Landsberg - Stefan Haver - E-Book

Landsberg E-Book

Stefan Haver

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Beschreibung

Ellen Engel-Vermeer will Präsidentin werden im Golf Club Gut Landsberg. So wie vor ihr schon ihr Vater, ihr Großvater, ihr Urgroßvater – der vierte Engel für Landsberg. Als der Vorstand den in die Jahre gekommenen Verein mit einem Zukunftsprogramm aufmöbeln will, sieht Ellen ihre Chance gekommen. Es beginnt ein intrigenreicher Wettlauf um Macht und Einfluss, im Kampf der Generationen, im Widerstreit grundverschiedener Interessen. Und im ewigen Ringen mit den Erzrivalen vom benachbarten Golfclub Hefel. In Anlehnung an das barocke theatrum mundi behandelt der Roman die zeitlosen Mechanismen menschlichen Machtstrebens. Eine Geschichte von Aufstieg und Fall, Triumph und Verlust, Liebe und Tod. Voller Schrullen, Eitelkeiten und Unzulänglichkeit. Zwischen Sachsen und Franken. Welfen und Staufern. Rheinland und Westfalen. Vor allem aber: zwischen den Golfclubs Landsberg und Hefel.

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Stefan Haver

LANDSBERG

ROMAN

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Impressum

1. Auflage März 2023

Satz: Joachim Bartels

Umschlaggestaltung: Joachim Bartels

Druck und Bindung: Multiprint GmbH, Kostinbrod 2230,

Slavianska Str. 10 A, Bulgarien

© Klartext Verlag, Essen 2023

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-8375-2544-1

ISBN ePUB 978-3-8375-2568-7

KLARTEXT

Jakob Funke Medien Beteiligungs GmbH & Co. KGJakob-Funke-Platz 1, 45127 [email protected]

Inhalt

Vorspiel 805

Vorspiel 1225

Vorspiel 1869

Kompetenzteam

Halloween

Robustes Mandat

Deus ex machina

Auferstehung

Vox populi, vox Dei

Landsberg 2.0

Vorspiel 805

Dichte Wälder. Hohe Farne. Tiefe Sümpfe. Und mittendrin die Fliehburg. Karolingische Zuflucht zu Zeiten der Sachsenkriege. Ein mächtiger Befestigungsring. Gut vierhundert Meter von Nord nach Süd. Zweihundert Meter in der Breite. Die Westseite als natürlicher Schutz steil abfallend zum Fluss hin. Zugänge im Nordwesten und Südosten. Das Haupttor im Süden als Zangentor ausgebildet. Nach Osten wehrhafte Mauern und tiefe Gräben. Das brauchte es schon. Die Sachsen und die Franken. Wie Feuer und Wasser. Hier: gregorianische Choräle, Sakralbauten, Ostertafeln und Minuskeln. Da: Irminsäulen, Thingstätten, Folkwang und Walhall. Auf der Brüstung der östlichen Wehranlage stand jetzt Luidger mit seinem Bruder. Dem Hildegrim. Versonnen betrachteten sie die heraufziehende Morgenröte. Es würde ein langer Ritt werden. Richtung Münster. Unfreiwilligem Bischofsamt entgegen. „Ich bin unwürdig“, hatte Luidger das noch abzuwenden versucht. „Davon will ich nichts hören“, hatte Karl der Große gegrollt. „Wir brauchen dich in Münster“, hatte Hildebold von Köln gefleht. „Ich halte hier die Stellung“, hatte Hildegrim gefeixt. Was blieb Luidger übrig? Gegen Kaiser und Erzbischof war nichts auszurichten. Ungelegen kam die Sache trotzdem. Schenkung und Tausch. Kauf und Gemauschel. Ewig hatte es gedauert, die Ländereien für den Bau der Abtei zusammenzukriegen. Und jetzt das. „Dem Rat so vieler gegenüber will ich nicht hartnäckig sein“, sagte Luidger dem Hildegrim zum Abschied, „und erst recht nicht ungehorsam gegen den Willen Gottes. Also lebe wohl, Hildegrim.“ Der schaute dem Bruder lange nach. „Immer ist es so im Leben“, dachte er, „erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.“

