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Seit über 30 Jahren reitet Lassiter schon als Agent der "Brigade Sieben" durch den amerikanischen Westen und mit über 2000 Folgen, mehr als 200 Taschenbüchern, zeitweilig drei Auflagen parallel und einer Gesamtauflage von über 200 Millionen Exemplaren gilt Lassiter damit heute nicht nur als DER erotische Western, sondern auch als eine der erfolgreichsten Western-Serien überhaupt.
Dieser Sammelband enthält die Folgen 2527, 2528 und 2529.
Sitzen Sie auf und erleben Sie die ebenso spannenden wie erotischen Abenteuer um Lassiter, den härtesten Mann seiner Zeit!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 409
Veröffentlichungsjahr: 2025
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben
Für die Originalausgaben:
Copyright © 2020/2021 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2025 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Covermotiv: © Boada/Norma
ISBN: 978-3-7517-8217-3
https://www.bastei.de
https://www.luebbe.de
https://www.lesejury.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Lassiter 2527
Verschollen am Coyote Creek
Lassiter 2528
Ein Satteltramp aus Idaho
Lassiter 2529
Die Tage der Toten
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Contents
Verschollen am Coyote Creek
Ich wünschte, wir hätten den Coyote Creek schon hinter uns. Theo Willingham knirschte mit den Zähnen. Als Trail-Captain trug er die Verantwortung für mehr als einhundert Siedler, und gerade jetzt lastete sie ihm schwer auf den Schultern.
Vor ihnen lagen achtzig Meilen durch ein verrufenes Gebiet. In diesen Wäldern waren schon zahlreiche Menschen verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Geblieben waren nur Wracks verlassener Wagen und ausgebleichte Knochen von Maultieren und Ochsen, die aus dem schlammigen Erdreich ragten.
Sorgenvoll starrte der Trail-Boss in die Dunkelheit – und stutzte plötzlich. Der Nachtwind wehte ihm ein Stück Stoff vor die Stiefel, seidig und schwarz wie die Sünde. Was war denn das?
Ein Höllentrip lag hinter den Emigranten.
Und ihre Reise war noch nicht vorbei. Vor ihnen lagen mehr als fünfhundertfünfzig Meilen. Der Weg führte durch ein Gebiet voller Gefahren. Reißende Flüsse, Raubtiere und die ersten Winterstürme konnten ihr Ende besiegeln. Ebenso wie die Begegnung mit feindlich gesinnten Indianern.
Theo Willingham würde erst wieder ruhig schlafen, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten: Oregon City. Das hieß: wenn sie es jemals dorthin schafften.
Seit ihrem Aufbruch in Independence, Missouri, hegte er daran Zweifel. Er hütete sich jedoch, sie laut auszusprechen. Hoffnung war auf ihrem Weg oft das Einzige, was sie noch dazu brachte, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Und Hoffnung war ein zerbrechliches Gut.
Seitdem sie dem von Felsbrocken übersäten Ufer des Snake River folgten, lagen die steilen Blue Mountains vor ihnen. Bei schönem Wetter schien der gewaltige Gebirgsriegel zum Greifen nah zu sein. Dann machte der Ausblick den Siedlern das Herz weit und ihre Füße leicht. An diesem Tag jedoch hüllten sich die fernen Gipfel in düsteres Grau. Wolken bedeckten den Himmel und kündigten Regenfälle an. Der Abend senkte sich früh über den Fluss und zwang sie zum Lagern.
Theo Willingham starrte eine Weile nachdenklich auf die Seide nieder. Dann stopfte er sie in seine Westentasche. Sie würde ein halbwegs passables Taschentuch abgeben, und er verabscheute jede Art von Verschwendung.
Die Luft war schwer und feucht, und jeder Atemzug fühlte sich an, als würde er nasse Wolle inhalieren. In weniger als einer halben Stunde, so schätzte er, würde der Himmel einen heftigen Regenguss über ihnen entlassen. Vielleicht noch früher.
Hatte er in den ersten Wochen nach ihrem Aufbruch noch gebangt, seinen Zug in die Irre zu führen, musste er sich darum schon lange keine Sorgen mehr machen. Kadaver verendeter Zugtiere und zurückgelassenes Hab und Gut von früheren Siedlern markierten den Weg. Den Reisenden vor ihnen hatten noch Flüsse, Felsspitzen und merkwürdige Erd- und Felsformationen als Landmarke gedient. Ihnen jedoch wiesen bleiche Knochen die Richtung.
An diesem Tag hatten sie neunzehn Meilen hinter sich gebracht. Der schlammige Trail erschwerte ihr Vorankommen. Immer wieder blieben Wagen stecken und mussten mühsam angeschoben werden, ehe der Wagenzug seinen Weg fortsetzen konnte.
Morgens waren die Wälder noch licht genug gewesen, um ihnen die Aussicht auf die fernen Berge zu erlauben. Doch das Grün war mit jeder Meile dichter geworden, und nun hüllten Hemlocktannen und Sitka-Fichten sie ein wie ein grüner Ring, der sich um sie zusammenzog und die Außenwelt aussperrte.
Dunkelheit lag über dem Lager wie ein dicht gewebtes Tuch.
Im flackernden Schein der Feuer schienen die Schatten lebendig zu werden und über die Wagen und Zelte zu huschen wie Wesen aus einer anderen Welt. Theo Willingham hatte schon viel gesehen in seinen beinahe dreiundfünfzig Lebensjahren, und noch immer wurde er das Gefühl nicht los, dass es hier draußen mehr gab, als seine Augen zu sehen vermochten. Solche Gedanken konnten einen Mann hier draußen in den Wahnsinn treiben, deshalb schnaubte er missmutig und konzentrierte sich lieber auf seine Aufgaben.
Er packte den rechten Hinterlauf seines Pferdes und besah sich prüfend den Huf.
Ein Reittier konnte hier draußen zwischen Leben und Verdammnis entscheiden, deshalb versorgten die Siedler kleine Wunden und eingetretene Steine bei ihren Tieren sofort, ehe sie weiteren Schaden anrichten konnten.
Sorgsam prüfte Theo Willingham einen Huf nach dem anderen.
Im Lager herrschte derweil rege Betriebsamkeit.
Die Siedler bauten ihre Zelte auf. Über den Feuern brieten die Frauen Fleisch und buken Brötchen. Zu Beginn ihrer Reise hatten sie noch Eier gehabt, sicher gelagert in Fässern mit Maismehl, aber die waren längst verbraucht. Die Glücklicheren hatten eine Milchkuh bis hierher durchgebracht und morgens die überschüssige Milch in Eimern unter ihren rumpelnden Wagen gehängt. Zum Tagesende hatten sie nun Butter für ihre Brötchen.
