Friesenfrische - Marieke Hansen - E-Book

Friesenfrische E-Book

Marieke Hansen

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Beschreibung

Ein Pferdehof an der Küste, eine tatkräftige junge Frau - und viel Aufregung um Hof und Herz


Als ihr Bruder für einige Monate ins Ausland möchte, springt Innenarchitektin Maje kurz entschlossen als Verwalterin auf dem elterlichen Pferdehof »Am Neßmersiel« ein. Viele Jahre ist der Hof in der Hand ihrer Familie, viele Tiere sind aus der Zucht hervorgegangen. Inzwischen aber sind die Erfolge rar geworden, und der Hof steht finanziell auf der Kippe. Ihr Vater würde am liebsten alles verkaufen, doch ihre Heimat kampflos aufzugeben kommt für Maje nicht infrage. Wie gut, dass sie Freundinnen hat, auf die sie sich verlassen kann - und dass ihr Bruder ihr tatkräftige Unterstützung schickt: den Berliner Fotografen Bente, der mit neuen Ideen und seinem übermütigen Berner Sennenhund Urs für frischen Wind sorgt ...


Lassen Sie sich von Marieke Hansen an die Nordseeküste entführen und sich den Wind um die Nase wehen!

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Seitenzahl: 426

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13

Über dieses Buch

Ein Pferdehof an der Küste, eine tatkräftige junge Frau – und viel Aufregung um Hof und Herz Als ihr Bruder für einige Monate ins Ausland möchte, springt Innenarchitektin Maje kurz entschlossen als Verwalterin auf dem elterlichen Pferdehof »Am Neßmersiel« ein. Viele Jahre ist der Hof in der Hand ihrer Familie, viele Tiere sind aus der Zucht hervorgegangen. Inzwischen aber sind die Erfolge rar geworden, und der Hof steht finanziell auf der Kippe. Ihr Vater würde am liebsten alles verkaufen, doch ihre Heimat kampflos aufzugeben kommt für Maje nicht infrage. Wie gut, dass sie Freundinnen hat, auf die sie sich verlassen kann – und dass ihr Bruder ihr tatkräftige Unterstützung schickt: den Berliner Fotografen Bente, der mit neuen Ideen und seinem übermütigen Berner Sennenhund Urs für frischen Wind sorgt ... Lassen Sie sich von Marieke Hansen an die Nordseeküste entführen und sich den Wind um die Nase wehen!

Über die Autorin

Umgeben von Natur und Tieren wuchs Marieke Hansen in einem kleinen Dorf im Oberbergischen Land auf. Nach einem Studium der Umweltwissenschaften begann sie, sich für Wildtiere einzusetzen. Heute ist sie in der Wildtierrettung tätig und kümmert sich um verwaiste Jungtiere. Als Expertin hat sie mehrfach Radio-Interviews gegeben und vor Fernsehkameras gestanden. Ihre Liebe zum Meer entstand durch zahlreiche Urlaube in ihrer Kindheit – nun lebt sie selbst nahe der Küste und ist vertraut mit Wind und Wellen. In ihrem ersten Roman vereint Marieke Hansen ihre Erfahrung mit wilden Tieren mit ihrer Passion für das Meer.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany.

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anne Schünemann, Schönberg

Titelmotive: © Cornelia Dörr/HUBER IMAGES © Shutterstock: Omar Alqaisy | Pawel Kazmierczak | n_n Chothip | RUNGSAN NANTAPHUM | Matusciac Alexandru | Julia August | Mrs. Opossum | Marie Charouzova | ThomBal | Art Stocker | emka74

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4229-0

luebbe.de

lesejury.de

Für Layla

Deine Mähne weht hoch über den Wolken im Wind, und leise höre ich deinen Galopp, wenn ich nachts in den Himmel schaue.

In den Schatten der Bäume auf deiner Weide sehe ich dich in Erinnerung grasen, und wenn ich die Augen schließe, spüre ich, wie dein Atem meinen Nacken streift.

Du bist tief in meinem Herzen und ein Teil von mir. Ich werde dich nie vergessen.

Kapitel 1

In der Ferne zuckte ein Blitz, kurz darauf krachte es. Der Wind bog die Äste der Weiden in dem Garten, in dem Maje mit ihren Freundinnen die letzten drei Stunden getöpfert hatte. Dicke Wolkenkissen schoben sich zusammen und türmten sich auf, dimmten das Licht und ließen die Möwen tiefer kreisen. Bisher hatten die jungen Frauen sich nicht von dem rauen Wetter abschrecken lassen, ganz im Gegenteil. Verträumt schaute Maje auf, genoss den Wind auf ihrem Gesicht. Wie hatte sie ihre Heimat vermisst! Die Stürme, den Regen, den Wind, das Meer. Diese wechselhafte und raue Stimmung hatte ihr in den letzten Jahren in Köln mit seinem milden Klima gefehlt. Ein dicker Tropfen platschte auf ihre Wange, dann folgte ein zweiter.

»Wir sollten in den Schuppen umziehen!«, rief sie Emma zu, die bereits nach der Töpferscheibe griff und in Richtung des kleinen Bungalows hastete. Auch Janine packte zusammen. Gewissenhaft wie sie war, sortierte sie selbst in der Eile die Werkzeuge und Tonsachen ordentlich in ihre Werkzeugbox.

Maje zögerte, atmete tief ein und vergaß für einen Moment alles andere. Es roch nach Salz, Algen, Torf, diesem einzigartigen Duft Rysums, der nur noch vom vertrauten Stallgeruch des Neßmersieler Hofs überboten wurde. Wieder tropfte es, dieses Mal auf das Tonwerk vor ihr.

»Och nee«, murmelte sie mit einem Blick auf die freche Möwe, die über ihr kreiste. Der Tropfen war kein Regen gewesen …

»Wo bleibst du?«, fragte Emma und bemerkte dann den weißen Flatschen auf dem Tonstück. »Blixem«, rief sie grinsend, »das war meine Vase! Ich habe die ganze Zeit geahnt, dass diese Möwe es faustdick hinter den Ohren hat. Die hat mich eben schon so hinterlistig umkreist, als ich mein Krabbenbrötchen gegessen habe.«

»Du hättest ihr wohl besser etwas abgegeben, das ist schließlich keine humorvolle Lachmöwe, sondern eine todernste friesische Silbermöwe«, scherzte Maje.

»Jepp.« Emma hob das hübsche Tongebilde hoch, das sie kurz zuvor liebevoll geformt hatte. »Aber dass sie sich ausgerechnet an meiner Vase rächen muss, hätte keiner vorhersehen können. Na gut, kann man ja abwischen.« Sie legte ihre Vase in den Korb, in dem Maje die anderen unfertigen Werke des Tages verstaut hatte. Dann hasteten sie zum Bungalow – gerade noch rechtzeitig, bevor der Himmel sich öffnete und ein Sturzregen losbrach. Drinnen empfingen sie die angenehme Wärme des Ofens und das Licht einiger Kerzen, die Janine hervorgezaubert hatte. Viel Platz gab es in dem kleinen Häuschen nicht. An den Wänden drängten sich Regale aneinander, die vollgestopft waren mit Tonblöcken, bunten Glasurdosen, Pinseln, Ausstechformen und einer Menge bizarr geformter Werkzeuge, die man benötigte, um den Ton zu bearbeiten.

»Kommt, wir machen es uns richtig gemütlich!«, rief Janine und deutete auf die Kissen, die in einer Ecke auf dem Boden lagen. »Tee ist schon aufgesetzt. Nicht, dass wir uns alle eine Erkältung holen.«

Wie auf ein Stichwort öffnete Emma eine Schublade und fischte eine Flasche heraus. »Schaut mal, den Rum habe ich für den Notfall versteckt. Und das hier ist eindeutig ein Notfall. Tee mit Rum, das stärkt und wärmt! Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen?«

»Ich habe heute nichts mehr vor«, sagte Maje gedankenverloren. In Köln hatte sie nur Kaffee getrunken – Café au Lait, Caffè Latte, Latte Macchiato, Espresso … alle erdenklichen Spezialitäten, die man sich nur wünschen konnte, aber keine Kaffeevariante reichte an einen echten Friesentee heran. Außerdem war Köln Vergangenheit – Kreaktivum hatte Arbeitsplätze abgebaut, und obwohl sie das Standbein der Abteilung für Inneneinrichtung war, hatte man ihr verkündet, dass ihre Anstellung beendet war. Als einzige ledige Unter-Dreißigjährige des Teams hatte ihr Arbeitgeber sie am einfachsten vor die Tür setzen können.

