Laras Reise - Kyly Gavin - E-Book

Laras Reise E-Book

Kyly Gavin

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Beschreibung

Als ich Lara kennen gelernt habe, stand sie auf einer Brücke und wollte springen. Gerade noch rechtzeitig konnte ich sie zurück ziehen und sie lag als wild fremde junge Frau in meinen Armen und weinte sich die Seele aus dem Leibe. Ich nahm sie mit zu mir nach Hause und es begann eine wundervolle Freundschaft, die ich nie mehr im Leben missen möchte. Wochen lang erzählt sie mir ihre Geschichte, warum sie mit dem Leben abschließen wollte. Über Jahrzehnte erlebte sie die Hölle auf Erden. Sie wurde nicht als sie selbst war genommen, belogen, betrogen, benützt und geschändet. Immer, wenn sie dachte, „es geht aufwärts“, ist sie hinterher in ein noch tieferes Loch gefallen. Ihre Suche nach Liebe, Anerkennung und Lebensfreude führte immer wieder dazu, dass sie dem Leben rastlos in der Folge der Realitäten Hinterher gelaufen ist. Dank ihrer starken Einbildungskraft, phantasierte sie schicksalsbedingt in ihren schlimmsten Momenten. In diesen Träumen ist sie als Selbstschutz unter der Erde und unternimmt eine spannende Reise. Das war Laras unheimlich großes Glück, sonst wäre sie womöglich schon als Kind in der Psychiatrie gelandet und nie wieder als normal denkender Mensch entlassen worden. Unsere Absicht mit dieser Geschichte lautet: Nehmt alle Kinder ernst, hört ihnen zu! Auch wenn sie ab und zu Lügen, das kann ein Hilfeschrei sein! „Die zwölfjährige Lara wird von der grausamen Realität eingeholt. Sie wurde missbraucht, geschlagen, gequält, belogen und betrogen. Niemand hörte ihre Hilfeschreie und niemand nahm sie ernst. Zwangsläufig sank Laras Lebensfreude auf ein Minimum, Zukunftsängste, Trauer und totale Verzweiflung zerstören über Jahre hinweg ihre Seele. Trost findet sie nur bei den Wesen ihrer Fantasie, die tief unter der Erde im Reich der Zwerge wohnen. Ein mit viel Mut geschriebenes, lesenswertes Buch, das Sie keinesfalls versäumen sollten.“ (Willi Corsten)

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Seitenzahl: 274

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Impressum

Laras Reise

von

Kyly Gavin

September 2013

© Kyly Gavin, Manching

http://www.kylygavin.de

Für die elektronische Ausgabe:

Aufbruch-2012 Verlag für elektronische Publikationen

www.aufbruch-2012.de

ISBN: 978-3-944730-31-8

Alle Rechte vorbehalten

Prolog

Als ich Lara kennen lernte, stand sie auf einer Brücke und wollte springen. Gerade noch rechtzeitig konnte ich sie zurück ziehen und sie lag als wildfremde junge Frau in meinen Armen und weinte sich die Seele aus dem Leibe.

Ich nahm sie mit zu mir nach Hause und es begann eine wundervolle Freundschaft, die ich nie mehr im Leben missen möchte. Wochenlang erzählt sie mir ihre Geschichte, warum sie mit dem Leben abschließen wollte. Über Jahrzehnte erlebte sie die Hölle auf Erden. Sie wurde nicht als sie selbst wahrgenommen, wurde belogen, betrogen, benützt und geschändet. Immer, wenn sie dachte, es geht aufwärts, fiel sie hinterher in ein noch tieferes Loch. Ihre Suche nach Liebe, Anerkennung und Lebensfreude führte wieder und wieder dazu, dass sie dem Leben ratlos und fern der Realitäten hinterher lief.

Dank ihrer starken Einbildungskraft träumte sie sich in den schlimmsten Augenblicken zum Selbstschutz unter die Erde und unternahm dort eine spannende Reise. Das war Laras großes Glück, sonst währe sie womöglich schon als Kind in der Psychiatrie gelandet und nie wieder als normal denkender Mensch entlassen worden.

Unsere Absicht mit dieser Geschichte lautet:

Nehmt alle Kinder ernst, hört ihnen zu, auch wenn sie ab und an lügen, denn das kann ein Hilfeschrei sein.

Laras Reise

Endlich regnet es.

Nach tagelanger, fast unerträglicher Hitze freut sich die zwölfjährige Lara, wieder einmal so richtig durch den Matsch stampfen zu können. Es sind Ferien und sie hasst es, immer in dem gleichen Raum zu sitzen, weil einem die von draußen kommende schwüle Luft beinahe erstickt. Ein Bett, ein Schrank und sie selbst haben gerade noch Platz in ihrem Kinderzimmer. Freunde hat Lara so gut wie keine, weil sie andere Flausen im Kopf hat.

Unzählige Stunden verbringt sie in dem kleinen Zimmer, schreibt Geschichten, Gedichte und Briefe an sich selbst. Bei jeder Kleinigkeit, und sei sie noch so banal, bekommt sie mit dem Stiefvater und der drei Jahre älteren Schwester Ärger. Selbst wenn sie auf der Toilette ist, kriegt sie durch das Schlüsselloch mit, dass sie beobachtet wird.