Mehrere Siedler stiegen mit Eimern den steilen Hang in die Schlucht des Flusses hinunter, um Wasser zu holen. Der Snake River rauschte nur wenige hundert Yards von ihnen entfernt, aber so tief unter ihnen, dass es mühsam war, Wasser zu holen.
Nun, wenigstens das würde sich ändern, sobald sie den Coyote Creek erreichten.
Theo Willingham war auf dem Trail vorausgeritten und hatte die Lichtung als Lagerplatz bestimmt. In den Plains hatten sie die Wagen abends zu einem Rund aufgefahren und in der sicheren Wagenburg genächtigt. Hier reichte der Platz dafür nicht aus, deshalb standen die Wagen hufeisenförmig beisammen. Pferde, Maultiere und Ochsen grasten dazwischen. Auf drei Seiten geschützt von den Wagen. Das war nicht perfekt, aber im Improvisieren waren sie inzwischen Meister.
Was war unterwegs nichts schon alles schief gegangen.
Büffelherden hatten mehr als nur eine heiß ersehnte Wasserstelle vor ihnen verwüstet, das Wasser mit Schlamm aufgewühlt und durch Kot untrinkbar gemacht. Sie hatten es durch Stoff gefiltert und mit Kaffee versetzt, um es halbwegs genießbar zu machen. In den Plains hatte die Hitze ihnen fast den Verstand geraubt. Räder waren gebrochen, als die nächsten Bäume gut fünfzig Meilen entfernt gewesen waren. So hatte der Esstisch der Applegates dran glauben müssen. Das Holz war zu Rädern verarbeitet worden. Die Cholera hatte ein Dutzend von ihnen dahingerafft.
Einhundertundfünf Siedler waren noch übrig. Bald würden sie auch wieder mehr sein, denn einige der Frauen waren guter Hoffnung.
Der Trail gab und nahm.
Doch seine Tage waren gezählt. In wenigen Jahren würde die transkontinentale Eisenbahn vollendet sein. Wenn man den Gerüchten glauben durfte, würde die Reise zur Westküste mit dem Zug nur einen Bruchteil von der Zeit dauern, welche die Wagen benötigten. Der Trail würde verwaisen und in Vergessenheit geraten.
»Sieh dir das an, Boss!« Alfred Cumming stiefelte um einen der Wagen herum. Er reiste als Helfer mit und scheute keine schwere Arbeit. Dafür hatte er eine Vorliebe für Kautabak, die seine Zähne gelb gefärbt hatte, und für seine Mundharmonika, mit der er abends gern aufspielte. Seine Hände waren rau und schrundig wie die Borke einer Hemlocktanne. »Mit dem verdammten Speck hat mich der Händler in Fort Boise hereingelegt!« Anklagend reckte er die Schwarte in die Höhe. »In dem Ding ist mehr Leben, als ich bezahlt habe.«
Tatsächlich ringelten sich Maden in dem gräulichen Speck.
»Mehr Fleisch für dich«, konstatierte Theo Willingham trocken.
»Darauf verzichte ich gern. Lieber bleibe ich beim Butterbrötchen.« Sein Helfer furchte missmutig das Gesicht. »Sag mal, was hast du denn da?« Er zupfte den hauchfeinen schwarzen Stoff aus seiner Westentasche, hielt ihn in die Höhe und beäugte ihn. »Heiliger Rauch! Ist das das, wofür ich es halte?«
»Ein Taschentuch ist es«, brummte Willingham. »Ich habe es da drüben gefunden.«
»Rate noch mal.«
»Was soll das bedeuten?«
»Dass ich auf der Stelle meine Socken verspeise, wenn dieses feine Stück nicht zur Unterwäsche einer Dame gehört.«
»Was redest du denn da?« Theo Willingham beäugte seinen Fund genauer. Und mit einem Mal stieg Hitze in seine Wangen. Sein Helfer hatte nicht Unrecht. Das gute Stück wies entfernte Ähnlichkeit mit etwas auf, das er einmal an einem Girl in St. Louis gesehen hatte. Allerdings war es weitaus zarter und verruchter.
Er ließ die Seide fallen, als hätte er sich daran verbrannt.
Sein Helfer grinste breit. »Wüsste zu gern, wer das verloren hat.«
»Das geht uns nichts an«, wehrte der Trail-Captain unwirsch ab. »Wolltest du nicht zu Abend essen?«
»Das würde ich, wenn meine Mahlzeit nicht bereits anderweitig vergeben wäre.« Angewidert starrte der Ältere auf die Maden.
»Mrs. Porter macht einen Apple-Pie, wenn mich meine Nase nicht trügt. Vielleicht gibt sie dir ein Stück ab, wenn du ihnen frisches Wasser besorgst. Ihr Mann hat mit den Ochsen zu tun, und Mrs. Porter sollte in ihrem Zustand keine schweren Eimer schleppen.«
»Das ist eine gute Idee, Boss. Sogar eine ganz hervorragende.« Die Miene des Oldtimers hellte sich auf. Er ließ den Speck fallen und stapfte davon. Immer dem Duft von getrockneten Äpfeln und Zimt nach.
Theo Willingham schnaufte tadelnd und machte sich daran, Erde mit seiner Stiefelspitze wegzuscharren und den Speck zu vergraben, ehe er Schwarzbären oder einen Puma anlocken konnte.
Anschließend fütterte er sein Lagerfeuer mit frischem Holz.
In drei Tagen würden sie die nächste Stadt erreichen, schätzte er. Längst schon war der Trail nicht mehr so verlassen wie früher. Noch vor fünf Jahren war der Trail über Hunderte Meilen menschenleer gewesen. Inzwischen stieß man immer öfter auf Spuren von Besiedelung. Es gab einige Fähren, Brücken und Handwerker, die sich ihre Dienste gut von den durchziehenden Siedlern bezahlen ließen.
Dann wieder kam man durch schier unberührte Landstriche.
Wie die Wildnis, die sich vor ihnen ausbreitete.
Keine gute Gegend. Das wusste er verdammt gut.
Hier trieb sich allerlei Raubzeug herum.
Zwei- und vierbeiniges.
Der Arm des Gesetzes reichte nicht bis hierher.
Kein Sternträger war den marodierenden Banditen gewachsen.
Einige hatten es versucht. Am Ende ritten sie mit den Outlaws oder sie fanden sich auf dem Stiefelhügel wieder. So oder so: Für Reisende war das Gebiet ein weiteres Wagnis auf ihrem Weg gen Westen.