Vorspiel 1225

Graf Friedrich von Isenberg war sauer. Auf Engelbert. Onkel zweiten Grades und Erzbischof von Köln. Friedrich hatte lange zu den Welfen gestanden. Zumindest bevor er die Seiten wechselte. Fortan stand er zu den Staufern. Engelbert dagegen hatte schon den Staufern zugeneigt, als Friedrich noch welfisch dachte. Und später dann, als Friedrich ganz staufisch wurde, schlug Engelberts Herz plötzlich für die Welfen. Beider Beziehung hatte gelitten. Am Ende waren beide Staufer. Aber da war das auch schon egal. Weil Engelbert als Erzbischof immer weiter nach Nordosten ausgriff, wo Friedrich war. Der wollte auch wachsen. In entgegengesetzte Richtung. Wer brauchte Engelbert? Also traf er sich in der Angelegenheit mit anderen Adeligen, die gleichfalls um Macht und Einfluss rangen. „Dein Onkel, Friedrich, der drückt mir aufs Gemüt“, sagte irgendwann der Herzog von Limburg. „Der Teufel dreht uns den Geldhahn zu“, sagte der Graf von Arnsberg. „Bedenket die Konsequenzen“, sagte der Graf von Tecklenburg. Und das tat Friedrich. Er lebte recht gut von dem, was er so herauspresste aus seinen Bauern: aus 36 Oberhöfen mit 1440 Bauerngütern in 905 Orten. Alles niedergelegt in zwei Isenberger Vogteirollen. „Ich setze den dreisten Onkel fest“, versprach Friedrich. Gesagt, getan. Die Mannen des Isenbergers gingen mit tüchtigem Eifer zu Werke. Am Ende lag der Erzbischof erschlagen im Gevelsberger Wald. Aber auch für Friedrich ging die Sache nicht gut aus. Geächtet. Verraten. Verkauft. Gerädert. Und seine schöne Isenburg bis auf die Grundfesten zerstört. Friedrichs Sohn Diderik würde später eine neue bauen. Die überdauerte auch keine fünfzig Jahre. Geschliffen nach der Schlacht bei Worringen. Über die Kampfweise bergischer Bauern und Kölner Milizen wissen wir heute: Sie schlugen ein auf alles und jeden, egal ob Feind oder Freund.

Vorspiel 1869

An einem nasskalten Novembertag saß Wilhelm von Schnakenbeck-Sondheim als Fideikommissherr im Gartensalon von Haus Landsberg und hing trüben Gedanken nach. Landsberg hatte schon im 8. Jahrhundert urkundliche Erwähnung gefunden. Wurde Lehen der von Liudger erbauten Abtei. Später folgten die Isenberger. Die Grafen von der Mark. Über lange Zeit wurde von hier aus munter Raubrittertum betrieben. Mit der Säkularisierung war alles preußisch geworden. Und blieb doch: Rheinland und Westfalen. Landsberg gleichsam an die Kante gebaut. Hier noch: Protestantismus. Patriotismus. Schneid. Dort schon: Katholizismus. Karneval. Larifari. Unnötig zu erwähnen, wo von Schnakenbeck stand. Rechtsrheinisch durch und durch. Gottesgnadentum bis ins Mark. „Wie schnell vergeht der Ruhm der Welt“, seufzte der Graf in rheinischen Niesel hinein. Da kam der Wind gerade von Westen.

„Was biegt, das bricht nicht“, hatte sein idiotischer Quacksalber gesagt. „Man muss mit der Zeit gehen“, hatte sein verbumfeiter Sekretär gesagt. „Wäre es denkbar, den halben Tag frei zu nehmen?“, hatte der unverschämte Kammerdiener gefragt. Zu Brei schlagen sollte man die alle. „Dahin, dahin“, murmelte Wilhelm bitter. Das bürgerliche Zeitalter schmeckte ihm wie Essigwasser. Landsberg lehrte etwas anderes: Hart sein. Wind von vorne geben. Klare Kante zeigen. Das hatte er auch seinem Schwachkopf von Sohn wieder und wieder eingebimst. „Wilhelm August“, hatte er gesagt, „verhandeln ist was für Schwächlinge.“ Und weiter hatte er gesagt: „Kämpfen. Kämpfen. Kämpfen, Wilhelm August. Hier auf Landsberg wurde immer schon gekämpft.“ Und so würde es auch noch in fünfhundert Jahren sein. Wilhelm August hatte nur genickt. Dann hatte er seinen traurigen Blick zum Vater emporgehoben und schüchtern gefragt: „Und was, wenn die Leute einmal sagen, sie seien des Kämpfens müde?“ Wilhelm blitzte ihn wütend an. „Dann ist das eine Finte. Oder es sind einfach nur Idioten!“

Kompetenzteam

„Alles Idioten.“ Stille. Markus blickte auf, nickte unbehaglich. Jetzt war es an ihm, was zu sagen. Nicht so einfach. Die letzten Minuten hatte er verpasst. Zugehört schon, nur nicht Ellen. Frau Severing hatte das kleine Radio hinter der Theke eingeschaltet. Jetzt klebten Streicher wie Honig an den Wänden. Rondo Veneziano. Das hatten seine Eltern immer gehört. Schöner Mist, dachte Markus, sagte noch immer nichts, zog aber die Schultern an und wiegte den Kopf leicht hin und her. Ellens erwartungsvoller Blick, aufmunterndes Lächeln. „Wer jetzt?“, fragte Markus endlich. Ellens Mundwinkel rutschten jäh nach unten. „Ja, wie? Hörst du mir überhaupt zu?“ Markus nippte schuldbewusst an seiner Cola light, machte eine vage Handbewegung und legte sich einen neuen Anlauf zurecht. Musikalisch noch immer vor Augen: Trauriger Pierrot. Gondeln. Rialtobrücke. Da hatte Ellens Redefluss schon wieder eingesetzt. „Jürgen ist ein Idiot. Die hätten mich fragen müssen!“ Markus verdrehte die Augen. „Ach, Ellen, so läuft das nicht. Wenn du dir das wirklich ans Bein binden willst, musst du es schon sagen. Laut und deutlich. Lieber Vorstand. Hier bin ich. Ich stehe bereit.“ Ellens Augen verengten sich zu Schlitzen. „Klar. Jetzt ist das auch noch meine Schuld. Diese ganze Kungelei. Das ist doch zum Brechen.“ Das kann ja heiter werden, dachte Markus und schüttete den Rest seiner Cola runter. „Bitte, Ellen, was denn für Kungeleien? Du magst ja vom Jürgen Driewer halten, was du willst. Aber ein großer Strippenzieher ist der bestimmt nicht.“