»Rum? Daar kummst d’ van d’ Wall in d’ Sloot«, meinte Emma lachend, die immer dann in Platt verfiel, wenn sie entweder tiefenentspannt oder besonders aufgeregt war. Heute war Ersteres der Fall – nichts konnte sie aus der Fassung bringen, weder Möwe noch Regenschauer. »Ich habe zwar heute Abend einen Termin zum Frisieren eines Pudels in Pewsum, aber das ist lange hin«, fügte sie etwas ernster hinzu. »Die Kundin kann leider immer nur spätabends. Aber das mit den nervigen Arbeitszeiten kennst du ja.«

Janine seufzte. »Allerdings. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt ausgeschlafen habe. Meist bin ich schon auf den Beinen, bevor der Gartenrotschwanz sein Morgenlied anstimmt.«

Janine hatte nach dem Schulabschluss den Schein zur Wattwanderführerin gemacht und begleitete fast jeden Morgen Touristen nach Baltrum oder Norderney. Emma schaute sie belustigt an. »Dafür ist dein Ruf legendär. Niemand kann Priele so gut lesen und seinen Weg durch Seenebel so sicher finden wie du.«

Janine lächelte, und ein rosiger Schimmer trat auf ihre Wangen. »Und egal wie oft ich die Strecken laufe, der Zauber des Watts geht nie verloren.«

Kurz darauf hockten sie gemeinsam in ihrer Kissenecke, drei dampfende Tassen vor sich. Der Regen trommelte mit einer Heftigkeit aufs Dach, als wollte er den Bungalow in einen Schweizer Käse verwandeln. Maje trank einen Schluck. Der Rum brannte in der Kehle, aber hinterließ ein wohlig warmes Gefühl im Bauch.

»Dat regent, dat ’t gütt«, seufzte Emma, die Augen geschlossen. »Der Tee ist richtig gut.« Sie lehnte ihren Kopf an Majes Schulter. »Schön, dass du wieder hier bist, ich habe dich richtig vermisst, Sonnenschein.«

Maje lächelte. Sie hatte vergessen, wie schön es war, mit Freunden zusammen zu sein, mit denen sie schon als Kind im Sandkasten gebuddelt hatte. Nichts gegen ihre Kollegen bei Kreaktivum in Köln, aber mit Janine und Emma fühlte sich einfach alles eine Nummer entspannter an. Auch wenn sie es sich nicht ausgesucht hatte, sich eine Auszeit zu nehmen, konnte sie die Situation vielleicht nutzen, um etwas zu entschleunigen. Im letzten Jahr war es so stressig gewesen, dass sie fast jede Nacht von Albträumen geplagt worden war, die ihre wenige Schlafzeit noch verkürzten.

»Bleib doch etwas länger bei uns. Irland läuft dir nicht weg«, schlug Emma vor, und Janine schob hinterher: »Ich denke ohnehin, du solltest nicht jetzt im Frühling auswandern, wo es in Irland wunderschön ist, sondern im Winter. Wenn du Irland nämlich von seiner unangenehmen Seite erlebst, dunkel, kalt und mit monatelangem Nieselregen, dann weißt du erst, ob du da wirklich langfristig leben möchtest. Irisches Wetter kann ganz schön unangenehm sein.«

»Woher weißt du das denn?«, fragte Emma mit zusammengekniffenen Augen. »Du bist doch noch nie aus Ostfriesland herausgekommen.«

Janine ignorierte den Seitenhieb. »Aber ich lese viel und gucke jede Menge Dokus.«

Wie auf ein Stichwort hoben die beiden Freundinnen ihre Tassen und riefen im Singsang: »In Oostfreesland is t am besten, aver Freesland geit der nix.« Dann stießen sie an, dass es klirrte, und fuhren fort: »War sünt woll de Wichter mojer, war de Jungens woll so fix?«

Emma kicherte, Janine untersuchte ihre Tasse, die nun oben eine Kerbe aufwies.

»Das ist alles nicht so einfach.« Maje seufzte. »Ich brauche einen neuen Job und möchte mir etwas aufbauen, das Bestand hat.« Liebevoll strich sie Emma über die Haare, die sich eng an sie kuschelte. »Ich habe so viel Energie in Kreaktivum gesteckt, unzählige Überstunden und Botengänge gemacht, weil ich Karriere machen wollte. Dabei habe ich Köln überhaupt nicht gemocht. Jetzt kommt mir das Ganze wie eine Zeitverschwendung vor.« Ohne darüber nachzudenken, griff sie nach einem der Ornamentroller und spielte damit. Der Roller trug ein verschlungenes Blumenmuster, in das winzige Herzchen eingebunden waren. Damit hatte sie in Schulzeiten einen Teller verziert, der ihre Kunstlehrerin begeistert hatte.

Draußen donnerte es ohrenbetäubend. Das Gewitter hatte sie mit voller Stärke erreicht und brachte den Boden zum Beben. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als es laut krachte. Irgendwo in der Nähe musste ein Baum vom Blitz getroffen worden sein. Der Bungalow stand inmitten eines Wäldchens, ein paar Kilometer außerhalb von Rysum.

Gerade als sie sich vorbeugte, um nach der Kluntjeszange zu greifen, schwang unerwartet die Tür auf und ein großer dicker Schatten flog auf sie zu. Ehe sie reagieren konnten, stand ein riesiger Hund zwischen ihnen und schüttelte sich. Die Freundinnen schrien auf, Janine versteckte sich hinter einem besonders großen Kissen, und Maje verschüttete ihren Tee.

»Was …?« Emma riss die Augen auf, sie war über und über mit Schlamm bedeckt. Maje sprang hoch. Das nahm der Berner Sennenhund zum Anlass, um schwanzwedelnd zu ihr herüberzutrotten. Freundlich rieb er seinen riesigen Kopf an ihrer Jeans und schaffte es binnen weniger Sekunden, auch sie komplett einzusauen. Aber der Hund war so vertrauensselig, dass Maje lachen musste. Er schaute sie nun so unschuldig und gleichzeitig erwartungsvoll an, als wäre er geradewegs in einen Delikatessenladen für treue Haustiere getapst.

»Na, du bist mir aber einer«, sagte sie schmunzelnd, während sie seinen feuchten Nacken streichelte. Der Hund trug bestimmt ein Halsband mit einem Anhänger, der seinen Besitzer auswies. »Wo kommst du denn her?« Berner Sennenhunde kannte sie vor allem aus den Alpen – hier ins flache Ostfriesland passten sie so gut wie eine Fischschule in die Sahara.

Wieder ging die Tür auf, wehten Regen und Wind herein, und die Silhouette eines Mannes erschien im Türrahmen.

»Urs?«, fragte eine tiefe Stimme. Ihr warmer Klang weckte in Maje Erinnerungen an gemütliche Adventsabende vor dem Kamin, an denen der Radiosprecher Weihnachtsgeschichten vorlas. Der Berner Sennenhund versuchte, sich hinter ihr zu verstecken. Anscheinend ahnte er, dass er etwas angestellt hatte.

Der Fremde hob den Blick und schaute entsetzt auf das Chaos, das Urs angerichtet hatte. Zerwühlte Kissen und Decken, die arme durchnässte Emma, Majes umgeworfene Teetasse.