Rein in die Klamotten also und ab geht es aufs Feld des Großvater. Dort ist Lara ungestört und kann sich austoben, hat einfach Spaß, kann sich herumwälzen und das Leben am Bach ergründen. Wenn es geht, ist sie in jeder freien Minute dort in der einsamen Umgebung der Vorstadtprärie, beobachtet stundenlang die Tiere und studiert die Pflanzen, weil ihre Lieblingsbeschäftigung ist. Die einzige Nachbarin wohnt dort. Frau Leonie Spieglein heißt sie und ist mit Abstand die seltsamste Person, die Lara kennt.

Über diese Frau wird in der ganzen Stadt gelästert. Die Leute behaupten, sie sei verrückt, weil sie ohne Strom und fließend warmes Wasser lebt. Eines Tages hört sie auf zu sprechen und verließ ihr Grundstück seither nicht mehr.

Frau Spieglein lebt ganz allein, pflanzt vielerlei Arten Gemüse, Getreide, Obst und Kräuter an und schafft so Vorrat für den Winter. Wenn sie frischen Johannisbeerensaft gemacht hat, stellt sie immer heimlich eine Flasche vor Laras Minibaracke, die das Mädchen selbst gebaut hat. Verlockende Düfte ziehen dort in der Einkochzeit vorbei. Auf ihrer Terrasse deckt Leonie den Tisch stets für drei Personen, räumt ihn aber nach stundenlangem Warten traurig wieder ab. Ihr einziger Freund ist eine alte Schildkröte, die es sich oft im Dickicht bequem macht. Manchmal kommen Kinder oder Spaziergänger vorbei, stören sie in ihrer Ruhe und reichen sie wie ein Stofftier herum. Lara hat Leonie schon oft gesehen, will sie aber nicht in ihrer Einsamkeit stören. Deshalb lässt das Mädchen auch immer nur als kleines Dankschön für den guten Saft einen Papierflieger zu ihr herüber fliegen, hin und wieder sogar mit einem Gedicht darauf.

Gut ausgerüstet mit Seil und Messer öffnet Lara die Haustüre. Sie atmet tief die vom Regen frisch gewaschene Luft ein, der Geruch von nasser Erde lädt zum fröhlichen Matschen ein.

„Gut“, plaudert sie vor sich hin. „Es tröpfelt bloß noch, das ist noch besser.“

Türe zu und los. Geschwind rennt Lara kreuz und quer durch Pfützen und Schlammlöcher, quert die Hauptstrasse, saust durch die Allee und biegt in Richtung Freiheit ab. Dabei vergisst sie, dass hinter der nächsten Abbiegung ein alter, verwilderter Walnussbaum steht.

Der berauschende Duft einer Rose empfängt sie. Die Blume wächst aus dem Dickicht hervor, umarmt den Baumstamm und strebt der Krone zu, gleich so, als wolle sie den Stamm liebkosen. Gerade noch richtig die Kurve erwischt, stolpert Lara über ein ausgestelltes Bein. Sie überschlägt sich und landet mit dem Gesicht mitten im dornigen Gestrüpp. Völlig außer Puste und mit zerkratztem Gesicht liegt das Mädchen nun auf den Boden. Noch ehe sie richtig begreift, packen zwei Pranken ihre Schenkel, ziehen ihren Körper vorsichtig heraus und tragen ihn geradewegs in Laras selbst zusammengeschusterte Hütte. Jetzt liegt Lara auf den Rücken und vor ihr kniet der Onkel Albert. Bei ihm ist Lara eigentlich lieber als daheim, weil dort das reinste Spielparadies ist. Manchmal dürfen die Kinder der ganzen Nachbarschaft mit ihm und Tante Marie sogar zum Zelten fahren. Aber jetzt sieht der Onkel nur noch abschreckend aus. Er zieht Lara langsam die Jeanshose herunter. Seine Augen triefen unter der dicken Hornbrille, die Lippen keuchen, sabbeln und wirken seltsam angespannt.

„Sigst, guat das i grod vorbei ganga bin. Host da vielleicht weh doa? Wart schau ma amoi noch, net dass du so Rosendorn in deine Knie host. Ich mecht ja net schuld sei, dass ich zuschau, wie du eine Blutvergiftung oder so griagst. Woast ja, wie alle wieder bläd doher redn, glauben deans uns ja sowieso nix, dir nett und mir nett. Des vergess ma alle zwoa am besten glei wieder, dann hom mia koan Ärger. Schau, leg di auf mei Jacke. Trink mal von der Cola. Griagst a mei Brille, dann bist vom Schock a bissal abgelenkt.“

Mit seinen dicken Fingern setzt er Lara die Brille auf, beugt sich mit dem Gesicht über Laras Bauchnabel und leckt mit spitzer Zunge abwärts. Das Mädchen trinkt einen Schluck, erstarrt und sieht nur bunte Farben durch die Brille. Am liebsten möchte sie weinen, schreien, weglaufen, doch sie ist steif wie ein Brett und beißt sich in die Zunge, bis sie blutet. Bekommt überhaupt nicht mit, was um sie herum geschieht, sinkt zurück, fühlt sich plötzlich federleicht und vergisst, dass der Onkel da ist.