Er schaute sich suchend nach Frau Severing um. Sein Glas war leer. Sein Kopf war leer. Der Gastraum war leer. Irgendwie deprimierend das alles. Ellen hatte schon recht: Es brauchte frischen Wind. Völlig sinnlos hob er das leere Glas an die Lippen. Kein Service nirgends. Dazu jetzt Santana. Als er sich ihr wieder zuwandte, saß da eine ganz andere Ellen. War das Wut oder Ekel auf ihrem Gesicht? Oder beides? „Natürlich taugt der Jürgen nicht zum Strippenzieher“, zischte sie. „Der ist ja auch ne Pfeife. Das geht in die Hose. Aber eines sag ich dir: Ich werd die Scherben hinterher nicht aufkehren. Das ist mal sicher.“

„Ne, schon klar …“ Markus’ Gedanken schweiften wieder ab. Folgten seinem glasigen Blick nach draußen. Durch den dahindämmernden Gastraum, an den schweren Vorhängen vorbei, über die Terrasse mit den im Niesel kauernden Teakholzmöbeln und hinüber zum Grün von Loch Neun. In der Ferne die beiden Bagger am Herrenabschlag, gerade noch zu erahnen. Auf halbem Weg davor löste sich eine Gestalt aus dem Dunst. Gut hundert Meter zum Wasser mit der putzigen Fontäne. Insektengleich ruckten Gliedmaßen in die Höhe, fielen zu Boden. Dann wildes Gefuchtel. Stilles Fluchen. Im Wasser ein lautloses Aufspritzen. Im Radio noch immer Santana. Samba pa ti. „Ich glaube, das ist Jürgen, Ellen, ich muss dann mal los. Ich hab Rita versprochen, dass wir heute zusammen die Buchhaltung machen.“ Sie verabschiedeten sich mit Kuss links, Kuss rechts. Er setzte links an, sie drehte rechts. Der Kuss verschmierte irgendwo auf ihrem Nasenrücken. Nur raus hier, dachte Markus und sagte: „Getränke gehen auf mich.“

Der Golfclub Gut Landsberg lag gut angebunden an der Bundesstraße auf halbem Wege zwischen Isenberg und Hefel. Die Grundmauern aus romanischer Zeit. Immer wieder überbaut und umgebaut. Grundlegend in den 1850er Jahren. Neugotischer Stil. Zweigeschossig. Risalitartig vorspringender Turm. Markus und Rita waren vor acht Jahren eingetreten. Markus hatte sich beim Skifahren in Ischgl eine üble Sprunggelenksverletzung zugezogen. Mit Tennis war danach Schluss. Rita war es nur Recht. Sie hasste den Sport. Sie hasste die blöden Medenspiele. Sie hasste den HTB Am Volkswald 1886 e.V. Also hatten beide kurzerhand für eine Mitgliedschaft im GC Gut Landsberg vorgesprochen. Als Bauunternehmer würde man wohl genommen werden. Mit Ellen, Christoph und Thomas als Bürgen. Schließlich kannte man sich seit Schultagen. Und genommen wurde man. Mit zwei Gegenstimmen im fünfköpfigen Aufnahmeausschuss, wie sie später eher beiläufig erfuhren. „Das ist mal die Höhe!“, war Ritas erste Reaktion. Aber Schwamm drüber. Vollmitgliedschaft in Landsberg. Alles gut. Und seither keine rote Asche mehr in den Socken, unzählige Stunden auf der Range und geselliges Zusammensein in Kreisen, die Rita zutreffend als „ein ganz anderes Umfeld“ bezeichnete. Das allerdings befand sich seit einiger Zeit in schwierigem Fahrwasser. Generationenwechsel nannte Sven Gräther das. Und der musste es eigentlich wissen. Der war ja Präsident. Außerdem ein höflicher Mensch. Andere sprachen nicht von Generationenwechsel. Die nannten das Überalterung. Schleichendes Ausdünnen. Ewiggestrige. Wieder andere hielten dagegen: Ausverkauf. Offenbarungseid. Degeneration. Kurz: Die Altvorderen starben weg. Neue Mitglieder blieben aus oder außen vor.

