Lass mich dir von einem Mann erzählen, den ich kannte - Susan Fletcher - E-Book
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Lass mich dir von einem Mann erzählen, den ich kannte E-Book

Susan Fletcher

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Beschreibung

»Einer der schönsten Romane des Jahres« Elke Heidenreich

Saint-Rémy-de-Provence, 1889: Jeanne Trabuc ist fünfundfünfzig, die Kinder sind längst aus dem Haus, sie kommt wenig unter Leute. Ihr Mann Charles leitet die örtliche Heilanstalt, und von der einstigen Verliebtheit der beiden ist nichts mehr zu spüren. Eines Tages kommt ein neuer Patient in die Heilanstalt, ein Maler, über den gesagt wird, er schere sich nicht um Konventionen, und dessen neue Art zu malen unerhört sein soll. Jeanne begegnet ihm – es ist Vincent Van Gogh – beim Malen im Olivenhain, und die Gespräche mit ihm wecken in ihr Erinnerungen an ihre Jugend und an ihre ersten Ehejahre. Sie spürt wieder, wie frei sie sich als junge Frau gefühlt hat, und wie wunderbar die ersten Jahre mit Charles waren, als sie einander noch aufmerksam und voller Liebe zugewandt waren – und setzt alles daran, die einstige Verbundenheit wiederaufleben zu lassen.

Kann es in einer langen Ehe einen Neuanfang geben? Susan Fletcher erzählt einfühlsam und bewegend von einer Frau, die aus ihrem Dasein als Haus- und Ehefrau ausbrechen und sich selbst und ihrem Mann neu begegnen will.

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Seitenzahl: 390

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Cover

Titel

Susan Fletcher

Lass mich dir von einem Mann erzählen, den ich kannte

Roman

Aus dem Englischen von Christel Dormagen

Insel Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erschien erstmals 2016 unter dem Titel Let Me Tell You About a Man I Knew bei Virago Press, einem Imprint von Little, Brown Book Group, London.

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2023.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023© Susan Fletcher 2016

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Umschlaggestaltung von Favoritbuero, München, unter Verwendung des Originalumschlags von Little, Brown Book Group, Entwurf: Jack Smyth, Abbildungen: Vincent van Gogh, Sternennacht (Detail), 1889, Museum of Modern Art, New York, Foto: Bridgeman Images; Jeff Cottenden, London; Shutterstock

eISBN 978-3-458-77633-8

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

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Anmerkung der Autorin

Dank

Informationen zum Buch

Lass mich dir von einem Mann erzählen, den ich kannte

1

Den ganzen Morgen wäscht sie ihre Kleider im Hof unter der Linde, den Zinkzuber neben sich. Sie kauert auf einem Schemel. Sie breitet die nassen Sachen aus, seift sie ein und schrubbt den Stoff auf dem hölzernen Waschbrett. Spült. Schrubbt. Spült. Wringt das Wasser heraus.

Danach hängt sie die Wäsche auf – an einer Leine, die zwischen der Linde und der Steinmauer gespannt ist. Sie macht es mit Sorgfalt, lässt eine Handbreit zwischen den einzelnen Kleidungsstücken frei. Dann hebt Jeanne die Leine mit einem gegabelten Ast an, so dass der Wind die Kleider erfasst und über der flachgetretenen Erde, ihrem eigenen Schatten, dem Schemel und dem Metallzuber flattern lässt.

Sie hält inne. Blickt über die Felder.

Der Wind fährt in den Saum ihrer Schürze und ihres Rocks.

Kurz würde Jeanne gern die Augen schließen – um den Wind zu spüren, mit geöffnetem Mund, als wolle sie ihn trinken. Der Mistral schmeckt kühl, wie sie weiß. Doch dies ist nicht der Mistral. Es ist ein warmer südlicher Wind – und Jeanne geht wieder zum Zuber, packt ihn an beiden Griffen, hebt ihn hoch und stützt ihn auf ihrer Hüfte ab, und so eilt sie schwankend zur Westseite ihres Hauses und der Grenzmauer, wo außer Löwenzahn und Moos kaum etwas wächst. Sie spannt kurz den Körper an; dann plötzlich ein schepperndes Geräusch, der Zuber kippt zur Seite, das graue Wasser verteilt sich auf dem Boden und läuft an der Mauer entlang. Jeanne steht da und sieht zu. Als sie jung war, malte sie sich bei jedem umgestürzten Eimer den Weg aus, den das Wasser nehmen würde, sein zweites Leben. Wo war es jetzt? Was mochte es tun? Jeanne sann darüber nach – über die Wurzeln, die dunkle und dunkel duftende Welt unter ihren Füßen, wo Würmer und fleißige samtige Maulwürfe vielleicht die Woge spürten und ihr Graben unterbrachen, von Tunneln, die dieses Wasser in Bäche leiteten oder sogar bis in die Rhône oder sonst wohin. Ins Meer? Würde es auf ferne Länder stoßen? Auf Prinzen und Königreiche? Oder würde er – Jeannes geleerter Eimer – neue Bäume und Blumen sprießen lassen? Rosen um meinetwillen.

Daran denkt sie jetzt, während das Wasser versickert. Rosen, die, in ihr Haar gesteckt, eine nach Rosen duftende Spur hinterlassen würden. Sie wachsen im Juni und Juli an der Grenzmauer. Sie hat die Blüten mit den Händen umschlossen und eingeatmet.

Der Zuber ist leer, und Jeanne lehnt ihn zum Trocknen an die Mauer. Geht zurück in den Hof und ins Haus.

In dieser Gegend achtet man auf den Mistral. Meist ist er ein Herbstwind – doch im vergangenen Jahr kam er früh, blies schon, als die Kastanien noch reiften. Er zersplitterte Glas. Er schlug jede unverschlossene Tür hin und her, so dass die Stadt in ihren Angeln krachte und das Vieh an Südmauern Schutz suchte. Mistrau im hiesigen Dialekt. Wind des Wechsels, des leichten Schlafs. Im November waren die Hügel mit Schnee überzuckert, und auf den Feldern lag Schneematsch. Nachmittags konnte Jeanne das bläuliche Schimmern des Mont Gaussier sehen, wenn sie, den Schal ans Kinn gepresst, durch den Olivenhain zurückging.

»Der Frühling wird kommen«, versicherte Charles ihr. Im März schossen neben dem Tor grüne Triebe aus der Erde; April war der Monat tropfnasser Wege und schwächerer, jüngerer Blöklaute in der umherstreifenden Ziegenherde. Erst jetzt, im Mai, hat die Sonne genügend Wärme, so dass Jeanne Kleider trocknen und ohne ihr wollenes Tuch umherlaufen kann, also geht sie von Zimmer zu Zimmer, öffnet die Fenster, die so lange geschlossen waren, und stößt sie weit auf, damit diese neue, warme Luft den Weg in die Ecken und Winkel ihres Hauses findet.

Jeder Fenstergriff knarzt von ihrem Gewicht, wie ein Siegel.

Jeder Ausblick ist ihr vertraut. Vom Wohnzimmer kann Jeanne den Weg und dahinter die Olivenbäume sehen. Auch die Küche ist zum Weg ausgerichtet – doch das kleinere zweite Fenster geht auf den Hof mit seinen trocknenden Kleidern, der Linde, dem Waschhaus und einer Henne. Sie öffnet dieses Fenster; die Henne blickt auf.