Normalerweise hausen hier im Unterholz Wespen, denen sie eigentlich lieber aus dem Weg geht. Doch diesmal hört sie keine einzige summen. Die Neugier siegt und Lara schiebt die Äste weit auseinander, um einmal das Nest sehen zu können. Sie reibt sich die Augen und schaut genauer hin. Das übertrifft alles, was sie bisher in ihrem Leben gesehen hat. Vor ihr entsteht eine riesengroße Seifenblase. Ungefähr einen halben Meter Durchmesser hat sie. Ihre Oberfläche spiegelt sich in allen Regenbogenfarben. Vorsichtig beugt Lara sich darüber und glaubt, wie durch ein Fenster in eine andere Welt zu schauen. Das Fenster gibt den Blick frei auf eine kleine Insel unter der Erde. Ein brauner Fluss zieht langsam an einem Uferstreifen vorbei, der wie eine Lagune geformt und mit seltenen Pflanzen bewachsen ist. Plötzlich gleitet eine Raupe durch die Seifenblase, verweilt kurze Zeit und landet schließlich sanft neben dem Wasser. Lara steckt vorsichtig den Zeigefinger in die Mitte der Blase und beugt sich mit dem Gesicht darüber. Zunächst passiert nichts, doch dann öffnet sich wie durch Zauberhand wieder die Stelle, durch die die Raupe vorhin geschlüpft ist.

Kurz entschlossen nimmt Lara ihr Seil und bindet das eine Ende um den Baumstamm, das andere um ihre Hüfte. Schon geht’s ab nach unten, ganz vorsichtig, und mitten durch die Seifenblase hindurch. Wie in einer mit Schaum gefüllten Flasche, die jemand hin und her schüttelt, wird sie herumgewirbelt. Von allen Seiten kommen bunt schillernde, kleine Seifenbälle auf sie zu. Manche bleiben an ihr haften. Es kostet Lara viel Mühe, sie kaputt zu stechen. Jedes Mal, wenn ihr das gelingt, hört sie einen leisen Ton, als ob winzige Glöckchen klingeln würden. Unten angekommen, bindet Lara sich los und geht auf die Raupe zu. Völlig unbeirrt von dem Menschenkind rollt diese sich auf den Rücken und streckt ihre Beinchen in die Luft. Dann wittert sie etwas Grünes, formt geschwind einen winzigen Ballen daraus und stopf ihn sich ins Mäulchen.

Lara schaut sich um und kann nicht glauben, wo sie sich jetzt befindet. Dann stellt sie verwundert fest, dass sie hier unten nicht viel größer als diese Raupe ist. Unbemerkt hat sie sich wohl ihrer Größe angepasst. Aber die Höhle, in der beide sich nun befinden, ist mindestens so groß wie ein Fußballfeld. So kommt es Lara jedenfalls vor. Einsturzsicher scheint sie auch zu sein, weil. es die Wurzel des Wahlnuss-baumes sind, die ihr als Stützwerk dienen. Der braune Fluss kommt von rechts und plätschert in zahlreichen Schleifen nach links weiter. Ein Ausgang ist nirgendwo zu sehen, nur ein riesiges Loch in gut fünfzehn Metern Höhe. Von dort baumelt auch das Seil herunter, und daran wieder hoch zu klettern, ist sicher sehr mühsam. Lara versucht ihre Gedanken zu ordnen, doch dazu bleibt nicht genug Zeit, weil nun vom gegenüberliegenden Ufer aus eine Walnussschale auf sie zutreibt. Irgendetwas findet Lara seltsam daran. Na ja, sie hat ja auch noch nie eine Walnussschale mit einem Segel gesehen, in der zudem noch ein Männchen mit hochrotem Kopf sitzt, immer wieder in ihre Richtung blickt und anschließend ins Wasser pustet. Blitzschnell robbt die Larve zwischen eine hohle Wurzel und fordert Lara mit leiser Stimme auf, sich auch zu verstecken. Lara gehorcht und die Beiden liegen jetzt unter einem modrigen Blatt, das an allen Ecken Löcher hat.

Die Regenwolken haben sich verzogen und Lara wacht wieder auf. Sie hat keine Hose mehr an und an beiden Oberschenkeln haftet etwas Klebriges, was ihr mehr als unangenehm ist. Sie hat keine Ahnung, ob Onkel Albert jetzt wirklich da war oder nicht, ist so durcheinander, dass sie sich entschließt, einfach nichts davon zu erzählen. Sie kann sich ja auch niemandem anvertrauen, weil sie selbst die Wahrheit nicht weiß. Lara muss sich übergeben und hat das Gefühl, etwas schießt durch ihren Bauch, das wahnsinnig scheuert und schmerzt. Sie steht auf, geht zum Bachufer, stellt sich bis zu den Knien ins Wasser und wäscht das Klebrige ab. Ihr Gesicht brennt, als auch es mit dem kühlen Nass in Berührung kommt. Weil sie so entkräftet ist und die Schmerzen nicht weg gehen, schleicht sie nach Hause zurück und legt sich ins Bett. Wie erwartet ist niemand außer Nasad da. Nasad ist ihr Stiefvater und ihm ist überhaupt nicht aufgefallen, dass sie fort war.

Das große Grübeln beginnt. Was war los? Warum bin ich auf einmal so schnell weggeschlafen? War jetzt der Onkel da, oder bilde ich mir das nur ein, weil ich vielleicht auf den Kopf gefallen bin? Und was war das Klebrige an meinen Beinen und an meinem Bauch? Eines ist auf jeden Fall sicher: Sie wird niemandem etwas davon erzählen, nicht einmal dem Onkel selbst.

