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Seit über 30 Jahren reitet Lassiter schon als Agent der "Brigade Sieben" durch den amerikanischen Westen und mit über 2000 Folgen, mehr als 200 Taschenbüchern, zeitweilig drei Auflagen parallel und einer Gesamtauflage von über 200 Millionen Exemplaren gilt Lassiter damit heute nicht nur als DER erotische Western, sondern auch als eine der erfolgreichsten Western-Serien überhaupt.
Dieser Sammelband enthält die Folgen 2371, 2372 und 2373..
Sitzen Sie auf und erleben Sie die ebenso spannenden wie erotischen Abenteuer um Lassiter, den härtesten Mann seiner Zeit!
2371: Der Aufschneider
Die Luft flimmerte über der Wüstenlandschaft im Maricopa County, Arizona. Unter der erbarmungslosen Hitze war das Flussbett des Salt River schon seit einem Monat ausgetrocknet. Nur noch vereinzelt stand Wasser in Pfützen oder größeren Vertiefungen. John O'Whelan war vor der Hitze aus Phoenix geflohen, hatte sich die Kleidung vom Leib gerissen und war in ein Wasserloch nahe des Ufers gesprungen. Die kümmerlichen Bäume dort spendeten nur wenig Schatten.
2372: Die Frau, die zu viel wusste
Die Steigung nahm kein Ende, der Zug fuhr immer langsamer. Blitze zuckten über den schwarzen Himmel, Donner hallte, Regen prasselte auf die Geröllhänge und klatschte gegen die Waggonfenster. Jane sank in ihre Polsterbank und seufzte behaglich. Von der trockenen Geborgenheit eines Luxuswaggons aus konnte man sogar ein Unwetter genießen. Selbst Jane, die sonst Angst vor Gewittern hatte, konnte das. Bis ein Schatten am Zugfenster vorbei huschte.
2373: Verrat am Boston Creek
Das zweistöckige Haus in der Wentmore Street lag in tiefstem Dunkel und trug eine dünne Schneeschicht auf dem Dach. Dass es in Philadelphia schneite, war selten genug, aber dass der Schneefall in dieser Nacht eingesetzt hatte, spielte Pearson S. Clark in die Hände. Der künftige Mörder zog das Messer aus dem Futteral
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Seitenzahl: 401
Veröffentlichungsjahr: 2021
Jack Slade
Lassiter Sammelband 1830
Cover
Impressum
Der Aufschneider
Vorschau
Der Aufschneider
Die Luft flimmerte über der Wüstenlandschaft im Maricopa County, Arizona. Unter der erbarmungslosen Hitze war das Flussbett des Salt River schon seit einem Monat ausgetrocknet. Nur noch vereinzelt stand Wasser in Pfützen oder größeren Vertiefungen. John O’Whelan war vor der Hitze aus Phoenix geflohen, hatte sich die Kleidung vom Leib gerissen und war in ein Wasserloch nahe dem Ufer gesprungen. Die kümmerlichen Bäume dort spendeten nur wenig Schatten. Das Wasser reichte dem kräftig gebauten Mann bis zur Brust. Es war lauwarm und brachte kaum Abkühlung.
Als sich Geräusche von Pferdehufen und Kutschenrädern näherten, wunderte sich O’Whelan nicht, denn die Badestelle im Fluss kannten viele.
Dann aber traf ihn der Schock gleich zweimal.
Die Frau auf dem Bock war blond – und splitternackt. Und rechts unter dem Sitzgestell ragte der Doppellauf einer Schrotflinte hervor.
O’Whelan blieb keine Zeit mehr, aus dem Wasser zu springen. Seine Sachen, einschließlich der Waffen, hatte er dem Grauschimmel auf den Rücken gelegt. Das Pferd stand keine fünf Yards entfernt, doch unerreichbar jetzt. Er hatte es an einem der Bäume am Ufer angeleint. Ausläufer des spärlichen Schattens reichten bis zur Badestelle.
Die zweiachsige Kutsche, ein elegant in seiner Federung schwingender Landauer, jagte mit hoher Geschwindigkeit heran, gefolgt von der Staubwolke, die von Hufen und Rädern aufgewirbelt wurden. Die Nackte zügelte das Gespannpferd spät, aber gerade noch rechtzeitig.
Unmittelbar vor dem Badenden kam die Luxuskutsche zum Stehen. Von der eigenen Staubwolke eingeholt, war das grazile Gefährt sekundenlang nur schemenhaft zu erkennen.
O’Whelan spannte die Muskeln an, kniff gleichzeitig die Augen zusammen. Die Schrotflinte sah er von Anfang an deutlich genug. Einen Moment lang keimte in ihm die Hoffnung auf, dass er selbst von der Kutsche aus ebenfalls schlecht zu erkennen war.
Frommer Wunsch, dachte er im nächsten Atemzug. Denn der Vorhang aus Staub senkte sich schneller als er gedacht hatte. Resignierend schloss er die Augen und hob vorsorglich die Hände.
Er öffnete die Augen wieder, und während die Sicht klarer wurde, wusste er nicht, wohin er den Blick zuerst richten sollte – in die Doppelmündung der Schrotflinte oder auf die Brüste der Frau.
Dabei war ihm klar, dass genau das die Absicht des Jünglings war, der die Waffe auf ihn gerichtet hielt. Die Nackte sollte ihn, O’Whelan, irritieren und ablenken, damit er keine Chance hatte, Gegenwehr zu leisten.
O’Whelan kannte den Jungen. Er sah aus wie einer, dem seine Eltern das erste Mal erlaubt hatten, abends allein das Haus zu verlassen. Ein echtes Babyface. Aber der Eindruck täuschte. Der Bursche war alles andere als ein Milchgesicht – und ein Greenhorn schon gar nicht.
Er hieß Cornell. Thaddeus »Thad« Cornell, und er hatte es faustdick hinter den Ohren. Er wusste verdammt genau, dass John O’Whelan seinetwegen nach Phoenix gekommen war.
Aber nicht nur das. Natürlich wusste er auch, dass O’Whelan ein Pinkerton Detective war und ihn bis auf die Knochen durchschaute. Ihn, den sie den Aufschneider nannten. Manche bezeichneten ihn auch als Angeber, Prahler, Sprücheklopfer, Großkotz, Wichtigtuer, Schaumschläger oder Spinner vor dem Herrn.
O’Whelan konnte nur bestätigen, dass all diese wenig schmeichelhaften Ausdrücke auf Thad Cornell zutrafen.
Bis eben hatte Thad auf dem vorderen Sitzpolster gekniet. Jetzt zog er die Waffe unter dem Sitzgestell hervor und richtete sich rasch auf, ohne die Doppelläufige dabei aus dem Schulteranschlag zu nehmen.
Er hatte alle Trümpfe in der Hand. Aus seiner Sicht würde es so schnell keine bessere Gelegenheit geben, den lästigen Schnüffler O’Whelan allein und hilflos anzutreffen.
Hinzu kam, dass der Junge die Schwäche seines Widersachers mit sicherem Gespür erkannt hatte.
Frauen.
O’Whelan war nicht mehr er selbst, wenn eine ihm schöne Augen machte – einerlei, ob sie sich dafür bezahlen ließ oder nicht. Und in diesem speziellen Fall konnte ihn selbst eine schussbereite Schrotflinte nicht davon abbringen, sie mit Blicken zu verschlingen.
Groß und straff waren die Brüste der nackten Kutschenlenkerin dort auf dem Bock. Sie federten auf und ab, als sie die Handbremse anzog und die Zügelenden um den Hebelgriff schlang.