Sie steigt die Treppe zum Schlafzimmer hoch – der gemeinsame Raum mit den beiden Einzelbetten liegt über dem Wohnzimmer. Jetzt ist sie weiter oben; sie kann mehr sehen. Mehr Olivenbäume in ihren Reihen. Da ist der Dachvorsprung von Peyrons Haus neben den Mauern der Nervenheilanstalt. Wenn Jeanne sich aus diesem Fenster lehnt und nach rechts schaut, kann sie den Mont Gaussier, die Deux Trous und die fünf schwankenden Zypressen sehen, und das tat sie gern, als sie jung verheiratet war – lehnte sich hinaus, die Hände auf der Fensterbank, und lächelte, spürte die Sonne auf ihrem Gesicht. Ihr bester Ausblick nach Süden. Unter ihr die Straße nach Saint-Rémy. Manchmal blickt sie von oben auf Köpfe. Auf die staubigen Rücken von Maultieren.

Ein zweites Schlafzimmer. Von hier sieht man in die Linde – grüne, gesprenkelte Mauern.

Und dann ist da ein letztes Zimmer. War es ein Schrank gewesen, bevor sie hier lebten? Oder überhaupt ein Raum? Es ist der höchste Teil des Hauses, über drei weitere Stufen zu erreichen, was bedeutet, dass es ihr hier sicher erscheint – ein kleines, abgelegenes Land. Früher war es das Kinderzimmer. Hier wiegte und stillte sie jeden der Jungen und sang ihm vor – was diesen Raum für sie eine Zeitlang zum besten Platz der Welt machte. Wie sie mit all ihren fünf Fingern nach Jeannes Finger griffen und ihr mit ihren weichen, saugenden Lauten und den runden, blanken Augen wie Fische vorkamen – für sie wirkten sie außerirdisch, wie gemacht für einen anderen Ort. Jeanne kommt jetzt nur noch selten hierher. Doch wenn sie es tut, spürt sie, wie ihr das Herz für die Jungen schwillt; jetzt schwillt es, als sie mit fünf Schritten über den Fußboden zum Fenster geht und die Läden aufklappt, so dass der Raum sich mit Licht füllt.

Sieh nur. Ihr Gemüsegarten, von dem sie mit aufgehängten Löffeln die Krähen fernzuhalten versucht. Der Graben, aus dem die Maultiere trinken. Dieselbe weiße Henne.

Und da …

Jeanne lässt die Hand von den Augen sinken. Die Nervenheilanstalt. Saint-Paul-de-Mausole. Aus diesem Zimmer sieht sie das Gebäude sehr deutlich; es ist ein wettergegerbtes Schiff in einem Meer aus Oliven und Gras. Sein Dach ist von der Sonne gebleicht. Die blassblauen Läden vor jedem Fenster werden, wie sie weiß, mit rostigen Haken verschlossen, die die Haut aufschürfen, und sie werden jeden Abend geschlossen, im Sommer auch wegen des Schattens – doch heute stehen sie offen. Reihenweise aufgeklappt. Jedes Fenster, denkt sie, ist ein Auge. Oder jedes ist wie eine winzige Höhle, in die ihre Jungen den Finger hätten stecken können, um herauszufinden, was sich in ihrer Dunkelheit verbarg. Die blassblaue Farbe ist alt. Sie blättert ab, segelt in Fetzen hinunter in den Garten, weswegen manche Patienten glaubten, es seien Schmetterlinge oder Schmetterlingsflügel oder Schneeflocken. Sie in zitternden Händen bargen.

Dieser alte, vertraute Ort. Ein Garten voller Efeu. Seine Grenzmauern und Korridore, seine Kreuzgänge und Pinien. Der moosüberwucherte Brunnen.

Und er. Ein Patient sitzt auf einer Bank.

Er ist weit weg und halb im Schatten, aber Jeanne weiß, wer er ist. Mit seinen Händen.

Der Mistral kann ihren Zustand verschlechtern. Ihr Leben lang hat sie das gehört – dass dieser wilde Herbstwind Kummer oder Wut hervorrufen kann oder jene Ängste, die seit der Kindheit weggesperrt sind. Dass er das Animalische in einem Menschen weckt, der stets friedlich zu sein schien. Da gibt es unzählige Geschichten. In der Anstalt das Zerreißen von Fesseln; wie ein Mann sich so lange auf die Brust schlug, bis er sich verletzte. Aber Jeanne kann auch eigene Geschichten hinzufügen – wie Laure sich manchmal auf die Zehen stellte und die Luft schnupperte, wenn der Mistral blies. Oder wie einmal, als sie, Jeanne, die Kinderzimmerfenster öffnete, ein Vogel hereinflog. Schwarz und gleichzeitig leuchtend. Ein scharfes, knallendes Geräusch. Der Vogel prallte gegen die Wand und gegen ihre Arme, es entstand ein Luftzug, als er in seiner Panik mit den Flügeln schlug und Federn verlor; später bemerkte Jeanne nicht das Blut an ihren Armen. Sie dachte nur an Benoît – mein Kind. Doch er war unverletzt und ahnungslos. Schlief in seinem kühlen, mit schwarzen Federn besprenkelten Bett.

Ihre Jungen ebenfalls. In der Zeit des Mistrals schienen sie streitsüchtiger zu sein, neigten eher zu Verletzungen oder zu seltsamen, lebhaften Träumen. Und jede ihrer Schwangerschaften hatte mit diesem Wind begonnen – als habe er ein tieferes schlafendes Verlangen in Charles geweckt.

*

Am Nachmittag stellt sie die Stühle auf den Tisch und fegt. Backt Brot. Sie schrubbt den Küchenboden.

Um vier sind seine Schuhe geputzt. Seine Bücher warten, ordentlich aufgereiht.

Jeanne schlägt Eier in eine Schüssel, als Charles heimkehrt. Sie hört ihn, bevor sie ihn sieht. Mit einer halben Eierschale in jeder Hand blickt sie auf und sieht, wie er zwischen der trocknenden Wäsche hindurch und an den Hennen vorbeigeht, und sie sieht auch, wie er die Stirn runzelt, was bedeutet, dass er mit den Gedanken woanders ist.

»Sind sie froh darüber?«

»Worüber?«

»Die Sonne, endlich. Frühling.«

Er setzt sich, atmet aus. »Natürlich.«

»Sind sie ruhiger?«

»Die meisten.«

Um diese Zeit trinkt Charles seinen Kaffee – gesüßt und in der immer selben braunen Tasse, die für seine starken, geäderten Hände zu klein scheint. Sie reicht sie ihm. »Also war es ein ruhiger Tag für dich?«

Er nimmt die Tasse. »Etwas ruhiger. Aber …«

Sie weiß es. Es ist trotzdem zu viel Arbeit für ihn. All diese Jahre in Saint-Paul-de-Mausole, und er wird alt. Manchmal geht er gebückt. Unter seinen Augen Haut. »Ich habe Rouisson gesehen«, sagt sie.