Theo Willingham strich seinem Braunen über die Stirn. Der Wallach steckte den Kopf in das Grün, das hier reichlich wuchs. Derweil prüfte der Trail-Captain seinen Revolver und stiefelte los. Jeden Abend patrouillierte er einmal um das Lager, wechselte ein paar Worte mit den Siedlern und schlichtete, wenn es Zwist gab.
Außerdem schaute er nach jedem Mann, der zur Wache eingeteilt war.
Er war gerade auf dem Weg zu Stew, dem Iren, als sich sein Stiefel in einer Brombeerranke verfing. Er strauchelte, verlor das Gleichgewicht und schloss einen Wimpernschlag später Bekanntschaft mit Dornen, die seine Haut ritzten.
Fluchend rappelte er sich wieder auf – und bemerkte aus dem Augenwinkel eine merkwürdige Formation, die sich zwischen den Bäumen abzeichnete. Die Lichter des Lagerfeuers reichten nicht aus, um sie zu erhellen, aber sie erweckte doch sein Interesse. Er strebte zu seinem Zelt, holte sich eine Öllampe und zündete sie an.
Dann stapfte er los, um sich dieses Gebilde aus der Nähe anzusehen.
Vermutlich nur ein Felsen, sann er. Nichts Besonderes. Ich habe nur keine Ruhe, ehe ich es mir nicht angesehen habe.
Wenig später schnaufte er verblüfft.
Es war kein Felsen.
Es war ein Buggy.
Und zwar keiner der Wagen, mit denen die Siedler unterwegs waren.
Das Gefährt lag umgestürzt auf der Seite. Allerlei Kisten und persönliche Habe lagen ringsum verstreut. Im Lichtschein der Funzel deuteten die Sachen auf eine Frau hin. Ein paar Kleider. Einige Ballen Stoff. Eine Teppichstofftasche.
Das Licht streifte ein Pferd. Der Schimmel war noch eingespannt, hingestreckt im dichten Grün. Irgendein Raubtier hatte sich an dem Kadaver gütlich getan. Der Leib war von gierigen Klauen aufgerissen. Blutige Klumpen lagen verstreut.
Theo Willingham hob die Lampe, betrachtete die Überreste prüfend.
Dem armen Tier wurde zuerst der Hals aufgerissen. Ein Schwarzbär, würde ich sagen. Unwillkürlich zog er seinen Revolver und spannte den Hahn. Wachsam spähte er umher. Zwar glaubte er nicht, dass sich der Angreifer noch in der Gegend aufhielt. Sie waren vor einer guten Stunde angekommen und hatten ihn vermutlich mit ihrem Lärm verscheucht. Trotzdem sah er sich lieber vor.
Wo waren die Menschen, die zu diesem Buggy gehörten?
Sein Blick schweifte umher, während die ersten Tropfen von Himmel fielen und auf seinen Hut tropften. Er befürchtete nichts Gutes. Wenn das Pferd so übel zugerichtet war, wie musste es da erst einem Menschen ergangen sein?
Da! Zwischen einigen Bahnen grober Wollstoffe lag eine Gestalt! Eine Frau! Zierlich wie ein Mädchen. Mit langen rotblonden Haaren, die wirr um ihr schmales Gesicht hingen. Streifen von Blut und Schmutz zogen sich über ihre Wangen. Theo hätte seinen linken Stiefel darauf gewettet, dass sie bildhübsch war, wenn sie gebadet war. Ihr dunkelblaues Kleid war staubig und an der rechten Schulter zerrissen. Darunter blitzte cremig weiße Haut hervor.
So reizend, ging es ihm durch den Sinn. Ein Jammer, dass sie tot ist ...
Im selben Augenblick gab die Unbekannte ein Stöhnen von sich.
Theo Willingham machte einen Satz rückwärts.
Sie lebte? Wie um alles in der Welt war sie den Reißzähnen entkommen?
Er stürmte zu ihr hinüber, stellte die Lampe ab und rüttelte die Unbekannte an der Schulter.
»Miss? Können Sie mich hören? Miss?«
Sie stöhnte wieder, ließ die Augen jedoch geschlossen. Ein Wunder war das freilich nicht. In ihren Haaren klebte Blut. Sie musste einiges abbekommen haben, das arme Ding. Theo zögerte nur kurz, dann steckte er seinen Revolver zurück ins Holster, schob seine Arme unter die Fremde und hob sie hoch. Sie wog kaum mehr als der Biber, den er im letzten Sommer gefangen hatte.
Die Lampe musste er zurücklassen, aber er fand seinen Weg zurück zum Lager auch so.
»Halten Sie durch, Miss«, murmelte er, obwohl er sich keineswegs sicher war, dass sie ihn hören konnte. Trotzdem fügte er für alle Fälle hinzu: »Gleich sind Sie in Sicherheit.«
Als er sich seinem Wagen näherte, kamen ihm sogleich einige Siedler entgegengelaufen und starrten halb entgeistert, halb beunruhigt auf die junge Frau auf seinen Armen.
»Wen bringst du uns denn da, Theo?«
»Eine Frau? Sag mal, ist die etwa vom Himmel gefallen?«
»Eher von einem Buggy«, brummte er. »Alfred? Hör zu: Sag den Wachen Bescheid, dass sie die Augen offenhalten. Ein Schwarzbär hat das Pferd dieser Frau gerissen. Das soll unseren Tieren nicht auch passieren.«
»Verstanden.«
»Nimm dir ein paar Männer und durchkämm die Gegend. Schaut, ob die Frau einen Begleiter hatte. Womöglich ist er auch verletzt. Da drüben steht meine Lampe. Dort ist ihr Wagen mit ihren Sachen. Schafft her, was noch zu gebrauchen ist. Ich möchte nicht, dass der Regen oder die Raubtiere ihre Sachen vollends ruinieren.«
»Schon so gut wie erledigt.« Sein Helfer nickte bereitwillig. »Wird sie durchkommen, Boss?«
»Weiß ich noch nicht. Sie scheint ziemlich mitgenommen zu sein.«
»Verdammte Gegend ist das hier, verdammte Gegend.«
Dem hatte der Trail-Captain nichts hinzuzufügen.
Behutsam legte er die Unbekannte vor seinem Zelt ab.
»Was ist los?« Noch weitere Siedler strebten herbei, während Alfred losstiefelte, um seine Aufträge auszuführen. Wie ein Lauffeuer ging es im Lager herum, dass eine junge Frau gefunden worden war. Bald standen die Siedler in einem Kreis um die Unbekannte herum.
