhörn verlassen, um endlich ihr Lebensglück zu finden. Doch die Schübe verfolgten sie auch heute noch. »Es geht ihr besser, seit sie einen neuen Freund hat«, sagte Fenja schließlich. Und die Medikamente gewechselt hat, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Und wie geht es Fiete?« Die Frage klang gepresst.

Fenja schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, gab sie zu. Sie hatte wenig Kontakt zu ihrem Vater. »Redet ihr immer noch nicht miteinander?«

»Nein.« Omas Gesicht hatte sich verdunkelt. »Er hat mir die Heirat mit Garlef nie verziehen. Ich würde so gerne wissen, ob es ihm gutgeht.«

»Er hat eine Villa in Blankenese gekauft«, erzählte Fenja. »Seine Kanzlei läuft gut. Beide Söhne studieren inzwischen Jura. Wir schreiben uns zu Weihnachten und zum Geburtstag Karten, mehr aber auch nicht. Gesehen haben wir uns seit Jahren nicht, ich glaube, es ist ihm vor seiner neuen Familie unangenehm, dass es mich gibt.«

Ihre Entscheidung, trotz ihres guten Abiturs eine Ausbildung zur Konditorin zu machen, hatte das Verhältnis zu ihrem Vater auch nicht unbedingt verbessert. Er legte Wert auf einen gewissen Status, und seines Erachtens gehörte ein Studium, bevorzugt an einer Elite-Uni, dazu. Wenn sie nun darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass er so gar nichts mit der alternativen Art seiner Mutter gemein zu haben schien. Was er wohl zu der lilafarbenen Strähne und den pinken Flamingo-Ohrringen seiner Mutter sagen würde? Bei dem Gedanken musste sie grinsen.

»Weißt du, ich denke, wir haben uns einfach entfremdet«, fuhr sie endlich fort. »Vorletztes Jahr habe ich ihn zu seinem Geburtstag angerufen, aber das war total merkwürdig. Wir wussten beide nicht, was wir sagen sollten.«

Sie unterdrückte einen Seufzer. Offenbar wiederholte sich dieselbe Geschichte in der nächsten Generation: Wegen einer Heirat beziehungsweise einer neuen Familie brach die alte Familie auseinander. Wegen Garlef hatten sich Oma und Fenjas Vater zerstritten, und nach Papas Heirat hatte nun auch Fenja den Kontakt zu ihm verloren. Das war traurig, aber eine Lösung für das Problem kannte sie nicht – dies war keine verklärte Geschichte, in der am Ende alle zusammenfanden, sondern das Leben. Sie waren alle erwachsen und ihren Weg gegangen. Vielleicht hatten wenigstens Oma und sie eine Chance, sich mit der Vergangenheit zu versöhnen.

»Ich bin wirklich froh, dass du gekommen bist, Fenja«, sagte Oma in diesem Moment mit weicher Stimme. »Ich habe mich immer gefragt, wie es dir geht und was du machst.«

Fenja lächelte. Sie würde sich gut mit Oma verstehen, das spürte sie.

Die Küchenuhr zeigte nach Mitternacht, als Fenja gähnte und aufstand. »Könntest du mir zeigen, wo ich schlafen soll? Ich bin müde und möchte dir gerne morgen gleich zur Hand gehen.«

Oma führte sie durch den Flur, an dessen Ende sie eine Tür öffnete. Es roch nach Kräutern, die wohl aus dem Holzöl stammten, mit denen Oma die alten Dielen bearbeitete. Vor ihr lag ein niedlicher Raum, der erstaunlich zeitgemäß eingerichtet war und nicht zum Rest des Hauses passte: hellgraue Möbel, türkisfarbener Bettbezug, mintgrüner Teppich, alles im maritimen Stil.

»Wow, Oma, das ist sehr gemütlich.« Sie ließ die Hand über ein Kissen mit gestreiftem Seidenbezug gleiten.

»Ich wollte doch, dass du dich wohlfühlst. Da hab ich die Gelegenheit genutzt und Sven das nach meinen Vorstellungen einrichten lassen.«

Fenja schluckte. Damit, dass ihre Oma gleich ein Zimmer für sie renovieren würde, hätte sie nicht gerechnet.

»Schlaf ruhig aus. Dann frühstücken wir gemeinsam, und anschließend zeige ich dir die Station. Nachmittags muss ich zum Arzt. Sven hat versprochen, dich durch Greetsiel und die Umgebung zu führen.«

»Wer ist Sven?«, fragte Fenja neugierig. Den Namen hatte sie eben zum ersten Mal gehört.