O’Whelan war nicht sicher, ob er sie schon einmal gesehen hatte. Auf jeden Fall musste sie eine Prostituierte sein. Sittsame Ladys aus der ehrbaren Gesellschaft von Phoenix würden sich niemals dafür hergeben, im Evaskostüm durch die Gegend zu fahren.
»Habe ich dich!«, rief Cornell triumphierend. Sein Haar war rostrot und lang; es reichte ihm im Nacken bis auf den Kragen. Feuerrot war dagegen das Hemd, das er unter einem olivgrünen Jackett trug. Die Hitze schien ihm nicht das Geringste auszumachen.
O’Whelan antwortete nicht. Langsam und vorsichtig faltete er die Hände auf dem Kopf, damit seine Arme nicht einschliefen.
Der Aufschneider ignorierte es und spielte den Gutgelaunten. »Was sagst du, John? Bin ich nicht ein guter Spürhund?« Er lachte schallend. Ohne die Schrotflinte auch nur um den Bruchteil eines Inchs aus der Visierlinie zu nehmen, prahlte er weiter:
»Das muss mir erst mal einer nachmachen, einen ausgewachsenen Pinkerton-Schnüffler so unauffällig zu beobachten, dass der nichts mitkriegt.« Diesmal wollte er sich ausschütten vor Lachen.
»Was ist jetzt?«, meldete sich die nackte Blondine zu Wort. »Kann ich mir was anziehen? Nicht, dass ich friere, aber der Kerl frisst mich mit seinen Blicken regelrecht auf.«
»Klar, Darling.« Cornell lachte glucksend. »Und wenn du dir was anziehst, zieht er dich mit Blicken sofort wieder aus.« Einen Moment lang schaute er ihr schweigend zu, wie sie ein buntes Sommerkleid vom Sitz aufhob und es überstreifte.
»Ich denke …«, ließ O’Whelan sich vernehmen. »Wir sollten vernünftig miteinander reden.«
Cornell brachte den Pinkerton Detective mit einer herrischen Handbewegung zum Schweigen. Ohne ihn weiter zu beachten, wandte er sich an seine Begleiterin: »Fahr zurück, Violet. Ich brauche dich hier nicht mehr.«
»Und du?« Sie sah ihn verwundert an. »Wie kommst du zurück in die Stadt?«
Cornell grinste breit. »Ich habe doch ein Pferd.«
»Du meinst das Kutschpferd? Aber das brauche ich doch.«
Cornell lachte schallend und zeigte auf den Grauschimmel. »Dummerchen! Das ist mein Pferd, Baby! Was dachtest du denn?«
***
»Jetzt sind wir allein«, stellte Hetty Draper fest. Es hörte sich an, als stünden ihr und dem großen Mann nun alle Möglichkeiten offen.
Lassiter nickte und lächelte der attraktiven dunkelhaarigen Frau zu. Er stand auf. Mit zwei sicheren Schritten erreichte er die Tür des Pullman-Abteils. Mühelos hielt er sein Gleichgewicht und glich das unregelmäßige Schwanken des Zuges aus.
Die mörderische Julihitze im südlichen Arizona hatte für Verwerfungen der Gleise gesorgt. Eisen kreischte auf Eisen, wenn die Fliehkraft die Waggonräder in die Ausbuchtungen der Schienen presste – dort, wo sich der Stahl in den letzten Tagen und Wochen unter der glühenden subtropischen Sonne gedehnt hatte.
Den beiden elegant gekleideten Geschäftsleuten, die eben das Abteil verlassen hatten, blickte der Mann der Brigade Sieben nur noch einen Moment lang nach. Ihre gemeinsame Fahrt war nur kurz gewesen.
An der nächsten Station, in Maricopa, würden sie bereits wieder aussteigen. In Phoenix Junction waren sie alle – Hetty Draper, Lassiter und die beiden Gentlemen – aus unterschiedlichen Richtungen mit der Southern Pacific Railroad eingetroffen und in diesen Zug der Maricopa and Phoenix Railroad umgestiegen.
Lassiter legte den Innenriegel der Tür vor. Die Männer waren Eisenbahn-Ingenieure. Sie hatten ihm erklärt, dass die Railroad Company endlich das letzte fehlende Stück der Strecke nach Phoenix schließen wolle, und sie seien mit den Planungen vor Ort beauftragt.
Derzeitige Endstation war Tempe, nur neun Meilen von der Stadt entfernt, die seit langem den Anschluss an das wachsende Schienennetz des Südwestens forderte. Ein Unding, dass das nicht schon längst geschehen war. Darin waren Lassiter und die Gentlemen sich einig gewesen.
Auf ihre Frage hatte er geantwortet, er sei Regierungsagent. Hetty Draper hatte ihren wirklichen Namen verschwiegen und sich als Almira Troy, Geschäftsfrau, vorgestellt. Niemand hatte weitere Fragen gestellt.
Der große Mann folgerte daraus, dass sie alle eins gemeinsam hatten – einen Grund, ihre wahre Identität zu verbergen.
Er schloss die schweren roten Samtvorhänge zum Gang hin und drehte sich um. Hetty alias Almira widmete ihm einen tiefen Augenaufschlag. Sie hatte es sich auf den Sitzpolstern in der Fensterecke gemütlich gemacht und benutzte einen altmodischen Fächer, um die stickige Luft hin und her zu schaufeln.
Sie trug ein stahlblaues Reisekostüm und eine beigefarbene Bluse. Die beiden oberen Knöpfe der Bluse, zuvor noch geschlossen, waren jetzt geöffnet. Der knöchellange Rock des Kostüms wies an der rechten Seite einen Schlitz auf, der normalerweise bis zum Knie reichte.
Nun aber hatte sie den Rock ein beträchtliches Stück hochgezogen. Dadurch war ihr wohlgerundeter Oberschenkel sichtbar, straff umhüllt von einem hautengen, elfenbeinfarbenen Seidenstrumpf.
Hettys Lächeln und ihr verführerischer Blick ließen keinen Zweifel an ihren Absichten. Sie wedelte heftiger mit ihrem Fächer. Sie stöhnte demonstrativ.
»Eine Bahnfahrt bei dieser Hitze!«, rief sie und setzte eine leidende Miene auf. »Das kann man ja keinem Menschen zumuten.« Sie zwinkerte dem großen Mann zu. »Aber jetzt, wo wir allein sind …«
»Was meinen Sie?«, tat er begriffsstutzig, machte einen Schritt in die Mitte des Abteils und hielt sich am Rahmen des Gepäcknetzes fest.
»Nun …«, sagte sie gedehnt. »Wir könnten uns ein wenig von dem erleichtern, was uns einengt.«
»Sie reden von Kleidung?« Lassiter machte runde Augen und spitzte scheinbar geschockt die Lippen. »Wir sind doch nicht verheiratet.«
»Wir könnten so tun als ob.« Hetty kicherte hinter dem Fächer.
»Ah, das meinen Sie.« Lassiter richtete den Blick zum Himmel. Dann sah er die braunäugige Schöne wieder an. »Verheiratet sein ist doch langweilig, oder?«
Sie überlegte nur kurz. »Dann jung verheiratet«, schlug sie vor. »Oder frisch vermählt – auf Hochzeitsreise. Das wäre doch ein schöner Zeitvertreib, bis wir aussteigen müssen.«
»Die Hitze zwingt uns dazu«, sagte Lassiter. Zur Untermalung streifte er sein Jackett ab.
Hetty reagierte nicht darauf. Stattdessen wurde sie unvermittelt ernst. Mit vibrierender Stimme erklärte sie: »Du bist der Mann, auf den ich immer gewartet habe. Ich spüre es mit allen Fasern meiner Sinne. Wenn du so willst, war es Liebe auf den ersten Blick.«
***
John O’Whelan empfand nichts mehr. Die Hilflosigkeit lähmte ihn, die Aussichtslosigkeit brannte sein Gehirn leer. Er konnte nicht einmal mehr verzweifelt sein. Das Wasser, das ihn umschloss, hatte keine Temperatur mehr, war weder warm noch kalt.