»Ach ja? Wann?«

»Heute. Aus dem Kinderzimmerfenster. Er war im Garten, saß auf einer Bank.«

»Allein?«

»Ja.«

»Und ruhig?«

»Ja. Es wirkte so. Er saß vollkommen still da.«

Ein Nicken. »Inzwischen geht es ihm viel besser. Aber ich fürchte, er wird für immer hierbleiben müssen. Nun, du weißt ja …«

Rouisson. Jeanne kennt nicht alle mit Namen – es gibt mehr als zwanzig Patienten –, aber sie kennt Émile Rouisson. Er kam vor zwölf Jahren – ein kleiner, kräftiger Mann aus dem Languedoc, der zitterte, als friere er, und von Engeln sprach. Er hatte Tochter und Frau durch eine Krankheit verloren – so plötzlich verloren, dass er Angst bekam, er werde noch mehr verlieren, und nach Sachen zu suchen begann, von denen er glaubte, er habe sie verloren – eine Taschenuhr oder eine Münze. Jeanne war ihm an seinem fünften Tag in Saint-Paul begegnet. Auf ihrem Weg zur Kapelle blieb sie stehen; dieser neue, eigentümliche Patient, der an der Grenzmauer kniete und das Gebüsch durchsuchte. Er bemerkte sie, rief laut: »Madame! Können Sie mir helfen?« Er habe einen silbernen Schlüssel verloren. Hatte sie ihn gesehen? Wusste sie, wo er war? Jeanne schüttelte den Kopf, ging aber trotzdem in die Hocke; sie schob die Blätter auseinander und suchte zwischen Erde und dunklem Grün nach Silber. Dann griff Rouisson nach ihr. Er packte sie am Handgelenk und zischte: »Sie haben ihn genommen! Das weiß ich! Geben Sie ihn mir zurück!«

Jeanne weiß inzwischen, dass die meisten die Anstalt nie mehr verlassen werden. Sie sind wie Efeu, das seinen Weg zu den bröselnden Steinen findet, die Spalten sucht und sich festsetzt. Selbst wenn sie physisch fortgehen, bleibt etwas zurück – ein Echo, ihre Namen, ins Mauerwerk geritzt. Aber nein, die meisten bleiben. Manche sind so durcheinander, dass die Welt sie nicht mehr haben will oder sie nicht mehr die Welt, also gewöhnen sie sich an den geregelten Alltag in Saint-Paul – an ihre Bäder, ihre Nahrung, ihre tägliche Dosis Brom, an einfaches Essen und frühe Nächte und die besänftigenden Worte der Nonnen. Vielleicht werden sie nicht gesund, aber sie werden auch nicht kränker. Und es kümmert sie nicht, dass die Anstalt sehr viel ärmer ist, als sie es einmal war. Was ihre Familien angeht, die lassen ihre unglückseligen Kranken in Saint-Paul, weil es so am einfachsten ist – ein Wechsel könnte sie wieder zurückwerfen, und andere Nervenheilanstalten wären sehr viel teurer. Und so werden Gestalt und Stimme dieser Patienten Jeanne mit der Zeit so vertraut wie die Umrisse von Bäumen. Da ist Patrice, der singt. Die Frau, deren Narben auf den Armen aus ihrer Jugend stammen. Yves, dessen Zunge heraushängt, als wäre sein Mund zu voll, um sie aufzunehmen – zu voll von ungesagten Worten oder Spucke. Michel, wie ein Bär – so stark und groß, dass sie anfangs fürchteten, keine Riemen würden ihn halten, sollte er anfangen zu toben. Doch er hat nie Anstalten dazu gemacht. Jeanne hat nur sanfte Geschichten über Michel gehört – wie er in der Bücherei liest oder sich Brot aus dem Esszimmer holt und damit die Spatzen füttert, die an der Südmauer im Staub baden. Dominique, der eine Kinderpuppe gehört. Einmal gab es ein Mädchen, sie behauptete, sie habe das Herz einer Eule gegessen, weshalb sie im Dunkeln sehen und Mäuse hören könne – Eines Tages werde ich fliegen … –, und Charles musste ihr erklären, nein, fliegen könne sie nicht, und sie fixieren. Was Rouisson angeht, so verliert er jetzt keine Dinge mehr. Er ist zu müde dafür. Brom und das Alter scheinen ihm Frieden geschenkt zu haben, selbst bei herbstlichem Wetter. Manchmal schläft er auf dem Fußboden der Korridore, und sie müssen ihn wie ein Kind wecken und zurück ins Zimmer bringen. Hier entlang …

Rouisson wird nicht fortgehen. Und Jeanne wird nicht die Farben vergessen, die sich nach der Prellung später auf ihrem Handgelenk bildeten – tintenblau, aprikosenfarben, golden. Es beunruhigte Charles. Er drehte ihr Handgelenk, prüfte es gründlich und verbot ihr daraufhin die Anstalt. Seitdem darf Jeanne das Gelände nur sonntagmorgens betreten, um in der Anstaltskapelle zu beten, wo es nach Dunkelheit riecht.

Charles blickt plötzlich auf. »Die Fenster. Warum sind sie geöffnet?«

»Sie waren den ganzen Winter geschlossen. Ich dachte –«

»Nein, Jeanne.«

Eine nach der anderen tauchten Regeln auf. Das Verbot des Anstaltsgeländes ist nur eine der Maßnahmen dieses strukturierten, militärischen Mannes. Sein einstiges Armeeleben hatte Struktur bedeutet; sein medizinisches Handeln bedeutet, dass er Infektionen, Fieber, gebrochene Knochen fürchtet. Und so ordnete Charles an, dass ihre Söhne bei Regen ins Haus zu kommen hatten, verbot ihnen, mit Breguets Bullen über das Feld zu laufen. Und als das Gerücht auftauchte, die Cavaillon-Melonen würden ein plötzliches Lösen der Gedärme verursachen, ließ er Jeanne nicht mehr in die Nähe der Verkaufsstände und erklärte ihr, sie dürfe die sonnenhelle Schale der Früchte nicht berühren, sie könne sonst erkranken oder die Krankheit ins Haus tragen. Misstrauisch, wie sie weiß, gegenüber allem: Herumtreibern, Feuer, fließendem Wasser. Fleisch muss gekocht werden, bis es dunkel ist. Und ebenso müssen für Charles auch Fenster geschlossen bleiben – alle, selbst wenn es der erste warme Tag seit einem halben Jahr ist und der Winter lang war, zu lang.

»Schließ sie, bitte.«

»Ja.« Immerhin hat er sehr viel mehr von der Welt gesehen. Er leitet die Nervenheilanstalt ganz allein, zumindest sieht es so aus. Er ist erschöpfter als jeder Patient, sieht älter aus, als er ist – in einem kurzen Impuls möchte sie seine Wange berühren, sie mit der Hand umschließen, wie sie es mit einer Rose machen würde. Ihn einatmen.

Sie schließt die Fenster, eines nach dem anderen.

*

Ihre Mahlzeit besteht aus einem Schinken-Omelett und Brot. Seinem Glas Rotwein. Ihr Haus hat noch kein Gaslicht, deshalb steht jeweils eine Öllampe an beiden Enden des Tischs – seine Lampe und ihre. Bei seinem Licht liest er. Bei ihrem beobachtet sie – wie er sein Essen schneidet, es zum Mund führt, dann die Gabel ablegt und sich Le Figaro oder L’homme de bronze zuwendet.