»Ach du Schande«, presste der Mann hervor und trat nun so weit ein, dass Maje ihn im Kerzenschein besser erkennen konnte. Seine dunklen, vom Wind zerzausten Haare hatten dieselbe Farbe wie seine kastanienbraunen Augen, die äußerst besorgt dreinblickten. »Das tut mir so leid!«

»Ach, das macht doch nichts«, verkündete Emma munter und stand auf, um ihm eine schlammige Hand zu reichen. »Ich bin Hundefriseurin und werde mindestens einmal am Tag von einem sich schüttelnden Vierbeiner erwischt. Und die olle Tasse, die hatte ohnehin schon einen Sprung. Willkommen im Keramikreich Drei Hasen.« Ihre Augen funkelten übermütig, als sie dem Mann ihre patschnasse Hand hinhielt, der sie zögernd schüttelte.

Maje hingegen war wie versteinert. Irgendetwas hatte der Fremde an sich, das sie faszinierte. Waren es die erstaunlich großen Hände mit den langen Fingern, die er unsicher knetete, oder der zerknirschte Ausdruck, der so gar nicht zu seinem ansonsten eher aufgeweckten Aussehen zu passen schien?

»Keramikreich Drei Hasen?«, fragte er. Ein amüsierter Ausdruck trat in seine Miene. »Und ich nehme an, ihr seid die drei Hasen?«

»Richtig erkannt!«, flötete Emma und schlug sich auf die Brust. »Ich bin Hase eins, das ist Hase zwei – darf ich vorstellen, Janine – und unser verlorengeglaubtes Häschen Nummer drei, unsere kreative Maje, die sich endlich mal wieder zu uns gesellt hat.«

»Hm«, machte Maje und versuchte, ihren Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen.

»Hi«, meldete sich nun auch Janine mit einem Räuspern zu Wort. »Möchtest du einen Tee?« Dabei hielt sie die Kanne demonstrativ hoch.

»Sehr freundlich, aber ich möchte nicht weiter stören. Ich bin übrigens Bente. Meinen Hund Urs habt ihr ja schon kennengelernt. Leider hört er nicht besonders gut. Mein Auto steht nicht weit von hier. Er sollte eigentlich nur kurz mal das Bein heben, hat sich dann beim Donner erschrocken und ist getürmt. Auch wenn er nicht so aussieht, er ist ein richtiger Angsthase.« Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb dann auf Maje liegen. Seine Pupillen weiteten sich, und etwas an seiner Haltung änderte sich. Eben hatte er noch reumütig ausgesehen, jetzt wirkte er angespannt, fast aufgeregt.

Majes Herz klopfte heftig, so etwas hatte sie noch nie erlebt … Dieser Mann schaffte es, ihre Knie binnen weniger Sekunden in Gummigelenke zu verwandeln. In diesen tiefbraunen Augen kann man sich verlieren, dachte sie und spürte, wie ihr Mund trocken wurde. Sie fokussierte sich auf Bentes durchweichte Sneakers, unter denen sich eine Pfütze gebildet hatte.

»Kommst du, Urs?«, fragte dieser, ohne sich von ihr abzuwenden. Der Berner Sennenhund duckte sich hinter Maje. »Er scheint dich zu mögen«, stellte Bente belustigt fest. »Das ist ungewöhnlich, eigentlich ist er sehr schüchtern. Auch wenn man das bei seiner Größe kaum glauben kann, aber er braucht meist eine Weile, um aufzutauen. Hast du einen Hund?«

»Äh«, entgegnete Maje, in deren Kopf eine Waschmaschine zu stecken schien, die im Schleudergang lief und es ihr unmöglich machte, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie räusperte sich, aber brachte nur ein leises »Nein« heraus, das viel zu heiser klang. Hitze stieg ihr in die Wangen. Manche Dinge ändern sich nie, dachte sie verlegen und senkte den Kopf. Sie konnte einfach nicht vernünftig mit Männern reden, die ihr gefielen. Das war schon immer so gewesen und würde wohl auch immer so sein.

»Wohnst du in der Gegend?«, fragte Janine neugierig und fügte erklärend hinzu: »Ich bin Wattführerin, deswegen begegne ich vielen Touristen früher oder später. Du wärst mir bestimmt aufgefallen.«

»Nee, ich komme nicht von hier. Aber ich bin in Rauderfehn geboren, das liegt etwa –«

»Eine Stunde entfernt«, fiel Emma ihm ins Wort. »Da wohnt ein Kunde von mir. Der hat drei Langhaardackel und einen drei Kilo schweren Chihuahua namens Mochi mit einem Ego so groß wie der Kilimanjaro. Vielleicht kennst du Ubbo Hansen? Nein?« Sie lachte. »Mochi freut sich immer riesig, wenn ich komme, weil ich ihm getrocknete Hühnchenstreifen mitbringe.«

»Das war doch der kleine Teppichporsche, der so stark mit dem Schwanz gewedelt hat, dass man schon befürchten musste, er würde wie ein Propeller abheben.« Maje war es gelungen, ihre Sprache wiederzufinden. Sie hatte ihre Freundin beim letzten Heimatbesuch vor drei Jahren zu einigen Terminen begleitet. Mann, war das schon wieder lange her!

Emma nickte. »Genau. Und der fand dich auch erstaunlicherweise nett. Ich musste mir sein Vertrauen erkaufen, aber bei dir ist er geschmolzen wie Butter auf einem gebratenen Kabeljau. Hunde mögen dich einfach.«

Bente lächelte Maje freundlich an. Wieder floss ein wohliges Gefühl wie warmer Ahornsirup ihren Rücken hinunter.

»Bist du sicher, dass du da wieder raus willst? Du kannst ruhig bleiben«, bekräftigte Janine noch einmal. »Die meisten Regengüsse dauern nicht lang.«

»Wenn du Glück hast, hält Maje dir auch einen ihrer legendären Vorträge über Ästhetik«, warf Emma ein. Sie kicherte. Maje schaute sie entsetzt an. Ja, sie redete gern über die schönen Dinge des Lebens, aber nur unter Freunden. Das war typisch Emma, die hatte schon als Kind frech drauflosgeplappert und Maje stets offen geneckt. Aber gerade diese offene Art machte sie liebenswürdig und authentisch, und Maje nahm es ihr nicht krumm.

Bente schüttelte den Kopf. »Das würde ich zwar gern erleben, aber ich habe leider einen wichtigen Termin in Pewsum.«

In Majes Kopf rasten die Gedanken. Sie wollte etwas Witziges sagen – oder einfach herausfinden, in welcher Pension er untergebracht war. Aber wie immer in solchen Situationen brachte sie kein Wort über die Lippen.

Er schaute sie wieder an, dieses Mal mit einer hochgezogenen Augenbraue. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihn die ganze Zeit angestarrt hatte. Peinlich berührt senkte sie den Blick.

Während sie wie versteinert dastand, tippte Bente sich an die Stirn, nickte und bedankte sich, dass sie Urs’ Auftritt mit Gelassenheit genommen hatten. Dann zog er den Hund hinter ihr hervor und legte ihn an die Leine. Die Tür öffnete und schloss sich. Maje seufzte, als die Starre von ihr abfiel. Janine kicherte und stupste sie in die Seite. Emma hingegen faltete die Hände und ließ die Knöchel knacken, ihre Augenbrauen waren skeptisch zusammengezogen. »Was ist denn mit dir los, Maje? Hast du gerade eine grün schimmernde Geistersilhouette um den Typen herum gesehen, die uns allen entgangen ist, oder hast du Hitzewallungen?«, spöttelte sie. Dann legte sie den Arm um Maje: »Du bist nämlich knallrot im Gesicht.«

Es dauerte eine Weile, bis Majes Herzschlag sich beruhigt hatte und sie den süßen Tee wieder schmecken konnte. Nur der Geruch von nassem Hund hing noch im Bungalow, als die drei Freundinnen in ihrer Kissenecke lagen und sich auf Majes Handy Fotos von ihrem Leben in Köln anschauten.

»Und wer ist das?«, fragte Emma und deutete auf einen blonden Mann, der ihr einen Strauß Blumen überreichte. »Hast du etwa einen neuen Freund?«

»Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wer das ist. Ich habe eine Auszeichnung für die Inneneinrichtung der Empfangshalle des Schwanenhotels bekommen. Dafür gab es die Blumen und eine Urkunde.«

»Also keinen Freund?«, bohrte Emma nach.