Vier Monate, nachdem Nasad eingezogen war, heiratete er Laras Mutter. Gleich nach der Hochzeit übernahm Mutter dann den Blumenstand der Großeltern, der unter der Rolltreppe eines Supermarktes stand. Der Stand und der dazugehörige Arbeitsraum wurden quasi ihre zweite Heimat. Die Existenz der Familie war somit gesichert, Lara aber hatte nun nichts mehr von ihrer Mutter und war fast völlig auf sich alleine gestellt. Nasad dachte nie daran, seiner Ehefrau irgendwie bei der Betreuung zu helfen. Er macht es sich daheim bequem und wartet, bis die Frau das Geld nach Hause bringt. Die wichtigsten Sätze, die sich der ehemalige Jugoslawe auf Deutsch eingeprägt hat lauten: Das Haus, in dem ich lebe, ist mein Haus, und alles, was sich darin befindet, ist mein Eigentum. Und: Schokolade ist gut, aber zu teuer, um alle am Genuss zu beteiligen.

Laras Mutter denkt, er ist daheim und hütet wenigstens die Kinder. Sie arbeitet und arbeitet und vergisst darüber ihr eigenes Leben zu leben. Je mehr Zeit vergeht, je mehr distanziert sich Lara von ihrer Familie, denn sie schließen sie ja gefühlsmäßig völlig aus. So, als ob sie Luft wäre. Ständig gibt es Ärger für irgendwelche Taten, die ein Kind nun einmal begeht. Lara nimmt sie in Kauf, ist inzwischen so abgehärtet, dass sie nicht einmal mehr weinen kann. Hauptsache, sie hat nach der Strafe nicht gar so viel Schmerzen und wird danach in Ruhe gelassen. Damit man die Abdrücke seiner Hand nicht erkennt, schlägt Nasad ihr meist gegen den Kopf. Die Einzige die weiß, wie scheiße dieser Kerl seine Vaterrolle übernimmt, ist Laras drei Jahre ältere Schwester Margit. Doch die hat sich mit Nasad von Anfang an gut verstanden. Die beiden machen sogar zusammen Hausaufgaben und sprechen miteinander, als wären sie vom selben Blut. Und Margit genießt es, wenn sie ihre Schwester in die Pfanne hauen kann.

Lara muss sich mit dem Gästeklo und ihrem Zimmer begnügen. Möchte sie etwas essen, muss sie fragen. Geht sie zum Pinkeln, kommt der Superdad ihr nach und spioniert, ob sie nicht irgendetwas außer der Papierrolle berührt. Wehe, sie fühlt sich vor ihm irgendwie wie zuhause, schon gibt es Streit. Da Lara sich zu Recht verteidigt, schimpft sie einfach zurück. Dafür wird sie dann hart bestraft, was seiner Meinung nach völlig in Ordnung ist. Ob geistig oder körperlich, Hauptsache er gewinnt, worauf er aus ist. Die Mutter steckt auch abends noch in ihrem Element Arbeit und hat keine Lust, sich irgendwelchen Kinderkram anzuhören. Ihr Spruch dazu, du wirst es schon gebraucht haben, ist vorprogrammiert.

Angehörigen und Außenstehenden redet Nasad ein, dass sich Lara zuhause schlimm aufführt, alles kaputt macht, alles weg isst, nur Dreck macht, frech ist wie Schwein-Harry und einfach nicht zurechnungsfähig ist. Darin sind Margit und Nasad Weltmeister. Manchmal hat Lara so eine Angst vor ihm, dass sie einfach davon rennt und von einem Gebüsch aus den Feind beobachtet. Ist die Gelegenheit günstig, schleicht sie wieder still und heimlich in ihr Zimmer zurück. Dort versteckt sie sich im Kleiderschrank, bis sie mitbekommt, dass die Mutter nun zuhause ist. Vor ihr reißt Nasad sich zusammen und jammert nur wirres Zeug. Ist trotzdem schlecht für Lara, denn Nasad ist nachtragend. Seine Hand kribbelt, bis er sagt: „Schluss.“ Inzwischen schlägt er nicht mehr mit der flachen Hand, sondern mit den Faustballen von unten nach oben. Sobald Lara seine Armbanduhr klimpern hört, geht sie automatisch in Deckung.

Trotz allem verläuft dieser Abend ungewöhnlich ruhig. Am nächsten Morgen wacht Lara auf und schreit gleich laut, weil sie an den Haaren die Treppe herunter gezogen wird und unsanft vor dem Küchentisch landet. Die Kaffeekanne ist genau in ihrer Reichweite. Ohne zu zögern greift sie zu und holt aus. Nasad wehrt ab, erwischt die Kanne und stellt sie wütend zurück auf den Tisch. Lara flitzt los, hetzt durch die offen stehende Wohnzimmertür auf die Terrasse, schwingt sich aufs Fahrrad und rast, weil Nasad ihr folgt, ohne nach rechts oder links zu schauen in Richtung Supermarkt. An der großen Kreuzung knallt es und Lara liegt samt Fahrrad unter einem Auto. Auf allen Vieren kriecht sie wieder darunter hervor und läuft einfach davon. Mutters Blumenladen ist nur noch einige hundert Meter entfernt. Endlich geschafft verkriecht Lara sich dort in einem breiten Regal hinter den Papierrollenhaltern. Unter ihr ein Stapel Zeitungen, einige Tesafilmrollen, Spiegel an den Seitenwänden und vorn drei große Rollen Papier mit Firmenlogos drauf. Laut wie ein Düsenjet dröhnt der Lärm der Rolltreppe in ihren Ohren, bis sie wie hypnotisiert zurück in ihre Phantasiereise findet.