Sie senkt den Blick. Diese Teller haben ein Blumenmuster – Blüten ohne Namen, die Jeanne noch nie am Wegrand oder in Gärten oder überhaupt irgendwo außer auf diesen Tellern und Schalen gesehen hat. Vielleicht sind es erfundene Blumen. Dennoch hat Jeanne das Gefühl, sie könnte sie pflücken. Sie hat diese Teller angeschaut und Bienensummen gehört oder sich die sonnenwarme Unterseite jeder Blüte vorgestellt, und bei Kerzenlicht scheinen sie zu glühen, was blassere Blumen können. So alt wie ihr eheliches Leben – denn diese Teller waren ein Hochzeitsgeschenk gewesen. Ein zweiter, unsterblicher Blumenstrauß.

»Salles kommt nach Saint-Paul«, sagt er. »Wir müssen ein Gedeck für ihn auflegen.«

Jeanne hält inne, blickt auf. »Wirklich? Wann?«

»Morgen.«

»Um zu essen? Hier?«

»Ja. Wäre das schwierig?«

Das sind ihre Gedanken: dass sie gerade eben den Rest des Schinkens gegessen haben, die letzten Eier. Und was gibt es noch in ihrem Gemüsegarten? Nicht viel, nicht genug. Aber da ist die Henne, die zu alt ist, um zu legen, und das Eingemachte in Gläsern, aus dem letzten Jahr. Der Markt, wenn sie ihn braucht. »Nein, nicht schwierig. Warum kommt er?«

»Er bringt jemanden.«

»Einen Patienten?«

»Ja.«

»Einen neuen? Tatsächlich?«

»Ja, ziemlich neu.«

Jeanne wendet sich wieder dem Teller zu. In Wahrheit ist es lange her, dass ein neuer Patient nach Saint-Paul kam – mindestens vier Jahre –, und mit Neuzugängen ist es nicht einfach. Patienten kommen nicht immer auf eigenen Wunsch. Und selbst wenn, werden sie häufig von Gefühlen übermannt, wenn sie über die Schwelle der Anstalt treten – ein Gefühl von Versagen oder Kummer oder Nicht-glauben-Wollen, dass sie hier gelandet sind. Manche sind müde wie Kinder; andere haben kein Vertrauen in die Welt, halten Ausschau nach der Lüge und verfluchen die Nonnen. Zwar können sie von überall her geschickt werden – Marseille oder Avignon –, doch die meisten kommen stets vom Krankenhaus in Arles, wo man die sichtbaren Wunden behandeln kann, Geburten und offene Geschwüre, aber sehr viel weniger für die Verletzungen der Seele anzubieten hat. Zu wenige Ärzte in Arles. Sie können sich nicht um die Verstörten oder die Geisteskranken kümmern. Also erwähnt man den Namen der Stadt Saint-Rémy-de-Provence, fünfundzwanzig Kilometer nördlich von Arles – erwähnt die Anstalt, die früher ein Kloster war. Ein Ort mit Kreuzgängen. Kräutern.

»Er ist Ausländer«, sagt Charles. »Holländer, glaube ich.«

»Ach?« Jeanne blickt auf, als sie das hört.

»Ein seltsamer Mann. Wild. Hat sich selbst verletzt, wie ich höre – sogar heftig.«

Es wird eine Verletzung der Handgelenke sein, da ist sich Jeanne sicher. An dieser zarten Haut unterhalb des Daumens, an dem Netzwerk der Adern. Bei den Frauen ist es meist so, dass sie die Oberarme oder die Schenkel wählen; vor langer Zeit gab es eine sehr viel heimlichere Verletzung, die die Patientin zurück nach Arles brachte, und zwar mit einer Infektion ihres Bluts, die sie schließlich tötete. Doch meistens sind es die Handgelenke. »Wird er bei uns übernachten?«

»Salles? Nicht nötig. Ein freies Zimmer im Krankenhaus reicht für ihn völlig aus. Die Nonnen wissen Bescheid. Aber wir werden ihn verköstigen.«

»Ja.« Sie nickt. Salles, mit seiner langsamen Art zu sprechen. Seinem Lächeln.

Jetzt gähnt Charles. Er presst seinen Handballen gegen die Stirn und schließt für einen Moment die Augen, kehrt dann zurück zum Figaro.

In der Küche denkt Jeanne: Er kommt aus den Niederlanden. Holländer bedeutet, er kommt von dort. Ihr Vater hatte einen sehr alten, verblichenen Globus besessen, in der Farbe von Pergament oder vergilbten Knochen. Vor dem Kamin drehte er ihn gern und sagte: Was möchtest du sehen, mon chou? Ganz egal. Alles. Länder, aus denen Ebenholz kam oder wo es Vulkane gab oder große weiße Bären und wo Kamele durch Wüsten zogen, mit Gewürzen und Ballen aus Seide auf dem Rücken. Holland sei ein sehr, sehr flacher Ort, versicherte er ihr – Land, das aus dem Meer gewonnen worden war und vom Meer zurückverlangt wurde. Mit Deichen und Mauern gegen das Wasser. Einem verwehten Himmel.

Papa. Zweimal mit dem Fingernagel getippt. Wenn er ein Land gefunden hatte, tippte er stets zweimal darauf und sage: Siehst du es? Genau da.

Es muss bessere Heilanstalten geben als Saint-Paul-de-Mausole. Es muss Irrenanstalten (Charles mag dieses Wort allerdings nicht) geben, in denen der Direktor wohlauf ist und die Farbe nicht abblättert und das Essen aus mehr als grünen Bohnen besteht. Wo zumindest der Brunnen funktioniert. Und doch bringt Salles diesen neuen Patienten hierher? Jeanne bindet ihre Schürzenbänder zu, blickt hinaus in das schwindende Licht und kann nur vermuten, dass Salles glaubt, die leeren Zimmer und der zugewucherte Garten in Saint-Paul würden diesem Holländer irgendwie zusagen.

Sie spült die Teller, trocknet sie ab. Sie lässt sich Zeit beim Abtrocknen, betastet den Stiel einer dunkelrosafarbenen Knospe. In der Rue de l’Agneau gab es Jasmin; sie flocht immer Kränze daraus und ging nach Hause wie eine Königin. Oder sie presste sich mit ausgebreiteten Armen in den weichen, weißen Vorhang, umarmte den Busch – das würde sie immer noch tun, wenn es hier Jasmin gäbe.

Holländer. Sie wäscht und trocknet ab.

Als sie aufblickt, hat sich die Dämmerung zur Nacht verdichtet.

2

Pastor Salles. Hochgewachsen, mit breiten, kräftigen Händen, die ohne Schwierigkeiten eine Heckenschere oder einen Pflug hätten halten können, hätte er sich für ein Bauernleben entschieden. Er entschied sich, eine andere Ernte einzubringen, entschied, in den Korridoren des Krankenhauses von Arles zu predigen, seine Erbauungsreden den Fiebernden und Sterbenden zuzuflüstern. Das macht er nun schon so lange, dass Jeanne die Jahre gar nicht mehr zählen kann. Sie weiß, dass er sich mit dieser Art zu leben den Blick eines Arztes erworben hat. Er kann aus Jesaja und den Sprüchen Salomos zitieren, aber Pastor Salles kann auch einen rasselnden Husten hören und benennen, eine Wunde stillen. In den Wochen nach Jean-Charles’ Geburt war er ohne Vorankündigung nach Saint-Rémy gekommen, in der Hand ein gefaltetes Tuch. Darin Grünzeug. »Gegen die Schmerzen. Ihre Milch. Ich denke, es gibt Blutungen. Legen Sie sich diese Blätter auf.«

Kohlblätter, gerippt und dunkel. Anfangs hatte Jeanne sich geschämt. Sie war errötet, hatte die Blätter hastig für ein, zwei Tage im Kühlraum unter dem Küchenboden verstaut, halb vergessen und Charles nichts gesagt. Aber ihre Brüste blieben einfach hart und geschwollen. Sie stießen wie verkrustete Glocken aneinander, und ihr Baby weinte hungrig – also hockte sie sich eines Nachts auf dem Küchenboden hin, langte nach unten, entrollte jedes Blatt. Sie waren inzwischen weicher, weniger grün. Und als sie sie an sich drückte, musste sie doch noch seufzen, weil sie sich so kühl anfühlten. Ja, sie hatte geblutet. Ihre Milch war leicht rosa gewesen, bis da diese aufgefächerten neuen Hände waren.

