Krabbenglück - Marieke Hansen - E-Book

Krabbenglück E-Book

Marieke Hansen

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Beschreibung

Ein maroder Kutter, hochfliegende Pläne - und jede Menge Aufregung um Herz und Hafen

Emma kann es kaum glauben: Eine Verwandte hat ihr in Greetsiel ein kleines Haus und ein Schiff vererbt. Spontan reist sie mitsamt Mops Flip an die Küste. Doch die Ernüchterung folgt auf dem Fuß. Das Haus ist baufällig, und das Schiff erweist sich als heruntergekommener Krabbenkutter. In einem unbedachten Moment lässt Emma sich dennoch auf eine Wette mit Campingplatzbetreiber Leon ein: Sie wird den Kutter binnen drei Monaten seetüchtig machen und mit ihm um Borkum schippern. Gelingt ihr das nicht, mistet sie Leons Hühnerstall gründlich aus. Kann sie die Wette mit der Unterstützung ihrer neuen Freunde gewinnen - oder liegt das Glück vielleicht doch nicht auf den Wellen der Nordsee?

Beste Urlaubslektüre für alle, die sich gern ein frische Brise um die Nase wehen lassen

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Seitenzahl: 415

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Ostfriesische Krabbensuppe – Emmas GeheimrezeptOstfriesisches PlattNachbemerkung der Autorin

Über dieses Buch

Ein maroder Kutter, hochfliegende Pläne – und jede Menge Aufregung um Herz und Hafen Emma kann es kaum glauben: Eine Verwandte hat ihr in Greetsiel ein kleines Haus und ein Schiff vererbt. Spontan reist sie mitsamt Mops Flip an die Küste. Doch die Ernüchterung folgt auf dem Fuß. Das Haus ist baufällig, und das Schiff erweist sich als heruntergekommener Krabbenkutter. In einem unbedachten Moment lässt Emma sich dennoch auf eine Wette mit Campingplatzbetreiber Leon ein: Sie wird den Kutter binnen drei Monaten seetüchtig machen und mit ihm um Borkum schippern. Gelingt ihr das nicht, mistet sie Leons Hühnerstall gründlich aus. Kann sie die Wette mit der Unterstützung ihrer neuen Freunde gewinnen – oder liegt das Glück vielleicht doch nicht auf den Wellen der Nordsee? Beste Urlaubslektüre für alle, die sich gern eine frische Brise um die Nase wehen lassen.

Über die Autorin

Um am Strand spazieren zu gehen und dem Rauschen der Wellen zuzuhören, muss Marieke Hansen nicht weit fahren. Seit vielen Jahren lebt sie an der Küste, ist vertraut mit Wind und Sand, Wasser und Salz. In ihrem neuen Roman vereint Marieke Hansen ihre Leidenschaft für das Meer mit einem Erlebnis aus ihrem eigenen Leben: an einen neuen Ort umzuziehen, der gleichzeitig fasziniert und herausfordert und der letztendlich alle Anstrengungen wert ist.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany.

Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Anne Schünemann, Schönberg

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

Einband-/Umschlagmotiv: © Toltek  /  iStock / Getty Images Plus; valio84sl / iStock / Getty Images Plus; Kordula Vahle / Pixabay; stereostok / iStock / Getty Images Plus; JannaArtStudio / iStock / Getty Images Plus; Alinakho / iStock / Getty Images Plus

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-5619-8

luebbe.de

lesejury.de

Dieses Buch ist all denen gewidmet,die einen Neuanfang gewagt und ihren sicheren Heimathafen verlassen haben, mit der Gewissheit, dass Schiffe nicht zum Ankern gebaut wurden.

Kapitel 1

»Na, wie gefällt es Ihnen?«, fragte die Friseurin und schwenkte den Spiegel so schnell hin und her, dass Emma kaum einen Blick auf ihren neuen Haarschnitt werfen konnte. »Das steht Ihnen super!«

Endlich hielt die Friseurin inne, und Emma betrachtete ihr glänzendes kastanienbraunes Haar, das nun deutlich kürzer war als noch vor einer Stunde. Der Schnitt brachte die Konturen ihres Gesichts besser zur Geltung, genau wie sie sich das vorgestellt hatte. Nur ihre blasse Haut und die dunklen Augenringe konnte er nicht kaschieren.

»Mhm.« Sie nickte, dann wanderte ihr Blick im Spiegel zu dem Wandbild eines sturmgebeutelten Segelschiffs, das nicht so richtig in das moderne Ambiente des Salons »Hair-lich« passen wollte. Der Wind bauschte die Segel, während das Schiff gegen die übermächtigen Wellen kämpfte. Der schräge Mast im Vordergrund schien zum Greifen nahe.

»Ihr Verlobter wird begeistert sein!«, versprach die Friseurin, zupfte ein paar Strähnen zurecht und sprühte noch etwas Festiger ein.

Emma spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Viel lieber wäre sie jetzt auf dem Schiff und würde in die Ferne segeln. »Noch sind wir ja gar nicht verlobt, das kommt erst heute Abend«, sagte sie und drehte den Kopf einmal nach links und wieder nach rechts, sodass ihre Haarspitzen elegant um ihr Kinn fielen. »Aber ich finde es auch sehr schick. Vielen Dank!«

Sie stand auf und folgte der Friseurin zur Kasse. Eine andere Stylistin föhnte ihrer Kundin gerade die Haare, und das Geräusch erinnerte Emma an Wellenrauschen. Wieder schaute sie zum Bild mit dem Schiff hinüber, erinnerte sich daran, wie Markus sie geküsst hatte, nachdem sie gemeinsam den Sportbootführerschein bestanden hatten. Seine Umarmung war so zärtlich gewesen, der Kuss intensiv.

Ein dumpfes Gewicht drückte von innen gegen ihren Brustkorb. Markus hatte sich in letzter Zeit merkwürdig distanziert verhalten, aber sie hatte beim Aufräumen die Schachtel mit dem goldenen Ring gefunden. Seit zwei Jahren hielten sie ihre Beziehung geheim, doch heute Abend würde sich das ändern.

Sie hatte dieses Versteckspiel noch nie gemocht, aber Markus wollte als Juniorchef der Erla HydroproTech GmbH & Co., die Filteranlagen für Aquarien herstellte, kein unnötiges Risiko eingehen. »Das bringt dir nur Nachteile«, betonte er immer wieder. »Deine Kollegen werden dir vorwerfen, dass du Vorteile durch die Beziehung mit mir hast, und dich genau beobachten. Und du kennst ja meinen Vater, der hält nicht viel von Büro-Romanzen, es sei denn, sie betreffen ihn selbst.«

Also hatte Emma sich einverstanden erklärt, ihre Liebe im Verborgenen zu halten. Sie arbeitete als Außendienstlerin für seinen Vater, und der war für sein ausfallendes Temperament bekannt. Bei all den Überstunden und ungeplanten Wochenendschichten kam sie sowieso nicht dazu, mit ihrem Chef über ihr Privatleben zu reden.

Ein paar Stunden später stand sie im Badezimmer ihrer Frankfurter Zweizimmerwohnung und legte ihre neuen silbernen Ohrringe an, die die Form von Jakobsmuscheln hatten. Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre geraden dunklen Brauen betonten die hellblauen Augen und gaben ihr einen selbstbewussten Ausdruck. Am Kinn hatte sie ein Grübchen, das sonst nur die Männer der Familie geerbt hatten. Ihres war fein und nicht besonders tief, aber es verlieh ihr etwas Eigenes, an das sich die Leute erinnerten. Eigentlich war sie ganz zufrieden mit sich, aber in Markus’ Gegenwart kam sie sich oft unauffällig, fast grau vor, denn er achtete stets darauf, von allen gesehen und bewundert zu werden. Er war attraktiv und wusste es. Tja, und heute Abend würde er endlich um ihre Hand anhalten, das war doch toll, richtig?

