Langsame Entfernung - Gisela Steineckert - E-Book

Langsame Entfernung E-Book

Gisela Steineckert

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Beschreibung

Nein, eine Bilanz ist ihre Sache nicht, aber einen Rückblick gönnt sich Gisela Steineckert. Und ihre treuen Leser wissen um den Anlass, den 90. Geburtstag der Schriftstellerin. Besser aber wäre zu sagen, sie wagt diesen Rückblick. Denn der Versuchung, nur die Erfahrungen der Harmonie zu konservieren und vergangene Konflikte auszusparen oder kleinzureden, erliegt sie nicht. Sie ringt dem Gedächtnis ab, "was uns zu Leid und Lachen widerfahren ist. Da mischt sich vergangene Bitternis mit der wilden Wurzel Hoffnung und die langweilige Einsicht mit gebrochenen Versprechen, auf die wir uns einst mit uns selber geeinigt haben". Die tiefsten Wünsche, die bewegendsten Erinnerungen, die schönsten Augenblicke, die peinlichsten Momente, die kleinen Ziele und die großen Träume – nichts Menschliches ist Gisela Steineckert fremd und keine ihrer an- und aufrührenden Erinnerungen geht an ihren Lesern vorbei. Sie findet stets den Punkt, an dem der Leser herausgefordert wird, sodass ein anregender Dialog entsteht. Egal, ob sie über Männer, Frauen, Familie, die Liebe oder das Alter reflektiert oder sich zu politischen Ereignissen und zur Geschichte ihrer Stadt, ihres Landes verhält. In allem lebt Kampfesmut und Mitgefühl, Solidarität und Hoffnung.

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Impressum

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.

Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages

ist nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus

auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen

oder in Datenbanken aufzunehmen.

Verlag Neues Leben –

eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-355-50067-8

ISBN Print 978-3-355-01899-9

1. Auflage 2021

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag, Peter Tiefmann

www.eulenspiegel.com

Ich habe mein letztes Stück Grün auf der Erde gesehen, betreten und wieder verlassen …

Dabei bin ich weder ärmer noch reicher geworden – aber ich habe eine kostbare Erfahrung gemacht: Es gab Augen­blicke, da kam es nur noch darauf an, ob ich atmen wollte. Ich war nicht allein und wusste das. Mehr kann niemand für mich tun.