Wie hatte er das wissen können? Pastor Salles, der keine Ehefrau hatte.

Sie schmort das Huhn mit Zwiebeln, und das Brot muss nur noch geschnitten werden.

Als er in ihrem weißen Haus erscheint, bringt er mehr als sich selbst mit. Er bringt Wein – doch als er Jeannes Wange küsst, riecht sie auch den Moschus von Kirchen, Pfeifenrauch und feuchte Wolle. Andere Orte. Zimmer.

»Jeanne. Wie lang ist es her? Danke für die Einladung.«

»Bonsoir. Hatten Sie eine gute Reise?«

»Ja. Es ist eine Weile her, dass ich Arles einmal verlassen habe – im Winter war es natürlich zu mühsam. Sind Sie hier zurechtgekommen? Es heißt, der Kanal sei zugefroren.«

»Ja, eine Zeitlang.« Sie lächelt, nimmt dem Pastor den Mantel ab.

Während dieser Mahlzeit gibt es kein Schweigen und keinen Figaro. Es gibt auch kein Stirnrunzeln, denn Charles zeigt das veränderte freundliche Gesicht, das in guter Gesellschaft entsteht, bei Nachrichten aus den Städten, die er kannte, bevor dieses Anstaltsleiterleben ihn ausgelaugt hat – Nizza, Toulouse, der alte Hafen von Marseille. Die beiden kennen einander seit ihrer Jugend: Sie reden über Arles oder die Dritte Republik, über Paris und seine Weltausstellung.

Charles sagt: »Sie ist ein Schandfleck, Frédéric – nach dem, was ich höre. Auch die Zeitung schreibt das. Das Trumm ist aus Eisen errichtet und so hoch, dass man es von überall her sehen kann; die einzige Möglichkeit, es nicht zu sehen, ist, hinaufzusteigen! Wer will denn so etwas haben?«

Salles lächelt. »Der Anblick wird vielleicht nicht jedem gefallen, doch wenigen Dingen gelingt das. Einige mögen das Bauwerk anscheinend, wie ich höre. So oder so, es ist etwas Besonderes.«

»Sehr taktvoll, Salles. Ich hätte nichts anderes erwartet.« Charles hebt das Glas.

Sie trinken. Während Jeanne einen kleinen Schluck nimmt, malt sie sich die Weinberge aus, von denen der Wein stammt – die Monate in Sonne und Regen, die stillen Nächte und die Finger, die die Trauben von den Reben pflückten. Sie behält den Wein im Mund, kostet ihn. Für sie ist Wein eine Kostbarkeit, die sie nur mit Besuchern trinkt – und sie krümmt die Zehen bei dem Geschmack. Sie denkt immer noch an die Weinberge, als Salles auf seinem Stuhl herumrutscht und sich vorbeugt. »Sagen Sie mir, Jeanne, wie geht es Ihren Jungen?«

Sie schluckt. »Jean-Charles ist jetzt neunundzwanzig.«

»Neunundzwanzig?«

»Ich weiß.«

»Wo ist nur die Zeit geblieben, Madame?«

Es fühlt sich an, als wäre es erst gestern gewesen, dass ihr ältester Junge sich an den Möbeln hochgezogen und versucht hat, auf seinen pummeligen Beinchen zu stehen, so weiß und voller Falten, wie Teig.

»Er ist immer noch in Paris«, sagt Charles. »Immer noch Buchbinder. Und inzwischen auch Vater – habe ich dir das erzählt? Es geht ihm sehr gut. Er schreibt uns von diesem Turm, dass sie beobachten, wie er wächst und wächst, dass sie ihn von ihrem Wohnzimmer aus sehen können. Er berichtet mir, ihr Junge sehe aus wie ich – mit der Trabuc-Nase, sagt er – aber wir haben ihn noch nicht gesehen. Zu viel zu tun hier …« Charles hält inne. »Laurent ist ebenfalls in Paris. Immer noch nicht verheiratet, doch er scheint durchaus zufrieden zu sein. Wann kam sein letzter Brief, Jeanne?«

»Im März.«

»März.«

»Ist er ebenfalls Buchbinder?«

»Nein, Büroangestellter«, erwidert Charles.

»Ah! Bien. Sie müssen stolz sein, Sie alle beide. Und was ist mit Ihrem Jüngsten? Ich erinnere mich an sein Haar …«

Natürlich. Dieses Haar. Ein blondes Rot oder ein rötliches Blond. Sobald er geboren war, trug es die Sonne in sich. Diese unerwartete Farbe bei zwei dunkelhaarigen Eltern. Jeanne holte tief Luft, als sie ihr neues Baby sah; sie hielt sich am Bett fest, als hätte sie ein Kind aus Feuer gemacht, als seien Ehrfurcht und Schmerz, die sie empfand, ein und dasselbe. Benoît, weil er ein Segen war. Heller als Flammen. Jeanne lächelt. »Ja, sehr stolz. Und er hat noch immer dieses Haar.«

»Ebenfalls in Paris?«

»Nein, nein.« Charles streicht mit der Zunge über seine Zähne. »Er ist weiter weg.«

O ja, das ist er. In einem völlig anderen Teil dieses alten Globus. Länder und Meere, die in genau diesem Moment zwischen ihrem und Benoîts Herzen liegen, sind für Jeanne nicht zu ermessen; zu weit entfernt, als dass sie sich überhaupt begreifen ließen, ähnlich wie Sterne.

Mein Benoît. Meine Jungen – obwohl sie nun seit Jahren schon eigenständige Männer sind. Vielleicht gehörten sie ja nie ihr; vielleicht waren sie als vollkommen eigenständige Personen auf diese Welt gekommen, mit ihrem je eigenen, fertig geformten Charakter – Jeanne konnte sich das vorstellen. Von Geburt an schrien sie unterschiedlich, hatten ihre je eigenen Vorlieben. Sie schliefen auf je eigene Weise. Aber trotzdem ist sie ihre Mutter. Sie ist es, die sie geboren und aufgezogen, sie gefüttert und behütet hat, und deshalb ist sie irgendwie in ihnen. Als Salles eben nach ihnen fragte, zog sich ihr Herz zusammen; ihr Herz schien hochzusteigen, nach vorn zu drängen, als sei es gerufen worden oder verlange nach ihnen. Jeanne kennt die Geschichten von den alten provenzalischen Jägern. Sie weiß, dass sie das Tier, das sie zu erlegen hofften, gemeinsam laut bei seinem Namen riefen, als würde es dann erscheinen. Und manchmal macht sie dasselbe: Jean-Charles, Laurent, Benoît, sagt sie – während sie stopft oder Holz hackt oder die Borsten des Schinkens abbrüht oder am Ende des Tages die Wäsche hereinholt. Nicht, damit sie zu ihr zurückkommen. Vielmehr glaubt Jeanne, sie tue es, weil sie hofft, so wüssten sie, dass sie an sie denkt – dass, wenn einer ihrer Jungen Kraft oder Trost brauchen sollte, er sie irgendwie hören würde. Wo immer er sein mochte.