»Er arbeitet seit drei Jahren bei mir und bewohnt gelegentlich das Zimmer, das deinem schräg gegenüberliegt. Das heißt, wenn er nicht gerade in Greetsiel bei seinem Vater übernachtet. Ich habe ab und zu ehrenamtliche Helfer hier, aber Sven ist mein Angestellter. Er ist eine große Hilfe. Ohne ihn hätte ich meine Station längst schließen müssen. Er ist in deinem Alter und kennt das Wattenmeer wie kein anderer. Ihr werdet euch sicher gut verstehen.«

Fenja zuckte mit den Schultern. Wenn Leute sagten, man würde sich sicherlich gut mit jemandem verstehen, bedeutete das normalerweise, dass man eine unsagbare Nervensäge kennenlernte.

»Ich bin vor allem deinetwegen hier, Oma.«

In dem Moment ging die Haustür auf, und Schritte ertönten auf den Dielen. Oma lachte. »Wenn man vom Teufel spricht! Das muss Sven sein, er war noch beim Treffen des Boßelvereins, die Jungs nehmen das sehr ernst.«

Fenja trat neugierig in den Flur, um den Neuankömmling zu begrüßen, und erstarrte. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Ihr Mund war auf einmal so trocken, dass keine Worte herauswollten.

»Du?« Vor ihr stand der junge Mann mit dem Fünftagebart und dem dunklen Wuschelhaar. Er grinste schief, aber seine Augen lachten nicht mit.

Das konnte ja heiter werden.

Kapitel 2

»Dann wollen wir mal«, sagte Oma Lotti. Der ganze Tisch wackelte, als sie das dicke Fotoalbum vor Fenjas Frühstücksteller knallte.

»Bitte nicht«, murmelte Sven, der Fenja schräg gegenübersaß. Sie schaute von ihm zu Oma Lotti und verstand nicht, was er nun schon wieder für ein Problem hatte. Es war ein altes Album, in dunkles Leder gebunden, das den charakteristischen Geruch alter Buchseiten verströmte.

Hungrig schielte sie auf ihr Croissant, das halb aufgegessen auf ihrem Teller lag. Aber Oma Lotti sah so erwartungsvoll aus, dass sie mit vorgespieltem Eifer die erste Seite umblätterte. Ein vergilbtes Foto zeigte Oma mit lederner Gartenschürze, ihre langen dunklen Haare zu einem Zopf geflochten. Eine gewisse Ähnlichkeit zu ihr selbst war nicht zu leugnen. Die hohen Wangenknochen, die langen Wimpern, das schlanke Gesicht mit dem verschmitzten Mund und dem einen Grübchen, das blieb, selbst, wenn man nicht lachte. Es war dasselbe Haus, derselbe Garten, und trotzdem war alles anders. Da, wo heute nur ein paar mickrige Büsche wuchsen, hatten früher Rosen gestanden. Obwohl es ein Schwarzweißfoto war, glaubte Fenja zu erkennen, dass sie rot gewesen waren.

»Das war hier draußen«, sagte Oma und deutete aus dem Fenster. »Ich hatte die schönsten Rosen in der ganzen Krummhörn. Ständig kamen Künstler vorbei, die das Haus malten, und freche Bengel, die ihrer Freundin eine Rose klauen wollten.«

Die haben bestimmt was erleben können, wenn Oma sie erwischte, dachte Fenja und lächelte. Ein schrilles Klingeln ertönte, und automatisch legte sie sich die Hände auf die Ohren. Diesmal war es aber nicht ihr Tinnitus, sondern Omas Eieruhr. Sie atmete erleichtert auf und entspannte sich wieder.

Während Oma zum Herd ging, blätterte Fenja weiter, sah im Schnelldurchlauf, wie ihr Vater auf die Welt kam, wie er aufwuchs, und schließlich auch, wie Stiefopa Garlef einzog. Ab dem Zeitpunkt wirkte Oma Lotti ernster, die Abstände zwischen den Fotos wurden größer.

»Wie geht es deinem Fuß?«, fragte Sven unvermittelt.

»War nur ein Kratzer«, antwortete Fenja gedankenverloren und blätterte weiter. »Ich habe ein gepolstertes Pflaster darübergeklebt, so stört es mich nicht beim Laufen.«

»Dann ist’s ja gut«, sagte er und schnappte sich ein weiteres Croissant.

Ganz am Ende des Albums klebten zwei Seiten zusammen. Vorsichtig löste sie die Pappen voneinander. Sie bemerkte, dass Oma so unruhig war, dass sie fast zu vibrieren schien. Dabei grinste sie diebisch. Sven starrte unterdessen in seine Kaffeetasse, als wollte er darin lesen.