„Zwei Gegenstimmen, diese Knallchargen!“, raunte Markus verächtlich, als er seinen Audi Q5 auf dem Parkplatz wendete und durch das kleine Torbogenhaus auf die Landstraße lenkte. So viele Jahre vergangen, aber ganz verheilt war die Sache nie. Auch damals war es Ellen gewesen, mit der er im Clubhaus zusammengesessen hatte. „Also, Markus, ich hab einen gut bei dir. Rita und du, ihr wärt ja nicht genommen worden. Da musste ich erst nochmal mit Grandpa Joseph reden …“

Über Jahrzehnte war Gut Landsberg vor allem Gesellschaftsverein gewesen. Der Geschäftsabschluss beim Mittagessen. Der Personalcoup beim Barolo. Die stille Sorge, wer wohl wen zuerst grüßt auf dem Platz. Viele Familien schon seit Generationen Mitglied. Altes Geld, dicke Teppiche, schwere Colliers. So war das. Die unvermeidlichen Finanzlöcher zum Jahresende wurden mal um mal auf Firmenkosten gestopft. Leise und mit mokantem Lächeln: „Also darüber lass uns mal nicht reden. Wir sind doch hier nicht bei den Taubenzüchtern.“ Aus und vorbei, das war jetzt gründlich anders im Schraubstock wachsender Corporate Governance Anforderungen. Die Spenden versiegt. Die Taschen zugenäht. Die Mienen zugeknöpft. Die Stimmung auf Talfahrt. Und auch sonst eher Primitivo als Barolo: Schließlich arbeitete man hart für sein Geld. Derweil drängten die Jüngeren auf Öffnung und Mitgliederwachstum. Drei Jahre in Folge hatte es Sonderumlagen gegeben, um den Verein noch gerade so über Wasser zu halten. Frontenbildung war unvermeidlich. Bernhardt Spörle, vormaliger Rheinmetall-Vorstand und Clubpräsident 1979 bis 1986 machte mit dem Wort vom neureichen Audi-Proletariat von sich reden. Er selbst fuhr Mercedes, mehr schlecht als recht. Aber das hatte gesessen. Der Vorstand war alarmiert: Verschnupfter Altpräsident, nörgelnde Neumitglieder, verwurmte Grüns und leere Kassen. Es musste was passieren. Ein Komitee musste her. Frische Ideen, Ergebnisse bis zur Mitgliederversammlung im Juni: Projekt Zukunft – Perspektiven Landsberg 2.0.

Ellen hatte das richtig elektrisiert. Drei Generationen Engel hatten die Vergangenheit auf Gut Landsberg geprägt. Ihr Urgroßvater war Gründungsvorstand. Nun war es an ihr: Ellen Engel-Vermeer wollte die Fackel umsichtiger Erneuerung weitertragen und ihren Club in eine gute Zukunft führen – „So wahr mir …“ In diesem Moment sprang die vordere der hohen Flügeltüren auf und herein kam Jürgen Driewer.

Jürgen winkte Beate Servering, deren blasses Gesicht für einen kurzen Moment über der Theke aufleuchtete. Hier muss so einiges anders werden, dachte Jürgen und bestellte einen Macchiato. Dann fuhr er wie ein Kreisel herum, um mit den Fingern schnipsend und im Wiegeschritt auf Ellen zugetanzt zu kommen. Ellen verdrehte die Augen und schürzte die Lippen zu einem gequälten Lächeln. „Ist das affig, Jürgen“, zischte sie süßsäuerlich. Der aber kam jetzt erst richtig in Fahrt, fing auch noch an zu singen: „Mädchen mit dem Perlenohrring – lass mich dein Pirat sein.“ Damit hatte er Ellens Tisch erreicht und warf ihr beide Arme entgegen. „Jetzt komm mal runter, Jürgen, das ist nicht witzig. Was war das denn an der Neun? Wasser?“ Jürgen ließ sich ihr gegenüber in den Stuhl fallen und fixierte sie mit dem, was er wohl für seinen Piratenblick hielt. „Wasser, … Nicht-Wasser. Wen interessiert’s? Die Sache ist die, Ellen: Ich will dich. Ich brauche dich. Ich zähl auf dich. Für mein Kompetenzteam.“ Jetzt kam auch Frau Severing mit dem Macchiato angeschoben. „Einmal Latte.“ „Sie sind ein Schatz, Beate. Schreiben Sie es auf.“ Die Augen hielt Jürgen unverwandt auf Ellen gerichtet. „Nun, was sagst du?“ Tja, was gab es da zu sagen? In Ellen: kochende, schäumende, rote Wut. Jürgen und Kompetenzteam? Das war doch ein Witz. Eine Lachnummer. Jetzt nur nichts anmerken lassen. Das musste man dem ja nicht gleich auf die Nase binden. Grandpa Joseph kam Ellen in den Sinn: Halte deine Freunde nah, aber deine Feinde näher. So macht man das. Grandpa Joseph war auch mal Präsident auf Landsberg gewesen. Ganze acht Jahre. Und zeitlebens auf der Brücke der Engel Werke, Sackmaschinen und Füllsysteme. Das war das Holz, aus dem sie geschnitzt war. Nicht so ein Emporkömmling wie der Driewer mit seinen E-Rollern. Mit einem Mal hatte sie ihre Ruhe wieder. „Ja also, Jürgen, was soll ich sagen? Mir ist ehrlich gesagt nicht ganz klar, was du da von mir willst. Was meinst du denn mit deinem Kompetenzteam?“ Jürgens Augen, noch immer auf Ellen fixiert, jetzt aber doch mit einem kaum merklichen Anflug von Unsicherheit: „Projekt Zukunft – Perspektiven Landsberg 2.0, das kennst du aber schon, oder? Sven hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, das Komitee zu leiten.“ „Und – kannst du?“ Das kam jetzt doch etwas schnippisch rüber. Ellen musste zurückrudern: „Also klar, Jürgen, da bist du schon genau der richtige für. Aber was soll ich dabei? Ich meine, ich hab ja auch sonst nicht eben Langeweile.“ Das war dick aufgetragen. Gut, Ellen hatte ihr Pilates, die Kinder, zweimal die Woche Bridge. Aber es war doch ziemlich offensichtlich, dass sie den Großteil ihrer Zeit hier auf dem Golfplatz verbrachte. „Langweiler brauche ich auch nicht, Ellen. Ich brauche Leute, die mit mir nach vorne denken, die Klartext sprechen. Deshalb will ich ja dich … und Christoph.“ Aha, jetzt war es raus. Christoph also auch. Sie und Christoph. War ja klar. Wenn hier jemand auf der Schnellspur unterwegs war in Richtung Zukunft, dann sie und der Christoph. Der hatte ganz sicher Bock auf Vorstand, der Christoph. Autohaus Guldenreiter, immerhin auch schon in dritter Generation. Am Ende doch gar nicht mal so blöde, der Driewer. Kompetenzteam – soso. Ellen richtete sich kerzengerade auf und streckte die Brust raus. „Weißt du was, Jürgen? Ich bin dabei – unter einer Bedingung …“