Wir wollten, dass nichts geschieht

wonach das Leben nicht weitergeht

nie nur Eid und Spruch

bei aller Angst

um den Weltenbruch

Ich lag unter dir

dein Schatten reicht über mich hin

du hältst mich fest

das Leben ist vielleicht

nur noch ein bunter Rest

aber solang ich dich als Erinnerung hab

bleibst du der beste Baum

unter dem ich jemals lag

Inhaltsverzeichnis

Zum Beispiel deins und meins

Einmal nicht wie immer

Ich weiß es noch

Kommt jeden Tag vor und ist einmalig

Von diesen und jenen Dingen

Jeder einzelne Tag

Andererseits

Eine neue Lage

Die Liebe und die Lieder

Großer Abend

Unverzichtbar

Mein leibliches Kind

Tochter

Alle meine Kinder

Fernsehen und das nackte Leben

Wie du mir, so ich dir

Unsere Argentinier

Dieser ganze Liebesquatsch

Mitten in meinem Leben

Oktober 1984

Leicht ist es nicht gewesen

In der Ferne – Irgendwann

Wenn die Phantasie rostet

Mein Ich an dein Du

Auch wahr

Auf nach Pichelsberge

Die Liebe danach

Ein Anfang

Das Meisterwerk der Natur

Grundsätzlich

Du mit deinen guten Noten

Und wenn schon

Voll versorgt

Unsere großen alten Meister

Nichts als die Wahrheit

Es war Anfang Dezember

Antwort auf eine schöne Frage

Momentaufnahme

Wenn du eintrittst in mein Refugium

Ich habe das Glück gesehn

Du solltest gesunden

Das war eben erst

Junger Freund

Und nun, liebe Bürger

Ich sag es dir

Als die Deutschen Angst hatten

Einen Kopf von mir

Wenn es nicht mehr so ist

Im Herbst eine Liebe haben

Ich habe dir etwas zugemutet

Mein lieber Mann

Vor Sonnenuntergang

Trotz allem »schöne Arbeit«

Unter einer Überschrift

Der Augenblick

Mein Heim ist kein Castle

Mitten im Frieden

Zum Beispiel deins und meins

Das Leben ist etwas ungemein Persönliches, und jedes gibt es wie jeden Menschen nur ein einziges Mal. Die ­Versuche, Typisches für die Zeit des Lebendigseins zu verallgemeinern, misslingen meist. Das weiß der Zahn nicht, der hat seine Zeit, dann lockert er die Beziehungen, lässt los, sich ersetzen, er hinterlässt eine Lücke, eine Erinnerung an seine Vollkommenheit. Aber un­ersetzbar ist er eben nicht. Das Gehirn, unser blödes, versagendes, unerbittlich tüchtiges, das Gehirn ist vom ersten Tag an einzigartig eigenartig. Was es bewahren will, trägt es durch die Stürme des Lebens, hütet es, manchmal mit Umhäutungen, die sich brauchen lassen. Aber immer ein Schrein, ein Prahlhänschen, das durch Glas, durch Scheiben, schimmern lässt, was vergänglich oder ein Schatz ist. Über das Herz können uns die Ärzte etwas mitteilen, aber das sagt uns eigentlich nichts, oder vorschnell zu viel, oder das Wichtigste zu spät, oder alles im falschen Augenblick.

Guck dir deine Hände an. Untätig liegen sie im Schoß, oft auch dann, wenn sie sich hätten rühren sollen, sich ballen, aneinander klatschen, sich heben, weit über den Kopf. Streichelnde die, sanfte Beruhigende, starke Beispringende, manchmal verzweiflungsvoll zu viel aus­plaudernd, wo das unterbrechende Wort fehlte.

Müde Augen, noch nicht unterrichtete, den Unterschied nicht wahrnehmende, verweilende mit dem Blick auf Gewesenes und auf das, was kommt, sich schließend vor dem Beweis der Verlierbarkeit. Diese Augen, nach­blickende, die nichts sehen können, was kein Bild ergibt: Wer zwingt euch, ein Spiegel zu sein, der keinen Abflug aufhalten kann? »Verweile doch, du bist so schön«: Leben, neuer Versuch, Lehre, vielleicht doch Bereicherung und nicht nur Zeichen von Verlust.

Was ist denn dies, das Leben, wenn es nur dein eigenes ist, nur deine Stillung von Hunger und Durst, dein Ende von etwas, dein Neubeginn, deine Fortpflanzung, deine Angst vor dem letzten Augenblick. He, sagen deine Anlagen, sagt deine Erfahrung, rufen deine unbedienten Triebe, gemeint sind die ungenutzten Chancen, es gibt dich noch. Ich kann, was ich nie konnte? Gut, das denke ich nicht zum ersten Mal. Warum? Weil ich jetzt die Zeit dazu habe. Ist dir die ungesunde Eile nie aufgefallen?

Immer eilig, habe ich zu vieles mit schnick schnack schnuck entschieden. Auch das, was Bedächtigkeit gebraucht hätte. Die habe ich nicht, aber ich kann sie mir holen, könnte sie aufbringen, aus der verwundenen und aus der beseligenden Erfahrung. Bunt genug, um alles abzudecken, was den Augen sonst allzu erkennbar wäre.

Das geht jedem so. Da bin ich nichts Besonderes. Aber auch ich bin doch auf die Welt gekommen, um sie zu bereichern, vielleicht sogar zu befrieden. Ich erinnere mich des Gefühls, als ich inmitten sehr unterschied­licher ­Äußerer von Meinungen in mir einen Gedanken entdeckte, der passte nicht hinein und nicht dazu. Ich kannte den Augenblick der absoluten Trauer noch ebenso wenig wie den der vollkommenen Übereinstimmung, den man Glück nennt oder mit einem anderen übertreibenden Namen belegt. Ich war noch nicht so weit, ich musste erst einmal allein denken, für mich, und dann weiter, für alle. Widerspruch lag ganz vorn auf der vorlauten Zunge, recht zu behalten war wichtiger als teilzuhaben an einem noch nicht erkannten Ergebnis. Ich mag mich nicht besonders, wenn ich mich erinnere, dass ich mit schneller Zunge anderen Frauen das Wort abgeschnitten habe, wenn sie scheinbar so dumm dastanden, wie ich mir hinterher vorkam. »… und dann hat sie gesagt …«, da gibt es Anekdoten, die hoffentlich nicht bis zur Ur­enkelin gelangen.