»In Amerika«, sagt Jeanne zu Salles. »Benoît ist nach Amerika gegangen. Vergangenen Sommer, mit einem Schiff.«

»Amerika? Das wusste ich nicht. Ich wusste, dass er woanders war, aber …«

Charles nickt. »Er liebt die alte Geschichte. Schon immer. Selbst als Junge hat er schon gegraben und geforscht und uns nach den Römern ausgefragt, und … du erinnerst dich doch noch? Jetzt glaubt er, es liege eine Zukunft in der Vergangenheit – Geld und Sinn in den Ruinen. In untergegangenen Stämmen. Städten. Ich verstehe es nicht, Salles, und ich tue auch nicht so, als versuchte ich es. Unsere letzten Worte vor seinem Aufbruch waren …«

»Du hast dir Sorgen gemacht«, flüstert Jeanne. »Er hat es verstanden.«

Ihr Mann blickt auf sein Glas. Er tut es, ohne zu blinzeln, sagt: »Mexiko. Sein letzter Brief kam vor Weihnachten, wurde in Mexiko geschrieben – aber wer weiß, wo er jetzt ist? Und mit wem? Wir haben keine Adresse von ihm. Er muss nach Hause kommen.«

»Nach Saint-Rémy?«

Jeanne wendet den Blick ab. Sie sieht zur Wand, auf ihre Schatten, und stellt sich den Schatten ihres Jüngsten vor – nicht hier, sondern auf anderen Wänden. Von Tempeln oder Tavernen. Wie er in einer Höhle eine Laterne hochhält.

Salles hebt die Augenbrauen. »Und was soll Benoît in Saint-Rémy machen?«

Charles zuckt mit den Schultern. »Ich bin ein alter Mann, Frédéric. Nächstes Jahr werde ich sechzig. Es gibt so viel zu tun, und ich werde zu langsam, werde allmählich zu alt. Wir brauchen einen neuen Leiter … Poulet ist gut, aber –«

»Ach so. Als Nachfolger.«

»Darauf hoffe ich.«

Jeannes Stimme ist leiser. »Benoît ist unser Forscher. Der Entdecker. Er war immer der Wissbegierige.«

»Sie glauben nicht, dass er zurückkommt, Jeanne?«

Sie lächelt als Antwort. Aber sie möchte nein sagen. Nicht für lange.

Es herrscht Schweigen. Eine Lampe zischt, Salles’ Daumen reibt an seinem Glas, und Jeanne kann die Stille ihres Mannes am anderen Ende des Tisches spüren. Manchmal verhärtet er sich. Er kann starr werden, undurchdringlich, kann sich verschließen wie eine Tür. Charles hat nie über den Abend vor Benoîts Aufbruch gesprochen. Als er ihrem Jüngsten einen Befehl erteilte. Du wirst nicht gehen, sagte.

»Und wie viele leerstehende Zimmer gibt es, Charles? Darf ich das fragen? Ich habe gehört …«

Er verlagert sein Gewicht. »Zimmer? Ach so, ja. Es gibt Gerüchte, ich weiß. Die Hälfte. Die Hälfte steht im Augenblick leer. Mindestens dreißig, in der Männerstation. Der Ostflügel ist praktisch geschlossen. Im vergangenen Jahr haben Wespen in der Bibliothek ihr Nest gebaut, und Risse überziehen die ganze Wand. Du wirst gesehen haben, dass Unkraut die Wege fast vollständig erobert hat. Und was die Winterunwetter angeht … Nun, wir hatten Eimer in den Fluren stehen. Und die Nonnen arbeiten unermüdlich, aber sie sind zu wenige, und sie werden alt, genau wie ich. Es muss etwas geschehen, Frédéric. Die Patienten kommen nicht mehr wie früher.«

Der Pastor nickt. Dann neigt er den Kopf. »Und wie geht es Peyron?«

Nach einer Pause: »Besser als früher. Aber es gibt immer noch Tage, an denen er nicht arbeiten kann, und wenn er es doch versucht, zu vergesslich oder deprimiert ist, so dass ich ihn um der Patienten willen nach Hause schicken muss. Auch um seinetwillen. Es ist natürlich der Kummer. Aber vielleicht ist es auch mehr als das. Ich weiß es nicht.« Er schüttelt den Kopf. »Er spricht nie von ihr.«

»Überhaupt nicht?«

»Überhaupt nicht.«

»Mon Dieu. Charles, kannst du nicht mehr Personal einstellen? Dir Hilfe suchen?«

»Wir können uns kein weiteres Personal leisten. Was bleibt mir da anderes übrig, als härter zu arbeiten? Um meinetwillen und um Peyrons willen.«

Salles lächelt traurig. »Also, Benoît …«

»Ja. Jung. Intelligent. Er kennt das Haus. Ich könnte ihm alles beibringen. Patienten würden kommen und Geld und …«

Jeanne kann es sich unmöglich vorstellen: Benoît in der gestreiften Uniform. Benoît, der die Gewalttätigen fixiert, ihnen Pillen auf die Zunge drückt.

Der Pastor legt Messer und Gabel nebeneinander hin. »Ich versichere dir: Gott hat uns alle im Blick. Man muss seinem Plan vertrauen. Er weiß, was vor uns liegt. Und es wird für uns gesorgt werden – für Peyron, für deine Jungen und für uns selbst.«

Noch mehr Wein. Jeanne füllt ihre Gläser.

Charles setzt sich anders hin. »Also. Dieser Neuzugang. Er ist Holländer?«

Es ist, als hätten sie darauf gewartet – als habe diese Angelegenheit erst erwähnt werden können, nachdem sie gegessen und sich zurückgelehnt haben. »Ja.«

»Spricht nur Holländisch?«

»Nein, nein. Er spricht sehr gut Französisch. Mit leichtem Akzent. Hättet ihr etwas dagegen, wenn ich meine Pfeife anzünde?«

»Ganz und gar nicht.«

»Jeanne?«

»Bitte.«

»Du fragst Jeanne? Sie mag es. Riecht nach ihrer Kindheit, sagt sie.«

»Ist das wahr?« Salles lächelt.

Jeanne errötet. »Vielleicht.« Sie kennt diesen Geruch von früher – von Hauseingängen, von den Männern, die im Schatten Boule oder Karten spielten. Von Claudette hin und wieder. »Ich habe nicht das Geringste dagegen.«

Salles greift in seine Tasche. Er steckt das Ende des geschwungenen Holzstücks zwischen die Zähne, zündet ein Streichholz an. Schließt halb die Augen, zieht zwei, drei Mal, schüttelt das Streichholz aus und sagt: »Er ist seit drei Jahren in Frankreich. War zuerst in Paris. Kam letztes Jahr nach Arles. Wohnte an der Place Lamartine.«

»Place Lamartine?«

»Der Platz im Norden der Stadt, nahe beim Fluss. Er wohnte dort in dem gelben Haus. Vielleicht hast du die Geschichten gehört. Manche Dinge finden immer den Weg nach draußen, auch bei Schnee …«

Charles blickt zur Decke. »Sollte ich? Place …?«

»Lamartine.«

»Lamartine. Ich glaube, ich habe tatsächlich von einem Ausländer gehört, ja. Einem Künstler.«

»Das ist er. Wir haben ihn seit Weihnachten – immer wieder rein und raus.«

Jeanne schaut vor sich auf den Tisch. Das Kerzenwachs, die Krümel, die sie mit der Handkante wegwischen wird, sobald Salles gegangen und Charles oben sein wird. Früher mochte sie im Haus nicht von Verrücktheit sprechen, aber ihre Jungen lernten das Wort trotzdem. Sie konnte es nicht verhindern. Sie sahen es, in den Klostergängen. Hörten es nachts über die Felder. In der Dorfschule wurde damit herumgeworfen wie mit Steinen, so dass sie nach Hause kamen und Jeanne danach fragten. Was bedeutet verrückt? Sind wir verrückt, Maman?