Die junge Josefine Porter brachte eine Schüssel mit Wasser, Tücher und eine abgegriffene Ledertasche mit Medikamenten und Verbänden. Sie hatte ein wenig Mühe, sich mit ihrem runden Bauch neben der Fremden niederzulassen. Ihr Vater war Arzt gewesen und mit auf dem Trail unterwegs, aber bei einem Gewitter vom Blitz erschlagen worden. Von ihm hatte sie einige Kenntnisse in Medizin.
Behutsam machte sie sich daran, die Unbekannte zu untersuchen.
»Sie hat eine böse Beule am Kopf«, stellte sie fest. »Muss ihn sich verletzt haben, als ihr Wagen umgestürzt ist. Es ist ein Wunder, dass noch Atem in ihr ist.«
»Wird sie überleben?«
»Schwer zu sagen. Bei Kopfverletzungen weiß man leider nie ...«
Zwei Frauen traten vor und betrachteten die Fremde forschend.
Die Jüngere von ihnen war Violet. Sie hatte in einem Saloon im Osten gearbeitet, ehe sie sich zu der Reise in den Westen entschlossen hatte. Ihr weinrotes Kleid war hochgeschlossen, schmiegte sich jedoch so eng um ihren Körper, dass es mehr enthüllte, als es verbarg.
»Ihr könnt sie in meinen Wagen legen. Dort kann sie sich erholen. Ich habe genügend Platz«, bot sie freundlich an.
»Moment mal!«, schaltete sich die zweite Frau ein. Mit ihrem verkniffenen Gesicht und dem grauen Kleid erinnerte sie an ein verstimmtes Faultier. »Wer hat gesagt, dass wir sie mitnehmen?«
»Nun, Prudence, wir können sie wohl kaum hierlassen, nicht wahr?«
»Aber selbstverständlich können wir das. Unsere Vorräte sind begrenzt und unser Weg noch weit. Wir dürfen uns nicht mit ihr abschleppen. Womöglich fehlen uns genau die Lebensmittel, die wir an sie verfüttern, um sicher unser Ziel zu erreichen.«
»Welchen Wert hätte es, anzukommen, wenn wir unterwegs unsere Menschlichkeit verlieren?«, gab einer der Siedler zu bedenken. »Bewahren wir unsere Ehre und helfen wir ihr.«
»Ehre wird uns nicht satt machen und auch nicht unseren Durst stillen, wenn wir in der Wildnis umherirren«, schnaufte Prudence Marsden. »Außerdem hat sie nicht bezahlt. Wo kommen wir denn hin, wenn wir jeden dahergelaufenen Streuner auflesen und durchfüttern?«
»Mein Gewissen würde mir keinen ruhigen Tag mehr lassen, wenn wir ihr nicht helfen«, sagte Theo Willingham ruhig. Die meisten Siedler waren seiner Meinung.
»Wir können sie auf keinen Fall verletzt und allein der Wildnis aussetzen.«
Damit war es entschieden: Sie würden sich um die Fremde kümmern.
Noch immer lag sie ohne Besinnung da. Josefine Porter wusch ihr behutsam das Gesicht, aber auch das brachte sie nicht zu sich.
Es dauerte nicht lange, dann kehrte Alfred zurück und schleppte eine Kiste herbei.
Ein breites Grinsen kerbte das Gesicht seines Helfers, gleichzeitig waren seine Ohrspitzen dunkelrot verfärbt.
»Da ist etwas, das Sie sich ansehen sollten, Boss.«
»Was, hast du etwa in den Sachen dieser Frau gestöbert, Al?« Theo Willingham bedachte ihn mit einem finsteren Blick.
»Hatte gar keine Wahl, Boss. Die Sachen lagen ja überall verstreut. So etwas habe ich noch nicht gesehen. Sie etwa?« Damit zog er etwas aus der Kiste, das wie eine Unterhose aussah, nur viel zarter, kleiner und, ja, verführerischer.
Bei Gott! Das Ding war nur ein Hauch von Nichts!
Ihm wurde ganz anders bei dem Anblick.
Prudence offenbar auch. Ihre Gesichtsfarbe wechselte von Blass zu Rot und wieder zurück. »Da habt ihr es! Sie ist ein Flittchen! Lasterhaft und ohne Scham!«
»Das ist doch nur Unterwäsche«, begütigte Violet.
»Das ist keine Unterwäsche!«, schäumte Prudence. »Das ist ein Skandal.«
»Nur, weil die Sachen ein wenig luftiger sind, als wir es gewöhnt sind ...«
»Ein wenig luftiger!« Die Augen traten Prudence aus dem Kopf. »Nicht mal tot würde ich so etwas anziehen!«
»Du müsstest lange tot sein, ehe du da reinpasst«, kommentierte Violet trocken.
Der Blick, den Prudence auf sie abschoss, hätte eine weniger gefestigte Frau sicherlich aus ihren Stiefeletten geholt. Violet jedoch blieb ruhig.
»Du kannst nichts tun oder sagen, das mich davon abbringt, ihr zu helfen«, erklärte sie. »Und jetzt sei still und hilf uns lieber.«
»Ich werde euch bestimmt nicht helfen, diese ... nein, ein solches Wort nimmt eine Lady nicht einmal in den Mund.« Prudence giftete weiter, aber niemand achtete noch sonderlich auf sie. Die meisten Siedler betrachteten die junge Frau, die reglos dalag und gar nicht zu bemerken schien, welche Aufregungen sie hervorrief.
Einige schauten auch auf den dreibeinigen Hund, der unvermittelt aus dem Dickicht humpelte und der Fremden zutraulich über das Gesicht leckte.
»Der Kleine kennt sie wohl«, murmelte Josefine Porter verdutzt.
»Wenn der Hund sie mag, muss sie ein gutes Herz haben«, war sich Violet sicher. Sie krempelte die Ärmel ihres Kleides hoch, nahm den Hund auf ihren Arm und wandte sich bittend an Theo Willingham. »Können Sie sie zu meinem Wagen bringen? Dann kümmere ich mich um sie.«
»Selbstverständlich.«
»Ich danke Ihnen ...«
»Ihr werdet noch an meine Worte denken!«, rief Prudence. »Diese Frau wird uns nichts als Ärger bescheren!«
»Ärger wäre auf unserer Reise nichts Neues.« Theo Willingham musterte die Frau. Wie blass sie war. Gewiss war sie schon halb tot.
Das arme Ding würde die kommende Nacht vermutlich nicht überleben ...
✰
In ihrem Kopf schien ein Schwarm wilder Bienen eingezogen zu sein. Wie anders war das schmerzhafte Stechen zwischen ihren Schläfen zu erklären? Heiliger Rauch! Ihr brummte der Schädel, als hätte sie ihn gegen eine Mauer gerammt. Mehrfach.