Elegant und leichtfüßig rollte der Landauer davon und verschwand hinter seiner eigenen Staubwolke. O’Whelan hätte gern Wehmut darüber empfunden, dass die blonde Frau ihn allein ließ. Aber auch zu einem solchen Gefühl war er nicht mehr in der Lage.
Auch der Blick in die doppelte Laufmündung war ihm einerlei. Schrotkaliber zwölf, na und? O’Whelan wusste, wie Menschen aussahen, die von so einer Ladung getroffen wurden.
Es ließ ihn selbst dann kalt, als er sah, wie Cornell den Zeigefinger um den Abzug krümmte. Ungewollt schloss O’Whelan die Augen. Dabei hatte er keine Angst davor, dem Tod ins Auge zu sehen.
Die Schrotflinte wummerte hart und trocken, und der Nachhall rollte wie Donner über das sonnendurchglühte Land. O’Whelan merkte, dass er zusammengezuckt war. Sonst nichts. Da war kein Schlag wie von einem Tonnengewicht gewesen, und da war auch kein Schmerz.
Übergangslos war er ins Nichts gedriftet.
Und ausgerechnet dort empfing ihn diese Stimme, die ihn anödete wie keine andere.
»All right, die Überraschung ist mir gelungen, denke ich.«
John O’Whelan riss die Augen auf.
Dieses verdammte Grinsen in dem Milchgesicht war breiter und überheblicher als je zuvor.
»Na?«, rief Cornell triumphierend. »Wie habe ich das hingekriegt?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Von einer Scheinhinrichtung«, entgegnete der Aufschneider in geduldig gespielter Freundlichkeit. »Im allerletzten Moment habe ich den Lauf hochgerissen. Das war eine Scheinhinrichtung, John. Und was schließt du daraus?«
»Nichts.« O’Whelan verzog keine Miene.
»Richtig!«, erwiderte Cornell wie ein Schulmeister, der seinen gelehrigsten Schüler lobte, obwohl dieser eine falsche Antwort gegeben hatte. Er grinste zufrieden und sprach weiter, während er die leergeschossene Patronenkammer der Schrotflinte nachlud. »Ich will dich gar nicht töten. Ich will dir nur Angst einjagen. Begriffen?«
»Nein.«
»In Ordnung. Du stellst dich dümmer als du bist.« Cornell legte die Flinte in seine Armbeuge. »Was willst du damit erreichen, John? Mich provozieren? Soll ich es mir anders überlegen?«
***
Lassiter stoppte Hettys Schwärmen, indem er sich zu ihr hinabbeugte und sie küsste. Es wurde ein Kuss voller tiefer Gefühle, ihre Zungenspitzen erforschten einander, und ihre Lippen schienen sich miteinander zu versiegeln.
Sie waren sich noch nie zuvor begegnet, und dennoch wusste Lassiter einiges über diese anschmiegsame Frau.
Hetty Draper war Pinkerton Detective. Über sie gab es eine Akte im Archiv der Brigade Sieben, Lassiters Dienststelle in Washington. Die Akte enthielt ein ungerahmtes, bereits koloriertes Porträtfoto, das in einem Fotostudio in Chicago angefertigt worden war.
John O’Whelan hatte ihm von ihr berichtet. Lassiter war seit vielen Jahren mit John befreundet. Letzterer hatte dem großen Mann einmal während eines gemeinsamen Einsatzes das Leben gerettet.
John hatte Lassiter erzählt, dass Hetty Draper seine Dienstpartnerin war. Und, dass er sich einen anderen Partner im Dienst wünschte. Denn Hetty behandelte ihn wie einen Ehemann, bevormundete ihn, kommandierte ihn herum und beschimpfte ihn.
Lassiter hatte ihm gesagt, dass er selbst schuld war, wenn er sich das gefallen ließ. Warum sie sich hier in Arizona Almira Troy nannte, konnte der große Mann nur ahnen. Wahrscheinlich hatte sie es mit John abgesprochen, damit sie in Phoenix nicht sofort als seine Kollegin erkannt wurde.
Lassiter hatte vor zwei Monaten einen staatenweit gesuchten Mörder in San Antonio, Texas, dingfest gemacht. Während seines Einsatzes dort war ihm John O’Whelan begegnet. John war einem Erbschleicher auf der Spur, der eine Bankiersfamilie in Chicago um Millionen betrogen hatte.
Der Mann, eher noch ein Jüngling, hieß Thaddeus »Thad« Cornell, war ein Großmaul vor dem Herrn und wurde »Der Aufschneider« genannt. Bei alten und sterbenskranken Menschen jedoch verstand er es, sich einzuschmeicheln und ihr Vertrauen zu gewinnen.
So brachte er die arglosen Alten dazu, ihn zu adoptieren und ihr Testament zu seinen Gunsten zu ändern. Seinen größten Coup hatte er in diesem Jahr in Chicago gelandet, wo er den steinreichen Bankier Everett Branford Harrison noch auf dem Sterbebett überzeugt hatte, sein Testament zu seinen, Cornells, Gunsten zu ändern.
Es hieß, dass Harrison über ein Barvermögen von acht Millionen Dollar verfügt und mehrere hochwertige Immobilien in Chicago sein Eigen genannt hatte. Die rechtmäßigen Erben, drei leibliche Söhne, waren leer ausgegangen.
Sie vermuteten, dass Cornell ihren Vater zumindest um das komplette Barvermögen erleichtert hatte. Ob auch die Immobilien in Cornells Eigentum übergegangen waren, musste noch geklärt werden.
Thad Cornell hatte die Konten seines verstorbenen Gönners geplündert und die Millionen offenbar auf ein eigenes Geheimkonto eingezahlt, auf das er jederzeit zugreifen konnte. Nach dieser Transaktion war er aus Chicago verschwunden.
Die geprellten Erben hatten die Pinkerton Agency beauftragt, den Betrüger aufzuspüren und nach Chicago zurückzubringen. Gleichzeitig hatten sie das Testament mittels Privatklage angefochten. Wenn es den Pinkertons gelang, Cornell zu fassen, würde er entweder die ergaunerten Millionen freiwillig herausrücken oder sich vor Gericht verantworten müssen.
Nun hatte John O’Whelan die Spur des Betrügers allem Anschein nach bis Phoenix, Arizona, verfolgt. Denn von dort hatte er seinem alten Freund, dem Mann der Brigade Sieben, ein Telegramm geschickt. Er hatte Glück gehabt, Lassiter noch in Texas zu erreichen.
»Brauche Hilfe. Frage Charity.«
Das war die ganze knappe Nachricht. Lassiter kannte John O’Whelan als einen Mann, der nicht viele Worte machte. Deshalb war er, Lassiter, sofort aufgebrochen. Letzten Endes wusste er, dass John in höchster Gefahr schwebte. Denn bevor John um Hilfe rief, musste er schon mitten in der Hölle gelandet sein.
Und die Tatsache, dass die Agency ihm seine Dienstpartnerin nachschickte, bestätigte Lassiters schlimme Befürchtungen nachträglich.
Wer mit »Charity« gemeint war, würde er in Phoenix herausfinden. Hetty wollte er nicht gleich danach fragen. Solange er nicht wusste, in welchen Schwierigkeiten John steckte, würde er erst einmal nichts herauslassen.
Unvermittelt verspürte er etwas wie kleine Trommelschläge, die seinen Nacken trafen. Er brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es Hettys Fingerspitzen waren, mit denen sie sich in Erinnerung rief.
