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Dieses Buch vereint drei in sich verschlungene Erzählungen, Arabesken, über deren Lebenskampfschilderungen das Lächeln innerer Befreiung schwebt. In der ersten Arabeske geht es um eine sieben Jahre dauernde Kinderliebe in schweren Nachkriegszeiten, die sich im Schutz eines großherzigen Vaters und seiner ebenso großherzigen jungen Frau oft auf einem Lindenbaum zwischen Zweigen und Blättern - und damit den gewöhnlichen Schrecknissen dieser Jahre zeitweilig enthoben - abspielt. In der zweiten als Pamphlet geschriebenen Arabeske finden sich die beiden als androgynes Ich des zum Mann herangewachsenen Jungen wieder, der als Künstler mit dem kunstfernen Bewusstsein seiner Zeitgenossen konfrontiert ist. Dabei unterscheidet sich sein Anderssein und der damit verbundene Lebenskampf grundlegend wenig von dem anderer an den Rand der Gesellschaft Verwiesenen. In der dritten Arabeske entfaltet sich am Beispiel einer schwer misshandelten und endlich geflohenen jungen Asiatin das Glück der Erlösung in einem fast matriarchal anmutenden Frauenverbund, zu dem wesentlich auch ein liebender Mann gehört.
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Seitenzahl: 222
Veröffentlichungsjahr: 2022
Kai Hortiensis LÄCHELN
IST LICHT
Impressum
© 2021 Autor: Kai Hortiensis
Herausgeber: Kai Hortiensis
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40‐44, 22359 Hamburg
ISBN:
978-3-347-49747-4 (Paperback)
978-3-347-49748-1 (Hardcover)
978-3-347-49749-8 (e‐Book)
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LÄCHELN IST LICHT
Inhalt
Seite
1
AUF DER LINDE
119
DIE LEIDEN DES ANDEREN MENSCHEN
oder
SELBSTBEÄUGUNG MIT WIDERHAKEN
‐ ein reminiszierendes Pamphlet ‐
Seite
200
GALIMAH
Gebären
201
In Alma Ata
206
Kennenlernen
223
In der DDR
241
In Westdeutschland
255
Fahrt und Übernachtung mit Galimah 295
Wieder zu Hause
318
1
2
Es war mein Schicksalsbrüderchen Milan, der mich anregte, ein Bild unseres Vaters zu entwerfen, denn Milan kam zur Welt, als unser Vater starb. Natürlich kann ein solches Portrait nicht gelingen, ohne die damalige Zeit und vor allem auch das Bild seiner schwarzen Perle mit zu malen, unserer hübschen jungen Mutter, die nun auch schon einen von ihrer Enkelin gefertigten sehr schönen Keramikgrabstein über ihrer weltlichen Hülle zusammen mit unserem Vater von oben dankbar bewundert.
Wohlan denn, nicht ganz leichten Herzens aber mit gut gesatteltem Rappen: Hinter einer Wand von Schilden, hinter der wir wie Hopliten hausten, eingereiht in die Häuserphalanx der Langen Straße Göttingens, gab es beinahe mittig zwischen dem Altrathaus und der noch älteren dem ersten christlichen Märtyrer „St. Alban“ ge-weihten Wehrkirche einen mehr als 15 Meter tief in die Erde gegrabenen bombensi-3
cheren Gewölbesteinkeller. Obwohl scheinbar geschützt zitterten wir in Zeiten des Krieges darin nicht selten um unsere Leben.
Eine Direktverbindung zwischen dem alten Rathaus und der Kirche war die Lange Straße nicht. Das war die parallel verlaufende Rote Straße, die Blutstraße, die ehemals zum Schafott, oder wenn die Lust, Köpfe abzuhacken, nachließ, auch zum Galgen-platz führte. Zwecks Staunens und Schrek-kenverbreitens hingen dort früher immer ein paar menschliche Marionetten an starken Fäden bzw. Stricken, manchmal bis das Menschenfleisch anfing zu faulen.
Nun, das war alles längst im Orkus der Zeit versiegt, und auch die letzten Kriegsbom-ben hatten die Weststadt schon länger nicht mehr erschüttert. Das kam erst wieder zurück, als immer wieder einmal Blind-gänger explodierten, Autos unvermittelt in die Tiefe rissen und Menschen verstümmel-ten oder sogar ins finale Todrot führten. Allerdings gab es jetzt auf dem unumkehrba-4
ren Zeitpfeil, dessen Ende noch immer im Nazigestank steckte, die Hoffnungsspitze einer schönen, neuen, plastikverpackten Welt aus Amerika, die sich angeblich aus zivilen Atomstrahlen „perpetual“ regenerier-te.