Sobald sie den Blick auf das Foto der letzten Seite richtete, verstand sie, warum.

»Das bin ja ich«, sagte sie verdutzt. Auf dem Foto war sie vielleicht anderthalb Jahre alt und stand splitterfasernackt im Schlick. Hinter ihr, ebenso nackt, stand ein Junge, der etwas älter war und ebenso schlammverschmiert wie sie. Dicht hinter ihrem Ohr war eine unförmige Kugel zu erkennen.

»Was ist das?«, fragte Fenja, auf den verschwommenen Ball deutend.

»Das ist eine Handvoll Matsch, die dich eine Sekunde später getroffen hat«, verkündete Oma so stolz, als hätte sie den Matsch geworfen. »Der Junge dort«, fuhr sie fort, »ist Sven. Ihr habt früher ein paarmal miteinander gespielt. Aber weil ihr euch immer gezankt habt, habe ich es irgendwann unterbunden.«

Fenja starrte das Foto an, bis Sven schließlich nach der Rückseite des Albums griff und es einfach zuklappte. »So, du hast mich nun lange genug nackt bewundern dürfen«, sagte er mit zuckersüßer Stimme, in der ein kalter Unterton lag. Seine Wangen hatten sich rot verfärbt – war er nur wegen des Fotos so verkrampft gewesen?

Nach dem Frühstück zeigte Oma Lotti ihr die Seehundstation.

»Die beiden kleinen Becken sind für die Jungtiere. In dem größeren Becken daneben pflegen wir hauptsächlich verletzte ältere Tiere, und hinter den Kunstfelsen kannst du einen Zipfel des großen Auswilderungsbeckens erkennen.«

Die Becken waren quadratisch, der Bereich davor bestand aus kargen Betonflächen, auf denen sich einige Tiere ausruhten. Mehrere Weidenkörbe stapelten sich vor den Gehegen.

»Die nutzen wir zum Transport der Tiere«, erklärte Oma.

In dem Moment tauchte ein Seehund direkt hinter der Glasabsperrung aus dem Wasser auf. Er wuchtete seinen Oberkörper auf den Beckenrand und ließ seine langen Barthaare auf und ab wippen.

»Es sind wunderhübsche Tiere«, murmelte Fenja ganz hingerissen von dem Anblick.

In der ehemaligen Scheune befanden sich mehrere Abteile, die zu Untersuchungs- und Lagerräumen oder Futterkammern umgebaut worden waren. Alles war funktional und sauber, aber wenig gemütlich.

»Ich nehme an, das hier ist die Quarantänestation?« Fenja deutete auf einen abgelegenen Bereich, der mit hohen Glasscheiben gesichert war.

»Genau.« Oma Lotti seufzte. »Das ist natürlich alles winzig im Vergleich zu den beiden großen Stationen der Gegend. Die können im Notfall bis zu hundertfünfzig Heuler aufnehmen. Ich habe gerade mal Platz für insgesamt zwanzig Tiere. Aber die Stationen sind trotzdem dankbar für meine Arbeit, denn jeder Seehund, den ich aufnehme, spart denen Platz und Geld. Außerdem kann ich mich hier intensiv um Härtefälle kümmern.«

Hinter einer Glasscheibe entdeckte sie Sven, der einen braunen Brei zusammenrührte. Es roch nach Milch und Fisch. Fenja rümpfte die Nase.

»Ja, daran muss man sich erst mal gewöhnen«, sagte Oma, die gerade mit der schweren Tür zum Pumpenraum kämpfte.

Fenja starrte auf die Maschinen, Rohre und Displays, ohne etwas von dem zu verstehen, was Oma erklärte, denn das dröhnende Geräusch verschluckte ihre Worte.

Kurz darauf zeigte Oma Lotti ihr die Heuler, die momentan in der Station aufgezogen wurden. Sie lagen entspannt im Halbkreis, einer hatte sich auf den Rücken gedreht und hielt seinen Bauch der Sonne entgegen. Fenja verkniff sich ein freudiges Quietschen beim Anblick der niedlichen Tiere mit ihrem hellen, kuschelweichen Fell.

»Heuler gibt es nur im Juni und Juli«, erklärte Oma. »Du bist also gerade zur richtigen Zeit hier.«

Fenja hockte sich hin, um sich das Jungtier vor ihr genauer anzuschauen, das sie ebenso neugierig, wenn auch etwas ängstlich, betrachtete. »Meine Güte, ist der putzig«, sagte sie.