Und nun, heute?

Der Spiegel sagt mir einen Teil der Wahrheit, eigentlich kaum Neues. Was ich sehe, ist ja nicht über Nacht entstanden, wie man so sagt. Über Nacht schlohweiß geworden, das hab ich als Kind oft gehört und nie gesehen, und eigentlich glaube ich auch nicht daran. Ja, du bist abgegriffen, welk, du hast ein zerknittertes Herz, manchmal ein nass geheultes Taschentuch, darin sind auch Erinnerungen, geschnäuzte Erinnerungen – vor dem Papierkorb bewahrt, in den sie eigentlich gehörten. Dem Papierkorb, den dir dein Leben hinhält. Vorschnell entleert?

Aber du bist damals nicht hingerannt, als sich, scheinbar! die Gelegenheit bot, ohne eigenes Zutun alle Chancen auf einmal sehen zu können, vielleicht sogar zu haben, sie waren zum Anfassen nahe. Das Preisschild ziemlich verwischt, kein Wunder! Vielleicht doch, Wunder soll es ja geben. Anderen ist es doch gelungen, den Zipfel zu erwischen – und er war es, vielleicht, mit dem die Tür aufzureißen war, hinter der alles steckte, wofür sich das Leben lohnte. Hinter dir könnten Aufhaltungen, durch deinen unzulänglichen Charakter verursacht, verschwinden – wie eine Wolke am sommerlichen Himmel. Ganz leicht und so, als hätte deine Vergangenheit nichts mit dir zu tun. So sollte sie abgelegt werden, mit ­Zensuren unterschrieben, wie in der Schule damals. ­Vielleicht mit »ungenügend«, vielleicht auch mit dem obrigkeitlichen Vermerk »Thema verfehlt«. Da war dein Weg gemeint, auf den du gestellt worden bist. Oder? Bist du ihn gegangen, erst mal los, mit zögerndem ersten Schritt, zunehmend bewusster, du, dein Fuß, dein Gehirn, dein Weg?

Wie du jetzt bist, dieser Mensch, so bist du geworden, und jeder Vergleich hinkt. Die Summe stimmt nicht? Wie sollte sie!

Es ist vieles noch möglich. Du kannst noch etwas ab­stellen, etwas beginnen. Nicht alles, nein. Damals? War da mehr, sogar alles möglich?

Es gab Kreuzungen, von dort aus hattest du die Wahl. Du konntest alles, was dir vorher wichtig war, öffentlich verfluchen. Das hätte dir Türen geöffnet: du brauchtest nur vorzubringen, dass du für nichts konntest, schon immer gegen alles gewesen bist. Dass du abgehalten, gestraft, gehindert wurdest, dein wahres Leben zu wählen. Du hättest sagen können, dass du jetzt erst angekommen bist in deinem immer erträumten Sein.

Warum hast du das nicht gemacht? Warum hast du genauer hingeguckt und die eben zu freudigem Winken erhobene Hand wieder gesenkt, sogar mit Stirnrunzeln, ein bisschen beschämt wegen Übereifer, der ja gar nicht zum Zug gekommen war. Du hast nur gedacht! – und dafür bist du zu rühmen. Hingeguckt und gedacht. Und etwas verstanden, was sich beim nächsten Versuch als wichtig erwies.

Was du verlachen oder verteufeln solltest, hatte es so nicht verdient. Auch von dir nicht, und was du bejubeln solltest, brauchte sein ehrliches Wort von dir, über dein Leben. In all dem, was du allein oder mit anderen ­zusammen versucht hast, steckte ein bisschen mehr Mühe, als für dich allein nötig war.