»Nee, dafür habe ich gar keine Zeit. Seit der Sache mit Egge bin ich Single.«

Janine schüttelte den Kopf. »Oh Maje, du bist jetzt sechsundzwanzig. Und das mit Egge ist knapp zehn Jahre her. Irgendwann musst du da mal drüber hinwegkommen. Das war eh ein Bullerjan, der dich nicht verdient hat.«

»Wohnt er noch hier?«, fragte Maje unsicher. Klar war es lange her, seit sie sich von ihm getrennt hatte, aber die Erinnerung tat immer noch weh.

Janine und Emma schauten sich an. »Jaa …«, sagte Emma gedehnt. »Wie du weißt, hat er als Jockey auf einer Rennbahn in Hamburg gearbeitet. Aber seit einem halben Jahr wohnt er wieder bei seinen Eltern. Jetzt krieg aber bitte keine Panik …«

»Oh Mann.« In ihrem Magen kribbelte es unangenehm. Egges Eltern wohnten am Warfenlandschloot, an dessen östlichem Ende auch der Neßmersieler Hof lag. Seit ihrem Wegzug hatte sie ihn nicht wiedergesehen, aber früher oder später würde sie ihm bestimmt über den Weg laufen … Gut, dass sie nur ein paar Tage in Rysum blieb!

»Aber dafür lebt Hannah in Emden. Ihr Papa hat ihr dort eine Wohnung gekauft. Das ist zwar nicht weit weg, aber seit ihrem Auszug hat sie Rysum nicht mehr betreten.«

Maje verzog das Gesicht. Anderthalb Jahre war sie mit Egge zusammen gewesen, bevor Hannah alles ruiniert hatte. Der Liebeskummer hatte so wehgetan, dass sie sich geschworen hatte, nie wieder einen Mann so nah an sich heranzulassen. Und bisher hatte sie auch einfach niemanden kennengelernt, der einen neuen Versuch wert gewesen wäre.

»Mach dir keine Gedanken«, fügte Emma aufmunternd hinzu. »Was vorbei ist, ist vorbei.«

Maje nickte. »Ja, natürlich, ich möchte nach vorne schauen. Jetzt konzentriere ich mich erst mal auf Irland, einen neuen Job und alles, was zum Auswandern dazugehört.«

»Anmeldeformulare, Wohnungssuche, Versicherung, Autokauf, Telefonvertrag …«, zählte Janine auf. »Nach all dem Stress mit Kreaktivum solltest du dich wirklich ein wenig erholen. Du hast dunkle Ringe unter den Augen und siehst überhaupt sehr ausgemergelt aus. So toll Köln für deine Karriere gewesen sein mag, dir hat es nicht gutgetan.«

Auch wenn das schmerzte, wusste Maje, dass Janine recht hatte, denn sie fühlte sich ausgelaugt und erschöpft.

Wieder ging die Tür des Bungalows auf, und sie riss hoffnungsvoll den Kopf hoch. Doch statt Bente und seinem lustigen Hund stolperte ihr Bruder Thies herein – in übergroßem Friesennerz mit passenden gelben Gummistiefeln.

»Moin!«, rief er in die Runde. »Wusste ich doch, dass ich euch hier finde. Alles klar bei euch hübschen Tontauben?«

»Thies, du alte Zuckerrübe, schnapp dir eine Tasse und setz dich zu uns«, rief Janine erfreut. Die beiden waren früher erst in derselben Kindergartengruppe und dann in einer Schulklasse gewesen.

»Hi, Flinnerke«, sagte Maje schlicht. Sie freute sich zwar, Thies endlich mal für ein paar Minuten zu Gesicht zu bekommen, aber sie hätte ihn gern für sich gehabt. Seit ihrer Ankunft am gestrigen Abend hatten sie kaum Zeit füreinander gefunden. Flinnerke nannte sie ihn, weil er sich mit achtzehn heimlich ein Schmetterlingstattoo auf den Rücken hatte stechen lassen. Ihr Vater wusste bis heute nichts davon.

»Hi, Maje. Ich bin gerade auf dem Weg nach Pewsum, und es könnte länger dauern. Aber ich wollte dich unbedingt vorher sprechen.«

Was ist denn heute in Pewsum los, dass alle unbedingt dorthin müssen?, wunderte sie sich.

Er schaute in die Runde, kratzte sich dann am Kinn. Maje verstand – das Gespräch ging nur sie beide etwas an. Aber draußen regnete es in Strömen, und hier drinnen gab es keine ungestörte Ecke.

»Ach, was soll’s«, sagte Thies und schälte sich aus Regenmantel und Stiefeln. Janine goss ihm Tee ein, und er schnappte sich ein übergroßes Kissen, das er an eine Box lehnte, um es sich bequem zu machen. Er wirkte abgespannt, aber das konnte auch an seinen Medikamenten liegen. Maje hatte gestern Abend im Badezimmer die Packung Antidepressiva gefunden, die er ganz hinten im Spiegelschrank versteckt hatte.

»Um was geht es denn?«, fragte sie ihren Bruder, der seufzend am Tee nippte. Zu Schulzeiten hatte er viel Wert auf sein Äußeres gelegt, aber jetzt trug er eine abgewetzte Jeans mit Holzfällerhemd und müffelte nach alter Wolle. Seine langen Haare waren seit Ewigkeiten nicht mehr geschnitten worden und mit einem Gummi lieblos zu einem Zopf gebändigt, was ihm das Aussehen eines Vagabunden verlieh.

»Es geht um den Hof. Und um dich und mich und – ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Für einen Moment schloss er die Augen, und sofort tat er Maje leid. Auch für ihn waren die letzten Jahre nicht einfach gewesen. Nach seinem BWL-Studium hatte er Paps auf dem Neßmersieler Hof geholfen, und darum beneidete sie ihn nicht. Der Hof war in keinem guten Zustand und ihr Vater ein unverbesserlicher Dickkopf, der keine Veränderung zuließ.

»Ich habe ein Job-Angebot in Singapur bekommen«, sagte Thies leise, fast entschuldigend. »Es handelt sich um ein Infrastruktur-Projekt bei Sintech, das etwa drei Monate dauert. Mein Professor hat mich vorgeschlagen, weil meine Master-Arbeit die Verwaltungsoptimierung im asiatischen Straßenbau behandelt hat und die jemanden suchen, der Deutsch spricht.«

»Jaa …?«, fragte Maje gedehnt und hoffte, dass ihre Vorahnung nicht stimmte.

»Na ja, ich würde den Job gern annehmen. Das ist eine große Chance, um mich weiterzubilden und eine gute Referenz in dem Bereich zu bekommen. Normalerweise hätte ich abgelehnt, aber da du gerade auch zwischen den Arbeitsstellen und Wohnorten stehst, dachte ich, ich frage dich mal, ob du nicht so lange den Neßmersieler Hof für mich führen könntest. Papa muss jeden Tag ins Büro, und körperliche Arbeiten schafft er mit seinem kaputten Rücken schon lange nicht mehr.«

Maje verzog das Gesicht. »Warum interessiert dich das Job-Angebot überhaupt? Du wirst den Hof in ein paar Jahren ganz übernehmen, da brauchst du so eine Referenz doch eigentlich nicht.«

Thies atmete langsam aus und sah sie an. Sie spürte, wie wichtig ihm die Sache war, erkannte die Sehnsucht in seinen Augen. »Maje, ich will einfach mal raus aus Rysum. Etwas von der Welt entdecken. Das ist vielleicht meine letzte Chance. Sobald ich den Hof übernehme, komme ich nie mehr weg. Denk nur an Papa – der hat Ostfriesland auch nie verlassen.«

Bevor sie antworten konnte, mischte Emma sich ein. »Das wäre doch super, Maje! Dann hätten wir dich ein wenig länger hier, und wie gesagt, Irland läuft nicht weg. Wir könnten gemeinsam zum Yoga gehen, töpfern, im Hafenkieker Cocktails trinken und einfach nur gemeinsam chillen. Wie in den alten Zeiten!«

Auch Janine schaute sie hoffnungsvoll an. »Das klingt nach einer guten Gelegenheit, dich zu erholen und neu auszurichten, bevor du dich auf das nächste Abenteuer einlässt.«

»Ich weiß nicht«, sagte sie unsicher. Die Sache reizte sie – nicht nur, weil sie gern Zeit mit Emma und Janine, Papa und Opa Heinrich verbringen würde, sondern auch, weil ihr die Pferde gefehlt hatten. Das aus Mähnenhaar geflochtene Armband hatte sie täglich an ihre Heimat erinnert, wenn sie unter künstlichem Licht arbeitete und von Heuwiesenduft und dem Wiehern der Pferde nur träumen konnte. Andererseits hatte sie keine Ahnung von der Verwaltung und Organisation eines Reiterhofes. Auch wenn sie auf dem Hof aufgewachsen war, so hatte sie sich nur für die Pferde interessiert, nicht für die ganze langweilige Bürokratie.