Oft war ich vom Schwarz dieses Bunkerkel-lers vorübergehend verschluckt, um Kohlen aus der Tiefe ins Licht des Hauses zu holen, gewissermaßen als Kleinling unter den Bergleuten, sogar mit „Arschleder“ be-stückt. Ja, der Witz meiner Eltern war trotz allem nicht ganz in den spinnenreichen Mauerfugen verschwunden.
Häufiger noch, eigentlich täglich, saß ich allerdings im Lindenbaum zwischen Blättern und Vögeln hinter dem Hinterhaus, wo Paul, der Bruder meines Vaters, und seine grässliche Anna nebst ihrem noch grässli-cheren Hund „Tullas“ ihr Unwesen trieben.
Das geschah unter anderem in einer Werkstatt, in der es eine Eismaschine im ewigen 5
Werden für die Eisdiele „Agnoli“ gab, von der wir gelegentlich ein Probeeis auf die Schleckerhand bekamen.
Noch häufiger allerdings verbarg mich die Blütenpracht des nachbarlichen Gartens, in dem manchmal auch meine Angebetete im Laub herumkroch. Um in diesen Garten zu gelangen, nahm ich, wenn es ging, jedes Mal einen kruden Abenteuerweg auf mich, der zwischen der Mauer der Autorepara-turwerkstatt meines Vaters und der Mauer einer Schlosserei entlang ging. Diese Werkstätte wurde täglich mit einer gedrehten Ei-senstange in der Hand von einem gewissen auf kriegsverletzten Klumpfüßen humpeln-den „Brechkott“ verteidigt.
Aber Teufel auch: Da stand er wieder, der schreckliche Säger mit seinem riesigen mo-torgetriebenen Sägeblatt, das in Betrieb genommen hochtief sirenig jaulend Säge-späne und Holzfetzen spie. Das war Herr Pelzmer, der aussah wie er hieß. Der lebte 6
von diesem knatternden und heftig stin-kenden Unding und war ihm häufig sichtbar in geradezu pflegender Liebe zugetan. Was konnte ich tun? Obwohl mich der Garten mit meiner heimlichen, auch noch sehr kleinen blondlockigen Freundin in spe magnetisch anzog, kehrte ich um. Aber da tat sich etwas noch viel Beängstigenderes auf: Ein blutig blau geschlagenes Mädchen, kaum älter als ich, dessen Vater, frisch aus dem Krieg zurück gekommen, sein Herz und vollends seinen Verstand zwischen Leichen zurückgelassen hatte und nun immer wieder auf das kleine Geschöpf und seine oft nur im rosa Unterrock flüchtende Mutter einschlug. Mein Vater hörte das schluch-zende Weinen und verzweiflungsvolle Wimmern, kam und siegte über jedes Mannsgebaren. Er kniete vor dem kleinen Wesen nieder. Nie werde ich, dessen Haare die Zeit inzwischen längst in Silber getaucht hat, und in dessen Leben sich die Dunkelheit nun langsam wieder verdichtet, die 7
Verzweiflungs‐ aber auch Herzensszene vergessen, selbst wenn mein weißer Bart noch bis zur Erde wachsen sollte.
Das Mädchen stand, weinte und krümmte sich wie ein halbzertretener Maikäfer vor Schmerz, vor Kummer und bunkertiefer Einsamkeit. Mein starker großer Vater, vor ihr kniend, weinte nicht minder, bis ihn das Kind zart berührte.