Augenblicklich kehrte er aus seinen Gedanken zurück und bemerkte, dass sie ihre Kleidung bereits vollständig ausgezogen hatte, während sie sich innig geküsst hatten und in ihre gegenseitige Zuneigung versunken waren.
Er begann seine Unaufmerksamkeit wiedergutzumachen, indem er seine eigenen Sachen abstreifte. Ohne eine weitere Sekunde zu verschwenden, schwang er sich über sie, und sie spreizte ihre Beine unter ihm auf der Polsterbank.
Ihr Körper war warm und weich und von straffen Rundungen geprägt. Ihre großen Brüste ragten ihm mit erigierten Nippeln entgegen und erinnerten ihn daran, dass sie als Pinkerton Detective körperlich in allerbester Verfassung sein und in einer Männerwelt bestehen musste.
Sein Glied war zu beinahe unerträglicher Härte angewachsen und fühlte sich an wie aus Eisen, als er in sie eindrang. Sie stieß einen leisen, aber anhaltenden Schrei aus. Erst als er mit seiner ganzen wie ehernen Länge in ihr war, verstummte ihr Schrei und ging in ein wohliges Stöhnen über.
Behutsam begann er, sie mit rhythmischen Bewegungen seines Liebeszepters zu verwöhnen. Das an- und abschwellende Gleiten versetzte sie in die ersten Andeutungen von Ekstase – was sich in spitzen kleinen Lauten äußerte, die der große Mann ihr im Takt seiner sanften Stöße entlockte.
Bald darauf aber erwachte ihre Lust zu aller Kraft, derer sie fähig war. Sie stemmte sich gegen ihn. Langsam, aber rasch schneller werdend begann sie, ihn mit zunehmend heftigen Gegenstößen herauszufordern. Er reagierte darauf mit noch mehr sanfter, aber spürbarer Härte.
Schon bald steigerte sie sich unter ihm zu purer Ekstase. Er brauchte seinerseits nur noch wenig zu tun, um sie zum Höhepunkt zu bringen. Sie keuchte nach der süßen Anstrengung der erfüllten Wollust. Er stemmte sich mit Armen und Beinen hoch, um sie von seinem Gewicht zu entlasten.
Dann setzten sie sich auf, und er schloss sie in die Arme.
»Ich glaube, du kennst mich«, hauchte sie nach einer Weile. »Ich habe es in deinen Augen gesehen. Du hast mich so merkwürdig angeschaut, als wir uns auf dem Bahnsteig in Phoenix Junction kennengelernt haben.«
»Stimmt, Hetty Draper«, sagte er und lächelte. »Ich habe mich gefragt, warum du dich Almira Troy nennst.«
Sie starrte ihn an und bekam den Mund nicht wieder zu. »Woher weißt du das?«, flüsterte sie erschrocken.
Lassiter erklärte ihr alles und fragte: »Warum der falsche Name?«
Sie bestätigte seine Vermutung. »John möchte nicht, dass wir durch irgendeinen dummen Zufall in Verbindung gebracht werden könnten. Ich trete deshalb erst einmal als Immobilienmaklerin auf.«
»Weil in Phoenix zurzeit viel gebaut wird?«
»Ja, es gilt als Geheimtipp unter Immobilienhaien.«
»Und Cornell hat das irgendwann mal geäußert?«
»Das nicht, aber vor den rechtmäßigen Erben hat er schon früher mal herumgetönt, dass Grundstücke und Gebäude der beste Weg zur Geldvermehrung seien.«
»Du willst den Lockvogel spielen?«
»Nicht, ohne John vorher zu informieren. Würdest du ihm die Nachricht übermitteln?«
»Ungern«, antwortete der große Mann. »Es ist gefährlich. Cornell scheint gefährlich zu sein.«
»Ich bin nicht hilflos«, erwiderte Hetty stolz. »Ich bin ein Pinkerton Detective.«
»Das ist John O’Whelan auch«, konterte Lassiter. »Trotzdem hat er mir diesen Hilferuf per Telegramm geschickt.«
***
John O’Whelan begann zu frösteln, obwohl das Wasser, in dem er stand, nach wie vor lauwarm war. Denn noch immer brannte die Sonne mit unverminderter Kraft auf das ausgedörrte Land.
Der Pinkerton Detective wusste, dass seine Kräfte nachlassen würden. Deshalb musste er eine Entscheidung herbeiführen, einerlei, wie aussichtslos die Lage war.
Er begann, sich rückwärts zu bewegen, immer nur um den Bruchteil eines Inchs. Dabei achtete er sorgfältig darauf, den Wasserspiegel nicht in Bewegung zu bringen. Zusätzlich musste er den Angeber ablenken. Mit Worten.
O’Whelan baute darauf, dass Cornell seine Überlegenheit noch lange auskosten würde. Und dann, wenn er, O’Whelan, die andere Seite des Wasserlochs fast erreicht hatte, würde er hinausspringen und hakenschlagend zu seinem Pferd rennen – wo die Waffen waren.
Es war seine einzige gottverdammte Chance. Und gleichzeitig musste er den Aufschneider ablenken.
»Du kannst machen, was du willst«, sagte er, um seine Taktik zu beginnen. »Die rechtmäßigen Erben werden es nicht einfach so hinnehmen, was du ihnen angetan hast.«
»Ich bin der rechtmäßige Erbe.« Thad Cornell schnaubte und reckte herausfordernd das Kinn vor. »Ich habe es schwarz auf weiß.«
»Das Testament? Sie fechten es zu diesem Zeitpunkt bereits an. Und ich unterstütze sie dabei, indem ich dich zurück nach Chicago bringe.«
»Ach, tust du das?« Cornell schmunzelte amüsiert. »Wenn ich dich so ansehe, kann ich mir nicht vorstellen, dass du jemals jemanden irgendwohin bringen wirst.«
John O’Whelan hörte nicht auf, sich rückwärts zu bewegen. Er tat es im Schneckentempo, obwohl er seine Ungeduld kaum noch unterdrücken konnte. Dass die Wasseroberfläche völlig unbewegt blieb, war seine einzige Beruhigung.
»Ich habe starke Verbündete«, sagte O’Whelan und ließ sich vom Teufel reiten. »Aber ich werde es auch allein mit dir aufnehmen. Du bist nämlich unschlüssig. Du weißt nicht, was du willst. Abdrücken oder nicht abdrücken«
Cornell nickte bedächtig. »Das ist mein Problem.« »Aber ich werde es aus der Welt schaffen.«
»Dadurch, dass du mir Angst einjagst?«
»Nein, nein.« Der Aufschneider schüttelte den Kopf. »Habe ich nicht schon angedeutet, dass ich es mir anders überlegen könnte?«
»Allerdings«, bestätigte O’Whelan. »Aber über eins musst du dir im Klaren sein: Wenn du einen Pinkerton Detective tötest, hast du alle Pinkertons im Nacken. Sie werden dich jagen – notfalls bis ans Ende der Welt. Aber dort werden sie dir keine gnädige Kugel gönnen. No, Sir, denn Selbstjustiz ist gegen das Gesetz.«
»Ah, so ist das!« Cornell lachte meckernd. »Dann müssen die freundlichen, gesetzestreuen Pinkertons mich also laufen lassen.«
»Das könnte dir so passen«, knurrte O’Whelan. »Sie übergeben dich dem Gesetz, und dann wirst du hängen, mein Freund.«
Der Aufschneider feixte. »Schön, dass wir jetzt Freunde sind, John.« Er tat, als überlegte er. Gleich darauf gab er seiner Stimme einen naiven Unterton. »Und wenn ich dich am Leben lasse, werden sie mich nicht hängen?«
»Nein, aber sie kriegen dich ran wegen Betrugs und Erbschleicherei.«
Cornell ging nicht darauf ein.