Emmas Mops Flip wuselte unruhig zwischen ihren Beinen herum, im Maul trug er seinen pinkfarbenen Plüschelefanten, den er ihr nun vor die Füße legte.

»Das ist lieb, Flipsi«, sagte sie und bückte sich, um ihren Hund zu streicheln. Flip hatte ein feines Gefühl für ihre Stimmungen, und wenn er ihr ein Spielzeug brachte, dann oft, um sie aufzumuntern.

»Wuff«, erwiderte er sichtlich selbstzufrieden.

Sie seufzte, richtete sich auf und zog ihren Lidstrich ein letztes Mal nach, als sie hörte, wie die Haustür geöffnet wurde und sich forsche Schritte dem Bad näherten. Kurz darauf trat Markus ein. Er trug einen seiner maßgeschneiderten Anzüge, die er zweimal im Jahr in Italien anfertigen ließ, dazu einen teuren Seidenschal und auf Hochglanz polierte Schuhe, auf denen einzelne Wasserperlen glänzten. Anscheinend hatte der Regen ihn erwischt.

»Hi, ich wollte –«, setzte er an und verstummte. Seine Augen wurden groß, und zwischen seinen Brauen wuchs eine steile Falte. »Habe ich irgendetwas falsch gemacht?«, fragte er und verschränkte die Arme. An seinem Handgelenk funkelte eine nigelnagelneue Uhr, deren Armband einen Tick zu groß war. Markus hatte eine ganze Schublade mit Uhren in seinem Garderobenzimmer – »Eine für jede Gelegenheit«, wie er immer sagte. Emma betrachtete das teure Stück, während sie zu verstehen versuchte, worauf er hinauswollte.

»Nee?«, antwortete sie verwirrt. »Wie kommst du darauf?«

Er deutete auf ihre neue Frisur. Dabei rutschte die Uhr ein ganzes Stück seinen Arm hinunter. »Warum bestrafst du mich dann so?«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie verstand. Hastig griff sie sich ins Haar und spürte, wie ihr Blutdruck anstieg. »Oh«, murmelte sie leise.

Markus schüttelte den Kopf. »Ich werde dich nie verstehen«, sagte er und schnappte sich ein Handtuch. »Deine schönen langen Haare.« Wassertropfen rannen seine Stirn hinunter und blieben in seinen Augenbrauen hängen, die er missmutig zusammenzog. Während Emma noch mit ihrer Enttäuschung kämpfte, fuhr er seelenruhig fort: »Das sieht aus wie ein aufgeribbelter Flokati. Vielleicht trägst du heute Abend besser einen deiner komischen Hüte.«

Als sie nicht reagierte, zuckte er mit den Schultern. »Ich bin nur ehrlich. Eigentlich bin ich auch nur kurz vorbeigekommen, um mein Baumwolljackett abzuholen. Das hängt noch bei dir im Schrank.«

Er lehnte sich nach vorne, wie um ihr einen Kuss zu geben, aber stattdessen schaute er an ihr vorbei in den Spiegel. Er fuhr sich durch die akkurat gestutzten, aber momentan ziemlich feuchten Haare, leckte über den Zeigefinger und strich damit über die Koteletten, die ihm weit die Wangen herunterreichten. »Man sieht sich«, sagte er abwesend. Dann zwinkerte er sich selbst zu, drehte sich um und lief aus dem Bad. Dabei stolperte er über Flip, der aufheulte. »Pass doch auf«, schnauzte er den Kleinen zu Emmas Entsetzen an und lief einfach weiter. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer klickte, der Schrank wurde geöffnet, und Emma hörte, wie Kleidung auf den Teppich fiel. Markus fluchte. Kurz darauf ging die Wohnungstür ein zweites Mal. Stille.

Emma atmete tief aus. Sie fühlte sich wie gelähmt, als wäre das alles gerade nicht passiert.

»Puh«, stieß sie aus, bevor sie sich bückte, um Flip zu untersuchen, dem zum Glück nichts passiert war. »Armer Wuffel«, tröstete sie ihn. Flip legte den Kopf schief, schaute sie mit seinen dunklen Kulleraugen an, als wollte er ihr etwas sagen.

Emma setzte sich auf den Badewannenrand und starrte ins Nichts. Früher war Markus ein Gentleman gewesen, nicht unbedingt liebevoll, aber aufmerksam und zuvorkommend. Aber etwas hatte sich im letzten halben Jahr verändert. Wenn er ihr heute Abend einen Antrag machte, würde sie sich für immer an ihn binden. Aber wollte sie das überhaupt noch?

Leise Jazzmusik spielte in dem schicken Spiegelsaal, den Markus’ Vater für diesen Abend bei der lokalen Tanzschule angemietet hatte. Immerhin handelte es sich bei dem Event um das dreißigjährige Bestehen der HydroproTech, und sowohl Junior- als auch Seniorchef legten viel Wert auf ein gepflegtes Ambiente. Emma blinzelte im Licht der flackernden Scheinwerfer und orientierte sich. Rechts stand das Buffet, links waren Stehtische aufgebaut, an denen einige ihrer Kollegen Champagner aus langstieligen Gläsern tranken. In der Mitte tanzten ein paar Mitarbeiter zu den sanften Klängen der Band, die am hinteren Ende auf einer Bühne spielte. Der Seniorchef stand etwas abseits mit seiner neuen Freundin, die deutlich jünger war als Emma und deren Ausschnitt einen tiefen Einblick gewährte, den Dr. Hermann Kruse gerade intensiv begutachtete. Da wollte sie besser nicht stören.

Stattdessen ging sie zögerlich auf Luise und Denise zu, die die Köpfe zusammengesteckt hatten und tuschelten. Dabei schielten sie immer wieder in Richtung der Tanzenden.

»Hi«, begrüßte Emma sie, und sofort brach das Gespräch der beiden ab.

Luise hob eine Augenbraue, Denise starrte sie ungeniert an. »Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht? Markus wird sich da aber nicht drüber freuen«, sagte sie scharf.

Emma schnaubte innerlich. Was nahm Denise sich raus? Und woher wusste sie überhaupt von Markus und ihr? Ein unangenehmer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, der ihre Zunge schwer werden ließ.

»Mir gefällt es«, antwortete sie. Um die Stimmung nicht gleich kippen zu lassen, fügte sie schnell hinzu: »Und, wie läuft es bisher?«

»Der Chef hat wieder Frischfleisch erobert.« Luise kicherte ungeniert. »Ich würde ja gern an die große Liebe glauben, aber das ist die dritte Eroberung im letzten halben Jahr.«

Denise schnaubte verächtlich und deutete auf ein Tanzpaar, das unweit von ihnen über den polierten Holzboden schwebte. »Sein Sohn scheint sich auch gut mit seiner Sekretärin zu amüsieren. Nicht dass uns das etwas angeht, nicht wahr, Emma?«

Markus’ Hand lag knapp über dem Hintern seiner Tanzpartnerin. Emma spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. »Er muss eben gute Beziehungen zu seinen Mitarbeitern pflegen und zu Heike sowieso, aber ja, das kann uns egal sein«, verteidigte sie ihn halbherzig und drehte sich dann in der Bewegung um, als ein Kellner an ihr vorbeischritt. »Darf ich?« Sie griff nach dem einzigen Glas Orangensaft auf seinem Tablett und trat einen Schritt zur Seite, bevor sie benommen daran nippte.

Sobald das Lied zu Ende war, lief sie auf Markus zu, aber der schien sie gar nicht wahrzunehmen, sondern forderte Kati aus der Versandabteilung zum Tanzen auf, und als Emma seinen Namen rief, nickte er ihr nur kurz zu. Was war hier los?