„Was machen sie da?“ Mit rotrotem Kopf und Hals, einem männlichen Haustruthuhn also einem Puter gleich, kam der im Krieg wahnsinnig gewordene Erzeuger der Kleinen, die sich nun vollends zusammenknäul-te, auf meinen Vater zugerannt. Der sprang auf und stellte ich schützend vor das zit-ternde an Leib und Seele verletzte Kind. Ein Kampf lag in der abgasverrauchten Luft, die vor allem Herr Pelzmer zu verantworten hatte. Doch die emporschießenden Kampf-impulse des Angreifers lösten sich in bläulichen Wölkchen auf, als die „Schwarze Per-8
le“ hervorsprang und den schlimmen Mann durchdringend anschallte. Der Ausdruckslaut ihrer Stimme, in dem absolute Unbe-dingtheit lag, brachte diese Erlösung zustande. Aber nicht nur das Wie, sondern auch das Was tat seine Wirkung, denn anderntags nahm sich das Jugendamt der bösen Sache an, und diesmal traf es den Richtigen, der dann auch zwangsweise in einer Heilanstalt verschwand. Aber es war nicht nur meine Mutter, die den im Krieg irre Gewordenen bändigte. Denn bevor die bö-se Angelegenheit anderntags endgültig geklärt und gebändigt wurde, geriet der Rot-lappenhals erneut in Angriffswut. Diesmal allerdings ‐ wer hätte das gedacht ‐, bevor Schlimmes geschah, warf ihn ein fürchterlicher Knall mit nachfolgendem Großgestank in den Kies, den er derart strampelnd und mit Angstgeschrei aufriss, dass die Steine die aufgescheuchten Vögel trafen. Der Mensch wähnte sich wohl wieder unter schwerem Beschuss an der Front, aber tat-9
sächlich war es nur der Jauchewagen, der die Häuserphalanx der Langen Straße ab-fuhr und die Grubenstübchen leerte. Denn Göttingen war unglaublicherweise noch immer Gutinga vor tausend Jahren ohne Kanalisation, die zweitausend Jahre zuvor schon im alten Rom bestens funktionierte.
Dass es bei diesen Sanierungsaktionen Gase gab, die sogar gut hundert Meter weit von der Langen Straße durch das Haupthaus bis hinter das Hinterhaus zum Kiesplatz zwischen den Werkstätten drangen, veranlass-te alle, sogar den am Boden Zappelnden, sich mit beiden Händen die Nasenlöcher zu verstopfen. Nun wünschten sich in dieser prekären Situation wieder einmal alle, vier Arme wie Kali zu haben, denn dann hätte man auch die Ohren schützen können. So aber erregte alsbald ein weiterer ohrenge-fährdender Großknall nebst erneutem Gestank die ungeschützten Trommelfelle und
‐ schlimmer noch ‐ die kriegsmürben Seelen.
10
Wer im Haupthaus aus den Fenstern guckte, sah den Grund für das Kriegsgetöse: Mit brennenden, bisweilen recht kurzen Lunten bemühten sich die heldenhaften Latrinen-auspumper dem Gestank beizukommen.
Sie steckten die ekligen Gase, mutig mit ihren Zeitfackeln vor und zurück springend, an, wobei jeweils kanonenschussartige Knalle die Häuser der Straße und Umgebung erzittern ließen.
In diesem Fall kam die Unbill jedoch gerade recht. Der Kriegsgeschädigte berappelte sich gelenkiger als gedacht und lief angst-blökend weg. Das war der Augenblick für die schwarze Perle, erneut einzugreifen.
Sie nahm die kleine Marie mit liebreizen-den Worten bei der Hand und verschwand mit ihr im Haupthaus. Ein süßer Griesbrei, mit der Milch der Bornemann’schen Ziege gekocht, erschien unserem Mütterlein jetzt das richtige Seelenpflaster zu sein. Und tatsächlich: Das blau und rot geprügelte kleine 11
Wesen traute sich, nahm sogar noch einen Extralöffel Honig dazu und genoss den weißen schönen Brei. Eine Zeit später klopfte es zaghaft an der Tür. Unsere Mutter öffnete, und eine Frau mit nichts als einem rosa Unterrock angetan und sogar ohne Schuhe fragte höflich und sehr leise, ob Marie vielleicht hier wäre. „Kommen sie herein, bitte, sie isst gerade einen Griesbrei, und sie sind dazu auch herzlich eingeladen.“ Die ebenfalls schwer misshandelte, im Gesicht und an den nackten Schultern blutig geschlagene Frau trat weinend ein, sah ihr Kind, herzte und küsste das erbarmungswürdige Wesen und setze sich, wagte aber kaum, den angebotenen Brei anzurühren. Nun war es an meiner Mutter, sich mit ihrer Schürze Tränen vom Gesicht zu wischen und den Kopf der Nachbarin zart an sich zu drücken.
Beiden war es steinschwer ums Herz, und auch Mariechen fing wieder an zu schluchzen. Nach einiger Zeit hörte man die Nachbarin, die erschöpft sitzen bleibend auch 12
unsere Mutter umarmte und ihr geschundenes Gesicht am Bauch der Perle auftaute, die Worte wimmern: „Eigentlich ist er ein guter Mann“. „Ja der entsetzliche Krieg“, sagte meine Mutter.