Linnet blinzelte und wünschte sich sogleich, sie könnte wieder in das neblige Weiß des Vergessens versinken, aus dem sie gerade erst auftauchte.
Das Licht tat weh!
Hastig kniff sie die Augen wieder zu.
Weshalb schwankte der Boden unter ihr nur so?
Jedes Rumpeln vervielfachte den Schmerz in ihrem Kopf noch. Es raubte ihr die Fähigkeit zu klarem Denken. Ihr ganzes Sein reduzierte sich auf den grellen roten Punkt aus Pein hinter ihren Augen.
Sie tastete unter sich, spürte warme Wolldecken und machte noch einen Versuch. Sie richtete sich auf und öffnete vorsichtig die Augen. Jetzt endlich nahm sie ihre Umgebung wahr. Sie lag in einem Planwagen. Vor ihr saß eine Frau auf dem Kutschbock und hielt die Zügel fest in ihrer Hand. Von hinten war von ihr nicht viel mehr als ein riesiger Strohhut und ein lilafarbenes Kleid zu sehen, das mehrfach geflickt zu sein schien und von einem grauen Schleier aus Staub bedeckt war.
Linnet tastete nach ihrem Kopf und stöhnte unwillkürlich.
Da drehte sich die Fremde um und warf einen prüfenden Blick nach hinten. Sie war einige Jahre älter als Linnet und offenbar schon lange unterwegs. Ihre Haut war von der Sonne verbrannt und so trocken, dass sie sich auf dem Nasenrücken schälte. Ihre Lippen waren trocken und rissig, aber als sie bemerkte, dass Linnet sie ansah, breitete sich ein Lächeln auf ihrem herzförmigen Gesicht aus.
»Na, ausgeschlafen?«
»Was ist mit mir passiert? Wo bin ich?«
»In meinem Wagen. Ich bin Violet. Wie fühlst du dich?«
»Als wäre eine Stampede über mich hinweggerast.«
»Das glaube ich dir. Du hast da eine ziemlich böse Wunde am Kopf.«
»Wie lange war ich weg?«
»Zwei Tage.«
»So lange?«
»Ich habe dir etwas zu trinken und ein wenig Suppe eingeflößt, aber es ist mir nicht gelungen, dich zu wecken.«
Linnet erinnerte sich dunkel an ermutigende Worte. Durchhalten sollte sie. Bei ihnen bleiben. Während sie noch grübelte, ob das Violet gewesen sein konnte, tauchte hinter einem Stapel Kisten ein weißer Kopf mit schwarzen Flecken um das rechte Auge auf.
»Freckles! Du lebst!« Sie streckte die Arme aus, hob den kleinen, dreibeinigen Hund hoch und drückte ihn an sich. Er schleckte ihr mit breiter Zunge über das Gesicht und wedelte, dass sein ganzes Hinterteil in Bewegung geriet.
»Der Kleine hängt an dir, was? Einen süßen Beschützer hast du da. Hat Prudence angebellt, als wollte er sie jeden Moment verschlingen. Hat ihm einen guten Knochen eingebracht.« Violet kniff ein Auge zu, ehe sie sich wieder nach vorn drehte.
»Ich hab Freckles beim Beerensammeln gefunden. Er war mit einer Pfote in einer Falle gefangen und schon halbtot. Ich habe ihn aufgepäppelt. Nur seine Pfote konnte ich nicht retten.«
»Dann habt ihr euch nicht gesucht und doch gefunden. So fangen die besten Beziehungen an.« Ein Lächeln schwang in der Stimme der anderen Frau mit. »Ich bin froh, dass du aufgewacht bist. Die anderen dachten schon, du würdest es nicht schaffen, weißt du? Du warst eine ganze Weile weggetreten, deshalb mussten wir uns entscheiden, was wir mit dir machen. Zurücklassen konnten wir dich nicht, deshalb haben wir dich mitgenommen.«
»Mitgenommen?« Linnet strich sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Wohin fahrt ihr denn dann?«
»Nach Oregon City.«
Oregon City. Das mussten noch über fünfhundert Meilen sein. Mindestens.
Linnet spähte über die Schulter der anderen Frau und bemerkte einen Wagenzug vor ihnen. Wagen an Wagen reihte sich aneinander. Sie schaute nach hinten – und sah eine Herde von Pferden, die hinter ihnen lief. Weiter hinten kam das Hornvieh, getrieben von den Rufen und Peitschen der Treiber, welches die Tiere in Gang hielt. Links und rechts des schlammigen Trails lagen Hügel, die so dicht bewaldet waren, dass sie fast schwarz wirkten. »Wir sind der letzte Wagen?«
»Und wir schlucken den Staub, den die anderen vor uns aufwirbeln.« Violet seufzte leise. »Dafür können wir uns bei Prudence bedanken. Sie hat darauf bestanden, mich ganz nach hinten zu verbannen. Sie hofft vermutlich, dass es mich bei einem Überfall zuerst erwischt.«
»Sie kann dich wohl nicht leiden?«
»Ich habe früher in einem Saloon gearbeitet. Hab getanzt und den Cowboys eine schöne Zeit bereitet.« Violet nahm eine Hand vom Zügel und machte eine vage Bewegung. »Das ist aber nichts für die Ewigkeit. Ich wünsche mir eine Familie, ehe es zu spät dafür ist. Im Westen werden Frauen gesucht. Ich möchte gern heiraten, vielleicht auf einer Farm leben, eine Familie haben ...« Ihre Stimme verlor sich in einem sehnsüchtigen Seufzen.
Linnet lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand des Wagens.
»Ich hoffe, findest, was du suchst.«
»Danke.« Violet schaute sich nach ihr um. »Möchtest du mir erzählen, was passiert ist? Wir haben deinen Buggy umgestürzt im Wald gefunden. Nur dich und deinen Hund. Niemanden sonst. Was hat dich in diese Lage gebracht?«
»Mein Mann ist am Fieber gestorben. Wir waren erst wenige Wochen verheiratet, deshalb war sein Bruder der Ansicht, sein Haus und sein Geld würden ihm zustehen und nicht mir. Als ich mich weigerte, auszuziehen, hat er sich nachts in hereingeschlichen, um mich zu ermorden. Ich habe mich gewehrt, hab ihm den Kaminhaken über den Schädel gezogen. Da ist er auf und davon.«
»Hast du das dem Marshal gemeldet?«
»Mein Schwager ist der Marshal in unserer Stadt.«
»Oh!«
»Ich hätte keine ruhige Minute mehr gehabt. Außerdem gab es nichts mehr, was mich gehalten hätte, also habe ich den Wagen und Vorräte gekauft und bin losgefahren. Ich möchte an die Küste und ein neues Leben anfangen.«
»Dann haben wir dieselbe Richtung. Du kannst mit uns reisen. Ich bin froh, wenn du mir mit dem Wagen hilfst. Du weißt, wie man kutschiert. Ich bin froh, wenn wir uns abwechseln können und ich zwischendurch auch mal nebenher laufen kann.«
»Abgemacht.« Dankbar sah Linnet die andere Frau an.