Nein, wir sind nicht verrückt.

»Was wurde denn diagnostiziert?«

»Dr.Rey wusste es nicht. Wahn. Angst. Irgendeine Art von Epilepsie. Aber diese Anfälle sind ihrer Beschaffenheit nach eher physisch als mental, und in der Zwischenzeit kann sein Verstand viele Monate lang völlig klar sein. Er ist gebildet, dieser Mann. Er arbeitet sehr hart, wenn er dazu in der Lage ist.«

»Deine Fahrt hierher?«

»Ohne Zwischenfall. Sprach von Büchern und seiner Abneigung gegen Gott.« Ein Achselzucken von Salles. »Einer wie er ist mir noch nicht begegnet. Einzigartig, so würde ich ihn nennen.«

»Und wieso hierher?« Das fragt Jeanne. Sie blickt auf, versteht nicht. »Aber wieso nach Saint-Paul? Wo es doch nicht …« Sauber ist. Nicht voll belegt.

»Die Landschaft, Jeanne. Sie müssen wissen, er ist Maler. Er sagte, er brauche Landschaft. All diese Felder und die frische Luft.«

Sie denkt darüber nach. Die Tage und Nächte hier sind immer gleich. Die Abenddämmerung gestern war wie die an den Tagen davor. Und doch erinnert Jeanne sich noch, wie sie hierherkam und alles zum ersten Mal sah. Sie hatte es wunderschön genannt. Ein besseres Wort für das Land und das Grün war ihr nicht eingefallen – und trotz all der vergangenen Jahre hat es auch später noch Momente gegeben, in denen sie in ihrer Arbeit innehielt und die Aussicht betrachtete, als wäre ganz neu, was sie sah. Sie hat gesehen, wie die Sonne jeden Olivenbaum von der Seite anstrahlte. Hat nächtliche Himmel in Blau und Gold gesehen. Also ja, vielleicht ist es tatsächlich ein guter Ort zum Malen. Aber hat sie selbst auch von ihm gehört? Von diesem Künstler? Es hat immer schon Geschichten über Patienten gegeben; die Frauen von Saint-Rémy haben seit jeher eine Zunge wie Fingergetrommel. Aber Jeanne hört ihnen nicht mehr zu. Sie hatte nicht mehr der Geschichte eines jeden Patienten Beachtung schenken können, so wenig, wie eine Fischersfrau immer von Neuem auf das Geräusch einer jeden anrollenden Welle achten kann. Und sie hatte nie das Bedürfnis, eigene Geschichten zu verbreiten.

»Er hat sich selbst verletzt«, sagt Salles. »Hast du das gehört?«

»Ja. Aber fünf Monate im Krankenhaus? War seine Verletzung so schwer?«

»Nein, die Wunde heilte, so gut es ging. Aber er musste weiter bei uns bleiben.« Salles hält inne. »Die Leute in der Stadt. Sie hatten das Gefühl … Nun, er trank zu viel. Hitzig. Kannte die Rue du Bout d’Arles …«

»Eine Petition? Ich verstehe.«

»Auch wegen Anstößigkeit. Eines Abends lief er gänzlich unbekleidet auf den Platz. Es regnete und –«

»Denk an Jeanne.«

»Natürlich.« Salles errötet. »Verzeihen Sie mir, Jeanne.«

Sie lächelt. Sie sagt, sie sei nun schon fast dreißig Jahre lang die Frau des Leiters einer Nervenheilanstalt und es könne sie nichts mehr schockieren, sie habe weit Schlimmeres gehört. Es gebe nichts zu verzeihen.

Später in der Küche denkt sie an die Place Lamartine. Sie kannte den Platz gut. Sie kannte die Blumenbeete und den trockenen, plattgetretenen Pfad unter den Bäumen, in deren Schatten die Männer ihre Spiele spielten. Jener dumpfe Aufschlag, das Klacken der gegeneinanderstoßenden Boulekugeln, das waren die tröstlichen Geräusche ihrer Kindheit, so wie das Amen in ihrem späteren Leben oder der Geruch von Pfeifenrauch oder einer ausgeblasenen Öllampe. Sie wurde nicht weit von jenem Platz geboren. Eine echte Arlésienne – die auf die Welt kam, als die Glocken von Saint-Trophime den Mittag ausriefen; ihr Vater behauptete, sie hätten Jeanne! Jeanne! gesungen. Zwölf Sekunden Glück.

Manchmal, wenn niemand guckte oder wenigstens niemand, den sie kannte, benutzte sie die ebene Fläche des Platzes für einen Handstand. Schrieb ihren Namen mit der Fingerspitze in den Staub.

Streunende Hunde versammeln sich dort. Die Rhône fließt vorbei.

Place Lamartine im Regen. Fontänen spritzen, daran erinnert sie sich. Wenn man über eine Pfütze stieg, sah man beim Hinabschauen sich selbst. Schalen, in denen sich der Himmel spiegelte.

Beim Abschied fasst Pastor Salles sie an den Armen. Seine Berührung ist leicht und kurz. »Vielen Dank. Ein ausgezeichnetes Mahl in ausgezeichneter Gesellschaft.« Er nimmt Charles’ rechte Hand in seine beiden. »Ich hoffe, wir sehen uns sehr bald wieder.«

»Kommst du noch einmal, um ihn zu sehen? Diesen Patienten?«

»Er hofft, hier gesund zu werden. Vielleicht.«

Die Trabucs stehen nebeneinander und sehen dem Licht von Salles’ Lampe nach, die er zwischen den Pinien und Olivenbäumen vor sich her trägt. Es beleuchtet seine Füße und das Gras zu beiden Seiten. So müssen Entdecker aussehen, denkt sie – gehen mit einem schwingenden Licht durch die unerforschte Dunkelheit, als hielten sie Ausschau nach wilden Tieren, nach dem Rand der Erde.

»Unser Haus wird tagelang nach Pfeifenrauch riechen«, sagt Charles. »Nun denn.«

Er geht wieder hinein. Kurz hält Jeanne sich am Türrahmen fest und atmet die Nachtluft ein – die Pinien, die Erde, die letzten Spuren von Rauch –, bis sie hört, was, wie sie weiß, kommen wird: »Jeanne, schließt du wohl …«

*

Sie löscht alle Lampen außer einer und macht sich auf den Weg nach oben, wo Charles schon schläft. Sie denkt an andere Schlafende. Rouisson. Michel, den Bärenhaften. Ihre Jungen. Die aufgereihten Nonnen.