Emma versuchte sich abzulenken, holte sich einen Teller mit winzigen Schnittchen vom Buffet und gesellte sich zu Mehmet und Shania, ihren Kollegen aus dem Außendienst.

»Ich habe auf die Sportausstattung und die Massagesitze bestanden«, erklärte Shania und schaute Mehmet herausfordernd an, der wie wild auf seinem Handy herumtippte. Richtig, die neuen Firmenwagen. Dafür interessierte sich Emma überhaupt nicht. Während Mehmet nun über die Vorzüge des leistungsstarken Sedans referierte, starrte sie abwesend auf die Tanzfläche, wo ihr Bald-Verlobter Kati in eine schnelle Drehung führte. Warum verhielt Markus sich so merkwürdig? Vielleicht wollte er sie auf Abstand halten, bevor er ihr vor allen Leuten einen Antrag machte. Das war das Einzige, das Sinn ergab. Gleich würde sich sicherlich alles aufklären. Aber wohl war ihr dabei nicht. Sollte sie ihn beiseiteziehen und mit ihm reden? Oder sollte sie sogar mit ihm Schluss machen, bevor er ihre Beziehung öffentlich verkündete? Die Art wie er Flip heute angefahren hatte, statt sich zu entschuldigen, das war einfach zu viel gewesen.

Schließlich legte die Band eine Pause ein, und die Tänzer verteilten sich im Raum. Emma klinkte sich für ein paar oberflächliche Bemerkungen in das Gespräch mit Mehmet und Shania ein, um nicht länger vor sich hin zu grübeln.

Gerade als sie sich verabschieden und wieder nach Markus Ausschau halten wollte, quietschte ein Mikrofon, und seine Stimme schallte durch den Saal. »Hallo, könnt ihr mich hören?«

Hastig drehte sie den Kopf herum und sah ihn auf der Bühne stehen. Seine akkurat gegelten Haare lagen auch nach dem Tanzen perfekt, und er hob lächelnd ein Sektglas in die Höhe, während er darauf wartete, dass die Leute ihm ihre Aufmerksamkeit schenkten.

Die Discokugel über ihr warf tausend Lichtschimmer auf den Boden und ihr gepunktetes Cocktailkleid, und für einen kurzen Augenblick kam es Emma so vor, als würde sie am Himmel schweben, umgeben von Myriaden funkelnder Sterne.

Es wurde still. Der Duft teurer Parfums lag schwer in der Luft. Emmas Hände zitterten. Auch ihre Zehen kribbelten. Jetzt war es so weit! Vielleicht ist Markus einfach nur sehr gestresst im Moment, redete sie sich ein. Bestimmt würde alles gut werden, sobald er sich zu ihr bekannte und die Last der Geheimniskrämerei losgeworden war. Sie könnten gemeinsam ans Meer fahren und eine Auszeit nehmen … Sie straffte die Schultern und versuchte ein würdiges Lächeln aufzulegen. Es gelang ihr nicht. Auch der Parfumgeruch schien unerträglich zu werden und sich wie ein Gewicht auf ihre Schultern zu legen. Nein. Sie musste Markus bremsen, ihn beiseiteziehen und ein Gespräch mit ihm suchen …

»Herzlich willkommen, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und natürlich lieber Vater. Heute ist ein ganz besonderer Tag und …«

Es rauschte in Emmas Ohren, und sie hatte Probleme, sich auf seine Rede zu konzentrieren. Klar, er war ein unverbesserlicher Macho, aber andererseits hatte sie zwei Jahre in ihn investiert. Sie wünschte sich so sehr, eine Familie zu gründen. Einen Mann an ihrer Seite, neben dem sie jeden Morgen aufwachen würde, mit dem sie das Leben gemeinsam meistern könnte.

»… Und an diesem Tag, der mir so am Herzen liegt, möchte ich euch ein persönliches Geständnis machen. Lange habe ich es geheim gehalten, aber es gibt eine ganz besondere Frau in meinem Leben. Und da sie schon bald meine Ehefrau sein wird, so hoffe ich, ist heute der Tag, an dem ich es offiziell machen möchte.«

Er winkte in Emmas Richtung, und wie in Trance trat sie in Richtung Bühne. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, ihr Atmen schlug in Hecheln um. Die Blicke ihrer Kollegen verfolgten sie, Gemurmel ertönte. Dann überholte Heike sie, ein Luftzug, und schon war sie an ihr vorbeigerauscht und lief das Treppchen zu Markus hinauf, der sie in den Arm nahm und auf die Wange küsste.

Ein eiskalter Blitz schoss durch Emmas Brust und lähmte sie. Markus drückte die Hand seiner Sekretärin, bevor er ins Mikrofon rief: »Heike und ich werden demnächst heiraten!«

Einen Moment lang herrschte Stille, dann brach freudiger Applaus los. Emma spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog und verkrampfte. Langsam, ganz langsam löste sie sich aus ihrer Starre und verließ den Saal.

Kapitel 2

Es klopfte an der Haustür, und Emma schlug widerwillig die Augen auf. Sie starrte ins Dunkel ihres Zimmers, das nur durch einen einzelnen Lichtschimmer an der Seite des blickdichten Vorhangs unterbrochen wurde.

»Hallo?«, erklang die raue Stimme des Postboten. Aber sie hatte keine Lust, mit ihm zu reden, also zog sie sich die Decke über den Kopf. »Frau Martens, sind Sie da? Ich habe ein Einschreiben für Sie«, hörte sie nun, etwas dumpfer.

Im Flur bellte Flip aufgeregt und scharrte ungeduldig auf den Fliesen.

Emma seufzte, schälte sich aus dem Bett und tastete nach dem Lichtschalter. Die plötzliche Helligkeit brannte in ihren Augen. Wie spät war es? Sieben? Acht? Der Wecker zeigte zehn Uhr. Egal. Seit sie sich vor einer Woche spontan Urlaub genommen hatte, war eh jeder Tag gleich. Sie stolperte über einen Pizzakarton, stieß mit der Hüfte gegen die Kommodenseite und fing sich im letzten Moment am Türrahmen. »Ich komme!«, rief sie in Richtung Haustür und humpelte die letzten Meter.

Flip schaute sie mit seinen treuen Augen an und japste erwartungsvoll, als sie die Tür aufschloss. Er mochte den Postboten, der ihn in der Vergangenheit öfter mal mit einem Leckerli bestochen hatte.

»Da ist ja mein Lieblingsmops!«, rief Thorsten auch gleich erfreut und hockte sich hin, um Flip einen Streifen getrocknetes Hühnchen zu reichen, das der kleine Mops stolz davontrug. Der Postbote erhob sich wieder und verzog sorgenvoll sein faltiges Gesicht. »Geht es Ihnen nicht gut, Frau Martens? Sind Sie krank?«

Emma schüttelte den Kopf und schaute dann an sich hinunter. Auf ihrem Pyjama entdeckte sie Flecken des gestern Mittag verschütteten Kaffees, und ihr linker Fuß war nackt, während der andere in einer löcherigen Socke steckte. Wenn Markus sie so sehen würde … aber der bereitete ja gerade seine Hochzeit vor. Wut stieg in ihr auf, und sie riss sich mit aller Kraft zusammen. Immerhin war sie den Idioten los.

»Ich habe frei«, wisperte sie beschämt und nahm den Stift entgegen, den der Postbote ihr reichte. Der Brief kam aus Emden und trug den Stempel einer Kanzlei namens Barnes & Bellum. Was die nur von ihr wollten? Sie kannte niemanden in Ostfriesland und war auch noch nie dort gewesen, wenn man von der Klassenfahrt in der Grundschule absah, an die sie sich kaum erinnerte.