Endlich war es mir vergönnt, meinen Weg vorbei an Herrn Pelzmer, der sein Ungetüm jetzt liebreich putzte, fortzusetzen. Linker-hand durchbrach nur ein verfaulender Bretterzaun das Gelände, dessen teilweise feh-lenden Bretter den Blick in eine weitere Schlosserei frei gaben, die mir unheimlich vorkam. Vor allem wohl, weil sich dort ein böser Mann namens „Tramfe“ mit bissigem Maul, das er oft brüllend und zahnblitzend verzerrte, herumtrieb. Bis auf dessen Eltern, die Max Reger noch erlebt hatten und nun uralt als langschnurrbärtiger Paul und Brennnesseln liebendes Finchen (sogar am Gesäß wenn Passenderes nicht vorhanden war) im selben Haus ihren baldigen Tod kommen sahen, waren die meisten An-wohner im Grunde verbitterte Nazinarren, 13
die unserer Familie verdeckt, bisweilen aber auch offen feindlich begegneten. Das wohl, weil weder mein Vater noch meine Mutter während der allgemeinen Führer-anbetung vollbackig ins Hitlerhorn tuten wollten.
Auch diesen schwierigen Wegabschnitt meisterte ich, verliebt wie ich war, und gelangte endlich bis zur Mauerstraße. Dort prangte mir schräg gegenüber auf der anderen Seite das grüne große Tor des Paradieses entgegen, hinter dem der Garten meiner kleinen Goldgelockten lag. Es war ein wahrlich imposantes Tor, das sogar später als Filmkulisse für den schrecklichen Schiffsuntergangsfilm „Nacht fiel über Gotenhafen“, der das Wilhelm‐Gustloff‐Drama zum Inhalt hatte, diente. Jetzt aber standen vor dieser die ganze alte Stadtmauer durchbrechenden riesigen Tür die Cherubim mit flammenden Schwertern und hüte-ten das Schloss. Allerdings war es möglich, rechts von diesem Tor durch das Nachbar-14
haus und dann durch einen schmalen dunklen Gang, aus dessen röhrenartigen Wänden die Teufelshörner und ‐knochen ge-schlachteter Tiere hervorstachen, in den besagten Wundergarten zu gelangen.
Und dann endlich traf ich sie, die gerade niedlich im Gras herumkroch. Liebreich erblickten wir einander, und sie ließ es sich gefallen, dass ich ihren Rücken berührte.
Und nicht nur das, sie genoss das sogar, rollte sich und wollte nun scheinbar auch am Bauch berührt werden. Wie alles hatte auch der Garten eine Begrenzung, die aus der alten Mauer und der Rückseite eines zur Blutstraße gehörenden Hauses bestand.
Das kleine Liebesspiel war der Anfang eines lebenslangen unsichtbar schimmernden Bandes zwischen uns, das allerdings nicht selten zu Schaden, ja zum Zerreißen kam und auch jetzt, gleich zu Anfang einer Ver-nichtungsattacke ausgesetzt war. Denn aus dem Blutstraßenhaus stürzte eine schreck-15
liche Nazihexe, die mit dem Reichsmarsch-all des hybrid apostrophierten tausendjäh-rigen Reichs verwandt war, hervor und trieb uns böse schreiend auseinander. Es war die Mutter meiner Angebeteten, unbe-lehrbar versteint und mich als Antinazikind mit heißem Augengluh hassend aus dem Grund ihrer Hexenseele heraus, ja heraus aus dem schwärzesten Winkel der Stadt Dis, wo sich die blaubraune Nazisse ge-tummelt hatte. Die Liebenden weinten.