»Kannst du schießen?«
»Kann ich. Und ich backe leidlich gute Pfannkuchen.« Linnet tastete prüfend ihr Kleid ab und atmete auf. Sie hatte ihren Schmuck in den Saum ihres Rocks eingenäht. Er war noch da. Aber was war mit ihren Sachen? Ihr Blick flirrte durch das Innere des Wagens. Einige ihrer Kisten und ihre Truhe konnte sie entdecken.
»Wir haben einiges von deinen Sachen aufgesammelt.« Violet hatte ihre Suche offenbar richtig interpretiert. »Wurdest du überfallen?«
»Ein Bär hatte es auf mein Pferd abgesehen. Er stürmte plötzlich auf uns zu. Mein Pferd wurde panisch und floh, weg vom Trail, und bevor ich es mich versah, stürzte mein Buggy um. Ich muss mir den Kopf irgendwo angeschlagen haben. Es tat fürchterlich weh, das weiß ich noch. Dann wurde alles schwarz.«
»Von dem Kopfweh wirst du noch eine Weile etwas haben, fürchte ich. Sieh mal in das Kästchen zu deiner Linken. Da drin sind meine Arzneien. Siehst du die braune Flasche mit dem weißen Pulver? Davon solltest du etwas auf deine Zunge tun und mit Wasser nachspülen. Das sollte helfen. Hier ...« Violet reichte ihr einen Lederbeutel mit Wasser.
Linnet schüttete sich etwas von dem Pulver in den Mund. Es schmeckte gallebitter, deshalb spülte sie hastig nach.
Nach einer Weile ließ das wütende Ziehen in ihrem Kopf tatsächlich nach.
Sie kletterte nach vorn zu Violet und setzte sich neben sie.
Über ihnen glühte der Himmel wie Eisen im Feuer. Der Abend senkte sich über die Wälder und kühlte die Luft spürbar ab. Der Trail führte stetig bergan. Der Wagenzug wurde spürbar langsamer. Erschöpfung machte sich breit.
Als sich die Dämmerung ausbreitete, fuhren die Wagen im Halbkreis zusammen und die Siedler schlugen ihr Lager auf.
Feuer wurden entzündet, Zelte aufgestellt und alle Vorbereitungen für die Nacht getroffen. Das Vieh wurde ausgeschirrt und zum Weiden gebracht. Ein Bach plätscherte am Lager vorbei, versorgte sie mit frischem Wasser. Jäger wurden ausgeschickt, um Wild zu schießen und den Speisezettel der Reisenden aufzubessern.
Linnet half Violet dabei, ihre Ochsen abzuschirren und ihren Wagen für die Nacht zu sichern. Sie war gerade dabei, Decken im Zelt auszubreiten, als ein Mann zu ihnen kam. Er stellte sich als Theo Willingham vor.
»Ich habe Sie gefunden, Ma'am«, sagte er, nahm seinen Hut ab und strich glättend über seine Haare.
»Dann muss ich Ihnen danken. Wenn Sie mich nicht aufgespürt hätten, wäre ich jetzt wohl schon nicht mehr am Leben.«
»Bin froh, dass ich helfen konnte.« Der Trail-Captain ließ sich von ihr erzählen, wer sie war und wohin sie wollte. Er hatte nichts dagegen, dass sie sich seinem Zug anschloss, allerdings hegte er Bedenken bezüglich ihrer Gesellschaft. »Violet ist womöglich nicht die passende Begleitung für eine Lady«, sagte er nachdenklich.
»Doch, absolut.«
»Nun, wenn Sie meinen.« Er stülpte seinen Hut wieder auf. »Ich muss nach den Wachen sehen. Wenden Sie sich gern an mich, wenn Sie etwas brauchen.«
»Das werde ich nicht vergessen.« Linnet bedankte sich noch einmal. Als er davonstapfte, kletterte sie auf den Wagen und öffnete den Deckel ihrer Truhe. Sie wollte die Gelegenheit nutzen und sich im klaren Wasser des Bachs waschen. Doch als sie nach der Seife griff, spürte sie plötzlich eine Hand, die sich vertraulich auf ihre Kehrseite legte!
Empört wirbelte sie herum und blickte in das sonnenverbrannte Gesicht eines Fremden. Er beugte sich von draußen herein, griente und entblößte dabei zwei Reihen schwarzer Zahnstummel.
»Was haben wir denn hier für ein reizendes Täubchen?«
»Eines mit Krallen«, fauchte Linnet. »Wenn Sie nicht sofort Ihre Hand da wegnehmen, breche ich Ihnen sämtliche Finger.«
Er stieß ein heiseres Lachen aus – bis sie blitzschnell seine Hand packte und nach hinten bog.
Er heulte auf. »Hör auf! Ist ja schon gut. Ich hab's kapiert. Hör auf!«
Da ließ sie los und bereute es sofort, denn er sprang mit einem Satz zu ihr auf den Wagen und warf sich auf sie!
»Kratzbürstig hab ich sie am liebsten«, keuchte er.
Linnet riss ihren Kopf nach oben und traf sein empfindliches Kinn. Er jaulte auf und rollte sich von ihr herunter. Allerdings hatte der Treffer ihr Schädelbrummen wieder aufflammen lassen. Sie sprang auf die Füße und aus dem Wagen.
Mit wütendem Gebrüll packte er den nächstbesten Gegenstand und warf ihn frustriert hinter ihr aus dem Wagen!
Es war eine ihrer Kisten. Der Deckel sprang auf, und der Inhalt verstreute sich über dem Boden. Zarte Spitzen und seidige Stoffe, zu luftiger Wäsche genäht.
Mehrere Siedlerinnen waren auf den Aufruhr aufmerksam geworden und eilten herbei. Eine Frau bückte sich nach einem Stück schwarzer Seide, das mit zierlichen Schnüren verziert war, hob es auf und betrachtete es verblüfft.