Ich habe dich einmal in der Menge gesehen, im rich­tigen Moment, an wichtigem Platz, mit dem nötigen Aufwand, der festen Haltung und einem Risiko. Du konntest da über Abwesenheit oder Einsatz entscheiden. Es hat kaum was gebracht, hast du gesagt. Und dann noch einen Satz darüber, dass die Welt sowieso am Abgrund trudelt. Und dass wir eben nichts machen können. Egal! Du lebst. Was das ist? Nicht genug. Aber du bist einzigartig und mach bitte daraus keine einseitige Forderung an alle andern.

Leise sein und die Stimme erheben / Wie am Ende / und wieder / Eine Seite vom Ich erleben / Sich zwischen Anfang und Mitte / An vorläufige Enden begeben / Und zwischen Aufschrei, Heulen und Lachen / Das Eigene irgendwie ­machen und leben.

Einmal nicht wie immer

Den schönsten Augenblick meines Lebens, an den würde ich mich gern lebhaft erinnern, möchte mich mit mir selber gern auf ihn einigen.

Der Wunsch ist ein Kind der Nacht. Wenn die Alltagssorge ein grimmiges Haupt erheben will, dann sucht die Seele eine Vorstellung, der man sich getrost aussetzen kann. Manches muss ich nicht versuchen. Wohin ich noch reisen möchte? Nirgendhin.

Aber ihr hattet doch mal eine Vorstellung von Postschiffen und Fjorden. Damals, als es für euch noch kaum möglich war, dorthin zu reisen. Da hast du doch gelacht und an dein Buch über Skandinavien erinnert, das viele Auflagen hatte, obwohl du nie in Skandinavien gewesen bist.

Stimmt, das war eine der Geschichten aus der DDR, und sie soll auch dort bleiben.

Ich wollte doch nie wirklich mit einem Postschiff unterwegs sein und schon gar nicht um die Fjorde fahren. Es war ein Liebesgedanke für den anderen und meine Zustimmung für einen unterstellten Wunsch. Er hat an den damals auch keinen weiteren Gedanken verschwendet.

Wenn ich reich wäre, wie würde ich dann leben wollen? Wer wird das nicht gefragt? Reiche Leute, aber zu denen gehören wir nicht.

Welches Haus, welches Auto, welche Landschaft, welche Sicherheiten?

Sind das Träume? Nicht meine! Unseren Kindern, ­unseren, egal, wer sie gezeugt, wer sie geboren hat, zwei warme Hände voller guter, manchmal sorgfältig über­legter Hilfe, unverzichtbarer Teil unseres Wohlfühlens, die halten wir immer offen.

Wäre es ein schöner Augenblick des Lebens, nicht mehr für den Unterhalt arbeiten zu müssen, nicht mehr zu prüfen, ob sich von der hohen Kante nicht doch noch was abzweigen lässt, weil es gerade woanders gebraucht wird?

Bei dieser Frage stellt sich kein Gefühl ein, außer einem leichten Unbehagen. Mehr Bücher, als ich mir jetzt leiste, wenn ich mir als Belohnung etwas Gutes tun will, könnte ich nicht lesen. Ich hätte nicht die Zeit, in der Fülle zu grabschen, statt mit Lust zu wählen.

Es ist mir egal, mit welchem Auto ich ans Ziel gefahren werde, am liebsten zur Arbeit, die fast immer wohl­tuende Begegnungen mit anderen Menschen bringt. Mein erstes Auto war ein P70, danach fuhr ich mit einem Trabant, das würde ich heute lieber nicht tun, weil er zu wenig Sicherheit bot. Da helfen auch keine hübschen Erinnerungen an solche Erlebnisse, die mit einer Gefahr endeten. Ich habe überlebt, als mich ein übermüdeter Soldat, der die deutlichen Stoppzeichen übersehen hatte, auf der Kreuzung mit seinem Jeep rammte. Es gab im Trabant keine sichernden Gurte, wir mussten uns also überschlagen. Es gab auch keinen Feuerlöscher, das war eigentlich strafbar. Außer, man hatte eine Bescheinigung, dass es derzeit keine zu kaufen gab. Dann kriegte man kein Strafmandat. Gekränkt hat mich nur, dass die Polizei mir eine Strafanzeige gegen den total überforderten jungen Fahrer ­einreden wollte.