John O’Whelan schob sich weiter rückwärts. Er wagte nicht, sich umzudrehen. Er wusste, dass es noch viel zu früh war, seinen Sturmlauf zu starten.
Vor ihm erwachte Cornell aus seiner scheinbaren Gedankenversunkenheit.
»Liest du Dime Novels, John?«, fragte er unvermittelt. »Heftromane?«
»Hin und wieder«, antwortete O’Whelan unwillig. Hölle und Teufel, der Mistkerl ging ihm immer mehr auf die Nerven. Und genau das machte ihm anscheinend auch noch Spaß. Deshalb konzentrierte sich der Pinkerton Detective ganz auf seinen Rückzug.
Cornell grinste wieder. »Weißt du, in diesen Romanen ist es am Schluss meistens so, dass der Bösewicht den Helden vorm Revolverlauf hat und sagt: ›Jetzt erschieße ich dich.‹ Aber dann muss er dem Helden unbedingt noch alles Mögliche erzählen – warum er dies getan hat, warum er das getan hat, damit du als Leser kapierst, was überhaupt gelaufen ist.«
»Und du bist der Bösewicht«, entgegnete O’Whelan entnervt.
»Meinetwegen.« Cornell kicherte. »Dann bist du der Held. All right, wenn dann der Bösewicht endlich abdrücken will, ist der Freund des Helden wie durch ein Wunder zur Stelle und knallt den Bösewicht ab. Hast du einen Freund, John?«
»Ja«, antwortete O’Whelan, blickte über Cornells linke Schulter und setzte alles auf eine Karte. »Er steht schon hinter dir.«
Der Aufschneider brach in schallendes Gelächter aus. »O Mann!«, prustete er. »Jetzt kommst du mir mit dem ältesten Bluff der Welt! Ich glaube es nicht!« Er krümmte sich vor Lachen, ließ tatsächlich die Schrotflinte sinken, hielt sie in der Linken und schlug sich mit der flachen rechten Hand vor Heiterkeit auf den Oberschenkel.
John O’Whelan sah es und war einen Moment lang perplex. Dann handelte er. Warf sich herum und pflügte durch das Wasser, den Oberkörper vorgebeugt. Zu seiner Freude stellte er fest, dass das Ufer höchstens drei Yard entfernt war.
»Du schaffst es!«, jubelte seine innere Stimme. »Menschenskind, du schaffst es!«
Hinter ihm steigerte sich Cornells Lachen zu einem Röhren. Ein Wummern durchbrach es, doch das fiel kaum auf, denn der Aufschneider lachte mit unverminderter Lautstärke weiter.
John O’Whelan hörte es nicht mehr. Mit dem Gesicht nach unten lag er in dem leicht ansteigenden Ufersand. Die Schrotladung hatte eine furchtbare Wunde in seinen Rücken gerissen.
Thad Cornell hörte auf, zu lachen. Er ging hinüber und jagte dem schon reglosen Pinkerton-Mann die zweite Schrotladung aus nächster Nähe in den Kopf. Er kippte den Doppellauf der Flinte, nahm die beiden leergeschossenen Patronen heraus und steckte sie in die Jackentasche.
Seelenruhig schob er zwei neue Schrotpatronen in die Kammern des Doppellaufs und sah sich nach allen Seiten um. Er hatte Glück. Außer O’Whelan und ihm hatte sich noch niemand auf den Weg hierher gemacht. Die Landschaft am ausgetrockneten Fluss war menschenleer.
Violet Primrose, die kleine Hure, zählte nicht. Sie würde es niemals wagen, auch nur eine Silbe von dem zu erzählen, was sie mit ihm erlebt hatte. Er verstaute die Schrotflinte im Riemengeschirr am Sattel des Grauschimmels. Grinsend tätschelte er das Pferd und dann den Kolben der Winchester, die aus dem Scabbard ragte.
»Danke, John«, sagte er, als er das Lasso mitnahm und zu dem Toten ging. »Eine Winchester fehlte noch in meiner Sammlung.« Leise glucksend lachte er in sich hinein, während er den Toten so weit zum Ufer heraufzog, dass er vollständig auf dem Trockenen lag.
Er verschnürte O’Whelan mit dem Lasso und achtete sorgfältig darauf, nicht mit den blutigen Wunden des Toten in Berührung zu kommen. Er holte das Pferd herüber und wuchtete die Leiche auf dessen Rücken.
Die Blutspuren auf dem Sandboden waren nicht der Rede wert. Cornell verwischte sie, indem er eine Handvoll trockener Zweige aufsammelte und den Sand damit gründlich durchharkte. Auch ins Wasser war nur wenig Blut geflossen; es würde sich rasch vollständig auflösen, da war er sicher.
Cornell führte das Pferd zu Fuß ein Stück landeinwärts. Dann saß er auf und ritt eine halbe Meile nach Süden, wo ein felsiges Hochplateau bis an ein Steilufer am Salt River reichte.
Im »Desert Rose Saloon«, einem Zweigbetrieb des gleichnamigen Bordells in Phoenix, hatte er Männer über diesen Bereich des Flussufers reden gehört. »Wenn du da nicht aufpasst, fällst du in ein tiefes Loch«, hatte er gehört. Und: »Diese Felslöcher sind so tief, dass du einen Stein nicht mehr hörst, wenn er unten ankommt.«
Cornell hatte nur aufmerksam zugehört; er hatte sich gehütet, an den Gesprächen teilzunehmen und durch sein Interesse aufzufallen. Zu dem Zeitpunkt hatte er noch nicht gewusst, wofür es einmal gut sein würde. Aber jetzt zahlte es sich aus.
Die meisten der Felslöcher mündeten in ein Höhlensystem, durch das ein unterirdischer Seitenarm des Salt River verlief. Das hatte Thad Cornell mitbekommen, und er brauchte nicht lange zu suchen, bis er ein Loch von etwa einem Yard Durchmesser fand, das ihm geeignet erschien.
Er saß ab, ging rechtzeitig zu Boden und robbte bis an den Rand des Lochs. Es war das obere Ende eines Felskamins mit senkrechten Wänden. Unwillkürlich schloss er die Augen, als er in die Tiefe blickte. Das Wasser dort unten war nicht mehr als ein stecknadelkopfgroßes dunkles Rund.
Cornell beeilte sich, das Pferd bis nahe an das Felsloch zu holen und den Toten hineinzuschieben. Er richtete sich auf, wich zurück und hörte zu, wie der leblose Körper an den Felswänden entlang abwärts schrammte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis von unten ein fernes, leises Klatschen zu hören war.
Cornell schob sich zurück und richtete sich auf. Er brauchte sich nicht lange umzusehen, um zwei, drei Felsmulden zu entdecken, in denen sich Sand angesammelt hatte. Mit beiden Händen schaufelte er Sand heraus und streute ihn über die wenigen Blutspuren, die das Gestein bis zum Rand des Lochs aufwies.
Er verlor keine weitere Zeit, schwang sich in den Sattel und ritt zurück in Richtung Phoenix. Er war sicher, dass die Leiche des Pinkerton Detectives niemals gefunden werden würde.
Denn den Saloongesprächen hatte er entnommen, dass der Höhlenfluss keinerlei Verbindung mit dem oberirdischen Lauf des Salt River hatte. Eine Sorge weniger also, dachte er beruhigt, während er einen weiten Bogen um Phoenix schlug und sich der Stadt von Süden her näherte.
Dort, am südlichen Stadtrand, erhob sich seine Villa auf einem Hügel. Es war das erste Immobilienobjekt, das er in Phoenix gekauft hatte. Ein Prachtbau mit Säulen und Fassaden aus schneeweißem Marmor.