In dem Moment robbte das Findelkind auf seinen Vorderflossen ein Stückchen vor und machte ein leises heulendes Geräusch. Er schaute sie mit seinen riesigen schwarzen Kulleraugen an und reckte ihr die dreieckige Nase entgegen. Fenjas Herz schmolz wie Butter.

»Das ist Harko. Er wurde nach einem Sturm in den Dünen gefunden. Allerdings hat ihn eine Horde Touristen belagert, und ich bin mir nicht sicher, ob er seine Mutter durch den Sturm oder die allzu gut gemeinte Aufmerksamkeit der Touristen verloren hat.«

»Oh«, antwortete Fenja betroffen. »Das tut mir leid.«

»Ach, Kind, das muss es nicht. Es geht ihm jetzt gut. Wenn wir einen Anruf kriegen, fährt entweder Sven oder Janne raus und schaut nach. Erstaunlich oft ist die Mutter noch in der Nähe. Aber nicht immer.«

»Kann ich Harko jetzt füttern?«, fragte Sven hinter ihnen.

Fenja drehte sich um und erschrak, als sie den düsteren Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkte. War er etwa immer noch wegen des Fotos beleidigt?

»Ja, komm nur rein. Fenja möchte dir sicherlich zusehen. Danach könnt ihr die Räder nehmen. Es ist herrlich warm, eine gute Gelegenheit, um eine Tour nach Norddeich zu machen.«

Auch wenn sie sich einen besseren Touristenguide als den miesepetrigen Lockenkopf vorstellen konnte, freute sich Fenja über Omas Vorschlag – wenn sie die Strecke an der Küste nahmen, konnte sie die Leybucht auf ganzer Länge erfassen. Ein wundervoller Gedanke, die Strecke bot alles an nordischer Schönheit, was man sich nur wünschen konnte. Den Wind, der durch die Haare strich und das Fahrrad, zumindest in eine Richtung, fliegen ließ, und diesen einzigartigen Geruch nach Meer, der einen sofort in Urlaubsstimmung versetzte.

Leider war Sven wenig begeistert von dem Vorschlag. »Das geht leider nicht«, sagte er, wirkte aber nicht, als würde er es sonderlich bedauern. »Ich muss heute das große Becken von Algen befreien, und Janne ist beim Zahnarzt. Außerdem habe ich Bereitschaftsdienst, falls es Anrufe wegen neuer Heuler gibt.«

»Kann ich dir beim Becken helfen?«, fragte Fenja.

Sven schüttelte den Kopf. »Ich habe da so meine Techniken und Routinen, das würde nur länger dauern.«

Sie versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie hätte gerne bewiesen, dass sie mitanpacken konnte. Aber offenbar traute er ihr das nicht zu. Wie bei ihrer ersten Begegnung am Strand ließ er sie auch jetzt deutlich spüren, dass er sie für eine Außenstehende hielt, die nicht dazugehörte und keine Ahnung davon hatte, wie die Dinge hier liefen. Dabei wollte sie während ihrer Zeit in Greetsiel nicht nur entspannen, sondern eintauchen in die Station und zumindest für eine Weile ein Teil von ihr werden.

Auch Oma hatte die Stirn in Falten gelegt. »Na gut, wenn das so ist. Obwohl ich finde, dass dir eine Pause guttun würde, Sven.« Ihre Worte prallten an ihm ab, und das schien sie zu ärgern. »Vergiss nicht, dass du mir versprochen hast, heute Abend den Grill anzuwerfen«, schob sie mit hochgezogener Augenbraue hinterher, als ahnte sie, dass es hier um mehr ging als nur Terminprobleme.

Sven nickte knapp. »Das kriegen wir schon hin.«

Wenn er bis dahin immer noch so glänzender Laune ist, wird das ein lustiger Abend, dachte Fenja und verdrehte innerlich die Augen. »Dann möchte ich dir jetzt aber unbedingt helfen, Oma. Ich könnte die Futterkammer streichen, die sieht aus, als könnte sie etwas frische Farbe gebrauchen.«

»Alles hier könnte einen neuen Anstrich gebrauchen«, willigte Oma seufzend ein. »Ich habe noch mehrere Eimer Farbe im Geräteraum. Da findest du bestimmt etwas Passendes.«

Die Arbeit machte Fenja Spaß. Sie liebte es, zu renovieren und zu streichen, alten Dingen wieder neuen Glanz zu verleihen. Sie hatte einfach ein Auge für Sachen, die miteinander harmonierten. Die Futterkammer war zwar nur ein schlichter Raum mit winzigem Fenster, aber sie wusste bereits jetzt, dass die Wandfarbe einen großen Unterschied machen würde. Zuerst räumte sie alle Säcke, Eimer und Kartons in den Flur. Danach fegte sie den Raum gründlich aus.