Markus hatte inzwischen den Ortseingang von Isenberg erreicht, bog ein auf die Grafenstraße und verspürte plötzlich einen starken Jieper auf Leberknödel, Hausspezialität der Fleischerei Ruhmbach – „Saugut seit 1953“. Vor der tristen Auslage hatte er schon von Ferne eine freie Parkbucht ausgemacht. Das war ein bisschen eine Niederlage. Markus neigte zu Frustessen. Dass Rita ihn zuweilen Mayonnaisebärchen nannte, machte die Sache nicht besser. Vor allem aber konnte er Rainer Ruhmbach nicht leiden. Das heißt, seit der Zeit, da das Bauprojekt an dessen Gartensauna und ayurvedischem Spa krachend gescheitert war. Ende der gemeinsamen Skatrunden, Beginn eines unschönen Rechtsstreits und Ausgangspunkt aufwändiger Rückbaumaßnahmen. Alles auf seine, Markus’, Kosten. Seither beschränkten sich beider Gespräche auf das Herunterleiern von Wurstspezialitäten: „Tag Rainer. Acht Leberknödel, eine Lage Zungenwurst und vier Landjäger pikant.“

„Achtmal Knödel. Einmal Zunge. Scharfmacher. Das macht dann 26,80. Mit Karte? Danke. Grüße an die Rita.“ Beim Verlassen der Fleischerei Ruhmbach fiel Markus’ Blick auf ein absurd hässliches Plakat, das da an der Drahtglasscheibe der Ladentür pappte: Willkommen an Loch Sex – Ihr Golfclub Hefel. Markus war ja bestimmt nicht prüde, aber da wäre ihm doch fast die Wursttüte aus der Hand gefallen. „Sag mal, Rainer, ist das nicht dein Heimatclub? Welcher Vollpfosten hat sich denn das ausgedacht?“ „Na, ich.“ „Klar. Ich mach nur Spaß. Man sieht sich.“ Jetzt hatte Markus es eilig. Aus dem Laden. Ins Auto. Ans Telefon. Kurze Enttäuschung, als nach langem Tuten nur die Mailbox ansprang. „Ellen? Du glaubst nicht, was ich gerade gesehen habe! Ruf mich zurück. Markus.“

Der Golfclub Hefel kam für Rita und Markus nie wirklich in Frage. Wobei, als das mit der Mitgliedschaft in Landsberg noch nicht spruchreif war, hatte man doch schon mal die Fühler ausgestreckt. Das eigene Werbematerial präsentierte Hefel als „gesellig und sportlich orientiert“. Auf Landsberg sah man das naturgemäß anders. „Überlaufen und gewöhnlich“ hieß es da. Immerhin war man vierzig Jahre ohne Nachbarclub ausgekommen. Und für Krethi und Plethi gab es ja die Minigolfbahn an der Meisenburg. Die hatten halt eine ganz andere Klientel, die Hefeler. So Leute wie den Rainer – Saugut seit 1953. Schon beim Ausparken nestelte Markus an der Tüte und angelte sich einen Scharfmacher. Das war schon gut, wirklich pikant. Markus fädelte sich in den Verkehr ein und nahm einen weiteren herzhaften Bissen. Was war die Ellen eben geladen gewesen. Nur gut, dass er raus war, als die Sache mit dem Jürgen eskalierte. Den konnte er allerdings auch nicht riechen. Dieses ganze Gefasel von Plattformökonomie, von neuer Mobilität. Digitalisierung 1.0, 2.0, 3.0, 4.0. Start-up-Unternehmer, E-Scooter in vierzig Städten. Die landeten doch eh alle in der Böschung oder sonstwo. Erst neulich noch gehört: gut 500 von den Dingern in Köln aus dem Rhein gefischt. Ja, der Jürgen. Und jetzt also Projekt Zukunft. Warum die Ellen so scharf war auf diesen Klimbim, wollte ihm nicht recht einleuchten. Die sollten doch alle mal richtig arbeiten. Markus dachte an die Bagger am Herrenabschlag Loch Neun. Krachend versenkte er seine Zähne in der Wurst. Das Telefon klingelte Glasperlen.