Die Armee wollte, dass ich die Trümmer privat irgendwie nach Berlin befördern solle.

Nach einem Brief von mir an den zuständigen Minister, in dem mehr Sorge über den Zustand des ­jungen ­Soldaten zu lesen war als über das verlorene Auto, kümmerten sich Kundige tadellos um Beseitigung der ­Trümmer.

Unter meinen Lieben befinden sich Fußball-Fans und Autofreaks. Ein neues Auto, das ich mir kaum leisten kann, erfreut mich nicht mehr als der endlich wieder gefundene »Zarter«, mit dem man die Eiweiß-Verbindungen im Bratfleisch unterbrechen kann, so dass unsere Koteletts nun auf der Zunge schmelzen, oder das könnten, was auch Quatsch ist und sowieso nicht stimmt.

Wenn ich koche, bin ich lobsüchtig. Aber Wilhelm war der weitaus bessere Koch und hat uns alle seine kostbaren Rezepte aufgeschrieben. Die nutzen wir bei Karpfen, Gans und köstlicher Gemüsesuppe.

Mein Leben könnte sich durch mehr Geld nicht verändern. Ich würde in unserer Wohnung bleiben, trotzdem Süßstoff statt Zucker in den Tee tun und freund­liche Menschen gern zum Essen bei uns oder in dieselben Restau­rants einladen, auf deren Koch man sich verlassen kann.

Meine Klamotten im Schrank könnten gelegentlich durch eine Bluse bereichert werden, aber nötig ist das auch nicht, solange es genügend Teile gibt, die ich lange nicht getragen habe, obwohl sie mir heute besser passen als früher.

Ich kenne den Burschen Schmalhans und erinnere mich, allein erziehend und allein zuständig, dass er mir sehr nüchtern auf die Beine geholfen hat.

Wahr ist aber auch, dass ich nie lange auf der Stelle stehen blieb. Unterwegs wuchs die Lust am Weiter­denken. Bis heute? Ja, mit kurzen Unterbrechungen, manche davon sind unverschuldet. Nicht alle!

Ich weiß es noch

Es war nie im Schlaf, weil er den nie störte. Es war nie im unpassenden Augenblick, weil er den mehr fürchtete als ich.

Es war nie mit hungrigem Magen, da kochte er lieber, nachts sogar, im Morgengrauen hatte er eine Idee, und nicht nur für uns, er konnte seine Bereitschaft für spontane Großartigkeit viel später gut gebrauchen. Da lag ich mit der Enkelin in seinem großen Bett, und er nahm nebenan mit meinem kürzeren vorlieb, die langen Beine ein Stück in der Luft, aber ehe er Ruhe fand, öffnete er noch einmal unsere Tür – was für ein überraschend langer Kellner – und es gab eine Nachfrage wegen eventueller Genüsse zur Nacht. Die gab es, und ganz treuherzig meinte das Stimmchen neben mir: »Pommfriets, darauf hätte ich Appetit.« Der Mann ging in die Küche, holte seinen Spezial­topf aus dem Schrank und servierte schließlich einen ­großen Teller mit den gewünschten knusprigen Teilchen, etwa eine Dreiviertelstunde nach der Bestellung. Es blieb kein Krümel übrig. Die beiden waren verbündete Kumpel, und schon als kleines Mädchen stellte sie ihm alle ­besonderen Fragen und holte sich seine Antwort.

Über manchen Dialog lachen wir bis heute, anderes gehört nun zu unserer Art, miteinander umzugehen. Wahrscheinlich entstehen Bräuche in anderen Familien genauso.