Das Männchen steigt aus, zieht die Walnussschale an Land und geht auf Lara und die Raupe zu. Es beugt sich vor, schaut Laras ins Gesicht und sagt mit höflicher Stimme: „Mein Name ist Bändl, ich bin auf der Durchreise und habe beobachtet, dass du hier unten angekommen bist. Mädchen, ich zünde gleich das Feuer an. Setz dich schon einmal hin und ruh dich aus. Ich kümmere mich um Speis und Trank und erzähle dir danach, wie du wieder nach oben kommst.“

Der Zwerg trägt mittelalterlich/bäuerliche Lederkleidung. Unter seiner Kappe lugen schwarze Locken hervor, die großen, grünen Augen blinzeln freundlich. Ein breiter Gürtel hält seine Hose. Daran befestigt sind ein Becher, ein Topf, ein Messer, eine Klappharke und ein grünes Lederbeutelchen. Da genug Holz in der Gegend liegt, dauert es nicht lange, bis Bändl gekonnt ein Feuer entfacht hat. Danach geht er zu einem kleinen Busch, pflückt dort purpurrote Beeren und kehrt zurück. Er spießt die Beeren auf kleine Hölzer, entnimmt aus dem Beutelchen eine Prise goldenen Staub und streut ihn darüber. Dann bietet er Lara die Speise an und flüstert: „Du musst laut und deutlich Lestino sagen und an das denken, was du gerne essen möchtest. Dreh den kleinen Spieß übers Feuer und du wirst sehn, es wird dir schmecken.“

„Mmm..., wie das duftet. Genauso wie bei meiner Oma, wenn sie Plätzchen bäckt.“ Sie beißt herzhaft hinein, und es ist, als ob sie wirklich dieselben Kekse essen würde. Sogar einige Krümel fallen herunter.

„Bändl, bitte erzähle mir, wo wir hier sind. Ich heiße übrigens Lara, bin zufällig hier aus Neugier gelandet und war plötzlich nur noch knapp so groß wie diese Raupe. Ach ja, warum kann die Raupe mit mir sprechen? Außerdem wundere ich mich sehr, dass ich hier einen Zwerg antreffe. Ich dachte, die gibt es nur in Märchen und Sagen. Bin anscheinend auf den Kopf gefallen und träume dies alles nur.“

„Nein, nein, ihr beide habt den einzigen Eingang benutzt, den meine Vorfahren erfunden haben.“ Bändl zeigt stolz hoch zu dem hellen Strahlenkranz der Seifenblase und fährt fort: „Die Blase dient dazu, die Menschen fern zu halten. Wenn sich bei ihnen nämlich herum spricht, dass hier Zwerge leben, denkt doch jeder, dass hier auch Schmuck und Edelsteine zu holen sind. Und das ist etwas, was unser Volk wirklich lieber nur in Sagen und Märchen liest. Es sind dennoch schon Tunnel und Wohnhöhlen durch Menschen zerstört worden, früher, als die Zugänge noch offen waren. Einige dachten wohl, sie könnten es einmal versuchen. Ohne Sonnenstaub gelangt man übrigens nicht mehr nach oben. Allein und ohne die Lebenskraft des Staubes hältst auch du es hier nicht lange aus. Der Staub, den ich besitze, reicht aber nicht für uns beide. Allein für deine Rückreisen brauchst du ja mindestens ein komplettes Beutelchen davon.“

In einer Ruhe, die Lara fast schon nervös macht, steht Bändl auf, um noch einmal Nachschub an Beeren zu holen. „Mach es dir bequem“, sagt er, „wir bleiben hier eine gute Weile. Wahrscheinlich übernachtest du heute zum erstenmal fünfzehn Meter unter der Erde. Hab aber keine Angst. Es wird zwar ziemlich dunkel hier, wenn die Sonne untergeht, aber ich bin ja bei dir.“

„Bändl, wie groß bin ich?“

„Stell dich hin und strecke deine Arme so hoch es geht.“

Lara sucht eine ebene Stelle und steht da wie angewurzelt Bändl schaut sie an und sagt: „Du dürftest noch ein paar Zentimeter höher sein als ich.“ Dann stellt er sich neben sie und verteilt auf seiner Nase Goldstaub. Die Nase strahlt jetzt wie eine Glühbirne und sieht lustig aus. Endlich ist das Eis gebrochen und beide schütteln sich vor Lachen. Die kleine Raupe hat inzwischen so viel in sich hineingestopft, dass sie aussieht, als ob sie mit irgendjemand um die Wette gespeist hätte. An ihren Mundwinkeln hängt noch ein winziges Stück Laub, als sie sich langsam zusammenrollt und zum schlafen bereit macht, ihrer Lieblingsbeschäftigungen.„Egal, was ihr vorhabt, nehmt mich bitte mit“, haucht sie schlaftrunken. „Ich überlebe sonst nicht lange hier“.

Bändls Hand streift behutsam über den kleinen, grünen Körper. „Gib uns und dir etwas Zeit. Bevor du dich entfaltest, um der wärmenden Sonne entgegen fliegen zu können, wirst du frei sein.“

Er und Lara machen es sich bequem und kauern nun am wärmenden Feuer. Der Zwerg erzählt weiter, und Lara, die alles immer noch nicht glauben kann, hört gespannt zu.