Goldlocki wurde von Hexenhänden wegge-krallt und ich durch die Hörnerschlucht zurück auf die Straße getrieben, wo ich von plötzlich auftauchenden Militärlastwagen fast überfahren wurde. Mit schreienden Gummiprofilen kamen die Ungetüme ‐ dem Himmel sei Lob und Dank! ‐ zum Stehen, und ich blickte schreckdurchbohrt auf eine auf‐ und zuschnellende Metallklappe, hinter der ein starkes Feuer brannte. Was war das? Ein schneidender Spuk saß tief in meinen Eingeweiden. Die Nazihexe hatte Gold-16
locki von mir gerissen, und nun rollte auch noch die Hölle auf Rädern heran? Ich lief zu meinem Vater. An Ersterem konnte auch der nichts ändern. Er nahm mich auf den Schoß, und ich glaubte schon wieder Tränen in seinen Augen zu sehen. „Selbst vor Kindern haben sie nicht Scheu gehabt“, glaubte ich seinem Flüstern entnehmen zu können, und dann mit unterdrückter Wut:
„Aber muss das denn so immer weiterge-hen?“ In der Sache mit der Feuerklappe hatte er den Seelenbalsam einer nüchter-nen Erklärung parat: „Das waren Holzver-gaserlastautos mit Brennkesseln. Benzin gibt es ja augenblicklich nicht.“ Er erklärte mir einiges dazu und zuerst, dass diese Autos trotz ihres bedrohlichen Aussehens ziemlich schwach waren. „Ganz anders als deine Donnermaschine“, sagte ich. „Ja“, sagte er, „aber die braucht Benzin, beinahe so viel wie jeder der Lastwagen.“ Wieso diese Ungetüme schwach sind, wollte ich nun wissen. Weil sie mit Holzgas und nicht 17
mit Benzingas fahren und Holzgas viel schwächer im Motor explodiert. Im Prinzip verstand ich das, denn er hatte mir schon einige Male erklärt, wie Benzin vergast wird und was das Gas im Motor bewirkt, wenn es sich entzündet. „Aber wie funktioniert ein Holzvergaser?“, fragte ich nun. „In einem Holzvergaser wird trockenes Holz verbrannt, wobei Holzgas entsteht. Im Brennkessel kommen dabei Temperaturen bis zu 400 Grad zustande. Wichtig ist, dass nur wenig Luft beim Verbrennen zugeführt wird. Ganz anders als beim Schmied, den du ja schon mal besucht hast. Der braucht seinen Blasebalg, um dem Feuer viel Luft zuzuführen, denn je mehr Luft, also Sauerstoff, das Feuer zur Verfügung hat, desto besser kann es brennen. Die Klappe an den Brennkesseln bewirkt das Gegenteil, nämlich die Verminderung der Luftzustroms.“
„Das ist ja wie bei der Holzkohle“, sagte ich,
„wie im Harz. Die Köhlerhütten hast du mir ja mal gezeigt.“ „Ja, so ähnlich; es handelt 18
sich um die sogenannte »unterstöchiomet-rische« Verbrennung.“ Ich lachte über das tolle Wort und benutzte es seitdem, wenn wir Feuer in unseren Öfen anmachten, immer wenn es nicht wollte.
Alles bis auf meinen Goldlockikummer war wieder gut. Allerdings biss mich noch etwas und nagte in mir. Es war kein inkorporierter Vampir. Der wäre mir lieber gewesen. Nein, es war das Weinen. Nun, in dieser Zeit weinten alle außer den gänzlich Petrifizier-ten, und manche, wenn es ihnen dazu nicht an Kraft fehlte, schrien sogar wie manchmal die Frau im rosa Unterrock. Aber mein Vater?
War er ein Weichling? Deshalb bereits, weil ich manchmal in seinen Augen Tränen sah?
Er sollte ein Held sein, denn ich hatte Hel-denträume. So sein wie … Gott, war ich dumm. „So sein wie“ heißt: sich zum Erd-wurm machen, zum Lumbricus, der es dann nötig hat, Frauen (wie die Schamanin Finja 19
im Roman „Erdenhimmel“ von Kai Hortiensis) ins Gesäß zu beißen.
Ich gebe es zu: Es knisterte in meinem Va-terbild wie im Bildnis des Dorian Gray, ohne allerdings, dass es so weit kam wie schreck-licherweise dort.
Und es nahm das Tränenübel kein Ende, im Gegenteil, es wurde schlimmer: Eine Miete-rin, Frau Grifkamm, hatte einen Sohn namens Eril, dessen Verhalten die Grenze des Gewöhnungsbedürftigen oft weit hinter sich ließ. Und so kam es, dass ihn mein eigentlich durch und durch sanftmütiger Vater gelegentlich vom Werkstatthof jagte.