Es ist mir nie aufgefallen, wie oft ich das sage, wenn jemand von draußen reinkommt, »Atme erst mal aus …«, das sage ich auch zu mir selber, wenn es wieder einmal hastig zugeht – obwohl ich gerade in der Familie die ausgleichende Ruhe liebe und immer möchte, dass sie jeder im Raum findet. Ich lasse keinen seine Schuhe ausziehen, unterstelle nicht, wie es dem Besucher grade geht oder was er von uns will. Das findet sich schon. Ich bin auch keine, die zur Überraschung aller plötzlich den Mantel vom Haken reißt, um auf der Stelle etwas in Gang zu setzen, für das es morgen zu spät wäre.

Es war nicht alles so einfach wie die Gefühle. Seine Herkunft stand auf einem ganz anderen Blatt als meine, die bis heute nicht einmal klar nachweisbar ist. Das wird sich nun auch nicht mehr ändern.

Er kam aus einer »Familie«, hoch angesehen. Jedenfalls bis die Nazis kamen. Ich stand dort beim ersten Mal wie in einem fremden Salon, in dem man sich kaum hinzusetzen traut.

Seine Mutter war ein Engel für die Kinder. Es ist nicht allen gleich gut bekommen. Mancher kam sein Leben lang nicht zu sich selber. Auf Wilhelm traf das nicht zu.

»Der als dein Mann, der war ein Felsen«, sagen mir Frauen, die sich an dich erinnern. Du, immer neben mir, vor einer Veranstaltung vorher noch die Autos der Frauen umparkend, du mit den aufmerksamen Ohren für die Probleme, vorsichtig ratend, manchmal sehr kräftig empfehlend, sobald von einem egoistischen Ehemann die Rede war. Da waren oft Probleme über Jahrzehnte herangewachsen. Die waren nicht am gleichen Abend zu lösen.

»Weck ihnen den Gedanken an die Möglichkeit, aber verlange nicht Eile.«

Du hast ihnen geholfen, und mir auch. Dein Respekt und dein erstaunliches Erinnern, so wie deine unermüd­liche Bereitschaft, Leuten aus der Patsche zu helfen, das alles musste unbedankt bleiben und ist nie zu vergessen.

»Auf ihn konnte man sich verlassen.« Das höre ich bis heute.

Und manchmal tut es immer noch weh, weil es nicht immer nötig gewesen wäre – und als uns andere ­Glocken aufgehängt wurden, gab es auch Versuche, dir unlautere Motive zu unterstellen. Wenige, auch wenn ich jetzt von Bedeutungen reden möchte – aber das wäre un­gerecht.

Laura hat ihm seine Hilfe nie vergessen, es ihm ver­golten, als er hilflos war und jeden von uns brauchte.

Wem danke ich das eine wie das andere? Damit habe ich noch zu tun.

Es war nicht, als das Telefon neben uns schrillte. Er nahm den Hörer ab und wandte sich mir wieder zu.

Es war, als wir über Politik sprachen. Er wollte in die Bade­wanne, stand aber nackt an meinem Fenster, deutete in die Windrichtungen, ließ mich kaum zu Wort kommen, und ich sah das siebte Mal mit Brille und zerzaust von meinem Buch hoch, ohne Lust auf ein Gespräch, ohne Kraft, es abzubrechen – da war es, da wusste ich, wie weit ein solcher Weg ist, welche Ungeheuerlichkeit, sich so Fleisch an Fleisch zu durchdringen und wieder voneinander zu lösen, für die Strecke Einzelwesen ohne Schutz in der Umarmung des anderen, dem du wichtig bist.

Du warst klug, wenn von einem Unterdrücker die Rede war. Das wurde mir immer berichtet, und es war daran nichts auszusetzen. Einziger Einwand von mir: was da zuhause bei denen abläuft, ist so leicht nicht zu ver­ändern. Das haben sich schließlich zwei Erwachsene so eingerichtet und geduldet.