„Mädchen, es ist nur ganz wenigen Tieren gestattet, hierher zu kommen. Meistens dient dieser Eingang als Zuflucht, wenn oben Gefahr droht. Diese Tiere wissen, dass sie erst einmal eine Wanderung unter der Erde vor sich haben, bis sie wieder ans Tageslicht kommen. Das ist aber weniger gefährlich für sie, weil Mutter Natur sie mit guten Instinkten ausgerüstet hat. Sie können von weitem schon wahrnehmen, ob irgendwo Gefahr lauert. Außerdem sehen viele von ihnen auch im Dunkeln sehr gut.

Die geheimen Tunnel können nur einige große Magier betreten. Andere sterben hier, weil sie einfach nicht dafür geeignet sind. So wie auch dein Begleiter, die Raupe. Denn sobald die Puppe reif ist, muss sie sich entfalten können. Das ist ihr sicher bewusst, der Armen. Du hättest ebenfalls bald hier unten den Kampf verloren, ohne Sonne, frische Luft und vor allem Freiheit.“

„Und was machst du hier so alleine?“, unterbricht ihn Lara, um mehr in Erfahrung zu bringen.

„Ich bin, sagen wir mal, nirgends richtig zuhause. Ihr Menschen würdet dazu Vagabund sagen. Eines schönen Tages wachte ich in meiner kleinen Höhle auf und hatte das Gefühl, erdrückt zu werden. Also brach ich auf, um Abenteuer zu erleben. Tag ein, Tag aus immer und immer wieder neue Schächte zu graben, das war mir nach 150 Jahren zu langweilig. Außerdem hat mich nichts mehr gehalten, weil meine Liebe weg war. Wir Zwerge leben ja fast eine halbe Ewigkeit, nämlich bis zu 600 Jahren. Und ab dem 100. Geburtstag sind wir erwachsen.

„Was ist das eigentlich für ein Superpulver, das du da benutzt? Schließlich ist mir jeder Hinweis wichtig. Und die Raupe dürfen wir auch nicht vergessen, wegen ihr bin ich ja eigentlich hier.“

„Das sind Sonnenstrahlen, eingefangen mit der Magie unseres Königs. Wenn die Sonne so steht, dass die Strahlen genau über den Eingang fallen, dann spricht Majestät noch die richtigen Worte dazu, und schon fällt ganz feiner Sonnenstaub auf ihn herab. Er ist für uns Energie, Wärme, Licht und Essen. Jeder erhält eine Portion für ein Jahrhundert und muss dann den Vorrat wieder auffüllen lassen. Dieser Zeitpunkt ist das schönste Fest, das wir Zwerge feiern. Schon alleine diese Köstlichkeiten... Kein Kulturbanause schleicht herum und stört uns bei diesem Feuerwerk der Freude. Bald ist es wieder so weit, und ich schlage vor, wir gehen gemeinsam, denn mein Ziel ist auch das eure. Wann wir ankommen, kann ich allerdings nicht sagen, die Natur ändert sich ja ständig in dieser Umgebung. Wir müssen daher recht sparsam mit dem Sonnenstaub umgehen.“

Die Beiden liegen noch eine zeitlang wach, bis sie vor Müdigkeit an Ort und Stelle einschlummern.

Lara kommt zu sich, schaut sich im Spiegel an und sieht nur getrocknetes Blut. Sie zieht ihr T-Shirt aus und wischt damit behutsam übers Gesicht. Ein supernetter Schutzengel ist ihre ständige Begleitung. Boxerengel nennt sie ihn, weil der so viel aushält. Sie denkt, vielleicht hat ihre Mutter noch gar nicht die Botschaft erreicht, dass ihr Kind zuvor hätte sterben können.

Ein lautes Raaaaatsch und ein Meter Papier ist weniger auf der Rolle. Lara schreit los und sieht in die Augen ihrer Mutter. Diese begutachtet sie, ohne ein einziges Wort zu sagen. Ein kalter Blick, der erzählt, ist nix passiert, das war’s.

Obwohl Lara Durst ohne Ende hat, traut sie sich nicht mehr aus der Höhle, bis die Mutter Feierabend macht. Zuhause ist alles wie immer, nur dass halt Lara eine dicke Lippe hat. Sie schlürft drei, vier Löffel Suppe, wird von den Hassern ausgelacht und geht hoch in ihr Zimmer. Wird nicht mal von einem Arzt untersucht, geschweige denn gefragt, ob ihr irgendetwas weh tut. Das Fahrrad ist weg, doch niemand interessiert das.

Stundenlang gehen Lara die Gedanken durch den Kopf, warum eigentlich sie diejenige ist, die immer benachteiligt wird. Kein Argument, nichts fällt ihr ein, das sie dazu bringt, was sie falsch macht. Was ist denn so schlimm daran, wenn sie einfach normal am Leben sein möchte? Gut, dass Wochenende ist. Sie beschließt, die Tante und den Onkel Albert zu fragen, ob sie bei ihnen schlafen kann. Die Beiden machen wenigstens keinen Unterschied. Da gibt es Fernsehen, bis man umfällt, MC Donald spät in der Nacht, Menschen, die einen ansehen, wenn sie reden.