Als Jürgen das Clubhaus verließ, war er leicht verstimmt. Unzufrieden auch mit sich. Weil sein Gag nicht gezündet hatte: „Mädchen mit dem Perlenohrring – lass mich dein Pirat sein.“ Vorgeschichte war eine ausgelassene Karnevalssause vor gut drei Jahren. Ellen war als Mädchen mit dem Perlenohrring gegangen. Er als roter Korsar. Man hatte gelacht und getrunken. Getrunken und gelacht. Am Ende hatte sich Ellen konvulsivisch in die Rabatten am Halfway House übergeben. Jürgen hatte ihre Haare hochgehalten. Ellens Ehemann Marijn, an jenem Abend so eine Art rüschenbesetzter Swarovski-Robespierre, hatte seine Frau mit finsterer Miene in ein Taxi Richtung Heimat bugsiert. Dann war er mit hochrotem Kopf unter der gepuderten Rokoko-Perücke auf Jürgen zugesteuert und hatte eine Menge niederländischen Unflat auf ihn niedergehen lassen. Hängengeblieben waren bei Jürgen „klootzak“ und „smeerlap“. Er hatte sich köstlich amüsiert. Ellen eher nicht. Am nächsten Morgen war der Perlenohrring weg. Marijn auch. „Papa braucht mal eine Auszeit.“ Klar, dass Ellen seine kleine Gesangseinlage nicht witzig fand. Aber, hey, am Ende hatte sie schließlich zugestimmt, in seinem Kompetenzteam mitzumachen. Nur die Art, wie sie das getan hatte … Irgendwie so von oben herab: „Unter einer Bedingung …“ Das schmeckte Jürgen gar nicht.

Auf seinem Weg über die Terrasse hatte er das irritierende Gefühl zu schrumpfen. Selbstzweifel? „So weit kommt es noch!“, dachte Jürgen. Und so weit kam es auch nicht. Das waren nur diese dicken Lehmplacken. Die lösten sich im Gehen von seinen Sohlen. Da müsste gleich mal Olek ran. Schon ein Ärgernis. Also nicht der Dreck, aber so mir nichts, dir nichts Bedingungen gestellt zu bekommen. Wenn hier einer Bedingungen stellte, dann er. Jürgen. Kurz vor IPO. E-Roller in vierzig Städten. Plattformökonomie. Alles, was Ellen mitbrachte, war die Engel-Vermeer-Nummer. „Grandpa Joseph – wenn ich das schon höre“, lachte Jürgen bitter in sich hinein, „sag doch einfach Oppa Jupp“. Jürgen wusste, dass er das Vertrauen der Silberrücken brauchte, um dermaleinst in den Vorstand gewählt zu werden. Der Rest war eine einfache Rechnung. Brauchst du die Alten, brauchst du den Engel-Klüngel, brauchst du Ellen. Und Ellen hatte er. Unter der Bedingung, ihr bei der Ausrichtung des Halloween-Turniers in zwei Monaten zur Hand zu gehen. „Das Halloween-Turnier?“, hatte Jürgen erstaunt zurückgefragt, „Also, mal ehrlich, Ellen, hast du jetzt deine mütterliche Seite entdeckt? Kürbisschnitzen, Kinderpunsch und Ringelpietz mit Leuchtbällen?“ Traditionell war das Halloween-Turnier eine Sache für die Bambinis. Eine Handvoll aufgekratzter Nachwuchs-Landsberger, die gibbelnd in der Dunkelheit verschwanden, um zwei Stunden später verbeult, verschlammt und mit vor Aufregung leuchtenden Backen wieder aufzutauchen. Joshua und Amelie, Ellens „Goldschätze“, waren dabei, seit sie Laufen konnten. Als Begleiter verdienten sich Trainer und Jugendbetreuer ein karges Zubrot. „So haben die Kleinen ihren Spaß“, sagten die Großen. „So haben die Großen ihre Ruhe“, wussten die Kleinen. Eigentlich eine prima Sache. Aber doch nicht ganz Jürgens Kragenweite. Da solle er sich mal keine Sorgen machen, so Ellen. Das werde jetzt eine ganz andere Chose. Nicht so’n oller Kinderkram. Ein Riesending. Champagner, Austernbar. Preisverleihung. Der ganze Pipapo. Das solle er sich mal vorstellen! Da sei richtig Musik drin. Am Ende tue sie ihm, Jürgen, damit noch einen Gefallen. Das sei ja quasi schon ein Stück Landsberg 2.0, irgendwie. „Einverstanden“, hatte Jürgen ihren Redestrom schließlich unterbrochen und sich gefragt, wer hier nun eigentlich wen in sein Kompetenzteam gezogen hatte. Ganz schlecht war Ellens Idee aber nicht. Das war nicht von der Hand zu weisen.