Sie verabschiedete sich und schlurfte in die Küche, um einen starken Kaffee aufzusetzen. Als sie den Kühlschrank öffnete, schlug ihr der Geruch von sauer gewordener Milch entgegen. Richtig, einkaufen gehen musste sie auch irgendwann. Aber nicht heute.

Sie fand ein Päckchen H-Milch im Schrank und ließ sich dann auf der Küchenbank nieder, um den Brief zu lesen.

Sehr geehrte Frau Martens,

wir informieren Sie hiermit über das Ableben von Frau Bruntje Jansen, die sie in ihrem Testament als Begünstigte genannt hat. Bitte melden Sie sich unter der folgenden Telefonnummer, um alles Weitere zu besprechen.

Es ging noch ein paar Abschnitte weiter, aber Emma hatte bereits das Interesse verloren. »Von wegen Erbschaft«, schimpfte sie und hob Flip zu sich auf die Bank. »Auf solche gefälschten Abzockbriefe fallen wir bestimmt nicht rein«, erklärte sie ihrem Mops und drückte ihn fest an sich. »Ich kenne keine Bruntje und habe auch keine Verwandten in Emden.« Flips Hinterteil wackelte vor Freude, und sie ließ ihn lachend wieder los.

Schon nach ein paar Schlucken zeigte der Kaffee seine Wirkung, und Emma fühlte sich etwas lebendiger.

»Ich gehe duschen, und dann drehen wir eine Runde, okay?«

Der Mops schaute sie wissend an, sprang von der Bank und eilte brav in den Flur, um sich vor sein Geschirr zu legen.

Eine halbe Stunde später stieg Emma mit Flip auf dem Arm in die Straßenbahn und fuhr bis zur Endstation, von der aus ein Wanderweg Richtung Feldberg führte.

Der warme Frühsommerwind kühlte ihre erhitzte Haut, und mit jedem Schritt entspannte sie sich. Sie lief am alten Weiher vorbei bis zur Blumenwiese und ließ sich dort auf einem Baumstamm nieder, um über den abfallenden Hügel die Schafe im Tal zu betrachten. Flip schnüffelte derweil an jeder einzelnen Blüte und erschrak furchtbar, als eine Heuschrecke auf seiner Nase landete.

Bruntje Jansen. Irgendwie kam ihr der Name doch bekannt vor, aber sie konnte ihn nicht einordnen. Sie zückte ihr Handy und tippte auf den Kontakteintrag ihrer Mutter.

»Hi, Mama –«, setzte sie an, aber ihre Mutter unterbrach sie: »Emma, endlich rufst du zurück. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Wie geht es dir? Hat sich der Schuft mittlerweile bei dir entschuldigt?«

Emma verzog das Gesicht. »Na ja und nee«, sagte sie ausweichend. »Mach dir keine Sorgen, ich komme zurecht. Ich muss nur erst verarbeiten, was passiert ist, bevor ich mich auf die Zukunft konzentrieren kann.« Ihre Mutter räusperte sich, und Emma redete schnell weiter, bevor sie zu einer Schimpftirade ansetzen konnte. Ihre Mutter hatte Markus akzeptiert, aber nie gemocht. »Sag mal, ich habe heute einen Brief von einer Kanzlei aus Emden erhalten. Es geht um das Erbe einer Bruntje Jansen. Sagt dir das was?«

»Ja, ich kenne tatsächliche eine Bruntje«, sagte ihre Mutter und stockte. »Das war die Patentante deines Vaters. Eine verwitwete Schneiderin, die in Greetsiel gelebt hat. Aber seit seinem Tod habe ich nie wieder etwas von ihr gehört.«

Emma holte tief Luft. Ihr Vater war kurz vor ihrer Geburt bei einem Motorradunfall gestorben, und es war ein Thema, über das sie nicht gern redete.

»Könnte diese Bruntje mir etwas vererben wollen?« Der Gedanke daran kam Emma merkwürdig fremd vor.

»Warum nicht? Sie hatte keine eigenen Kinder, und sie hat sehr an deinem Vater gehangen. Vielleicht handelt es sich um eine ordentliche Summe, und du kannst dir endlich deine Eigentumswohnung leisten, auf die du so lange gehofft hast.« Sie seufzte, und Emma wusste, was nun kam. »Du musst nach vorne sehen, Emma. Was in der Vergangenheit liegt, kannst du nicht ändern. Und dass mit Markus Schluss ist, das ist –«

»Ich weiß«, unterbrach Emma sie. »Es tut nur so verdammt weh.«

»Fahr doch nach Emden und finde mehr heraus.«

Ein paar Schmetterlinge tanzten vor ihr über dem gelb leuchtenden Johanniskraut. Nachdenklich zerrieb sie ein paar Blütenblätter in der Hand und beobachtete, wie sie sich rot färbten. »Gute Idee«, sagte sie schließlich und atmete tief aus.

Ein paar Tage später lud Emma ihren Koffer ins Auto und schnallte Flip auf der Rückbank an. Wehmütig schaute sie ein letztes Mal die Hanauer Landstraße entlang – nur ein paar Blöcke entfernt lag Markus’ schickes Penthouse. Wenn er doch einfach fair und offen mit ihr Schluss gemacht hätte … oder sie mit ihm … Wie lange er sie wohl mit Heike betrogen hatte? Und wusste Heike von ihr? Der Schmerz über sein Doppelspiel war überwältigend, und das würde wohl noch eine Zeit lang so bleiben. Seit dem Firmenjubiläum hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen, sein Vater hatte am nächsten Tag ihren Urlaub genehmigt, und sie hatte die Nähe der Firma gemieden. Jetzt wollte sie erst einmal nach vorne schauen, sich ablenken und herausfinden, was in Ostfriesland auf sie wartete.

Sie stieg ins Auto und startete den Motor. Flip rollte sich zu einer kleinen Kugel zusammen und schnarchte, noch bevor sie die Autobahnauffahrt erreichte. Auch als sie Wenn du jetzt aufgibst von Rosenstolz im Radio mitsummte, schlummerte er weiter. Dem seligen Schlaf ihres Mopses zuliebe fuhr sie ein gemächliches Tempo und vertrieb sich die Zeit mit Überlegungen, wie es ohne Markus weitergehen sollte – die endlose Gedankenschleife, die sie seit dem Abend auf der Firmenfeier ständig verfolgte. Bisher hatte sie nur einen unumgänglichen Schluss gezogen: Sie würde die Kündigung einreichen. Nie wieder würde sie einen Fuß über die Türschwelle der Firma setzen. Womöglich dürfte sie dann sogar Markus’ und Heikes Glück persönlich bezeugen, nun, da die gesamte Belegschaft eingeweiht war. Sie schüttelte sich bei der Vorstellung, wie die beiden turtelnd in seinem Büro saßen, und zwang sich, ihren Fokus auf die Natur zu richten, die vor ihrem Fenster dahinzog.

Nach und nach wurden die Berge zu Hügeln, bis sie schließlich das platte Land erreichte, das den ungetrübten Blick bis zum Horizont freigab. Links der Straße wurde Kohl angebaut, rechts weideten Kühe. Langsam versank die Sonne hinter dem Horizont, der Himmel wurde orange, dann rot, und schließlich holte die Dunkelheit ihren Kleinwagen ein.

Die Sterne leuchteten bereits hoch am Himmel, als sie in die Einfahrt des Falderndelft-Hotels einbog. Es war eine alte, günstige Pension mit einer Ziegelsteinfassade, die mit Werbeplakaten und Leuchtschildern versehen war. Ein ausgeblichener Aushang warb mit WLAN in den oberen Etagen. Der kühle Wind trieb Emma die Farbe ins Gesicht, und sie beeilte sich, Flip vom Rücksitz zu holen. Ihren ausgeschlafenen, bellfreudigen Mops unter dem Arm und den Koffer im Schlepptau, kämpfte sie sich drei Treppen hinauf zu dem Zimmer, das man ihr an der Rezeption zugewiesen hatte. Als sie die Tür öffnete, strömte ihr abgestandene Luft entgegen. Das Mobiliar wirkte betagt, doch sie war inzwischen viel zu müde, um sich nach etwas anderem umzusehen. Was solls? Sie würde eh nur diese eine Nacht bleiben. Schwungvoll schob sie den Koffer in eine Ecke, ehe sie sich erschöpft auf die Matratze sinken ließ.