»Ich habe alles vorbereitet, die Tagesabläufe aufgeschrieben und dir Unterstützung besorgt. Jemanden, dem ich zu hundert Prozent vertraue. Du musst keine Angst haben, dass die Arbeit dich überfordert.«

»He!«, fuhr sie auf. »Du traust mir wohl gar nichts zu. Das bisschen Reiterhof krieg ich schon gemeistert.« Dann erst merkte sie, dass sie gerade ihr Einverständnis gegeben hatte. Sie runzelte die Stirn und dachte nach. Weit kam sie nicht, weil Emma ihr um den Hals fiel.

»Das wird spitze, Maje. Wir helfen dir natürlich, wo wir können! Willkommen zu Hause.« Übermütig drückte sie ihr einen Kuss auf die Wange. Maje lächelte, dann fiel ihr etwas ein.

»Hast du schon mit Papa gesprochen? Ist es ihm recht?«

»Ähm«, nuschelte Thies, »das wird noch geregelt.«

»Also nicht.«

»Ich mache es heute Abend. Es sollte aber kein Problem sein.« Sie sah ihm an, dass er seinen Worten selbst nicht glaubte. »Ich muss jetzt auch los«, schob er hastig hinterher. »Wir sprechen uns später. Danke, dass du das für mich tust, Schwesterchen. Das bedeutet mir viel.« Er stand auf und schlüpfte wieder in seinen Mantel und die Gummistiefel.

Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sprang Emma auf und zog Maje hoch. Janine stellte ihre Lieblingsplaylist mit Party-Popsongs an. »Das müssen wir feiern!«, rief sie.

Der Nachmittag verflog schnell. Zum Töpfern kamen sie nicht mehr, aber immerhin beruhigte sich das raue Aprilwetter. Der Regen versiegte, und die Wolken rissen auf. Leicht beschwipst stieg Maje abends auf ihr Fahrrad und fuhr die paar Kilometer zum Neßmersieler Hof, der verträumt im Dunkeln lag. Nur im Erdgeschoss des Hauses brannte Licht, und in Opas Einliegerwohnung lief der Fernseher. Die ständigen Bildwechsel tauchten sein Wohnzimmer in unterschiedliche Farben, was so aussah, als würde er gerade eine Privatdisko veranstalten. Gern hätte Maje bei ihm geklopft, doch sie wollte ihn nicht bei einem seiner heißgeliebten Krimis stören.

Bevor sie ins Haus ging, schaute sie bei Matteo vorbei. Er war der Zuchthengst des Hofes und Papas ganzer Stolz. Vierundzwanzig Jahre war er nun schon alt, also gerade mal zwei Jahre jünger als Maje – doch für ein Pferd war das ein stattliches Alter. In der Scheune stieg ihr der vertraute Geruch von Heu, Stroh und Pferden in die Nase.

»Hi, mein Süßer«, begrüßte sie den Friesen, der friedlich kauend in seiner Box stand. Neben der Schiebetür hing sein abgenutztes Halfter – ihr Vater hatte es notdürftig mit Klebeband repariert, weil es auseinanderzufallen drohte. Der Hengst hob den Kopf und schnaubte leise. Maje schlüpfte in die Box und streichelte ihm den Hals. »Ich habe dir etwas mitgebracht.« Sie holte die zwei Möhren hervor, die sie auf dem Weg hierher aus dem Futtersack stibitzt hatte. Matteo schnüffelte kurz daran, dann biss er gierig in eine hinein. Kaum hatte er die erste verschlungen, suchte er nach der zweiten. Mit seinen weichen Nüstern schnoberte er an Majes Jacke, bis er ihre Tasche fand. Dann verharrte er, die Oberlippe gierig nach vorn gezogen. Maje lachte. »Ey, du Nimmersatt, du kriegst wirklich nie genug, was? Hier ist die zweite.«

In der Nachbarbox scharrte es, dort stand Matteos beste Freundin Ilka, eine prächtige alte Stute, die die schönsten Fohlen hervorgebracht hatte. Jetzt war sie zu alt zum Züchten und durfte ihre letzten Jahre auf dem Hof in Ruhe verbringen. In dieser Hinsicht war ihr Vater eigen – während andere Zuchtbetriebe ihre alten Pferde ausrangierten, gewährte er seinen Tieren das Gnadenbrot. Er liebte jedes einzelne Pferd und hätte sie niemals grundlos einschläfern oder sie gar zum Schlachter bringen lassen.

Matteo schubberte seinen riesigen Kopf sanft an Majes Schulter. Er war dabei ganz vorsichtig und hörte sofort auf, als sie den Bereich um seine Ohren herum kraulte. Früher war der Hengst pechschwarz gewesen, jetzt verrieten grauweiße Stichelhaare sein Alter. Maje seufzte und grub ihr Gesicht in seine Mähne. Das hatte sie von klein auf getan, und es beruhigte sie jedes Mal. So gern sie wieder auf dem Hof war – der Gedanke, für längere Zeit hierbleiben zu müssen, war unheimlich. Auf der Krummhörn tickten die Uhren anders, alles fühlte sich langsamer und manchmal auch etwas zäh an.

»Es sieht so aus, als würden wir demnächst viel Zeit miteinander verbringen«, flüsterte sie Matteo zu, der ganz still stand und die Nähe ebenso zu genießen schien wie sie. »Ich hoffe nur, dass es Papa recht ist, wenn ich auf dem Hof mithelfe. Du kennst ihn ja. Er ist stur wie ein Esel und hält nicht viel von Kooperation.«

Der Hengst hob den Kopf und spitzte die Ohren. War da ein Geräusch gewesen? Doch Maje war in Gedanken versunken und achtete nicht weiter darauf. »Ich habe Rysum so vermisst, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Aber ich hätte in der Krummhörn keine Karriere machen können. Das verstehst du sicher«, erzählte sie Matteo weiter. »Hier würde ich beruflich nie Fuß fassen. Und außerdem habe ich keine Lust, Egge über den Weg zu laufen.« Für einen kurzen Moment hielt sie inne und überlegte. »Vor allem, weil ich nicht mal einen neuen Partner vorweisen kann. Es würde mich wirklich wurmen, ihm als Single gegenüberzutreten.«

»Mien Leev, beter um een as mit een verlegen«, ertönte eine heisere, wohlbekannte Stimme aus der Stallgasse. Maje zuckte erschrocken zusammen, da erschien das blasse Gesicht ihres Opas vor den Gitterstäben der Box.

»Hallo, Opa, komm rein«, begrüßte sie ihn und schob die Tür einen Spalt weit auf. Bei jedem anderen wäre es ihr unangenehm gewesen, hätte er ihr Gespräch mitangehört, aber ihrem Opa gegenüber war ihr nichts peinlich. Die beiden hatten schon immer eine besondere Beziehung gehabt – es gab keine Geheimnisse zwischen ihnen.

»Das stimmt wohl, dass es manchmal besser ist, keinen Partner zu haben, als jemanden, der nur Probleme macht«, fuhr sie fort. In Gedanken fügte sie hinzu: Und es ist auch besser, keine Arbeit zu haben als eine, die einen unglücklich macht.