Das war z. B. der Fall, wenn er die Autos der Kunden zerkratzte. Eines Tages, als mein wankender Held und sein enttäuschter Sohn die Tür des Haupthauses passierten, versperrte uns Frau Grifkamm den Weg. Ihr Blick, zornverkleistert und einen an der Wand lehnenden Knüppel blicklings um-krallend, wuchs zu beachtlicher Größe vor 20
uns auf und geiferte: „Lassen sie meinen Sohn in Ruhe. Ihr Verhalten ist unverschämt. Sind sie verrückt wie der prügelnde Idiot nebenan? Ich verbiete ihnen, ihre Er-ziehungsversuche. Sie haben kein Recht da-zu. Vergreifen sie sich an ihrem eigenen Rotzbengel.“ Ihr böser Blick traf mich. So ging es mit ganzer Kraft fort. Dann erklärte sie, im Schreiton noch immer nicht nachlassend, was ihr Eril schon alles durchmachen musste. Und auch sie selber. Und dass ihr Sohn das mit ansehen musste, der, als sie sich, mit Gewehren bedroht, völlig ausziehen musste, um dann von mehreren Männern nacheinander „zwangsweise gefickt“
zu werden, vor Schreck in die Hose pisste, eine grüne Jacke fraß, daran erstickte, dann doch noch gerettet werden konnte, aber seitdem eben so war, wie er war etc., etc.
Ich verstand nicht wirklich, was sie meinte, aber im Kern doch alles, und dass es etwas ganz Schlimmes gewesen sein musste.
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Mein Vater sagte kein Wort, aber wieder glitzerte es deutlich in seinen Augen. Auch in mir wurde es komisch und noch komischer, als kurz danach die Kinder auf der Straße mir nachriefen, mein Vater sei eine Heulsuse. Ich ahnte, wer solch ein idiotisches Gerücht unter die Leute gebracht hatte. Vermutlich waren es die Kinder der Familie Murx, deren Wohnung direkt am Eingang der peinlichen Zurechtweisung lag.
Diese Familie war mehr als unterprivile-giert. Asozial nannte man das früher, dann dissozial dann bildungsfern, aber dadurch wurde der Gestank, der aus dieser Wohnung kam, kein Blumenduft. Mein Vater hätte die „Bagage“ jederzeit hinauswerfen können, schließlich war es sein und seiner Geschwister Haus. Aber er war eben nicht, was vor allem meine Großmutter forderte, ein hartherzig durchgreifender Geschäftsmann. Der hätte die Leute „entfernt“, dann renoviert und lukrativ neu vermietet. Diese sporenbewehrten Schuhe hätten einem 22
Geschäftsmann sicher gut gepasst, meinem Vater aber nicht. Er hätte sich darin ‐ wie übrigens auch seine Schwestern Irmtraut und Iselin ‐ dicke seelische Blasen gelaufen.
Nein und nochmal nein: Eine Heulsuse, das war er weiß Gott nicht. Aber er war ein ungewöhnlich mitfühlender Mensch und oft nachgiebig bis zur Selbstschädigung. Wenn Kunden nicht zahlen wollten oder konnten, kam er ihnen „entgegen“, manchmal, bis nichts für ihn und seine Familie übrigblieb und sich im Elendsbeutel der Nachkriegs-jahre die Löcher vergrößerten.
Da war seine Frau, die „schwarze Perle“ ‐
wie er sie immer wieder liebevoll nannte ‐
leider wie ihre Mutter ganz anders, allerdings weniger verhärtet. „Du bist kein Geschäftsmann“, warf sie ihm oft vor und wollte, dass er das fehlende Geld notfalls auch per Gerichtsvollzieher eintrieb. „Der arme Mann hat doch auch nichts“, sagte mein Vater dann. Das war aber kein Argu-23
ment für die Perle, die sehr schwarze Haare hatte „östlich aussah“ und deshalb „nicht von hier kommen konnte“, wie die Nachbarn fanden und sie bis auf einige wenige daher beargwöhnten.
Seine Großzügigkeit, die zweifellos Ausnut-zer anzog, geriet vielleicht manchmal an für andere viel zu weit gesteckte Grenzen, durchbrach diese aber nicht. Es gab in ihm eine rote Linie, die wirkte, wenn sie berührt wurde, wie ein Verwandlungsdämon. Einmal erlebte ich, wie mein Vater zwar helfen wollte, aber sich dann doch durchrang, einen klaren Punkt zu setzen. Ein Kunde hatte einen dicken Wechsel auf dem Buckel, der am Platzen war. Den wollte er durch meinen Vater vergoldet wissen. Mit Schulden Geld zu verdienen war nicht nur den Groß-bankencrashern von heute in die Milch der Mutterbrust gelegt. Soweit allerdings wie Jesus im Tempel, der den Knüppel in die Hand nahm und angeblich heftig schwang, 24
ging mein Vater nicht, aber er weigerte sich, das Ding als Bezahlung anzunehmen.