Sie schlief schlecht in dieser Nacht, wälzte sich unruhig hin und her und kratzte sich immer wieder, weil irgendetwas zwischen den Bettlaken sie zu beißen schien. Tatsächlich hatte sie am nächsten Morgen rote Flecken am Bauch. Noch vor dem Frühstück checkte sie aus, ging mit Flip spazieren und holte sich ein belegtes Brötchen beim Bäcker. Flip schaute sie gierig an, aber Emma blieb hart: »Tut mir leid, aber das ist nicht gesund für dich. Du hast dein Futter doch schon bekommen, bist du etwa wieder hungrig, du kleiner Nimmersatt?«

Flip schielte beleidigt auf ihre Mahlzeit, bis sie den letzten Krümel vertilgt hatte. Nervös schaute sie alle paar Minuten auf die Uhr, konnte es kaum abwarten, bis sie endlich um elf Uhr den Termin bei der Anwaltskanzlei Barnes & Bellum hatte.

»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte Frau Bellum sie gleich, nachdem Emma sich vorgestellt und auf dem Besucherstuhl Platz genommen hatte. Sie nickte dankbar. »Schwarz und ohne Zucker bitte«, sagte sie matt. Während sie den Blick durch den Raum wandern ließ, spielte sie mit der Krempe ihres Bogarthutes, der so gar nicht zum schicken Ambiente der Kanzlei passen wollte.

Die Anwältin drückte einen Knopf und trug ihrem Assistenten die Bestellung auf. An der Wand hing ein Bild von einem Segelschiff mit einem Delfin als Bordfigur. Sofort musste Emma an das Gemälde im Friseursalon denken. Dieses Schiff lag allerdings in einer ruhigen See. Sehnsüchtig betrachtete sie das blaue Meer, das in einen ebenso blauen Himmel überging.

»So, dann wollen wir mal sehen«, sagte die Anwältin schließlich und leckte sich über den Daumen, bevor sie einen dicken Stapel Papier durchsuchte. Plötzlich kreischte sie auf.

Erschrocken folgte Emma dem angewiderten Blick der Frau hinunter zu deren Füßen. Flip hatte ihr seinen angekauten Plüschelefanten auf die eleganten Sandalen gelegt. Pikiert schob sie das Stofftier mit dem Absatz weg.

Emma nahm es schnell an sich und griff die Leine kürzer, während die Anwältin weiterblätterte. Flip hatte ihr gerade ein Freundschaftsangebot gemacht, das die Anwältin abgelehnt hatte. Zum Glück nahm der Mops Ablehnung selten krumm. Sie beugte sich vor, um Flip den Kopf in einer Geste der Verbundenheit zu tätscheln.

»Ach ja, hier.« Frau Bellum richtete sich gerade in ihrem Bürosessel auf und überflog die Seite, die sie soeben aufgeschlagen hatte. »Wie Sie bereits erfahren haben, verwalten wir die Hinterlassenschaft von Frau Jansen in Greetsiel. Nach deutschem Recht können Sie die Erbschaft annehmen oder ausschlagen. Dafür haben Sie eine Frist von sechs Wochen. Um die Entscheidung zu erleichtern, steht es Ihnen zu, die Kontoauszüge der Erblasserin über den Zeitraum der vergangenen zehn Jahre durchzusehen.« Die Anwältin lugte über den Rand ihrer Brille hinweg und musterte Emma vertraulich. »Ich kann Ihnen aber bereits verraten, dass die Vermögenswerte unklar und die Kontoauszüge nicht besonders aussagekräftig sind, da Frau Jansen nur eine geringe Pension bezog und anscheinend ein sparsames Leben führte.«

Emma nippte an ihrem Kaffee. Schade! Sie hätte ja auch ein Mal Glück haben können. Aber was sollte es? Zu verlieren gab es anscheinend auch nichts.

Sie hörte der Anwältin weiter zu und entschied schließlich: »Ich würde die Kontoauszüge gern einsehen.«

Ein paar Stunden nach dem Termin saß Emma in einem urigen Café am Emder Hafen. Die holzverkleideten Wände waren mit Rettungsreifen geschmückt, und in der Nähe ihres Tischs stand ein Aquarium, vor dem Flip saß und aufmerksam die bunten Zierfische beobachtete. Emma biss herzhaft in ihr Matjesbrötchen und blätterte durch die Akte, die man ihr in der Kanzlei ausgehändigt hatte. Bisher gab sie ihr mehr Rätsel auf, als sie löste.

Bruntje besaß ein kleines Haus in Deichnähe. Der niedrige Grundstückswert übertraf jedoch noch bei Weitem den Wert der Immobilie. Baujahr des Hauses war 1910, in den Unterlagen befanden sich keinerlei Angaben zu Renovierungen. Außerdem gehörte ihr nun ein Boot, das im Greetsieler Hafen lag. Auf dem Konto selbst waren einige Tausend Euro verzeichnet. Keine regelmäßigen Zahlungsausgänge oder Hinweise, die auf Schulden hindeuteten.

Emma überlegte. Das Risiko schien gering. Das Boot könnte sie veräußern und das Geld nutzen, um das Haus zu renovieren. Eine schnelle Recherche im Internet verriet ihr, dass ein anständiger Krabbenkutter etwa eine halbe Million Euro wert war. Das war eine Menge Geld für einen Neuanfang. Sie wollte weg aus Frankfurt, weg von Markus und der damit verbundenen Demütigung. Sich ein Leben aufbauen, das sie glücklich machte. Warum nicht hier? So ein süßes altes Häuschen am Meer, das klang doch nett. Solange es keine Abrissimmobilie war …

Sie seufzte, winkte dem Kellner, um ihre Limonade und das Fischbrötchen zu bezahlen, und verließ das Café. Eine Weile wanderte sie ziellos durch die Straßen. Während Flip brav neben ihr hertrottete, betrachtete sie die dicht gedrängten Ziegelsteinhäuser und die Menschen, die sich zwischen ihnen tummelten. Emden gefiel ihr, es strahlte einen Frieden aus, nach dem sie sich gerade sehnte. Eine Möwe flog über sie hinweg und landete auf dem glitzernden Wasser des Ratsdelfts. Bei dem Anblick kribbelte es in Emma, und sie fasste einen Entschluss.

Kapitel 3

Zwei Monate später

Zuversichtlich fuhr Emma die Greetsieler Straße entlang, das Auto vollbepackt mit Taschen und Kisten, die allerdings so ordentlich gestapelt, sortiert und beschriftet waren, dass ein Umzugsunternehmen seine wahre Freude daran gefunden hätte. Die Sonne ging gerade unter und tauchte die Landschaft in ein rötliches Licht, das die Vorfreude in ihr umso mehr anfeuerte. Flip, der zusammen mit seinem Plüschelefanten in einer Transportbox auf dem Rücksitz hockte, scharrte unruhig. »Noch etwas Geduld, Flipsi. Gleich sind wir da – in unserem neuen Zuhause.« Das ich noch gar nicht kenne, ergänzte sie in Gedanken. Die Schlüssel zu dem Haus hatte sie per Einschreiben erhalten, gesehen hatte sie es bisher nur auf einem Foto. Ein verklinkerter Bau, dessen Fassade weiß getüncht war und in dessen dicht bewachsenem Garten ein alter Strandkorb stand.