»Da bist du nun also hier«, stellte er fest, während er einen Apfel aus seiner tiefen Strickjackentasche hervorzauberte und Matteo hinhielt. Begeistert biss der Hengst ein Stück ab.

»Ja.«

»Und? Wie geht es dir damit?« Er musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. Das mochte am Zwielicht im Stall und seiner Sehschwäche liegen, aber Maje erkannte auch einen besorgten Ausdruck in seinem Gesicht.

»Thies hat dir von seinem Jobangebot erzählt, richtig?«

»Natürlich. Er meinte, dass du ihn so lange vertrittst. Er spricht gerade mit deinem Vater, na, wie das läuft, kannst du dir ja denken. Ich wollte eigentlich nach Manuka schauen.«

»Manuka?«

»Ja, hat Thies das nicht erwähnt? Das ist die einzige Stute, die dieses Jahr trächtig ist. Matteo bringt es nicht mehr als Zuchthengst, aber dein Vater will das nicht hören.«

Er lehnte sich an die Wand und stellte seinen Gehstock neben sich. Interessiert betrachtete Maje den geschnitzten Knauf in Form einer Robbe. »Oha, der ist dir gut gelungen«, sagte sie begeistert und fuhr mit dem Finger über das Holz. »Kastanie?«

»Genau. Ich freue mich darauf, wieder gemeinsam mit dir schnitzen zu können. Dem Hof wird ein wenig frischer Wind guttun.« Er brummte und räusperte sich dann wieder. »Und dein Vater wird sich auch daran gewöhnen«, fügte er leiser hinzu.

Maje nickte unglücklich. »Meinst du, es ist ihm recht, wenn ich hier mitarbeite? Papa lässt sich so ungern helfen.«

»An Thies hat er sich nach seinem Bandscheibenvorfall auch gewöhnt. Außerdem kann er selbst nicht mehr einspringen, wie sollte das gehen? Er sitzt den ganzen Arbeitstag im Büro in Emden.«

An den Gedanken, dass ihr Vater nun einen Schreibtischjob hatte, konnte Maje sich kaum gewöhnen. Nach dem Bandscheibenvorfall hatte er bei der Stadtverwaltung in Emden angefangen und hoffte darauf, bald verbeamtet zu werden.

»Gefällt ihm die Arbeit dort mittlerweile?«

»Ja, ich denke schon. Zugeben würde er es allerdings nie. Zu seinem Glück wurde er in die Abteilung für Brand- und Katastrophenschutz versetzt, das ist genau sein Ding. Da kann er sich austoben und den ganzen Tag lang neue strenge Richtlinien entwickeln, die seine Vorgesetzten in den Wahnsinn treiben.«

»Das klingt ganz nach Papa.« So chaotisch er auf dem Neßmersieler Hof war, so genau nahm er es mit Regeln, die andere betrafen.

»Wie du weißt, war es nie wirklich sein Hof. Erst war es meiner, dann der deiner Mutter. Arne hat den Hof nach dem Tod deiner Mutter nur nicht verkauft, weil er euch Kindern nicht das Zuhause wegnehmen wollte. Hach, meine Annika hat den Hof und die Pferde so geliebt! Wenn sie geritten ist, haben ihre Wangen rot geleuchtet und ihre Augen grüner gefunkelt als das Gefieder des Grünspechts, der in der dicken Eiche neben der Scheune nistet. Aber als Arnes Rücken dann nicht mehr mitspielte und Thies alt genug war, um den Hof zu übernehmen, war er dankbar, dass er sich zurückziehen und in einem Büro arbeiten konnte.«

Es tat Maje weh, den Namen ihrer Mutter zu hören. Und dass ihr Vater den Hof nur für sie und Thies erhalten hatte, war ihr neu. Sie war immer davon ausgegangen, dass er genauso am Hof hing wie sie.

»Zumindest hat Thies mir Unterstützung besorgt«, sagte sie, vor allem, um das Gesprächsthema von ihrer Mutter abzulenken. »Bestimmt hat er jemanden ausgewählt, der sich gut mit Reiterhöfen auskennt.«

»Mit Sicherheit. Außerdem kannst du immer auf mich und meinen Rat zählen.« Bedeutungsvoll wedelte er mit seinem Stock. »Ich kenne mich hier gut aus, verlass dich auf mich. Auf jedem Schiff, ob’s dampft, ob’s segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt.«

Maje lächelte ihn dankbar an. »Danke, Opa. Das weiß ich sehr zu schätzen.« Immerhin waren es nur drei Monate – zu verlieren hatte sie auch nicht viel. »Ich werde mir alle Mühe geben. Thies war in den letzten Jahren so deprimiert, und als er von Singapur erzählte, habe ich ihn zum ersten Mal wieder zuversichtlich gesehen. Ich mache das für ihn. Irgendwie werde ich das Boot schon rocken.«

Opa Heinrich drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Das ist mein Mädchen.«

Maje atmete tief ein und sog seinen unverwechselbaren Duft nach Zedernholz, Pfeffer, Muskat und einem Hauch Anis in sich auf. Die Anspannung fiel von ihr ab. Wer weiß – vielleicht würde ihr die Pause auf dem Hof guttun, und mit Opa, ihren Freundinnen und Matteo um sich herum würde die Zeit sicher schnell verfliegen.

Doch im nächsten Augenblick kamen die Zweifel wieder auf, denn Opa fügte hinzu: »Thies kann dich morgen früh noch schnell einweisen. Sein Flieger geht erst am Nachmittag. Aber mach dir keine Sorgen – dein Helfer kommt wohl zur selben Zeit. Ihr werdet viel zu tun haben.«

Maje erstarrte. »Wie bitte? Davon, dass es bereits morgen losgeht, hat Thies mir nichts erzählt.« Sie schluckte, und jetzt wurde ihr klar, dass ihr statt eines Urlaubs drei arbeitsreiche Monate bevorstanden.

Kapitel 2

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du heute schon losmusst?«, fragte Maje mit roten Flecken im Gesicht. Sie war bereits jetzt außer Atem, denn ihr Bruder bewegte sich mit seinen langen Beinen so schnell über den Hof, dass sie kaum mithalten konnte. Der morgendliche Dunst verlieh den Gebäuden etwas Mystisches, die aufgehende Sonne tauchte das Gehöft in ein orangerotes Licht, aber Maje konnte das gerade nicht genießen.

»Was meinst du denn?«, fragte Thies ruhig. Ihr fiel auf, dass er frisch rasiert war und in seinem Gesicht ein friedlicher Ausdruck lag. Er schien sich wirklich auf den Trip nach Asien zu freuen.

»Hm«, seufzte sie, »vermutlich, weil ich es mir dann zweimal überlegt hätte, hier einzuspringen.«

Thies hielt inne, und fast wäre sie in ihn reingerannt. »Genau, Schwesterherz. Du bist nicht gerade besonders spontan.«

»Hey«, empörte sie sich. »Was soll das denn heißen? Ich bin superflexibel. Frag mal meinen ehemaligen Chef.«

»Ja, du bist flexibel. Und kreativ und ein Wirbelwind und Neuem gegenüber aufgeschlossen. Aber du magst Routine ebenso wie Papa und ich. Das liegt in der Familie.«

»Hmpf«, antwortete Maje. Wo er recht hatte, hatte er recht.