Ihre Gedanken wanderten in ihre Kindheit zurück, und sie erinnerte sich daran, wie sie mit Oma Lottis Schlickschlitten das Watt unsicher gemacht hatte. Abends war sie so dreckig gewesen, dass sie sich im Spiegel selbst nicht erkannte. Oma hatte nur gelacht. »Ein Kind muss sich schmutzig machen dürfen«, hatte sie zum Unmut ihres Vaters gesagt.

Ihr Handy lehnte auf dem Fensterbrett, aus den kleinen Lautsprechern klang ihr Lieblingssong: Loving can hurt sometimes …

»Ausgerechnet Ed Sheeran?«

Fenja wirbelte zu Sven herum, der unbemerkt im Eingang aufgetaucht war. Sie schaltete die Musik aus.

»Hast du was gegen Ed?«

»Nee. Nichts Effektives.«

Sollte das ein Scherz sein? Seine Augen sagten was anderes. Warum wirkte jeder seiner Sätze wie ein Vorwurf?

»Was kann ich für dich tun?«

»Du für mich?« Er zuckte mit den Schultern. »Nichts. Aber Charlotte lässt fragen, ob du noch etwas für deinen Aufenthalt brauchst. Janne ist gerade angekommen, also kann ich kurz nach Greetsiel zu meinem Vater fahren. Vielleicht eine Zahnbürste oder Anti-Schuppen-Shampoo?«

Wie bitte? Hatte sie richtig gehört? Ihre Haare waren ihr ganzer Stolz, da gab es weder Schuppen noch spröde Spitzen. Um Svens Mundwinkel zuckte es. Na warte! »Ja, etwas bräuchte ich schon«, flötete sie, wobei sie ihn fest anschaute. »Eine Packung Ohrstöpsel.« Ob er den Hinweis verstand?

»Kein Problem. Wenn ich die in Übergröße finde, bringe ich dir welche mit.«

Instinktiv fasste Fenja sich an ihre Ohren. Sie spürte, wie ihr Puls anstieg. Sven aber grinste nur.

»Unverschämter Kerl«, murmelte sie, als die Tür hinter ihm zufiel. Hitze war ihr in die Wangen gestiegen, und ihr Puls hätte Usain Bolt auf 100 Metern schlagen können. Es wurmte sie, dass Sven schlagfertiger gewesen war als sie.

Deutlich frustrierter als noch vor ein paar Minuten ließ sie den Deckel des Farbeimers aufschnappen. Ein eierschalenfarbener Ton, na toll. Suchend blickte sie sich nach einem Gegenstand um, mit dem sie die Farbe umrühren konnte. Als sie im Raum nichts fand, ging sie nach draußen, um einen Stock zu suchen. An der Eiche neben der Einfahrt lehnte eine alte Metallstange. Sie war unten spiralförmig gedreht, das war perfekt, um die Farbe gut zu durchmischen.

Während sie die Wände strich, summte sie alte Seemannslieder vor sich hin. Die Lust auf Ed Sheeran war ihr vergangen, aber die Lieder, die vom Wind und den wilden Wogen, von den Strömen und launischen Gezeiten handelten, passten gut zur Seehundstation, in der es überall nach Meer roch. Ihre Laune besserte sich.

Schließlich betrachtete sie zufrieden ihr Werk. Die Farbe war nicht unbedingt ihr Stil, passte aber zu dem alten Gebäude.

Es würde ein paar Stunden dauern, bis alles getrocknet war und sie die Kammer wieder einräumen konnte. Was nun?

Sie beschloss, nach Oma zu sehen, und fand sie draußen im Hof. Dort unterhielt sie sich gerade mit einer zierlichen jungen Frau mit auffällig hellblauen Augen, die sie schüchtern anlächelte.

»Fenja, mein Liebes!« Oma winkte sie zu sich. »Darf ich vorstellen: Das ist Janne.«

»Moin«, sagte Janne und reichte ihr die Hand. Ihr Händedruck war fester als erwartet.

»Janne hilft mehrfach die Woche aus. Ihre Eltern betreiben den Ferienhof Akken. Das ist der mit Abstand malerischste Hof der Region, du solltest ihn dir mal ansehen.«

Janne seufzte. »Ja, das ist er wohl. Aber bevor du mich fragst: Nein, ich werde ihn nicht übernehmen.« Sie hatte diese Frage wohl schon zu oft gehört.