Es ist Vormittag, als Lara die Augen öffnet. Ohne sich zu übereilen, geht zu ihrem Lieblingselektroladen. Der befindet sich in einem Nebengebäude des Schlosses. Dort hat sie schon ihre eigene, ungestörte Ecke, in der sie es sich bequem macht und ein wenig in die Glotze schaut. Die Verkäufer sind immer freundlich und akzeptieren Lara als Gast. Zuhause geht es keinesfalls mehr, dass sie um fernzusehen einfach durch das Treppengeländer lugt. Zwischen der sechsten und neunten Treppenstufe ist es zu hart, inzwischen zu eng für sie geworden und somit nicht mehr bequem. Ständig ertappt sie Nasad dabei, dann ist es wieder einmal vorbei mit der Ruhe. Munter verlässt Lara das Geschäft und läuft am Eingang Onkel Albert über den Weg. Er legt seinen Arm um ihre Schulter und strebt mit eiligen Schritten der Altstadt zu. Ziellos durch Gassen, wo keine Menschenseele ist.

„Lara, wos machst du eigentlich so oft aufm Opa sein Feld? Do is für so hübsche Madln wia di gefährlich. Duat da irgend wos weh? Du schaugst, als ob du an Geist gesehn hast. Kennst mi ja, ich hob so vui Termine, ich hob leider nett länger bleim kenna, zoag amoi, wia schaugst überhaupt aus?“

Er streicht ihr behutsam übers Haar.

„Du bist ja ganz sche ramponiert. Morgen treffen wir uns zur selben Zeit wie heut, allerdings im Woolworth bei den Süßigkeiten. Wir verbringen den ganzen Tag zam und geben ganz viel Geld aus, des host da ja richtig verdient. Du arme Maus du, koana glaubt da wos und de Watschn griagst a immer ab. Der Nasad is a Arschloch, des woas i a. Aber wenn mia zwoa zam halten, dann ärgert er sie wie Sau und konn dagegen eigentlich nix macha. I komm aber nur, wenn du niemandem etwas davon sagst. Versprichst ma des? Mia hom dann a ganz großes Geheimnis.“

„Ja Onkel, aber ich wollt euch sowieso fragen, ob ich heute und morgen bei euch schlafen darf. Dann können wir doch gleich gemeinsam in die Stadt fahren? Oder?“

„Sicher deafst bei uns schlafa. Kommst halt einfach vorbei, i ruaf die Mama o und regelt des. Besser, du gehst etz glei zu Oma und ich hol di dann ab und nehm die mit hoam. I muas etz nämlich weg, ich hob no a wichtiges Treffn. “ Er geht und lässt Lara allein in der einsamen Gegend stehen.

Wie ausgemacht geht sie zu den Großeltern und freut sich, weil es zufällig Tomatensuppe gibt, ihre Lieblingssuppe. Der Opa fragt, wo sie herkommt und sie überlegt, ob sie es ihm sagen soll oder nicht. Aber der Großvater war immer der, den man nicht anlügen kann. Er sieht sogleich, wenn es jemandem schlecht geht, hat einfach den Charakter dazu. Er ist für Lara der zuberlässlichste Mensch auf diesem Planeten.

„Vatter“, so nennt ihn jeder. „Morgen treff ich mi mit an Mann in der Stadt, der möcht mit mir ganz vui Geld ausgeben.“

„Madl kumm, wir fahren zur Polizei.“ Er lässt sein Essen stehen und fährt mit Lara los.

Sie erzählt dort, wie es gewesen ist, lässt den Onkel aber aus dem Spiel und tut so, als hätte ein Fremder sie angesprochen . Lara muss hoch und heilig versprechen, dass sie bei niemandem etwas davon erwähnt. Mit dem großen Geheimnis im Petto fährt der Opa sie zum Onkel, wo auch schon ihre Mutter wartet. Die sind natürlich eingeweiht und Albert macht vor allen einen auf besorgten Mann.

Am Treffpunkt erscheint natürlich am nächsten Tag niemand. Lara wird beim Abendessen zuhause aufgeklärt, dass man nicht lügen darf. „Du lügst, möchtest nur im Mittelpunkt stehen und versaust uns das ganze Leben“, sagt man ihr. „Geh hoch in dein Zimmer, wir wollen dich hier nicht sehen, du störst.“

Lara entschuldigt sich und möchte in ihrem Traum nur noch zu Bändl. Obwohl es dort ein wenig unheimlich ist, fühlt sie sich bei dem Winzling inzwischen wohler als hier. Sie muss sich nicht einmal anstrengen, schon gleitet sie fast schwerelos in ihren Traum hinunter zu ihm.

Lara fährt in Bändls Höhle aus dem Schlaf hoch. Sie reißt die Augen auf. Ringsum ist alles pechschwarz. Nicht einmal die Hand vor den Augen erkennt sie. Das einzige, woran sie sich erinnert, ist der Geruch von vermoderter Erde. Dann war sie eingeschlafen. Nun versperrt etwas Gewaltiges ihre Sicht und sie weiß nicht, was es ist.

„Bändl, Bändl, bist du da?“

„Spssst ja. Es ist Catter. Wenn man ihn erschreckt, kann es passieren, dass er dich vor lauter Angst einfach mit seinen langen Krallen aufschlitzt, wenn auch unbeabsichtigt.“

Lara spürt eine schwerfällige Bewegung, erahnt auch einen langen Hals, der sich wie eine Spirale nach vorne windet und etwas Licht durchblitzen lässt. Alles, was an Dinosaurier erinnert, wird davon überboten. Durch den braunen Nebel erkennt Lara hellblaue Kulleraugen, und unten gewaltige Klauen mit spitzen Krallen, die bereit sind, sich auszurollen.