Wir Menschen sind ohne Pelz, ohne Stachel und Stoßzahn, ohne Giftdrüse und Stampfbein; jede Biene hat feinere Sinne, die Fledermaus erst. Wenn du es mir nicht sagst, wo denn finde ich dich …

… da war es, dass einer so dasteht an meinem Fenster, wehrlos mir ausgesetzt, ohne Begierde, und schiebt das Wannenbad noch mal auf, um mich zu überreden, etwas zu sehen, wie er es sieht und bald selber nicht mehr sehen kann –

… da war es, dass ich verstand, wir schmeißen das Urteil zu, mit unserem Alltagskäse, wir achten es nicht wie eine Altardecke, und es ist doch, was uns zurücklässt, uns übersteigt – was besser ist als alles andere – dass einer dasteht, nackig und redet trotz allem, was war – und so, dass alles sein kann und sein wird, sieht mich an, eh er in die Wanne steigt, und es war nicht, als sich seine Finger in das vorteilhaft weiche Fleisch meiner Schulter gruben – als er das lange Warten mit fast wütender Vehemenz vergalt – es war auch nicht, als er seine Niederlage vom Nachmittag noch vor dem Abendessen in einen Sieg über meine Bedenken verwandeln wollte –

… es war auch ein anderes Mal nicht, als er spürte, dass wir uns nicht lieben und sich alle benötigten Teile in ungelenke Knochen und wenig hilfreiche Säfte verwandelten und der Zauberklang in prosaische Geräusche …

… als ich mich zurückzog in eine geräumige Höhle meiner Seele, die mir bis dahin unbekannt schien, obwohl niemand außer mir sie eingerichtet haben konnte –

… als uns Reue und Zärtlichkeit bewegungslos machten und seine Tränen fielen auf die meinen, weil wir uns, eben verloren, wieder fanden, und hatten es eigentlich nicht verdient …

Es war nicht, als ich ihm unwillig nachgab, weil wir so weit gegangen waren, warum eigentlich, und lieber ließ ich es zu und mich kränken, als Wirkung zu verursachen, die ich weit überschätzte – ja, das mag sein. Aber ich wollte nicht Schmerzen herbeirufen, die ich noch nicht genügend kannte und die sich umdeuten ließen. Auch das war es nicht. Kein Seidenblatt hätte damals zwischen uns Platz gehabt, als wir die Arme umeinander schlangen, in gleicher Trauer, die uns überwältigte. Mehr als alles begehrten wir den auslöschenden Moment, aber auch da war es nicht.

Als uns der Arzt nach drei Stunden Warten sein Urteil stotternd andeutete, sagte ich Nein und wiederholte dieses Wort, als ginge es um Rechtsprechung, gegen die Einspruch möglich war.

Ich habe das nicht verdient, dachte ich. Ich kann mein Leben durchforsten und werde nicht finden, in welchem Augenblick ich das verschuldet haben sollte. Es fällt auf mich, und ich kann mich nicht darunter vorwälzen.

Kann ich es absenden, wegschicken, jemandem in die Hand drücken? Nein, das konnte ich nicht. Kann ich hindern, eingreifen, helfen? Ja, später, ja – aber es würde nichts ändern.

Es war, wovor ich mich fürchtete, wenn ich den Schlaf wieder einmal übergangen hatte, und nun würde er sich lange Zeit lassen, in denen die schlimmen Bilder vorrückten. Du träumst nicht, du bildest dir nichts ein, du kannst es nicht wegschieben und nicht zerreden, und falls dir ein Wunder beisteht, wirst du es nicht jetzt erfahren.

Schöner Unglaube, dass Hoffnung alles verwischen könnte. Wenn niemand Genaues weiß, dann können wir uns doch lauter helfende Vorgänge ausdenken.

Vielleicht Änderungen, ein zukünftiges Programm für beide mit viel mehr für uns, viel weniger für die ganze Welt, die wir nicht ändern werden.

Das können wir nicht besonders gut. Du hast als Chef im Rundfunk deiner Mitarbeiterin einen Auftrag erteilt: Sie habe ab jetzt jeden Tag um 14 Uhr den Rundfunk dienstlich zu verlassen, weil ihr kleiner Sohn immer als Letzter aus dem Kindergarten abgeholt wurde, wegen der langen Wege von Mama.

Du hast mir das unwillig erzählt, und dann fiel uns noch die wichtige Zentralbibliothek ein, da hatte sie, scheinbar, dann auch viel zu tun. Wenn das so selbstverständlich war, warum weiß ich es bis heute und habe damals deine Gefühle und Entscheidung dankbar geteilt? Weil du so warst, immer so warst.