Jürgen steuerte seinen Elektrotrolley in den Hof des Caddymasters und spürte, wie sich seine Stimmung mit jedem Schritt aufhellte. Halloween-Turnier. Dass er da nicht selbst drauf gekommen war! Da konnte man eine hübsche Duftmarke setzen. Morgen würde er mal mit seinen Eventleuten sprechen. Wenn schon, denn schon. „Tag, Olek. Guck dir mal die Sauerei an. Die Schuhe krieg ich doch nie wieder sauber!“ Das war nicht übertrieben. „Ist aber auch eine Schlammgrube da draußen. Wärst du wohl so gut …?“ Er verschaffte sich Halt an der Reling der Schlägerwäsche und winkelte Olek die linke Sohle entgegen. Der machte sich gleich mit Wasserstrahl und Druckluftdüse ans Werk. Jürgen kramte sein Mobiltelefon hervor und tippte eine Nummer. „Christoph? Ja, hi, Jürgen hier. Mensch du, … Wo erwisch ich dich? … Costa Navarino? Geil … geil … Hammer … Ja, super … ’n Traum. Mmmh. Hahaha, genau. Mmmh … Mmmh. Hammer … Mmh … Mmh … echt, so gut? Du, Christoph, mal was anderes, die Ellen, die … ja klar … ja klar … Hahaha … Hammer … Mmh … Mmmh … Du, die Ellen ist … echt jetzt? … Hammer … Mmh … Mmmh … Du, ich seh’ schon, ihr habt ne super Zeit da unten.“ Olek bedeutete ihm mit leichtem Wedeln der Druckluftdüse, dass nun der zweite Fuß an der Reihe sei. Jürgen fand es einigermaßen ärgerlich, wie der Caddymaster da so mitbekam, dass ihm am Telefon ein Ohr abgekaut wurde. Er beschloss, Druck zu machen. „Du, Christoph, alles schön und gut. Aber jetzt mal Neues von der Heimatfront. Die Ellen ist dabei. Ich hab grad … Du musst los, ich weiß … Hahaha … Alles klar … Ich muss hier auch weitermachen … also, die Ellen ist, … super … super … ne, dann noch viel Spaß da unten … Jau … Hahaha … du auch … Grüße … Jau … Mach’s gut.“ Das ist ein Vogel, dachte Jürgen und steckte sein Telefon weg. Die Schuhe waren wie neu. „Perfekt, Olek. Machst du noch die Schläger? Die können’s auch vertragen … Guter Mann!“ Und weg war er. Der Anblick seiner schneeweißen Schuhe auf dem nassglänzenden Kopfsteinpflaster erfüllte ihn mit Genugtuung. Jetzt erstmal im Office anrufen, wie die Geschäfte stehen. In Erfurt wieder acht Roller verschwunden. Blöde Assis.

Zur Feier des Tages gönnte sich Ellen noch einen Weißburgunder. Die Kinder hatten ohnehin Training. Mit dem Hund sollte ruhig mal der Marijn gehen, wenn er nach Hause käme. Der olle Stinkstiefel. Gerade hatte sie den ersten Schluck genommen, als sie Markus’ Anruf auf der Mailbox entdeckte: „Ellen? Du glaubst nicht, was ich gerade gesehen habe! Ruf mich zurück. Markus.“ Der nun wieder. Wie so’n Kippschalter. Nur zwei Zustände: Licht an. Licht aus. Kein Dimmer. Das konnte einen schon zur Weißglut bringen. „Du glaubst nicht, was ich gerade gesehen habe!“ Voll die Panik. Aber vorhin nur dösig Löcher in die Luft gestarrt. Die ganze Zeit über nicht richtig zugehört. „Wer jetzt?“, das war so ein typischer Markus gewesen. Zum Fremdschämen. An. Aus. Dazwischen nichts. Und dann hat der auch so ein richtiges Antriebsproblem, dachte Ellen. Also, wenn das meine Bagger wären, die da hinten im Schlamm versinken … Aber geschenkt.