»Wie kommst du denn darauf? Ich wollte dich eigentlich nur fragen, wo du diese elegante Kette herhast. Die sieht richtig klasse aus.«

Überrascht griff sich Janne an den verschlungenen Anhänger, dessen Stein in einem dunklen Blau leuchtete. »Oh, die habe ich selbst gemacht.«

»Sehr beeindruckend. Du hast wirklich Talent.«

Janne strahlte, und Fenja lächelte zurück. Es gab hier also auch sympathische Leute, mit denen es sich aushalten ließ. Obwohl sie momentan selbst einen Ninja Turtle oder eine ägyptische Mumie Sven gegenüber bevorzugt hätte. In seiner Nähe hatte sie das Gefühl, fehl am Platz zu sein.

»Danke«, sagte Janne. »Ich bastele gerne und restauriere alte Gegenstände, wann immer ich Zeit finde.«

»Klasse, an Antiquitäten habe ich mich noch nicht rangetraut, aber ich betreibe Upcycling, das ist ja so ähnlich, nur dass ich aus alten Sachen etwas Neues mache.«

Die Kette war außerordentlich filigran gearbeitet, vielleicht konnte sie sich mit Janne für ein kleineres Projekt zusammentun.

»Meine Eltern liegen mir immer in den Ohren, dass ich ihre große Hoffnung für die Zukunft des Hofs bin. Aber die Zusammenarbeit klappt nicht – jedes Mal, wenn ich mich mit neuen Ideen einbringe, schütteln sie den Kopf. Sie mögen keine Veränderung, und ich fühle mich reichlich überflüssig«, vertraute Janne ihr an. »Wenn jemand vom Personal ausfällt, darf ich Betten aufschütteln, Frühstück anrichten und solchen Kram erledigen. Aber sonst habe ich nichts zu sagen. Deshalb bin ich lieber hier, wo ich das Gefühl habe, gebraucht zu werden. Nebenher studiere ich BWL.«

»An der Hochschule Emden?«

»Nee, im Fernstudium an der Universität von Manchester. Ich finde, im internationalen Rahmen kriegt man eine ganz andere Perspektive auf globale Zusammenhänge.«

Das konnte Fenja nur allzu gut nachvollziehen. Durch die Schiffsreisen hatte sie viel über andere Kulturen gelernt. Der Frosch im Brunnen ahnt nichts von der Weite des Meeres, lautete nicht umsonst eine japanische Weisheit, die einer der Kapitäne gern zitiert hatte.

»Könntest du mir vielleicht einen Gefallen tun?«, unterbrach Oma ihre Gedanken. »Ich brauche dringend Futter. Sven ist schon weg und hat sein Handy hier liegen lassen. Ach, ich bin aber auch schusselig, da hätte ich früher dran denken müssen! Könntest du bitte zu Fisch Hauke nach Greetsiel fahren?«

»Klar. Einen Moment. Ich hole nur etwas zum Schreiben.« Fenja atmete durch. Schön, dass es heute doch noch einen guten Grund gab, um in den Ort zu fahren und sich gleichzeitig nützlich zu machen. Sie lief ins Haus und suchte nach einem Stift, den sie gleich fand. Suchend blickte sie sich nach einem Zettel um. In ihrer Handtasche steckte ein alter Briefumschlag. Perfekt.

Oma erwartete sie draußen bei ihrem Auto. Wortlos nahm sie ihr den Briefumschlag ab und schrieb auf:

Makrelen 8

Hering 6

Plattfisch 7

»Ist das alles?«, fragte Fenja.

Oma Lotti nickte. »Das ist erst mal genug.«

Fisch Hauke lag direkt am Ortseingang, wo die autofreie Zone begann. Fenja parkte den Wagen und schaute sich um. Die Luft auf der Krummhörn schien klarer zu sein als irgendwo sonst auf der Welt. In einem Anflug von Euphorie atmete sie tief ein und breitete die Arme aus. Vor ihr lagen hübsche kleine Häuschen mit gepflegten Vorgärten, so malerisch wie auf einer Postkarte. Der Wind spielte mit ihren Haaren und verwirbelte sie.

An der Fischtheke wurde sie von Hauke Petersen persönlich begrüßt. Das erkannte sie am Namensschild, denn an den stämmigen Mann mit der Glatze erinnerte sie sich nicht mehr, obwohl ihr Vater sie früher häufig zum Einkaufen mitgenommen hatte. »Hier gibt es die besten Krabbenbrötchen«, hatte er verkündet, und Fenja hatte ihm recht gegeben. Die selbst gemachte Mayonnaise, die Hauke verwendete, war Weltklasse. »Man munkelt, dass er einen Schuss Friesengeist hineingibt«, hatte ihre Vater lachend behauptet, aber Fenja war sicher, dass das nur Seemannsgarn war.