Vor ihr tauchte ein kleiner Schatten auf, und Emma bremste scharf. Die Taschen verrutschten, in einem Karton klirrte Geschirr. Das Auto kam zum Halten, und sie schloss kurz die Augen, um den Schock zu verarbeiten. Hoffentlich hatte sie kein Tier überfahren. Ihre Finger zitterten, als sie sich abschnallte und ausstieg. Wenige Zentimeter vor der Motorhaube stand ein winziges weißes Huhn, das sie mit großen Augen anstarrte. »Pook?«, gackerte es.

Emma atmete erleichtert aus, es schien unverletzt. Sie legte den Kopf schief. Meine Güte, dieses Huhn war wirklich klein, fast wie eine Taube.

Schritte ertönten aus dem Sanddorngebüsch neben der Straße, und ein Mann kämpfte sich zwischen den Sträuchern hervor.

»Harrijasses, ist alles in Ordnung? Geht es dir gut, Kleopatra?«

Emma starrte ihn entgeistert an. Zweige und Blätter steckten in seiner dunkelbraunen Löwenmähne, die auf und ab wippte, als er besorgt den Kopf neigte.

»Danke der Nachfrage, mir geht es auch gut«, brummte sie missmutig und beobachtete, wie der Mann das Huhn hochhob und es vorsichtig untersuchte. »Was machst du nur für Sachen?«, fragte er.

Emma wurde rot. Machte der Typ ihr gerade tatsächlich einen Vorwurf, nachdem sie eine Vollbremsung für den Vogel hingelegt hatte?

»Wie bitte?«, fragte sie und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich habe gar nichts gemacht. Aber Ihr …« Ach, nee, der Typ hatte sie geduzt. »… dein Huhn sollte vielleicht mal die Verkehrsregeln lernen. Ist nicht ganz ungefährlich auf der Straße, selbst wenn man Flügel hat.«

Jetzt richtete sich der Typ auf und kam näher. Er überragte Emma um einen ganzen Kopf, und sie glaubte zu schrumpfen. Seine braunen Augen blickten sie ernst an, dann zuckte es um seinen Mundwinkel. »Hi!«, sagte er und reichte ihr die Hand. »Ich bin Leon. Danke, dass du Kleopatra nicht überfahren hast. Sie ist meine beste Legehenne.« Sein Händedruck war warm und weich.

»Äh, okay«, antwortete Emma, einfach weil ihr nichts Besseres einfiel. Wie klein mussten wohl die Eier sein, die so ein Zwerghuhn legte?

Sie vertagte die Frage und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem lässigen Hühnerzüchter vor ihr. Von Nahem sah Leon zugegeben ziemlich gut aus, auch wenn seine lockigen Haare momentan mehr an ein Adlernest nach einem Sturm erinnerten. Er hatte ein offenes Lächeln und breite dunkle Augenbrauen, die immer in Bewegung zu sein schienen, was ihm etwas Fröhliches verlieh. Liebevoll tätschelte er dem Huhn die Rückenfedern.

»Du bist wohl nicht von hier?«, fragte er und deutete auf ihr Frankfurter Kennzeichen.

»Nein. Äh, ja. Doch schon. Ab heute, gewissermaßen. Ich ziehe gerade hierher.« Mit einem Haufen zerbrochenem Geschirr, fügte sie gedanklich hinzu.

»Oh, willkommen auf der Krummhörn, der schönsten Ecke der Welt! Mir gehört der Campingplatz Am Wattenmeer am Leyhörner Sieltief. Nur falls du mal jemanden brauchst, der dir lokale Infos zuschieben kann. Bin jederzeit erreichbar, Tag und Nacht. Leuten, die für Hühner bremsen, helfe ich gern.«

Sein Lächeln wurde noch breiter, als es ohnehin schon war, dann tippte er sich an die Stirn und lief mit dem Huhn im Arm die Straße zurück, bevor er auf einen Trampelpfad einbog. Emma schaute ihm nach. »Das war … interessant«, murmelte sie. Aus irgendeinem Grund waren ihre Handflächen feucht geworden, und ihr Herz klopfte ein kleines bisschen schneller als sonst.

Als Emma vor ihrem neuen Haus ankam, war die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden, und die Dunkelheit holte sich das Land zurück. Aber die funkelnden Sterne am Himmel, ein fast voller Mond und ihre Autoscheinwerfer spendeten Licht genug, um das Haus zu erkennen, das einsam zwischen einigen Schafwiesen stand. Es war umgeben von einem großen Garten, in dem mehrere Bäume und ziemlich viele Büsche wuchsen. Nachbarn gab es anscheinend keine.

Emma hob Flip aus seiner Box, der dankbar zum nächsten Stamm wackelte, um sein Beinchen zu heben. Der Wind zerzauste ihr Haar, als sie das Gartentor öffnete und den gekachelten Weg zum Haus entlangschritt. Es gluckerte leise. Emma lauschte. Gab es hier einen Bach? Doch je näher sie dem Haus kam, desto gewisser wurde ihre Vorahnung. Ihre Schritte beschleunigten sich, bald trat sie in die erste Pfütze, und als sie hastig die Haustür aufschloss, kam ihr ein Schwall Wasser entgegen.

»Verflixt noch mal!«, rief sie aus und schlug sich die Hand vor den Mund. Ein Wasserrohrbruch. Da hatte sie alles auf eine Karte gesetzt, die Wohnung gekündigt, ihr gesamtes Hab und Gut im Kofferraum – und dann das … Wie viel Pech konnte man haben?

Flip schoss an ihr vorbei, um in der Pfütze zu spielen. Er liebte Wasser, auch wenn er aufgrund seines Körperbaus nur mit Mühe schwimmen konnte.

»Nichts da, komm sofort zurück!« Sie stakste nach vorne, griff sich den Mops und rettete sich zurück in den Vorgarten. Das war ein Desaster. Ihr Kreislauf schien für einen Moment zu versagen, und sie lehnte sich an den Pfosten der Laterne neben dem Pfad. Als sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte, schaltete sie ihre Handytaschenlampe an, lief in den Garten hinter dem Haus und suchte den Strandkorb, den sie auf dem Foto gesehen hatte. Da stand er tatsächlich, so sehr von Schmutz und Wetter gezeichnet, dass die blau-weißen Streifen kaum erkennbar waren. Sie zögerte kurz, holte ein Taschentuch hervor, wischte die Oberfläche sauber, dann ließ sie sich schließlich auf die alten Polster sinken und atmete tief aus. Um die Spinnweben über ihr zu entfernen, hatte sie gerade weder Zeit noch Kraft. Sie setzte Flip neben sich, der seine nassen Pfoten und den Kopf auf ihre Oberschenkel legte, und wählte die Nummer der Feuerwehr.

»Kein Problem, ein Team ist gleich da«, versicherte ihr eine aufmunternde Stimme, und tatsächlich dauerte es nicht lang, bis ein Einsatzfahrzeug in die Straße bog.

Drei junge Männer und eine Frau liefen ihr entgegen, und sie schilderte ihnen die Situation.

»Wir schauen uns die Sache an. Erst müssen wir sicherstellen, dass keine elektrischen Leitungen beschädigt sind, bevor wir das Wasser abpumpen«, erklärte die Frau ihr. »In das Haus können Sie heute Nacht nicht mehr. Sie müssen sich leider eine Unterkunft suchen. Morgen früh können wir alles Weitere besprechen. Wir melden uns bei Ihnen.«

»Danke. Mache ich.« Mehr brachte Emma nicht heraus, weil der Kloß in ihrem Hals immer größer zu werden schien.

Mitleidig schaute die Feuerwehrfrau sie an. »Das wird schon wieder«, versuchte sie Emma aufzumuntern, die Flip fest an sich presste.