Die bisherigen Eigentümer, ein altes Rancherehepaar, konnten sich den Palast nicht mehr leisten und waren froh, einen Käufer gefunden zu haben. Thad hatte die beiden kinderlosen Alten bedauerlicherweise nicht überreden können, ihn zu adoptieren und als Erben einzusetzen.
Doch immerhin hatte er sie so weit umgarnt, dass sie ihm das hochherrschaftliche Anwesen zu drei Vierteln des Marktwerts verkauft hatten. Vom Verkaufserlös für die Villa hatten sie sich einen Alterswohnsitz in Ohio zugelegt.
All right, vielleicht würde er sie eines Tages dort besuchen. Dann konnten sie ihr Testament immer noch zu seinen Gunsten ändern.
Er ritt auf die Rückseite des riesigen Grundstücks zu. Der Wald am südlichen Fuß des Hügels ging in den stark vernachlässigten Villenpark über. Thad benutzte eine Schneise, die durch den Wald auf sein Anwesen zuführte.
Ein Stacheldrahtzaun, den die vorherigen Eigentümer noch angelegt hatten, war vom Wildwuchs des Parks und dem Dickicht des Walds nahezu vollständig überwuchert. Das einfache Gattertor funktionierte noch. Thad öffnete und schloss es wieder, obwohl es für Sicherheitszwecke kaum taugte.
Er führte den Grauschimmel in den Stall, zu seinen anderen Pferden. Weil er noch auf der Suche nach zuverlässigem Personal war und die Villa ganz allein bewohnte, sattelte er den Grauen eigenhändig ab und versorgte ihn mit frischem Wasser und Hafer.
Er warf sich die Satteltaschen über die Schulter und klemmte sich die beiden Langwaffen unter den Arm. Gutgelaunt überquerte er den Hof und betrat die Villa durch den Hintereingang.
Er war zufrieden mit sich selbst. Die wichtigste Aufgabe dieses Tages hatte er bewältigt, indem er das Problem Pinkerton erst einmal aus der Welt geschafft hatte. Später würde er sich mit einem handfesten Abendessen und seinem kalifornischen Lieblingsrotwein belohnen.
Er pfiff die Melodie der »Battle Hymn of the Republic«, während er durch die Korridore zum vorderen Teil des Hauses schritt. Im Vorraum des großen Salons stellte er die Langwaffen ab, indem er sie an eine Kommode lehnte.
Er wandte sich ab. Auf dem kurzen Weg zum Salon griff er nach der Schließe des Revolvergurts, um ihn ebenfalls abzulegen. Doch im nächsten Moment, als er die Schwelle der offenstehenden Schiebetür erreichte, hielt er inne. Er prallte zurück.
Der Mann saß auf dem Sofa.
Wie selbstverständlich saß er dort, als ob er nirgendwo anders hingehörte.
Er hatte die Beine lässig übereinandergeschlagen, und sein linker Arm ruhte auf der Rückenlehne. Sein gewelltes dunkles Haar reichte ihm bis in den Nacken. Dazu trug er einen buschigen Backenbart und einen ebenso voluminösen Schnauzbart.
Seine Kleidung bestand aus einem dunkelgrauen Großstadtanzug, einer dazugehörigen gleichfarbigen Weste mit goldener Uhrkette, weißem Hemd und roter Krawatte sowie schwarzen Lederstiefeln, deren Schäfte unter den Hosenbeinen verborgen waren.
Thad Cornell erkannte den Mann nicht sofort, weil er ihn lange nicht gesehen hatte – und, weil er früher stets Uniform getragen hatte. Erst nachdem er die Augen zusammengekniffen hatte und verdutzt blinzelte, dämmerte es ihm allmählich.
Francis Darren Fuller. Zuletzt war er Colonel der US Cavalry gewesen. Und er gehörte zu den wenigen Menschen, die Cornell in seinem Leben nahegestanden hatten.
Fullers rechte Hand hielt den Kolben eines 45er Colts mit siebeneinhalb Inch langem Lauf, der quer über seinen Oberschenkeln lag.
»Uncle Francis!«, entfuhr es Thad. »Wieso bist du hier? Und wie bist du hereingekommen?«
»Die Hintertür war nicht abgeschlossen«, antwortete der Colonel. »Du bist noch genauso nachlässig, wie du als Kind schon warst.«
»Bist du hergekommen, um mir das zu sagen?«
»Ganz und gar nicht.«
»Sondern?«, bellte Thad Cornell gereizt.
Fuller lächelte mild. »Um dir die Ohren langzuziehen, mein Junge.«
***
Auf dem Bahnsteig und in der Bahnhofshalle der Endstation Tempe herrschte Gewimmel. Lassiter schätzte, dass es an die vierzig Reisende waren, die mit dem Zug aus Phoenix Junction gekommen waren. Und alle wollten weiter nach Phoenix.
Wie es aussah, reichten die Kutschen, die von der Maricopa and Phoenix Railroad zur Weiterfahrt angeboten wurden, bei weitem nicht aus. Deshalb setzte unter den Passagieren ein regelrechter Wettstreit um die privaten Mietkutschen ein, die auf dem Bahnhofsvorplatz dem Kundenansturm entgegensahen.
»Unsere Wege trennen sich hier«, sagte der große Mann, während er Hetty vor das Bahnhofsgebäude begleitete. »Aber ich denke, wir werden uns in Phoenix wiedersehen.«
»Fahren wir nicht zusammen?«, fragte sie enttäuscht.
Lassiter schüttelte den Kopf. »Das Hotel heißt ›Valley of the Sun‹. Es liegt mitten in der Stadt, an der Mainstreet.«
Hettys Enttäuschung wich einem Lächeln. »Komisch. Die Pinkerton Agency und deine geheimnisvolle Dienststelle in Washington scheinen die gleichen Informationen über die Hotels des Westens zu haben.«
Lassiter zwinkerte ihr zu. »Dann ist meine Adresse auch deine Adresse.«
Er wandte sich ab und fragte einen der Kutscher nach dem nächst erreichbaren Pferdehändler. Bevor der große Mann sich auf den Weg machte, drehte er sich noch einmal um und sah, dass Hetty eine Kutsche ergatterte. Doch sie stieg nicht alleine ein.
Aus dem Menschengewühl vor dem Bahnhof tauchten unvermittelt die beiden Gentlemen aus dem Zug auf und stiegen wie selbstverständlich zu ihr in die Kutsche. Ein Zufall? Lassiter hatte nicht sehen können, ob sie den Männern zugewinkt hatte.
Dass sie Eisenbahningenieure waren, glaubte er immer weniger. Und überhaupt: Wieso waren sie jetzt hier in Tempe, wo sie doch in Maricopa ausgestiegen waren? All right, den Ausstieg dort hatten sie also nur vorgetäuscht. Lassiter war sicher, dass er bald herausfinden würde, wer die Gents in Wirklichkeit waren.
Er kaufte einen kräftigen braunen Wallach mit komplettem Sattelzeug. Das Pferd hatte ein Jahr bei der Kavallerie gedient. Danach war es im Zuge der Truppenreduzierungen nach den Indianerkriegen ausgemustert worden.
Zusätzlich zu seinem Remington, den er im Gürtelhalfter trug, erwarb der Mann der Brigade Sieben in einem Waffenladen eine Winchester, eine weittragende Sharps Rifle und eine Schrotflinte. Passende Munition verstaute er in den Satteltaschen. Für die Winchester kaufte er einen Scabbard und für die beiden anderen Langwaffen geeignete Futterale.
Der Inhaber des Gun Shops beschrieb Lassiter einen kürzeren Weg nach Phoenix, der für Wagen und Kutschen nicht geeignet war. Auf die Weise traf er noch vor den Bahnreisenden aus Tempe in der Stadt am Salt River ein.