Hauke erkannte sie nicht. Wie auch?

»Moin«, sagte er, »was kann ich für Sie tun, junge Frau?« Seine Stimme hallte von den Wänden wider, ließ ihn noch größer und breiter erscheinen.

»Hallo«, antwortete Fenja und reichte ihm den Zettel. »Einmal das hier«, sie schaute in die Auslage, »und dann bitte noch eins von den Krabbenbrötchen.«

Es war ein schöner Tag, aber nicht besonders heiß. Also packte Fenja die Kühltasche mit dem Fisch in den Kofferraum, um noch eine Runde durch den Ort zu schlendern.

Es tat gut, wieder hier zu sein. Sie biss in das Brötchen, schmeckte begeistert den Friesengeist in der Mayo. Nicht viel, nur ein Hauch, aber unverkennbar.

Ein Stück die Straße runter entdeckte sie die Zwillingswindmühlen und bewunderte die langen Flügel, die auf den charakteristischen grauen Kappen befestigt waren. Ein kurzer Schlenker brachte sie zum Hafen, in dessen ruhigem Wasser einige Krabbenkutter lagen, so hübsch anzusehen, dass man kein geübter Fotograf sein musste, um ein idyllisches Motiv festzuhalten. Sie musste diesen Urlaub, ihre Zeit hier genießen. In weniger als zwei Monaten würde sie auf der Arianna III anfangen, mit der sie weitere zwölf Monate durch die Weltmeere kreuzen wollte. Dann hieße es wieder: pausenloses Schuften, viel Zeit in engen Räumen und ein Mangel an frischer Luft. Der Enthusiasmus, mit dem sie damals angeheuert hatte, war längst verflogen.

Vor einem besonders schmucken Haus mit weißer Fassade und blau bemalten Fenstereinfassungen blieb sie stehen. Anno 1850 stand vorn auf dem Giebel. Alles war hier alt, als wäre die Zeit stehen geblieben. Allerdings waren offenbar auch viele der Menschen, die hier lebten, alt – bisher waren ihr überwiegend Senioren entgegengekommen.

Wind kam auf. Dieses Mal lösten sich einige Strähnen aus ihrem Zopf. Als sie den Arm hob, um die Frisur zu richten, fiel der Briefumschlag aus der Tasche ihrer Sommerjacke.

Sie bückte sich, aber der Wind war schneller, erfasste den Brief und wehte ihn direkt in den Vorgarten des Hauses vor ihr. Dort drehte der Umschlag sich einmal um seine eigene Achse und landete in einer Wildrosenhecke.

»Mist.« Fenja biss sich auf die Lippe. Vorn auf dem Umschlag standen ihr Name und ihre Adresse. Sie musste den Brief also unbedingt aus dem Garten holen, damit keiner auf den Gedanken kam, sie würde hier bewusst die Gegend zumüllen. Dies war ein kleiner Ort, alles sprach sich schnell herum.

Ein schneller Blick nach links und rechts – niemand war in Sicht. Entschlossen huschte sie durchs Gartentor. Die Rose stand gerade in voller Blüte, aber Fenja hatte im Moment keine Augen für diese Pracht. Vielmehr kämpfte sie mit den Stacheln, die sich in ihrer Jacke verhakten. Sie streckte sich noch ein Stück vor, um mit den Fingerspitzen den Umschlag zu greifen. Verdammt! Es fehlten zwei Zentimeter. Sie bog ein paar Äste zur Seite, um sich tiefer in die Hecke hineinschieben zu können. Zu ihrem Schrecken hörte sie nun Stimmen aus dem ersten Stock über ihr.

»So schlimm kann sie doch nicht sein, Junge«, sagte eine Altherrenstimme mit tiefem Bass. »Bestimmt muss sie nur erst mal ankommen und sich einfinden.«

Fenja stieß nach vorn, griff den Umschlag und sprang zurück. Nun schnell weg hier!

»Was machen Sie in meinem Garten?«, rief die Bassstimme von oben.

Fenja erstarrte. Peinlich berührt legte sie den Kopf in den Nacken. »Äh.«

Ein bärtiger alter Mann mit Baskenkappe schaute sie mit zornig gerunzelter Stirn an.