Peyron – mit seiner Brille neben dem Bett.

Salles mit seinen Gebeten.

Und an diesen Ausländer. Den Holländer. Heute Nacht schläft er in einem neuen Bett, weit weg von der Place Lamartine. Gitter vor den Fenstern. Zypressen.

Jetzt erlaubt sich Jeanne, an ihn zu denken – an diesen Patienten aus Arles und an die zwei Wörter, bei denen sie scharf einatmen musste, als würde sie berührt. Gänzlich unbekleidet. Zwei Wörter. Nur zwei. Salles hatte sie ihr mitgebracht, und genauso wie sie vor Jahren das Geschenk der Kohlblätter aus seinen Händen entgegengenommen und versteckt hatte, schob sie diese beiden Wörter weg. Sie hatte gelächelt, als bedeuteten sie ihr nichts.

Jetzt faltet sie diese Wörter auseinander.

Gänzlich unbekleidet.

Jeanne starrt in den Raum. Hier, inmitten der Ausblicke, der Bäume und der Geräusche ihres Lebens, der braunen Tassen und geblümten Teller, seiner Uniform und ihrer aufgesteckten Haare, sieht Jeanne niemals irgendetwas, das noch neu ist. Und wenn doch, wenn es tatsächlich etwas Neues in ihrer Welt gibt, ist es nur etwas Altes in einem etwas neueren Gewand, so dass sie es neu nennen kann, ohne dass es das ist: ein niedergetretener Schuh, den sie seit Jahren verschleißt, oder ein neuer Splitter in derselben splitternden Tür. Sie sieht vielleicht, wie der Weizen sich verändert – neue Halme, eine neue Ernte, aber die diesjährige Ernte sieht genauso aus wie die vom letzten Jahr. Ein Nachthimmel mag sie nachdenklich stimmen, aber es sind immer noch dieselben Sterne. Früchte kommen von denselben Bäumen. Sie werden zum selben Marktplatz gebracht. Auf demselben blassen Tuch ausgebreitet.

Mich kann nichts mehr schockieren. Das hat sie zu Salles gesagt und gelächelt. Hatte das gestimmt? Als junge Mutter und jüngere Ehefrau konnte manches, was sie sah, Jeanne noch schockieren. Doch sie ist älter geworden, hat sich an all dies gewöhnt – an die Geschichten von Patienten, die ihren Kummer gegen die Wände schleudern oder nach ihrer Mutter rufen oder sich ihre eigene Landkarte mit Steinen aus dem Garten oder ihren Fingernägeln in die Arme ritzen. Die beißen oder hassen. Sich selbst beschmutzen. Nichts von alledem ist neu.

Aber dies. Gänzlich unbekleidet.

Jeanne streckt die Hand aus, findet die Schlafzimmerwand. Die Erzählung von der Nacktheit eines Mannes an einem regnerischen Abend auf einem öffentlichen Platz hat Jeanne an etwas erinnert, das vierzig Jahre zurückliegt.

Sie setzt sich aufs Bett und sieht sich selbst wieder. Eine junge, unverheiratete Jeanne im Hof in Arles. Es war frühmorgens gewesen. Sie hatte in der Zinkwanne gebadet, ihre taillenlangen Haare gewaschen – und hatte sie damals nicht gewagt, alles abzulegen? Sich bis zur Taille aufzuknöpfen? Ungeachtet dessen, dass andere Häuser auf den Hof hinuntersahen. Ungeachtet dessen, dass sie fünfzehn oder sechzehn gewesen war und es sehr viel besser wusste. Sie war mutig gewesen, unbekümmert. Scherte sich nicht um Regeln.

Sie hatte ihre nassen Haare zurückgeworfen wie einen Flügel. Dort gestanden.

Jeanne macht das Licht aus. Und langsam beginnt sie sich auszuziehen. Sie zieht sich aus, wie sie es seit so langer Zeit jeden Abend getan hat – findet jeden Haken und jeden Knopf allein durch Tasten, fühlt den Stoff, befingert Säume. Sie lockert ihre Bänder, löst die Haarnadeln in der Dunkelheit des Schlafzimmers.

3

Sie hat bisher nur an zwei Orten gelebt. Ihr erstes Zuhause war in Arles – ein hohes, schmales Haus in der Rue de l’Agneau. Lichtstreifen auf dem gebohnerten Boden. Ein gedämpftes Haus außerdem; die Geräusche, die Jeanne damit verbindet, sind das Wischen von Claudettes Besen oder wie die streunenden Katzen auf den Fensterbrettern entlangtappten, hinuntersprangen. Katzen aus nichts als Flöhen und Knochen. Sie hatte mit ihnen gesprochen, einen Schnürsenkel über den Boden gezogen, die Hand nach ihrem warmen, rauen Fell ausgestreckt, sie näher herangelockt. Hallo, ihr. Weiter das Geräusch der Stierkämpfer – und der Stiere von Zeit zu Zeit.

Ihr zweites Zuhause ist hier. Ihr Eheleben hat bis jetzt ausschließlich in dem Cottage für den Leiter einer Nervenheilanstalt am südlichen Rand einer Stadt namens Saint-Rémy stattgefunden. Auch La ville verte genannt. Die grüne Stadt – weil Les Alpilles sie beschirmen. Die Felder hier sind seit jeher dichtbewachsen mit Gras oder Olivenbäumen oder Zypressen; Pflanzen schießen in die Höhe, und Früchte hängen herab, als versuchten sie, einander zu berühren. Eine Artischocke, die eine Pflaume begehrt. Es gibt Ziegen und Kühe zum Melken. Die Anstalt hat ihre eigenen Maultiere – fünf oder sechs, die sich den Rumpf an den bröseligen Mauern kratzen oder unter den Pinien angebunden sind und mit wedelndem Schwanz die Fliegen vertreiben.

Kräuter an den Wegrändern.

Sie verließ Arles für diesen Ort.

»Ich denke, es wird dir gefallen«, hatte Charles zu ihr gesagt, als sie in den Zug stiegen. Sie waren frisch verheiratet, erhitzt und sich durchaus der Ringe an ihren Fingern bewusst, die noch nicht von ihrer Körperhitze erwärmt waren. »Saint-Rémy-de-Provence«.

Es würde ein ruhigeres Leben sein, das wusste Jeanne. In Arles gab es riesige Märkte und Festivals und Theater und Tänzerinnen und Cafés und Les Arènes – aber wie oft war sie denn dort gewesen, unter ihnen? Sie hatte kaum Gelegenheit gehabt, diese Orte kennenzulernen. Wenn sie einmal die Schule schwänzte vielleicht; bei einem verstohlenen Blick in die Wirtshäuser oder einer heimlichen Verfolgung tanzender Mädchen mit Glöckchen, die an ihre Säume genäht waren und ihren Bewegungen eine eigene Musik schenkten. Was das Pégoulade-Festival anging, so konnte die junge Jeanne es nie besuchen: Es machte ihren Vater allzu traurig, und Claudette hatte keine Lust, mit Kerzen und Tambourins durch die Kopfsteinstraßen zu marschieren – »Ich habe Besseres zu tun« –, also kletterte Jeanne auf den Dachboden, stieß die Fenster auf und sah hinaus. Tausend Lichter unter ihr. Sie stützte dann stets das Kinn in die Hände und starrte hinunter. Schau dir diese Kleider an … Auf der Rhône Boote wie Träume.