»Was um alles in der Welt ist denn das?«
»Ein Mieder.«
»So ein Mieder gibt es nicht.«
»Ich habe es selbst genäht. Es ist viel bequemer als die wuchtigen Stücke, die wir sonst tragen. Und nicht so warm.«
»Das ist unerhört. Durch den Stoff kann man sicherlich alles durchsehen. Ich meine ... oh!« Die Frau hatte glühend heiße Wangen, strich jedoch prüfend über die Seide. »Wie weich sie ist! Trägt man so etwas da, wo Sie herkommen?«
»Noch nicht.«
»Ich frage mich, was mein Mann sagen würde, wenn ich so etwas anziehen würde.«
»Gar nichts vermutlich. Einen Herzkasper würde er bekommen«, kommentierte eine andere Frau und machte den Hals lang, um die Stücke zu betrachten, die Linnet nun sorgsam wieder aufsammelte und in ihrer Truhe verstaute. Es hatte sie viele Nächte gekostet, die Wäsche zu nähen. Ihr Plan war es, im Westen eine Schneiderei zu eröffnen. Sie wollte ihr Geschick nutzen und Kleider, aber auch Unterwäsche anbieten. Nicht nur die gewohnten Stücke, die oft unbequem war, sondern auch reizvolle Teile aus Stoffen, welche die Haut und das Auge umschmeichelten ...
Der Zahnstummelträger sprang mit einem Satz vom Wagen und stiefelte davon, nicht ohne ihr noch einen grimmigen Blick zuzuwerfen.
Mit ihm hatte sie sich einen Feind geschaffen, das war nicht zu übersehen.
»Diese Wäsche ist nichts für anständige Frauen«, schnaubte eine dritte. »Das ist nichts zum Anziehen.«
»Das ist wahr«, betätigte Linnet mit feinem Lächeln. »Diese Stücke sind zum Ausziehen gedacht.«
Die Frauen bekamen rote Wangen und kicherten wie junge Mädchen.
Da schob sich eine weitere Siedlerin nach vorn und starrte Linnet grimmig an.
»Ich wusste es! Diese Frau hat in unserem Zug nichts zu suchen! Wir sind anständige Menschen! Wer weiß, warum sie wirklich allein unterwegs war. Womöglich hat sie jemanden umgebracht und ist auf der Flucht!«
»Hör bloß auf, Prudence.« Violet trat neben Linnet und stemmte die Hände auf die Hüften. »Hast du auch nur den Hauch eines Beweises für deine Behauptung?«
»Woher denn? Aber ich kenne solche losen Frauenzimmer und weiß Bescheid.«
»Gar nichts weißt du über Linnet. Du kennst sie nicht, also behalte deine haltlosen Beschuldigungen besser für dich. Weißt du nicht, wie schnell sich ein Gerücht verbreitet? Die Lüge ist schon tausend Meilen voraus, da zieht sich die Wahrheit noch die Stiefel an!«
Prudence schnappte nach Luft, sagte aber nichts mehr.
Linnet warf ihrer Wagengefährtin ein dankbares Lächeln zu und fuhr fort, ihre Waren wieder einzusammeln. Einige der Frauen halfen ihr, durchaus interessiert an ihren Stücken. Es war ein Wagnis, das sie eingehen wollte, das wusste sie. Nicht nur die Reise in den Westen war gefährlich, auch ihr Traum von einem eigenen Geschäft war gewagt. Sie wollte als Schneiderin arbeiten. Die Fähigkeiten hatte sie von ihrer Mutter abgeschaut, einer Näherin mit französischen Wurzeln. Unter Linnets Händen entstanden nicht nur praktische Kleider für den Alltag, nein, sie zauberte auch gewagte Wäsche. Wäsche, die durchaus gemischte Reaktionen hervorrief ...
»Sagt mal«, murmelte Violet plötzlich nachdenklich, »riecht ihr das auch?«
»Was denn?« Linnet hob den Kopf und schnupperte. Ein beißender Geruch wehte ihr in die Nase. Bevor sie jedoch zu einer Erwiderung kam, krachten in der Nähe plötzlich mehrere Schüsse!
✰
Dieser Halunke hat hier gelagert.
Lassiter ging in die Hocke und tauchte prüfend einen Finger in die Hinterlassenschaften des fremden Pferdes. Noch feucht waren die, vermutlich keine drei Stunden alt.
Er hatte aufgeholt.
Noch gestern war der Gesuchte mehr als einen halben Tagesritt voraus gewesen. Lassiter war geritten wie der Teufel, hatte sich kaum eine Rast gegönnt, und das hatte sich ausgezahlt. Er war dem Fliehenden nähergekommen.
Aber noch nicht nahe genug.
Der Halunke schien zu ahnen, dass er verfolgt wurde, denn er hatte sein Nachtlager nicht etwa hier aufgeschlagen, nein, nur kurz gerastet hatte er und war dann wieder aufgebrochen.
Wie es aussah, würde das noch ein verdammt langer Tag werden!
Der Agent richtete sich wieder auf und ließ seinen Blick prüfend durch die Höhle schweifen. Das letzte Licht des Tages fiel durch den Eingang herein, enthüllte jedoch nichts als nackten Felsen und feuchtes Gestein.
Nichts verriet, was den Gesuchten weitergetrieben hatte.
Er konnte nicht wissen, dass Lassiter ihm auf den Fersen war. Allerdings musste er in seinem Gewerbe ständig auf der Hut sein. Vermutlich war ihm die Flucht längst in Fleisch und Blut übergegangen.
Lassiter war von Washington geschickt worden, um Delgado zu finden und hinter Gitter zu bringen. Der Straßenräuber war ebenso berüchtigt wie berühmt. Letzteres vor allem für seine Fähigkeit, sich dem Gesetz immer wieder zu entziehen. Schon viele Sternträger hatten versucht, ihn zu fassen, und waren gescheitert. Im Westen erzählte man sich, er hätte magische Kräfte, aber daran glaubte Lassiter nicht. Nein, der Kerl war gerissen, und das hatte ihm schon mehrmals den Hals gerettet. Delgado hatte das Auftreten eines Gentlemans und die Schießkünste eines Revolverhelden. Er wusste sich aus gefährlichen Situationen zu manövrieren und scheute keinen Kampf.
Nun, das tat Lassiter auch nicht.
Delgado hatte schon zahllose Überfälle begangen. Er arbeitete allein. Und er war schnell. Verdammt schnell sogar. Sein Konterfei zierte einen ganzen Haufen Steckbriefe, und die Belohnung auf seine Ergreifung wuchs von Woche zu Woche.
Ganze Scharen von Kopfgeldjägern hatten sich die Dollars sichern wollen.
Nicht einem war es gelungen.
Wobei: Mehrmals war einer nah dran gewesen, das schon. Wenn auch nur die Hälfte der Gerüchte stimmte, die man sich erzählte, dann war Delgado schon häufiger verletzt worden und halb auf dem Weg in die Hölle gewesen, aber er hatte sich immer wieder erholt. Wie es aussah, wollte ihn der Teufel nicht haben.