Das Zimmer im Hotel »Valley of the Sun« hatte seine Dienststelle in Washington telegrafisch für ihn vorbestellt. Er übergab den Braunen einem Stallburschen und drückte ihm ein ordentliches Trinkgeld in die Hand.
Waffen und Munition nahm er mit ins Hotel und erledigte die Anmeldeformalitäten. Er fragte den Rezeptionsclerk nach John O’Whelan, erfuhr aber, dass es keinen Hotelgast dieses Namens gab. Der Clerk händigte ihm eine Liste mit fünf Boarding Houses aus, die meistens dann als Ausweichquartiere genutzt wurden, wenn das Hotel ausgebucht wurde.
Wie erwartet, waren Hetty und ihre Mitreisenden noch immer nicht angekommen. Lassiters Zimmer befand sich im ersten Stock. Er ging hinauf und verstaute sein Arsenal im Schrank.
Nachdem er sich frisch gemacht hatte, begab er sich ins Restaurant im Erdgeschoss. Er fand einen freien Fensterplatz, und während er sich mit Hingabe einem riesigen Sirloin-Steak mit Bohnen und Bratkartoffeln widmete, fuhren draußen die Kutschen aus Tempe vor.
Er sah Hetty Draper und andere Reisende unter dem Vordach aussteigen und in der Lobby des Hotels verschwinden. Die beiden Gentlemen waren nicht dabei. Möglich, dass sie eine andere Unterkunft gefunden hatten und schon vorher ausgestiegen waren.
Nach dem Essen ging Lassiter noch einmal auf sein Zimmer. Er nahm lediglich die Winchester mit und benutzte den Hinterausgang, um sein Pferd aus dem Stall zu holen. Nachdem er den Scabbard festgezurrt hatte, schwang er sich in den Sattel und begann, die Boarding Houses abzuklappern.
Später, so nahm er sich vor, würde er sich nach Hettys Zimmernummer erkundigen. Die Nachmittagssonne sengte mit unverminderter Kraft auf Phoenix und das Maricopa County. Nur wenige Menschen hielten sich im Freien auf. Lassiter bezweifelte allerdings, dass es irgendwo in den meist noch aus Holz gebauten Häusern auch nur einen einzigen kühlen Winkel gab.
An der dritten Adresse wurde er fündig.
»Ja, Mr. O’Whelan wohnt hier«, sagte die Inhaberin, eine mütterlich-rundliche und redselige Frau, auf der Türschwelle verharrend. »Er ist aber nicht da. Vor gut vier Stunden ist er losgeritten, wollte sich abkühlen, am Salt River. Der ist zwar ausgetrocknet, aber es gibt da ein paar Badestellen.«
Lassiter ließ sich den Weg beschreiben, bedankte sich und wandte sich ab.
»Ich habe ihm gesagt, dass es ziemlich zwecklos ist, was er da vorhat!«, rief die Hauseigentümerin dem großen Mann nach. »Weil das Wasser da draußen nämlich längst lauwarm ist.«
Lassiter drehte sich noch einmal um. »Natürlich wollte er nicht auf Sie hören, habe ich recht?«
»Sie kennen ihn wohl sehr gut, Sir.« Die Frau lachte.
Lassiter nickte, winkte ihr zu und setzte seinen Weg fort. Es herrschte kein Luftzug, auch außerhalb der Stadt nicht. Der Staub, den die Pferdehufe aufwirbelten, stieg senkrecht empor. Lassiter schützte sich davor, indem er sich ein Halstuch über Mund und Nase band.
Er sah das Wasserloch schon von weitem. Es war das größte am Rand des ausgetrockneten Flussbetts. Eine Reihe von verkümmerten, teilweise völlig abgestorbenen Bäumen stand dort, wo sonst das Ufer war.
Lassiter zügelte den Braunen am Rand des Wasserlochs und sah sich nach allen Seiten um. Nirgendwo war auch nur eine Menschenseele zu sehen. Dabei zeugten die frischen Spuren im Ufersand des Tümpels davon, dass hier vor noch nicht allzu langer Zeit Hochbetrieb geherrscht haben musste.
Der große Mann saß ab und begann einen Rundgang am äußeren Rand der Spuren, die sich in einem etwa zwei Yard breiten Streifen rund um das Wasserloch abzeichneten. Stiefelabdrücke waren nicht zu erkennen, stattdessen viele Kinderfüße und nur wenige Erwachsenenfüße.
Bei den Letzteren schien es sich um eine oder zwei Frauen gehandelt zu haben. Eine Schulklasse mit Lehrerinnen, folgerte Lassiter. Fußabdrücke, die von John O’Whelan hätten stammen können, vermochte er nicht auszumachen. Die herumtollenden Kinder mussten sie vollständig ausgelöscht haben – vorausgesetzt, John war überhaupt hier gewesen.
Dennoch suchte Lassiter den Sandboden weiter gründlich mit Blicken ab. Auch zu der Baumreihe spähte er hinüber, aber auch dort rührte sich nichts. Es hatte den Anschein, dass es dort, jenseits der Bäume, eine Bodenmulde gab. Lassiter schenkte es sich jedoch.
Er hatte das Wasserloch halb umrundet und war auf dem Rückweg zum Ausgangspunkt seiner Spurensuche, als er erstarrte.
Es war eine Männerstimme, die ihn stoppte – rau und belegt nach Jahrzehnten zügelloser Saufgelage.
»Hey, Lassiter, was für einen elenden Ort hast du dir bloß ausgesucht – zum Sterben!«
***
Lassiter wirbelte herum.
Zog.
Feuerte.
Fintete wie ein Spieler des American Football, abwechselnd nach links und nach rechts ruckend, während das Krachen des Remington noch verhallte.
Und ließ sich fallen.
Alles zusammen lief innerhalb weniger als einer Viertelsekunde ab. Die Waffe des anderen spie Feuer, bevor Lassiter auf dem Sand landete. Er spürte den sengenden Luftzug des Geschosses am rechten Ohr. Beidhändig stieß er den Sechsschüsser nach vorn und erfasste die Silhouette eines Mannes bei den Bäumen.
Abermals zog der große Mann durch. Der Remington ruckte in seinen Fäusten. Im verlöschenden Mündungsblitz sah er, wie die Wucht des Einschusses den Angreifer herumriss, ihn kurz um die eigene Achse drehte und dann zu Boden schleuderte.
Sofort rollte Lassiter sich nach links ab. Abermals streckte er die Arme nach vorn, hielt den Remington beidhändig. Diesmal gab es kein Ziel, das er ins Visier nehmen konnte. Vorsorglich rollte er sich noch einmal um seine eigene Längsachse. Und wieder gab es keinerlei Reaktion.
Er hielt den Lauf des Remington in die Richtung, in der er den heimtückischen Revolverschwinger zuletzt gesehen hatte. Aber noch immer rührte sich nichts. Der Fremde hatte keinen Laut von sich gegeben, obwohl es so ausgesehen hatte, als ob er getroffen worden war.
All right, es war durchaus möglich, dass der Mann den Schmerz unterdrückte, oder, dass er überhaupt keinen Schmerz empfand. So oder so konnte es eine Falle sein, in die er Lassiter tappen lassen wollte.
Lassiter versuchte, sich an die Säuferstimme zu erinnern, doch es gelang ihm nicht. Er hatte im Laufe seines Lebens einfach zu viele Kerle kennengelernt, deren Alkohol- und Tabakkonsum ihre Stimmbänder angegriffen hatte. Noch wusste er nicht, wer der Angreifer dort drüben war. Aber er würde es feststellen.
Jetzt.