Doch nun ganz plötzlich brach mitten in den laut gewordenen Streit eine andere, ein Himmelwelt ein. Etwas Wunderbares geschah, etwas, woran ich nicht mehr ge-glaubt und es schon gar nicht erwartet hatte. Goldlocki erschien. Sie war nach der langen Zeit seit der Trennung größer und noch schöner geworden. Sie sagte nichts, aber griff nach meiner Hand und hielt sie fest. Als ob wir uns erst vor einer Stunde noch gesehen hätten flohen wir vor der spannungsreichen Auseinandersetzung wie selbstverständlich. Für sie war scheinbar keine Zeit vergangen. Sie zu sehen tat mir wohl, sehr sogar. „Komm!“, sagte sie, „Wir hauen ab!“, und drückte meine Hand noch fester. Ein Freudenfeuer brannte in mir.
„Wohin denn?“, fragte ich. „Auf den Baum.
Wir klettern auf den Baum, da sind wir in Sicherheit.“ „Kannst du das?“, fragte ich.
Goldlocki lachte. „Das habe ich geübt. Mei-25
ne Mutter, ‐ du weißt …“ Sie ließ meine Hand los und fing an wie ein Kätzchen am Stamm hochzuspringen. Mein Mund öffnete sich vor Staunen und schloss sich erst wieder, als sie mich vom ersten großen Ast, mindestens zwei Mannshöhen hoch, rief:
„Hier sind wir sicher, komm, komm schnell!“ Ich lief, die Streitenden waren noch immer fest miteinander beschäftigt, und saß kurz danach neben ihr. Wie war ich dahin gekommen? „Du blutest ja.“ Ich spürte ihre Bestürzung. „Wo denn?“ „An den Beinen, und guck mal deine Hose.“ Ja, die war tatsächlich zerrissen und die Beine da-runter aufgeschrammt. Das Brennen spürte ich kaum, denn Goldlocki saß ja neben mir.
Anders als bei mir war weder an ihren Händen noch an ihren Beinen, die sie unter ihrem bunten Rock hervorstreckte, eine Schramme zu sehen.
„Wie hast du das geschafft?“ „Ich weiß nicht. Ich kann das einfach. Komm, noch höher. Ich zeige es dir, und die da bleiben 26
unten.“ Wieder sprang sie, aber nicht wie ein Kätzchen ‐ das hatte ich mit wohl nur eigebildet ‐, sondern eher krallenlos wie ei-ne junge Äffin. Jetzt saß sie wirklich hoch im Baum, und ich merkte, wie sehr ich sie liebte. Also hinterher und wieder neben ihr verborgen zwischen Blättern sitzen. Mein Körper fing ganz von selbst an zu klettern, und kurz danach saß ich ebenfalls in der grünen Krone nahe bei Goldlocki. Wind, Blätter, Lindenblüten und vor allem sie strömten ein Geruchsmischung von sol-chem Liebreiz aus, dass ich stark an mich halten musste, sie nicht spontan zu umarmen. Sie hatte diese Gemütswallung wahr-genommen. „Mach das nur“, zwitscherte sie lachend. „Gerne, sehr, sehr, aber dann falle ich vom Baum“ „Meinst du so?“ Ich schrie, denn sie ließ sich einfach fallen und landete scheinbar unversehrt zwischen den Streitenden, die sich inzwischen auf den Kiesplatz begeben hatten. „Wo kommst du den her?“, fragte mein Vater. „Vom Him-27
mel.“ Der Kunde lachte gekünstelt, mein Vater war verwundert. Doch schnell verfuh-ren sich beide erneut in ihrer Streiterei.
Kurz danach saß Goldlocki wieder neben mir. „Bist du ein Engel und kannst fliegen?“
„Überhaupt nicht, du kannst das auch, komm!“ Und wieder ließ sie sich fallen, jauchzte vor Freude, landete aber diesmal auf einem der unteren Äste. Der Affe in mir biss inwendig zu, und auch ich überließ mich seinem Kletterinstinkt. Eine Sekunde später saß ich wieder neben ihr auf dem unteren Ast. „So tief, das ist zu gefährlich.“
Sie sprang, kletterte und verschwand wieder im grünen Wipfel. Ihr helles Lachen war wie ein starker Magnet, der mich hochhob und erneut neben ihr landen ließ. Jetzt war es soweit. So klein und jung wir waren und so hoch wir auch in der Baumkrone über dem Boden schwebten, wir umarmten uns zum ersten Mal, fielen, wie ich befürchtet hatte ein paar Äste tiefer, umarmten uns erneut, leckten einander die Wangen und 28
waren dann schnell wieder im Blätterdach verschwunden. „Wie heißt du eigentlich?“
„Sieglinde.“ Das passt doch: „Sieglinde, Sieglinde sitzt auf einer Linde, Sieglinde, Sieglinde sitzt auf einer Linde.“ Mein Vater hörte mich singen und rief: „Pass auf, sei vorsichtig, dass du nicht fällst!“ „Ja gut,“
rief ich. Wir lachten und sie sang mit mir mit, während „die da unten“ schon wieder stritten.