»Und ehrlich gesagt, kam der Anruf von meinem Professor erst vor ein paar Tagen, und anfangs habe ich das Angebot gar nicht ernst genommen. Es schien mir unrealistisch, schließlich kann ich den Hof und die Tiere kaum allein lassen.« Er öffnete die Stalltür und lief den Gang entlang, an dessen Seiten sich die Boxen aufreihten. »Ich habe nur einmal Urlaub gehabt, seit ich Papa hier helfe«, fügte er zerknirscht hinzu. »Und da war ich in Berlin. Das Projekt in Singapur ist zwar kein Urlaub, aber ich freue mich einfach total, mal etwas anderes zu sehen als Stroh und Pferdeäpfel. Hier in der Box steht Manuka. Hab ein gutes Auge auf sie, sie ist hochträchtig. Es ist ihr zweites Fohlen, das erste war eine Totgeburt.«

»Oh, das tut mir leid. Opa sagte, sie ist die einzige Stute, die ein Fohlen bekommt?«

»Ja. Wie du dir denken kannst, ist das nicht besonders glorreich für den Zuchtbetrieb. Wir werden junge Pferde dazukaufen müssen. Oder einen neuen Hengst.«

»He, und was passiert dann mit Matteo?«

Thies schaute sie vielsagend an. »Na, was wohl? Keine Sorge, ich würde ihn nie zum Schlachter bringen. Aber er würde dann zusammen mit Ilka auf die Bachkoppel mit dem Außenstall kommen und dort seine Rentenjahre verbringen. Weit weg von einem neuen Hengst, wir wollen hier schließlich keine Pferdekämpfe austragen.«

Der Gedanke gefiel Maje nicht besonders, denn die Koppel war klein und steinig und der winzige Stall bedrückend dunkel. Aber daneben war ein eingezäunter Obstgarten, und wenn sie den Zaun öffnete, konnte sie seine Weide erweitern und ihn und Ilka als natürliche Rasenmäher einsetzen …

Staub wirbelte auf, als Thies die Richtung wechselte und in einen kleinen Raum trat, in dem sich Säcke stapelten.

»In der Futterkammer kennst du dich ja aus. Verändert hat sich hier nichts in den letzten sieben Jahren, seit du ausgezogen bist. Auf der Kreidetafel steht der Futterplan für die Pferde. Morgens und abends wird gefüttert, es sei denn, ein Pferd benötigt eine Extra-Mahlzeit. Du bist dafür zuständig, die Pferde auf die Weiden zu bringen, die Halle zwischen den Reitstunden zu kontrollieren und dafür zu sorgen, dass der Reitbetrieb läuft und die Einsteller glücklich sind. Genau wie früher zieht unser Reitlehrer Tamme sein eigenes Ding durch. Reitstunden finden vor allem am späten Nachmittag und am Wochenende statt. Tamme hat in letzter Zeit etwas abgebaut, aber er schmeißt den gesamten Schulbetrieb, und dafür bin ich ihm dankbar. Günstige Stallplätze für Pferde gibt es auch in Campen und Wybelsum – aber einen guten Reitlehrer vor Ort zu haben macht einen entscheidenden Unterschied. Ich hoffe, dass er uns noch lange erhalten bleibt.«

Maje nickte. Tamme war schon alt gewesen, als sie mit ihrem roten Hüpfball über den Hof gesprungen war. Trotzdem wusste sie wenig über den wortkargen Mann, der eigentlich nur redete, wenn er eine Unterrichtsstunde gab. Und selbst dann reduzierte er seine Anweisungen auf ein Mindestmaß mit Klassikern wie »Hacken runter«, »Rücken gerade« und »Blick nach vorne«.

»Die Einsteller sind eigentlich alle in Ordnung. Thobe, Katja, Meike, Greta, Nils und Anna – einige davon kennst du bestimmt von früher.« Er zückte einen USB-Stick, den er ihr mit dramatischer Geste überreichte. »Hier ist mein Handbuch für alle Eventualitäten. Darin werden die meisten Fragen beantwortet. Falls nicht, bin ich nur eine E-Mail entfernt. Der Zeitunterschied nach Singapur beträgt sieben Stunden, und in den ersten Tagen bin ich gut beschäftigt mit der Einarbeitung. Das heißt, es kann dauern, bis ich antworte.«

Sie betraten die Waschküche, deren mangelhafte Beleuchtung nicht davon ablenken konnte, in welch schlechtem Zustand sie sich befand. Der Boden war dreckig, der Wäschekorb in der Mitte gesprungen und mit Pferdedecken und Handtüchern überladen. Ein Spinnennetz zog sich vom Wäschestapel hin zur Waschmaschine. Thies lachte. »Mann, was bin ich froh, hier mal rauszukommen. Wie du siehst, ist Waschen nicht meine Stärke.«

Maje drehte die leere Waschmittelpackung um. »Das ist nicht zu übersehen.«

»Opa kümmert sich um den Garten, dank ihm haben wir immer frisches Gemüse, Kräuter und Beeren. Papa geht ihm dabei manchmal zur Hand, aber er darf nichts Schweres mehr heben, und die Arbeit im Stall und mit den Pferden hat der Arzt ihm untersagt. Sprich ihn aber nicht darauf an, er leidet sehr darunter. Meistens –« Er brach ab und zuckte zusammen, als ihr Vater im Türrahmen erschien und direkt vor ihm stehen blieb.

»Da seid ihr ja.« Arnes mächtiger Schnurrbart wippte unruhig auf und ab – das war kein gutes Zeichen. Im Gegensatz zu Majes und Thies’ grünen hatte er blaue Augen, die immer ein wenig unzufrieden wirkten. Auch jetzt sah er äußerst missgestimmt aus, und als die müde Funzel über ihm flackerte, verschränkte er die Arme und brummte: »Mhm, die muss ausgetauscht werden. Ich steige mit Sicherheit nicht auf die Leiter.«

Maje beobachtete, wie Thies’ Schultern heruntersackten. Obwohl er einen Kopf größer war als sie, wirkte er nun schmaler und gebeugter.

»Das mache ich gern«, warf sie schnell ein, um ihrem Bruder zu Hilfe zu kommen.

»Soso. Du meinst das also wirklich ernst«, sagte Arne, ohne den Blick von Thies zu nehmen.

»Das haben wir doch alles besprochen, Papa. Maje wird sich gut um alles kümmern. Du weißt doch, wie zuverlässig sie ist.«

»Versteh mich nicht falsch, ich finde es gut, wenn du dich weiterbildest. Aber Singapur? Da gibt es die Prügelstrafe, und wenn man seinen Abfall auf den Boden wirft, bekommt man saftige Geldstrafen aufgebrummt, falls man nicht gleich im Knast landet. Das ist eine andere Kultur mit anderen Werten.«

Thies starrte auf einen Fleck auf dem Boden vor sich. Maje atmete tief aus, um Kraft zu sammeln. Aus irgendeinem Grund hatte ihr Bruder sich nie gegen ihren Vater durchsetzen können. Instinktiv griff sie nach Thies’ Hand und drückte sie.

»Ach, Paps, es sind doch nur drei Monate«, sagte sie. »Singapur ist toll! Da gibt es –« Sie brach ab und dachte kurz nach. »Unzählige kultige Cafés, das Marina Bay Sands mit seiner einzigartigen Architektur, den wunderschönen Park auf dem alten Expo-Gelände, das Riesenrad, alte Tempel – einfach unglaublich viel zu sehen. Ich freue mich für Thies, das ist bestimmt spannend für ihn! Und ehrlich gesagt freue ich mich auch, Zeit mit dir und Opa verbringen zu können. Mir war gar nicht klar, wie sehr ich euch vermisst habe.« Sie strahlte ihn an und sah, wie die Härte in seinem Gesichtsausdruck schmolz. Arne meinte es nicht böse, er hatte sich nur immer schon viele Sorgen um Thies und sie gemacht – kein Wunder, denn nachdem ihre Mutter früh gestorben war, hatte er sich allein um Haus, Hof und Familie kümmern müssen. Opa Heinrich hatte den Hof früh an ihre Mutter übergeben und war dann jahrzehntelang mit dem Krabbenkutter durch die Nordsee und später mit größeren Pötten über die Ozeane geschippert. Jetzt plagten ihn Rheuma und Arthritis, und er verbrachte seine Rentenjahre auf dem Hof.

Bevor Arne antworten konnte, zog sie Thies aus der Waschküche heraus und hinter sich her, bis sie den Stall verlassen hatten und vor dem Misthaufen standen, auf dessen Spitze der Hahn Harald stolzierte.

»Lass dich von Paps nicht unterkriegen. Du bist neunundzwanzig Jahre alt, Thies. Du entscheidest, wie dein Leben auszusehen hat.«

»Ja, ich weiß. Es ist nur …« Er zupfte einen Strohhalm aus dem Misthaufen und zerbrach ihn in kleine Stücke.