Ratlos sah Emma ihr und den anderen nach, als die sich von ihr verabschiedeten und sich dem Haus zuwandten. Sie kannte niemanden in der Gegend. Und so spät abends würde es bestimmt nicht leicht werden, in der Provinz ein Hotel zu finden.

Flip zappelte ungeduldig auf ihrem Arm, während sie noch immer reglos dastand.

»Wo sollen wir denn jetzt hin?«, flüsterte sie vor sich hin. Ihr Pullover war mittlerweile völlig mit seinen matschigen Pfotenabdrücken übersät.

Na ja, eine Person kannte sie schon. Leon. Und hatte der nicht gesagt, er sei jederzeit erreichbar, Tag und Nacht?

»Komm, Flip. Ich bringe uns zum Campingplatz«, entschied sie.

Das Leyhörner Sieltief erstreckte sich über einige Kilometer bis zur Nordsee, aber der Campingplatz war trotzdem nicht schwer zu finden, denn an jeder Kreuzung standen Wegweiser, die ihn ausschilderten. Emma bog in die schmale Einfahrt und hielt direkt vor dem Empfangshäuschen, das im Dunkeln lag. Die Tür war verschlossen, aber am Fenster hing ein Zettel mit Leons Telefonnummer. Für alle Notfälle und dringlichen Angelegenheiten, stand dort.

Es klingelte dreimal, dann meldete sich seine verschlafene Stimme. »Hi!«, sagte Leon und gähnte ungeniert. »Campingplatz Am Wattenmeer, Koopmann am Apparat, wie kann ich helfen?«

Emma stutzte. Koopmann war also Leons Familienname. »Hi, hier ist Emma. Die mit dem Huhn.« Sie wartete kurz, ob Leon sie wiedererkannte. Aber als keine Reaktion kam, redete sie weiter: »Wir haben uns heute Abend kennengelernt. Als ich Kleopatra –«

»Schon klar, sorry, ist nicht meine Uhrzeit. Bin eher so der Frühaufsteher. Wo geiht di dat?«

»Ähm, gut?«, riet Emma, die kein Plattdeutsch sprach. »Es tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe, aber ich brauche eine Unterkunft für heute Nacht. Ich habe zwar kein Zelt, aber vielleicht könnte ich in einem eurer Bungalows unterkommen? Und ich habe meinen Mops dabei, geht das in Ordnung?« Sie biss sich auf die Lippe. Wenn Leon sie jetzt wegschickte, müsste sie wohl oder übel die Nacht in ihrem vollgepackten Kleinwagen verbringen. Und das war nach der anstrengenden Fahrt und dem Schreck über den Wasserrohrbruch so ziemlich das Letzte, was ihre strapazierten Nerven verkraften würden.

»Warte kurz, bin gleich bei dir.« Er legte auf, und Emma setzte sich auf die Treppe, während sie auf das Beste hoffte.

Exakt fünf Minuten später bog Leon um die Ecke. Statt Jeans und hellem T-Shirt trug er nun einen dunkelblauen Pyjama, auf den zahlreiche Hühner gedruckt waren. Sie starrte ihn eine Sekunde zu lange an und verkniff sich ein Grinsen. Offenbar war er ein regelrechter Hühnerfanatiker.

Sie stand auf und klopfte sich die Hose sauber, was angesichts ihres schlammbeschmierten Pullovers vergebene Liebesmüh war.

»Wie geht es Kleopatra?«, fragte sie.

Leons verschlafene Miene wandelte sich zu einem sanftmütigen Ausdruck. »Sie steht etwas unter Schock, aber das sollte sich bis morgen wieder gelegt haben. Sie hat eine äußerst sensible Persönlichkeit, weißt du.«

Er sagte das so ernst, dass Emma nicht an seinen Worten zweifelte. Es gab genug Leute, die Tiere nur als Dinge betrachteten, da war es erfrischend, dass Leon anders dachte.

Sie erklärte ihm die Sache mit dem Wasserrohrbruch und endete mit: »Wie es aussieht, muss ich wohl einiges renovieren. Dabei bin ich überhaupt nicht praktisch veranlagt und habe zwei linke Hände. Auf jeden Fall brauche ich jetzt dringend eine Unterkunft, und da dachte ich, ich frage mal bei dir nach.«

Leon schielte zu Flip, und Emma konnte sehen, wie es in ihm arbeitete. Schnell fügte sie hinzu: »Flip benimmt sich meistens gut. Er tut auch keinem Huhn etwas zuleide. Oder überhaupt irgendeinem anderen Tier. Und morgen kann ich hoffentlich in mein Haus einziehen.«

Endlich gab Leon sich einen Ruck. »Das ist gut. Meine Hühner laufen tagsüber frei herum, deshalb nehme ich normalerweise keine Haustiere auf. Bungalows haben wir keine, aber ich könnte dir einen Wohnwagen anbieten. Der hat Wasser, Strom und ein praktisches Vordach. Komm mit!«

Er führte Emma einen mit Laternen beleuchteten Pfad entlang, der auf beiden Seiten von dichten Hecken gesäumt war. Hin und wieder öffnete sich die Hecke, wenn Zuwege abzweigten. Schließlich blieb Leon stehen. »Tada – da sind wir.«

Stolz knöpfte er den Vorhang des Vordaches auf, hinter dem ein Tisch, zwei Stühle und ein Schuhregal zum Vorschein kamen. Auch der Wohnwagen war einfach, aber gemütlich eingerichtet. Es gab eine Kochzeile, eine Sitzecke, ein breites Bett und ein winziges Bad.

»Perfekt – vielen Dank dafür!«, sagte Emma strahlend und drehte sich einmal im Kreis. Erleichterung durchströmte sie. Hier konnten Flip und sie die Nacht verbringen und ein wenig zu Kräften kommen, alles andere würde sich morgen ergeben.

Leon zeigte ihr, wie man das Gas und die Heizung anstellte. »Das Fenster neben dem Bett klemmt etwas, aber wenn es dir zu warm wird, kannst du die Tür einen Spalt offen stehen lassen. Wir haben nur wenige Mücken hier.«

»Danke. Das wäre kein Problem. Ich bin bewaffnet.« Demonstrativ zog sie das Mückenspray aus ihrer Handtasche.

»Brauchst du noch etwas?«, fragte er, und als sie den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: »Morgen ab acht Uhr gibt es frische Brötchen am Empfang. Wenn du vorbeischaust, setze ich dir gern einen Kaffee auf.«

Als er verschwunden war, ließ Emma sich auf das Bett sinken. Sie atmete ein paarmal tief ein, genoss die Stille und ließ den leicht staubigen Geruch des Wohnwagens auf sich wirken.

Später holte sie ihren Koffer und Flips Körbchen aus dem Auto. Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, und sie erkannte die Silhouetten zahlreicher anderer Wohnwagen und Zelte auf den Wiesen und Stellplätzen, aber um diese Uhrzeit war niemand mehr wach.

Es dauerte nicht lange, bis sie einschlief, und als sie aufwachte, lag Flip in ihren Armen. »He«, begrüßte sie den Mops, der sie sofort schuldbewusst anschaute. »Du solltest doch in deinem Körbchen bleiben.« Zur Antwort schleckte Flip ihr mit seiner rosafarbenen Zunge quer übers Gesicht. »Na danke, dann kann ich mir das Waschen ja jetzt sparen«, stieß sie kichernd hervor und setzte ihn auf den Boden.

Ihr Kopf brummte, und ihre Stirn fühlte sich warm an. Oh nein, sie würde doch nicht etwa krank werden? Entschieden schlug sie die Decke zurück und setzte sich auf, auch wenn ihr dabei etwas schummerig wurde. Nichts da. Das konnte sie sich jetzt wirklich nicht leisten. Sie brauchte all ihre Energie – es würde mit Sicherheit ein anstrengender Tag werden.