Die entdeckte Fähigkeit, affenartig zu klettern, hat mir viele Jahre später das Leben gerettet. Das war im Wendland, wo ich ein Stipendium ohne die geringsten Geldsorgen zwei Jahre lang genießen durfte (ja so etwas gab es damals auch noch). Eines Tages als ich mich, durch eine grüne Wiese laufend, körperlich und seelisch ertüchtigte und dabei an einer mit Brettern abgezäunten Weide vorbeikam, durchbrach ein Stier den Bretterzaun und hatte nichts Besseres zu tun als mich zu verfolgen. Das schnau-bende Ungeheuer kam näher, war schneller 29
als ich und kam noch näher. Todesangst verlieh mir Flügel, aber auch die nützten nicht viel. In der Ferne stand ein einsamer Baum. Die Rettung? Ich lief, ich schwebte und erreichte ihn. Aber die ersten Äste waren völlig unerreichbar. Und trotzdem ‐ ich glaubte es nicht ‐ saß ich plötzlich darauf, allerdings wieder wie 20 Jahre zuvor schon mit zerrissener Hose und blutigen Beinen.
Das Tier schnaubte, stampfte und wühlte mit den Hufen Gras und Erde auf, während das Wendland lachte, dass sich die Gräser bogen.
Mit Sieglinde im Blätterhaus für andere unerreichbar zu sitzen, war ein uns beide durchströmendes Glück. „Und wie heißt du?“ „Eik“, sagte ich. „Wirklich, ich kenne ein Mädchen, die heißt auch Eik.“ „Das ist top toll.“ Wir lachten über die komischen Worte, sangen in kleinen Terzen abwärts viele Male „top toll“ und fielen dabei vor lauter Lachen fast wieder vom Baum, aber die heraufschallenden Stimmen wurden 30
lauter und klangen jetzt fast bedrohlich. So verzichteten wir auf unser Fallvergnügen und blieben lieber auf unserem Ast sitzen.
Mit der Steigerung des um Geld Ersuchen-den bis hinein in furiose Gefilde und der sich gleichzeitig steigernden Abwehr meines Vaters, der merkte, dass ein Übel aus-gebrütet werden sollte, wuchs die Klarheit, dass der Handel faul war, stank und die Brutvögel des Übels sehr bald aus ihren Eiern hervorkriechen würden.
Von unserem Logenplatz aus erlebten wir, dass der Kunde biss und biss und mein Vater sich dabei härtete und schließlich zu einem Diamanten wurde. Gut, dass es der Kunde nicht mit der sanften Tour und Tränen versucht hatte. Schließlich fiel vom Sparringsblödel das Elendsgerede ab, er verschwand und mit ihm die bereits die an ihre Schalen pickenden Vögel. „Ich gehe jetzt auch lieber, sonst schlägt mich meine Mutter wieder“, sagte Sieglindchen be-31
drückt, fiel vom Baum wie vorher das Elendsgerede vom Wechselvogel und verschwand. Da saß ich nun …
Man sollte denken, dass solch’ siegreiches Wortgeprassel, in dem unübersehbar glü-hende Grenzen entstanden, meiner Großmutter richtigere neuronale Vernetzungen bescherte, aber nein, ihr Hacktrieb wuchs eher noch. Unser Vater war und blieb in Ihren Augen ein Verlierer, viel zu weich, viel zu gutmütig, nicht hart und streng durchgreifend genug. Als sie einmal wieder emuartig zuhackte, polterte mein Vater vor Wut und Verzweiflung mit den Fäusten an die Schlafzimmerwand und schlug sie, als ob er sie zerstäuben wollte. Sein Zorn war so heftig, dass er mir wie ein Giganto-pithecus, von dem er mir einmal in einem Buch über die Vormenschen eine Abbildung gezeigt hatte, erschien. Ich dachte, er würde gleich bis ins Nachbarhaus zum Prügel-idioten durchbrechen. Niemals aber geschah so etwas gegen andere auch nur im 32