»Ja?«

»Ach, keine Ahnung. Ich komme einfach nicht gut klar, Maje. Ich bin nicht glücklich auf dem Hof und habe deswegen ein schlechtes Gewissen. Und Papa merkt das natürlich, aber ich kann es nicht ändern.« Er drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. »Wenn was ist, meldest du dich bei mir, okay? Ich kann jederzeit in einen Flieger springen und das Projekt abbrechen.«

Maje nickte. Aber sie wusste auch, dass sie das um jeden Preis vermeiden würde. Thies sollte seine Auszeit haben.

»Wer ist eigentlich dieser mysteriöse Helfer, der mir unter die Arme greifen soll?«, fragte sie neugierig.

»Ein Freund von mir aus Berlin. Er ist sehr nett, ihr kommt bestimmt gut miteinander klar. Erfahrung mit Pferden hat er keine, aber er ist ein harter Arbeiter.«

»Und er hilft dir einfach so?«, fragte sie ungläubig. Wer konnte es sich denn bitte schön leisten, mal eben so seine Arbeit stehen und liegen zu lassen?

»Nein, er glaubt, dass er mir einen Gefallen schuldet, auch wenn das Blödsinn ist. Das ist eine lange Geschichte. Er kann sich wohl für einen Monat freinehmen. Aber ich denke, bis dahin hast du eine gute Routine etabliert.«

Er schaute auf die Uhr. »Wir müssen uns beeilen. Komm, wir gehen ins Büro und ich gehe mit dir die wichtigsten administrativen Dinge durch, bevor ich losmuss.«

Maje folgte ihm ins Haus. Bisher war der Hof ihr Zuhause gewesen, ihr Spielplatz und Rückzugsort. Gemeinsam mit Thies und ihren Freundinnen hatte sie früher Höhlen in den Strohballen gebaut und die Katzen gefüttert, die dort lebten. Jetzt wurde er zum Arbeitsplatz, und das fühlte sich merkwürdig an.

Zwei Stunden später winkte sie dem Taxi hinterher, das Thies nach Emden bringen würde. Von dort aus würde er gemeinsam mit seinem Professor nach Hamburg fahren, um am selben Abend nach Singapur zu fliegen.

Ihr Vater stand mit leerem Blick neben ihr. Er hatte Thies zum Abschied auf den Rücken geklopft, für seine Verhältnisse war das eine zärtliche Geste. Er schien mit sich zu kämpfen, um seine Haltung zu wahren. Thies war sein Standbein gewesen, sein Junge, auf den er sich immer verlassen konnte. Thies konnte anpacken, schwere Dinge heben, die Pferde versorgen. Dass es ihm schwerfiel, ihn ziehen zu lassen, konnte Maje gut verstehen.

»Soll ich uns einen Kaffee machen?«, fragte sie ihren Vater leise. »Dann können wir besprechen, wie wir weiter vorgehen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe gleich meinen Termin bei der Physiotherapie. Könntest du die Pferde auf die Weide bringen, die in den Boxen stehen? Der Hufschmied war da, deshalb sind die noch nicht draußen.«

»Klar.« Maje schlug die Hände zusammen. »Kein Problem.«

Leider war diese Aufgabe doch nicht so einfach wie gedacht, denn die krakelige Schrift auf der verschmierten Kreidetafel war kaum zu entziffern. Hinzu kam, dass Reitlehrer Tamme heute mit einer Stute zur Sattelprobe gefahren war und ihr nicht weiterhelfen konnte. Die Ponys Benji und Karl sollten gemeinsam auf die hintere Weide am alten Tief, das konnte sie lesen, aber was war mit Pico und Sunny? Beide gehörten Einstellern, die sie nicht kannte und deren Telefonnummern nirgends notiert waren. Sie kniff die Augen zusammen und entschied dann, dass Pico auf die Apfelwiese hinter die Scheune sollte und Sunny auf die große Gruppenweide gehörte. Der freundliche Haflinger Sunny war ihr gestern bereits aufgefallen, bestimmt war er gut in die Herde integriert. Bei den hauseigenen Friesenpferden wie Matteo, die zur Zucht ihres Vaters gehörten, war die Sache schon einfacher, denn es gab eine Hengstweide, die Matteo sich mit Wallach Nico teilte, und die anderen Stuten standen abgesehen von Manuka gemeinsam auf einer größeren Koppel neben dem Reitplatz.

Matteo ließ sich brav von ihr nach draußen führen, und Maje nahm sich kurz Zeit, ihn anzubinden und zu putzen. Der Hengst drückte sich genüsslich gegen den Striegel und ließ die Unterlippe entspannt nach unten hängen.

»Das gefällt dir, ich weiß«, raunte Maje ihm zu. So eine Massage könnte ich auch mal wieder gebrauchen, dachte sie. In letzter Zeit hatte sie häufig Rückenschmerzen vom vielen Sitzen im Büro gehabt. All die Überstunden und Wochenendschichten machten sich bemerkbar.

Als sie das Gatter zu Matteos Weide öffnen wollte, musste sie Gewalt anwenden, denn das Scharnier hatte sich verzogen, und das Gatter schleifte über den Boden. Maje schüttelte den Kopf, sie hätte das schon längst repariert.

»Oha«, sagte sie an Matteo gewandt, als sie verstand, dass das nun ihre Aufgabe war. Kurze Zeit später klopfte sie an Opa Heinrichs Tür, der sogleich öffnete, eine Meerschaumpfeife im Mundwinkel, aus der Rauch aufstieg. Das Licht der Lampe über ihm spiegelte sich in seiner Halbglatze und ließ seine ohnehin große Hakennase noch größer erscheinen.

»Wie repariert man ein Scharnier?«, fragte sie ihn, ohne zu zögern. »Das Gatter zu Matteos Weide klemmt.«

Opa Heinrich fuhr sich über den langen Vollbart. »Das ist völlig verbogen und muss ausgetauscht werden. Da kann ich mich gern drum kümmern. Es dauert aber ein paar Tage, bis ich ein neues bestellt habe.«

»Danke. Ich werde mir eine Notlösung für die Zwischenzeit überlegen.« Sie lief zum Gatter zurück, schaute sich alles genau an und holte sich dann eine Schaufel aus dem Geräteschuppen. Damit grub sie eine Vertiefung im Boden, sodass das Gatter wieder frei schwingen konnte.

»So!«, sagte sie stolz und schaute in Richtung Matteo, der friedlich graste. »Das wäre geschafft!«

Zufrieden lehnte sie sich auf ihre Schaufel. Von hier aus konnte man die hübschen Gebäude des Hofes, die sich eng aneinanderschmiegten, gut überblicken. Sie atmete tief durch. Nach all den Jahren in der Enge der Großstadt erfüllte sie die Schönheit des Ortes, der leichte Duft nach Salz und Meer, den der Wind in sanften Brisen herantrug.

Sie marschierte zurück zum Hof und entdeckte dort Opa, der zwischen einigen Lavendelbüschen Unkraut zupfte.

»Ha! Hab ich dich erwischt!«, rief er empört und hielt triumphierend eine Schnecke hoch. »Schau dir das mal an, Maje – Ungeziefer, und das trotz meines Abwehrsystems. Man muss da immer hinterher sein!«

Suchend schaute sie sich um. »Welches Abwehrsystem?«

»Na, der Lavendel, den habe ich zur Schneckenbekämpfung angepflanzt.« Er legte die Schnecke auf einen Stein und hob die Hacke.

»Nicht!«, rief Maje und griff nach der Schnecke. »Das erledige ich.« Sie joggte über das Grundstück und kletterte durch den Zaun, der an eine Wiese grenzte. Zwischen einigen niedrigen Büschen fand sie eine geschützte Stelle. Dort setzte sie die Schnecke auf ein Blatt. Hoffentlich hatte niemand sie gesehen – kaum jemand würde Verständnis dafür aufbringen, dass sie gerade einen Gemüseschädling gerettet hatte. Sie beobachtete, wie die Schnecke die Fühler ausfuhr, und atmete zufrieden aus, bevor sie zurückeilte.