»Was für ein Start«, murmelte sie und beobachtete ihren Mops, der sich seinen Gummiknochen geschnappt hatte und damit quietschfidel über den Vinylboden tobte.

Ihr knurrender Magen meldete sich. Höchste Zeit, dass sie sich einen Kaffee und ein Frühstück genehmigte. Sie stand auf, wühlte in ihrer Tasche und suchte ihr Lieblingstop mit den blauen Punkten und eine Jeansshorts heraus. Nachdem sie sich angezogen hatte, fütterte sie Flip, dann nahm sie ihn an die Leine und spazierte zum Empfang.

Es war ein sonniger Morgen, mild und warm. Ein paar Hummeln brummten in der Hecke, in der zwitschernde Vögel hin und her hüpften.

Eine rüstige alte Dame in einem graublauen Badeanzug kam ihr entgegen. Um ihre Haare hatte sie einen Handtuchturban geschlungen, an den Füßen trug sie Sandalen. Sie musste etwa um die neunzig sein, aber ihr Schritt war energisch und irgendwie eigenwillig.

»Moin!«, rief sie und blieb vor Emma stehen, die zurückhaltend »Guten Morgen« antwortete. Tiefe Lachfalten bildeten sich um die Augenwinkel der runzeligen Dame, als Flip sie schwanzwedelnd begrüßte. »Ja, wen haben wir denn da? Du bist aber ein Schätzchen, komm her zu Motje, meine süße Kartoffel. Wo old is de Bellmann?«

Emma lachte. »Kartoffel passt ziemlich gut. Das ist Flip, er ist gerade drei Jahre alt geworden. Und ich bin Emma.«

»Ich bin die Motje. Bin immer hier, jeden Sommer. Quasi ein Urgestein.«

»Ist der angemeldet?«, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme hinter Emma, und jemand tippte ihr auf die Schulter. Sie zuckte zusammen, bevor sie sich langsam umdrehte.

»Hier sind keine Hunde erlaubt«, fuhr der Mann fort. »Abschnitt vier, Paragraf fünf der Campingplatzverordnung. Da steht ganz klar, dass Haustiere auf dem Platz verboten sind.« Der schmal gebaute Mittfünfziger funkelte sie herausfordernd mit seinen grauen Augen an.

»Oh, Flip ist angemeldet«, erklärte sie. »Ich habe mit Leon … ich meine, mit Herrn Koopmann alles abgesprochen.«

»Aber laut Abschnitt vier, Paragraf fünf der –«

»Lass gut sein, Günter«, mischte sich Motje ein und legte ihm die Hand auf den Arm. »Es hat bestimmt alles seine Richtigkeit. Aber wo ich dich gerade sehe, weißt du zufällig, wer gestern Morgen die Waschmaschine benutzt hat? Die Wäsche liegt schon seit einem Tag in der Maschine.«

»Seit einem Tag? Das ist ja unerhört«, grummelte er, schielte zu Flip, schüttelte den Kopf und hielt kurz inne, als Flip ihn erwartungsvoll anschaute. »Da gehe ich besser mal nachsehen.«

Motje wartete, bis er Richtung Waschraum marschierte, und flüsterte Emma dann verschwörerisch zu: »Unser Günter nimmt alles immer ganz genau. Aber er meint es nicht so. Gegen Herbert Raschl, den alten Griesgram, ist er ein Lämmchen. Vom Raschl sollten Sie sich fernhalten! Günter kommt schon seit seiner Kindheit hierher, wissen Sie. Und seit die Familie Seppl hier ist, ist er etwas sensibel.« Sie deutete mit dem Kinn in Richtung eines riesigen Iglu-Zeltes, vor dem ein paar schwarzhaarige Kinder spielten. »Sieben Jungs haben die, bei denen ist Chaos der Normalzustand. Stellen Sie sich gut mit denen. Frau Seppl macht die beste Krabbensuppe in ganz Norddeutschland, das kann ich Ihnen sagen.« Sie strich Flip ein letztes Mal über den Kopf und verabschiedete sich.

Emma grinste vor sich hin und lief weiter zum Empfang. Offenbar erfüllten der Campingplatz und seine Bewohner das ein oder andere Klischee.

Plötzlich machte Flip einen Satz zur Seite, als ein schneeweißer Hahn vor ihnen aus dem Gebüsch sprang und über den Pfad vor dem Empfangshäuschen stolzierte. Er war etwas größer als das Huhn von gestern, aber nicht viel. Provokativ visierte er Flip an, doch der blieb nur schwanzwedelnd stehen.

»Braver Flip«, lobte Emma ihn erleichtert.

Die Tür zu dem Kioskhäuschen stand weit offen, und ein herrlicher Kaffeeduft strömte ihr entgegen. Ein schwarzhaariger Teenager mit einer Brötchentüte kam gerade heraus und grüßte sie höflich.

Sie grüßte zurück, dann schlenderte sie hinein. Leon stand hinter dem Tresen und kramte in einer Schublade.

»Hi!«, rief sie ihm entgegen.

»Moin.« Er hob kurz den Kopf und zwinkerte ihr zu. »Kaffee?«

»Klar, gern.« Sie wartete, während er ihr eine Tasse eingoss, und sah sich derweil im Raum um. In einem Regal stapelten sich Prospekte und Flyer, die alle recht willkürlich einsortiert schienen. Daneben war ein Tisch aufgestellt, auf dem eine Kiste mit der Aufschrift Verloren und gefunden stand. Fotos von Campingplatzbesuchern zierten alle vier Wände des Kiosks.

»Gibt es etwas Neues von deinem Haus?«

Emma schüttelte den Kopf. »Nee, die Feuerwehr hat sich noch nicht gemeldet. Ich rufe nachher selbst mal an.«

In dem Moment trat ein Ehepaar im Partnerlook ein. Ihre blauen Trainingsanzüge knisterten bei jeder Bewegung, als sie zielstrebig auf Leon zuliefen.

»Moin, wir hätten da ein Anliegen«, polterte der Mann, der exakt so groß wie seine Frau war und ebenso ein zu tief sitzendes Stirnband trug, das fast die Augenbrauen verdeckte. »Es geht um den Schlauchadapter am Hahn. Der ist kaputt.«

»Er tropft«, fügte seine Frau hinzu. »Wenn ich da an die Wasserkosten denke, wird mir ganz schwindelig.«

»Moin«, grüßte Leon zurück. »Da kann ich mich nachher gern drum kümmern.«

»Bitte warten Sie nicht zu lang damit. Es geht ja schließlich um die Nachhaltigkeit. Wir haben da unsere Prinzipien.«

»Selbstredend.«

»Und wenn Sie gleich dabei sind, mähen Sie doch bitte den Rasen vor unserem Wohnwagen. Der ist schon so lang, dass ich meine Schlappen nicht wiederfinden konnte.«

»Und der Kiesweg müsste mal geharkt werden.«

Emma wartete, bis das Ehepaar wieder abgezogen war, und wandte sich dann mit hochgezogenen Augenbrauen an Leon. »Wer war das denn?«

»Elke und Peter Schubermaier«, erklärte er. »Wohnen in Bottrop-Fuhlenbrock und kommen jedes Jahr hierher, um auszuspannen.«

Dafür halten sie dich aber ganz schön auf Trab, dachte sie, verkniff sich aber ihren Kommentar. Leon schien die Sache ja recht gelassen zu nehmen. »Sag mal, kennst du dich im Hafen aus?«, wechselte sie stattdessen das Thema. »Ich habe ein Boot geerbt, das dort vor Anker liegt. Das würde ich mir gern anschauen.«

»Ein Boot im Greetsieler Hafen? Oha. Etwa einen waschechten Krabbenkutter?«

Stolz stieg in Emma auf. »Ja.«

»Was hast du denn damit vor? Möchtest du in die Fischerei einsteigen?«