Hilflos wedelte sie mit dem Brief. »Ich … äh … Ich wollte nur …« Weiter kam sie nicht, denn neben dem Alten erschien nun ein weiterer Mann im Fensterrahmen. Sven.

»Nein!«, entfuhr es ihnen beiden gleichzeitig.

»Sag mal, verfolgst du mich etwa?« Er klang halb belustigt, halb verärgert, aber Fenja war die Situation oberpeinlich.

»Du kennst die junge Dame?«

»Das ist Fenja.«

»Ich habe für alles eine Erklärung!« Fenja fuhr sich durchs Haar. Von allen Häusern in Greetsiel musste sie ausgerechnet das von Svens Eltern erwischen! Vielleicht sollte sie mal Lotto spielen. »Der Wind hat meinen Umschlag in euren Garten geweht.«

»Die Fenja, von der du mir eben erzählt hast?«, fragte der alte Mann an seinen Sohn gewandt. Also hatten die beiden eben tatsächlich über sie geredet. Anscheinend hatte sich Sven über sie beschwert. Gut zu wissen, dass er keinen Hehl aus seiner Ablehnung machte.

»Es tut mir leid. Ich wollte nicht stören.« Fenja trat weiter zurück und stolperte, noch während sie redete, über eine oberirdische Wurzel. Wild mit den Armen rudernd fing sie sich im letzten Moment ab. Am liebsten hätte sie sich senkrecht im Boden eingebuddelt. Was für eine Show!

»Alles in Ordnung?«, fragte Sven nun. Überraschenderweise klang er beinahe besorgt. Auch sein Vater kratzte sich unsicher an der Schläfe. Er wusste anscheinend nicht, wie er die Situation einschätzen sollte.

»Ja.« Hastig kletterte Fenja über den Zaun. Ihr Herz schlug schnell, ihre Finger zitterten.

»Du kannst ruhig das Tor nehmen!«, rief Sven ihr zu.

Sie wurde knallrot, denn das Tor war tatsächlich keinen Meter entfernt, sie hatte es in der Aufregung einfach vergessen. Peinlicher konnte es nun wirklich nicht mehr werden. Eilig lief sie zum Auto.

Fenja war erleichtert, als sie endlich zurück in der Seehundstation war. Sie packte den Fisch in den Kühlschrank. Dann ging sie duschen und zog sich um. Ein hellgrünes T-Shirt, dazu eine kurze Jeans. Die Sommerjacke war an einigen Stellen eingerissen, die musste sie erst flicken. Anschließend holte sie sich eines der Räder aus dem Schuppen. Sie würde eine Runde am Deich entlangfahren, um zur Ruhe zu kommen. Sie war aufgewühlter, als sie es sein sollte und sein wollte, und sie befürchtete, dass bald ihr Tinnitus zurückkehren würde. Immerhin war Sven nur ein unverschämter Dösbaddel, der keinen Anstand besaß. Kein Grund, sich aufzuregen.

Das hier ist kein echter Stress, beschwor sie sich, während sie in die Pedale trat und die beruhigende Wirkung des Meeres genoss. Sie passierte grasende Schafe, spürte dem Wind im Rücken nach und hielt den Blick nach vorn gerichtet. Was für eine Weite!

Dicht gedrängt in einer platzoptimierten Küche im Bauch eines riesigen Kreuzfahrtschiffs zu stehen, zwischen einem heißen Backofen und einer kaputten Fritteuse, unter unmöglichem Zeitdruck und mit Mitarbeitern, die alle die unterschiedlichsten Sprachen der Welt beherrschten, aber weder Englisch noch Deutsch verstanden, das war Stress.

Und tatsächlich half ihr die kleine Spritztour über die Krummhörn, den Kopf freizubekommen. Der Blick über Meer und Wellen, der brausende Wind, der alle anderen Geräusche dämpfte – beides verdrängte die peinliche Situation von eben. Mit jedem Meter wurde sie ruhiger, ließ los.

Mit neuer Energie fuhr sie wenig später auf den Hof der Seehundstation zurück. Der Hunger trieb sie in die Küche, wo sie ihre Oma fand, die in einem Topf rührte.

»Hm, das riecht aber lecker.« Sie schnupperte. »Schnüsch, richtig?«

»Ja. Das ist die Vorspeise für heute Abend. Hattest du einen guten Tag?« Oma probierte den Eintopf. Zufrieden nickend hielt sie auch Fenja einen Löffel hin.

»Mhm, köstlich, Oma.«

Lotti drehte die Hitze herunter und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Sag mal, wo hast du denn den Fisch verstaut?«

»Im Kühlschrank in der Futterküche, drüben in der Scheune.«