Das nachfolgende Gespräch trug wenig dazu bei, sie gnädiger zu stimmen in Bezug auf Markus. Wenn sie eines auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann waren es Leute, die mit vollem Mund reden. Und Markus klang so, als würde er gerade ein halbes Schwein zerkauen. Einfach widerlich. „Immer langsam, Markus, was ist das jetzt mit Sex an Loch Sechs?“ Geräuschvolles Kauen am anderen Ende der Leitung. Schlucken. „Hefel, Ellen. Hefel. Das ist die neue Mitgliederkampagne von Hefel. Willkommen an Loch Sex. Die hamm’se ja wohl nicht mehr alle.“ Das war nun doch interessant. Seit dieser Hanswurst von Ruhmbach die Präsidentschaft zu Jahresbeginn übernommen hatte, gingen die Neuanmeldungen in Hefel durch die Decke. Das wusste sie von Sven. Nicht eben eine Blaupause für Landsberg. Aber davon lernen ließe sich schon. Also, auf anderem Niveau, natürlich. „Weißt du was, Markus? Ich melde mich nochmal, wenn du aufgegessen hast. Ciao.“ Sie musste nachdenken. Jürgen und Christoph mit ihr im Kompetenzteam. Das Trifolium des Komitees „Projekt Zukunft – Perspektiven Landsberg 2.0“. Mitgliederansturm auf Hefel. Schmierige PR-Winkelzüge. Das Halloween-Turnier in wenigen Wochen. Ellen schwirrte der Kopf. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, da müsse sich was draus machen lassen. Vielleicht sagte das aber auch nur der Weißburgunder. Sie durchstöberte ihren Messenger. Da waren gut zwei Dutzend Bildnachrichten von Christoph. Costa Navarino. Ursprünglich hatte sie mitkommen wollen. Aber dann war ihr aufgegangen, wie sehr sie den Vorsitz im Zukunftskomitee wollte. Naja, eigentlich: wie brennend sie in den Vorstand wollte. Da gehörte sie hin. Das war sie sich, das war sie der Familie schuldig. Vier Generationen Engel für Landsberg. Und von nichts kommt nichts. Da war Costa Navarino ganz schnell gestorben. Spätestens jetzt zeigte sich, dass die Entscheidung goldrichtig gewesen war. Ungeheuerlich, dass der Sven ausgerechnet den Jürgen auf den Vorsitz angesprochen hatte. Ein herber Rückschlag. Aber seiner Sache sicher sein konnte sich Jürgen nicht. Sonst würde der doch nicht versuchen, die beiden aussichtsreichsten Kandidaten in dieses lächerliche Kompetenzteam reinzuziehen. Wo gab es denn so was: ein Dreigestirn. Ja, war man denn im Karneval!? Prinz, Bauer und Jungfrau. Seine Tollität, okay, das passte zu Jürgen. Seine Deftigkeit, Christoph, ohne Zweifel ein anderes Kaliber. Ernstzunehmende Konkurrenz. Und dann sie: Ihre Lieblichkeit. Jung und Frau. Weibliche Schöpfungskraft gegen die Herrschaft alter weißer Männer. Sie würde mal mit dem Sven reden müssen. Aber Obacht. Das Ansägen von Stuhlbeinen war ein kniffliges Geschäft. Damit machte man sich selten Freunde. Grandpa Joseph pflegte in solchen Dingen zu sagen: „Erwecke nie den Anschein, deinen Feinden schaden zu wollen. Tue lieber alles dafür, dass sie sich selbst schaden.“ Der gute Alte.

„Bin wieder da.“ Zu Hause angekommen verstaute Markus die Leberknödel im Kühlfach und stieg hinauf unters Dach. Den Ausbau hatte er selbst übernommen. Offene Wohnfläche auf 45 Quadratmetern mit unverstelltem Blick auf Tal und Isensee. Leider ein Glutofen im Sommer, fußkalt im Winter. Folge fehlerhafter Berechnung des U-Werts der Wärmedämmung. Da ließ sich jetzt auch nichts mehr machen. Er fand Rita konzentriert über diverse Ordner gebeugt, immer wieder energisch auf einen kleinen Tischrechner eintrommelnd. „Und, Baby, wie stehen die Aktien?“ Dabei trat er hinter sie und legte ihr zärtlich den Arm um die Schulter. Rita fuhr herum wie von der Tarantel gestochen. Die rückenaktive Lehne ihres Bürostuhls versetzte ihm einen herben Schlag auf die Unterlippe. Er schmeckte Eisen, sah Sterne. Dann Ritas sorgenvolles Gesicht. „Sorry, Bärchen, sorry, sorry, sorry. Ach, was mach ich denn! Tut es sehr weh?“ Tat es nicht. Blutete aber wie blöde. Markus versuchte ein Lächeln. Rita drückte ihm ein Taschentuch zwischen die Zähne. „Ich hol schnell Eis“, sagte sie und verschwand Richtung Treppe. Gedämpft von unten dann: „Oh, du hast Leberknödel gekauft“. Sein Blick wanderte über Korrespondenz und Rechnungsbelege. Ein Blutstropfen löste sich von seinem Mundwinkel und zerplatzte auf dem „O“ von Brockmann Bau, Briefkopf zu Häupten zweiter Mahnung. Zweifellos würde das der Forderung Nachdruck verleihen. Er musste an diesen alten Song von Mike & The Mechanics denken: The living years. Say it loud, say it clear so stadionmäßig zum Wunderkerze schwenken und mitschwofen. Ganz große Gefühle. Markus kriegte Gänsehaut.