Erneut warf er sich nach links. Abermals blieb jegliche Reaktion aus. Doch diesmal sprang er auf und rannte hakenschlagend auf die Reihe der verkümmerten Bäume zu. Unbehelligt erreichte er einen der knorrigen Stämme und ging dahinter in Deckung. Als er an der schorfigen Rinde vorbeispähte, entspannte er sich.
Von dem Hinterhältigen schien keine Gefahr mehr zu drohen – wenigstens für den Augenblick. Der Mann lag auf dem Rücken, seine linke Schulter blutete an zwei Stellen, dicht nebeneinander. Folglich hatten ihn beide Kugeln aus Lassiters Remington erwischt.
Der Getroffene hatte die Arme hochgeworfen und dabei den Revolver aus der Hand verloren. Die Waffe lag mehr als einen Yard von ihm entfernt im Sand.
Lassiter erkannte den Reglosen, noch bevor er hinüberging, um den Revolver aufzuheben. Der Mann war ein alter Feind. Sein Name lautete Augustus Jermyn. Sie waren sich seit Jahren nicht mehr begegnet. Trotzdem beruhte das Wiedererkennen auf Gegenseitigkeit.
Lassiter schob sich Jermyns Colt unter den Hosenbund. Sein Konterfei prangte vermutlich noch immer auf Steckbriefen oben im Norden, in Wyoming, Montana und den Dakotas. Jermyn war ein berüchtigter Bankräuber, Postkutschenräuber und Mörder.
Er war ein düster aussehender Mann, schwarzhaarig, mit buschigem, aber gepflegtem Vollbart. Sein schwarzer Anzug mit schwarzer Weste, schwarzen Stiefeln und schwarzem Patronengurt verstärkte den düsteren Eindruck noch. Einzig heller Fleck an seinem Äußeren war ein weißes Hemd. Die Kragenspitzen ragten hochgebogen über die Revers seines Sakkos hinaus.
So, wie seine Stimme sich anhörte, war er nach wie vor der notorische Trinker, als den man ihn in den Saloons des Nordens kannte. Zusammen mit einem Komplizen hatte Jermyn eine besondere Methode entwickelt.
Als völlig Fremde pflegten die beiden Männer in eine Stadt zu kommen, um in den Saloons wüste Saufgelage zu veranstalten. Schon nach zwei, drei Tagen waren sie stadtbekannt, und niemand traute den ständig betrunkenen Männern ernsthafte Tätigkeiten zu.
Am allerwenigsten hielt man sie für fähig, einen Banküberfall zu begehen. Torkelnd und lallend pflegten sie am dritten oder vierten Tag ihres Aufenthalts die örtliche Bank zu betreten. Doch dann, wenn sie sich vor dem Kassierer aufbauten, waren sie schlagartig nüchtern, zogen ihre Sechsschüsser und sackten das vorhandene Bargeld ein.
Einige Male hatten sich die Clerks hinter dem Kassengitter nicht einschüchtern lassen und den Alarmzug gezogen. Jermyn hatte die armen Kerle eiskalt erschossen. Sein Komplize war in einem solchen Fall über den Tresen gesprungen, hatte das Schloss der Kassenbox zerschossen und dann das Geld eigenhändig in den mitgebrachten Sack gestopft.
Nach einer gewissen Zeit sprach sich die Geschichte der vermeintlich alkoholisierten Bankräuber herum. Doch Jermyn und sein Gefährte konnten nicht rechtzeitig genug aufhören.
Lassiter rechnete schon nicht mehr damit, dass die beiden noch einmal ihre Betrunkenen-Show abziehen würden, als er in der »First Northern Bank of Wyoming« in Sheridan vorübergehend den Job des Kassierers übernahm.
Es war alles andere als ein Zufall, dass sein Einsatz dann doch noch von Erfolg gekrönt war. Augustus Jermyn und der andere konnten nämlich den Hals nicht vollkriegen, und so spazierten sie tatsächlich an Lassiters drittem Arbeitstag in die Bankfiliale.
Der Mann der Brigade Sieben legte die beiden Banditen mit einem simplen Trick herein. Scheinbar eingeschüchtert und um sein Leben fürchtend, packte er ihnen das gesamte vorhandene Bargeld ein. Unter dem Tresen hatte er seinen Remington bereitgelegt, und eine der beiden Kassenbox-Türen war unverschlossen.
Jermyn und sein Komplize hatten mit ihrer Beute drei Schritte zum Ausgang hin zurückgelegt, als Lassiter aus seiner Gitterbox hervorschnellte. Mit Riesensätzen holte er das Banditen-Duo ein und ließ sie in die Mündung seines Remington blicken.
Der zweite Mann, ein unbekannter Outlaw aus Montana, beging den Fehler, seinen Sechsschüsser hochzureißen, um auf Lassiter zu feuern. Der Mann der Brigade Sieben hatte keine andere Wahl gehabt, als den Banditen mit einer schnellen Kugel zu töten.
Jermyn hatte es noch geschafft, den Geldsack fallen zu lassen. Keine Chance mehr jedoch, den Revolver in Anschlag zu bringen. Lassiters Remington sprach eine allzu deutliche Sprache.
Wegen seiner vorherigen Taten war Augustus Jermyn vor das Bezirksgericht in der Wyoming-Hauptstadt Casper gebracht worden. Die Schuld an den Morden hatte er seinem toten Komplizen in die Schuhe geschoben.
Daher hatte Jermyn als Mörder nicht zweifelsfrei überführt werden können und war lediglich zu lebenslänglich Gefängnis verurteilt worden.
Drei Jahre später hatte Lassiter von John O’Whelan erfahren, dass Augustus Jermyn aus dem Gefängnis ausgebrochen war. Und es war ein gottverdammter Zufall, dass Jermyn ihm, dem Mann der Brigade Sieben, nun ausgerechnet hier über den Weg lief, wo er nach O’Whelan suchte.
»Schweinehund!«, krächzte die Säuferstimme unvermittelt.
***
Es war ein furchteinflößender Anblick, Francis Fuller vom Sofa aufstehen zu sehen. »Aufstehen« war gar kein Ausdruck, musste Thad Cornell erschauernd feststellen. Der Mann schien statt Muskeln Stahlfedern im Körper zu haben.
Entsprechend erhob er sich von den Polstern – vibrierend vor Kraft, langsam und ohne sich irgendwo abstützen zu müssen. Hölle und Teufel, der alte Besserwisser schien kein einziges Jahr älter geworden zu sein.
Dabei war er doch bestimmt schon vierzig, oder drüber, schätzte Thad.
Uncle Francis kam auf ihn zu. Seine Bewegungen wirkten so elastisch, als würde er jeden Moment losschnellen und die letzten zwei, drei Schritte über den kostbaren Orientteppich mit einem gewaltigen, raubtierhaften Sprung überwinden.
»Hey, hey!«, rief Thad, denn der Stahlfedermann hörte nicht auf, näherzukommen. Abwehrend reckte er ihm beide Handflächen entgegen. »Was willst du von mir?«
»Hast du nicht zugehört?«, entgegnete Fuller kopfschüttelnd. »Dir die Ohren langziehen, das ist es, was ich will.« Nur eineinhalb Schritte vor Thad blieb er stehen. Den langläufigen Colt ließ er sinken.
Thad reichte es. Seine Nerven würden gleich nicht mehr mitspielen, das wusste er. Er dachte an den Smith & Wesson in seinem Holster. Ein Schofield-Modell, Kaliber.45. Damit konnte er besser umgehen als jeder andere. Deshalb zog er vielleicht schneller, als der Alte seinen Colt hochkriegen konnte.
Aber würde er es fertigbringen, den Mann zu erschießen, dem er es verdankte, dass er überhaupt existierte?
»Hör auf mit dem Blödsinn«, verlangte er daher. »Was willst du wirklich?«