„Hallo Catter, na, bist du mal wieder zum Ausruhen gekommen?“ Der Zwerg nimmt die Mütze ab und lächelt einer runzligen Schildkröte ins Gesicht. Dass das die Kröte aus Frau Leonie Spieglein`s Garten ist, erkennt Lara an den Narben auf dem Panzer. Sie hat sich schon oft darüber aufgeregt, wenn Spaziergänger sie in der Gegend herumtrugen. Das war fast so, als ob ein Riese ein Baby in seiner Hosentasche herumschleppt.

„Ja, ja, ich brauch diesmal etwas länger zum ausruhen. Mir sind bei der gestrigen Herumschlepperei die hinteren Panzerschuppen so ausgetrocknet, dass ich jetzt unbedingt dieses feuchte Klima benötige.“

Bändel nimmt ein Scheit Holz als Fackel und zündet es an der Glut des Feuers neu an. „Wenn du möchtest, Catter, sehe ich mir die Verletzung gerne einmal an.“

Behutsam steigt der Zwerg über einen Schenkel der Schildkröte und begutachtet die Stelle. „Autsch, das sieht nicht gut aus, beinahe so, als ob dir etwas zuviel abgeschabt wurde. Es ist zwar noch Haut darüber, aber nicht mehr viel.“

Bändl krabbelt wieder hervor und dabei strahlt es auf einmal so hell auf, dass Laras und Catters Augen fast geblendet sind. Catter erschrickt und kreischt panisch umherstampfend. Bändl springt zur Seite und zieht dabei Lara mit. Beide halten sich die Ohren zu und fangen laut zu singen an. Die Tonleiter rauf, die Tonleiter runter. Nur, damit dieses Gekreische nicht so stark in ihren Ohren dröhnt. Wieder beruhigt legt sich Catter zurück in die alte Position. Ein fürchterlich erschrockenes Monster, aber wehleidig wie ein Klageweib. Nach einem Augenblick trauen sich die Beiden wieder etwas näher heran.

„Es tut mir leid, ich kann eigentlich nichts dafür, bin halt so schreckhaft. Bändl, lass mich in Zukunft einfach langsamer an helles Licht gewöhnen. Ist besser so, weil ich ja nicht mehr die Jüngste bin. Nirgends kann man in Ruhe mal ein kleines Nickerchen machen. Kaum hat man die Augen geschlossen, schon nimmt mich wieder einer hoch und wirbelt mich herum. Ich bin froh, dass ich mit euch Zwergen befreundet bin, und dass dieser Eingang weniger Mühe macht, als ein Loch zu buddeln.“

Beherzt wagt Lara sich, jetzt mitzureden. „Bändl, bist du so freundlich und besorgst für alle etwas zu trinken? Ich denke, das wird uns jetzt gut tun. Und falls du noch eine Fackel übrig hast, könnte ich mir auch einmal die Wunde ansehen.“

Geradewegs stolziert sie auf die verletzte Schildkröten zu, fasst den äußeren Rand der Wunde an - und Catter hechelt aus tiefstem Schmerz.

„Entschuldige, Catter, ich wollte nur prüfen, ob die Wunde nass oder trocken ist, doch ich kann das nicht genau unterscheiden. Wären wir oben, könnte ich dir etwas von der Wunderpflanze darüber streichen. Man sagt ja, das Gel darin sei ein natürliches Pflaster.“

„Die Pflanze kenn ich“, sagt Bändl, „und stell dir vor, nicht weit von hier liegt ein Feld, wo sie wächst.“

Begeistert rennt er los, um die Arznei zu holen. Lara nimmt den Becher mit Wasser, den Bändl hingestellt hatte, und trinkt erst einmal einen kräftigen Schluck daraus. Dann reißt sie ein Stück Stoff von ihrem Pulli, taucht es ins Wasser und hält es der Schildkröte ans Maul, damit sie daran saugen kann.

„Tut mir leid, mir fällt nichts besseres ein, der Becher ist ja ungeeignet für dich. Du hast sicher auch Durst, ich denke sogar, deine Haut sieht deswegen etwas faltig aus. Eines verspreche ich dir, sollte ich hier jemals wieder rauskommen, dann sorge ich dafür, dass du bei mir leben kannst. Weißt du, viele Menschen verdienen überhaupt nicht, dass sie irgendwelche Tiere bei sich zuhause halten. Sie sind nur Angeber. Aber genau diese Leute gehen mit fremden Tieren noch schlimmer um. Ich wollte dir wirklich viel öfter helfen, aber meistens war’s für dich da schon vorbei. Ich war einfach oft zu spät dran.“

Dankbar lächelt Catter Lara ins Gesicht. „Du bist eine Ausnahme, bist beispiellos und hast mir schon einige Male das Leben gerettet, indem du zu schreien und zu schimpfen angefangen hast, wenn die Leute mich quälten. Jetzt, wo wir die gleiche Sprache sprechen, möchte ich mich herzlich dafür bedanken.“

Endlich, Bändl hat die Pflanze gefunden und hetzt zurück zu den Anderen. Stolz hebt er die Heilpflanze hoch und fragt: „Meinst du, dass ist die richtige?“

„Super, Bändl, ich glaube sogar, dass sie Aloe Vera heißt.“