Der fürchtet wohl, dass der Kerl seinen Laden übernimmt, sann Lassiter.
Der Agent der Brigade Sieben war dem Straßenräuber seit einem Überfall auf eine Transportkutsche der Powley-Minengesellschaft auf den Fersen. Seine Beute: weder Gold noch harte Dollar. Nein. Sprengstoff war es. Und zwar nicht wenig. Genug, um eine halbe Stadt in die Luft zu jagen. Was auch immer er damit vorhatte, war gewiss nichts Gutes. Lassiter wollte und musste ihn aufspüren und aufhalten.
Er folgte Delgados Spur seit über zwei Wochen. Er hatte sich an seine Fersen geheftet und verfolgte ihn durch die Wildnis. Der Straßenräuber hatte allerlei Tricks versucht, um etwaige Verfolger abzuschütteln. Er war meilenweit durch einen Bach geritten, hatte falsche Spuren gelegt und war nicht davor zurückgeschreckt, sich die Zeit zu nehmen und eine Falle zu bauen. Beinahe wären die mit Blättern getarnten Erdlöcher auf dem Trail Lassiter zum Verhängnis geworden. Sein Pferd hatte gescheut – und Lassiter hatte blitzschnell reagiert und es aufgenommen. Das hatte ihnen beiden den Hals gerettet. Groll brodelte in ihm, denn diese Löcher hatte er zuschaufeln müssen und dabei wertvolle Zeit verloren, weil er nicht wollte, dass nachfolgende Reisende ahnungslos ihre Pferde hineinlaufen ließen.
Lassiter verließ die Höhle, stieg wieder auf seinen Pinto und folgte weiter dem Wildpfad, der von Dornbüschen gesäumt wurde.
Auf dem schlammigen Boden hatte Delgado es schwer, seine Spur zu verwischen. Vermutlich setzte er deswegen eher auf Geschwindigkeit, denn auf Tarnung.
Lassiter war fest entschlossen, ihn einzuholen und dem Gesetz zu übergeben. Je eher er seinen Auftrag ausführen konnte, umso lieber war es ihm. Nach dem langen Ritt sehnte er sich nach einem Bad, einer warmen Mahlzeit und einem sinnlichen Girl in seinen Armen. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge ...
Verdammt noch mal!
Schüsse krachten in der Ferne.
Gewehre!
Mindestens fünf Waffen spien Feuer und Blei.
Und es wurden noch mehr.
Schreie gellten.
Frauenstimmen!
Lassiter drückte seinem Pferd die Fersen in die Flanken und preschte los!
Nun nahm er auch den Rauchgestank wahr, der von Westen heranwehte.
Er beugte sich tief über den Rücken seines Reittiers und sah bald einen Wagenzug vor sich. Ein Trupp Indianer hatte sich vor den Siedlern aufgebaut und feuerte!
Das war jedoch nur eine Ablenkung, wie dem großen Mann rasch klar wurde. Beißender Qualm wehte durch den Wald, machte die Tiere der Siedler wild und panisch. Pferde, Rinder, Maultiere – sie alle brachen durch und rasten davon!
Diese Strategie war ihm bekannt. Die Indianer hatten das Feuer gelegt! Die Tiere sollten durchgehen. Dann mussten sie sie nur noch einfangen.
Da hatten sie die Rechnung aber ohne ihn gemacht!
Auf keinen Fall würde er tatenlos zuschauen, wie unschuldige Siedler ihr Leben verloren. Die Männer hatten sich hinter den Wagen verschanzt, erwiderten den Bleihagel, aber die Indianer bewegten sich blitzschnell zwischen den Bäumen, umkreisten das Lager und waren kaum zu erwischen. Zu allem Überfluss wehte der Wind den Rauch geradewegs zwischen die Wagen der Siedler.
Die Schwaden machten sie halb blind!
Ihre Geschosse zackten in die Bäume, ohne Schaden anzurichten.
Dafür schossen sich die Angreifer allmählich auf sie ein!
»Aaaargh!« Hinter einem der Wagen kam ein ersticktes Gurgeln hervor.
Dort musste jemand getroffen worden sein!
Wie Donnerschläge krachten die Schüsse.
Ein weiterer, heller Schrei folgte. Diesmal vom letzten Wagen, der ein wenig abseits stand.
Noch ein Treffer?
Lassiter fluchte verhalten. Er beugte sich weiter vor, trieb sein Pferd an. Endlich war er nah genug heran, sprang aus dem Sattel und zog seine Winchester aus dem Scabbard. Da wurde er bereits bemerkt! Ein Kriegsschrei gellte, dann zischte dem Agenten das erste Blei um den Schädel. Blitzschnell rollte er sich herum. Er kam hinter einem kalbgroßen Findling zu liegen, lud durch und richtete sich auf.
Zu seiner Linken feuerten die Indianer, was ihre Gewehre hergaben. Ein Dutzend Angreifer waren es. Vielleicht mehr. In der anbrechenden Dunkelheit war das schwer auszumachen. Lassiter musste sich auf sein Gehör und das Krachen der Gewehre verlassen, und die schossen wild durcheinander. Rechts krachten die Schüsse der Siedler. Die mussten erschöpft sein nach dem langen Tag auf dem Trail, aber sie mobilisierten ihre letzten Kräfte und verteidigten sich.
Von ihnen sollte niemand mehr sein Leben verlieren.
Nicht, wenn er es verhindern konnte.
Wieder ein Schrei auf der Seite der Wagen.
War da noch jemand getroffen?
Lassiter kniff die Augen zusammen, bemerkte eine Gestalt, die zwischen den Schwaden umherhuschte und sich an den letzten Wagen anschleichen wollte.
Na, schön, komm nur näher, Freundchen!
Er zielte und krümmte den Zeigefinger.
Sein Gewehr spuckte Feuer und Blei.
Der Getroffene fiel wie eine gefällte Fichte.
Wütendes Geheul quittierte den Treffer! Plötzlich hagelten etliche Bleistücke auf ihn herein. Er duckte sich blitzschnell ab, spürte, wie eines der Geschosse seine rechte Wange ritzte und ihm eine brennende Wunde riss.
Er huschte ein Stück um den Findling herum, legte neu an.
Wieder konnte er vor sich die Umrisse eines Angreifers ausmachen. Der bewegte sich auf ihn zu und feuerte! Sein Bleistück fegte dem Agenten den Hut vom Kopf.
Lassiter hob die Winchester und erwiderte den bleihaltigen Gruß.
Sein Angreifer stürzte rücklings ins Grün und stand nicht wieder auf.
Lassiter lud nach und stürmte los. Er sprang über einen umgestürzten Baum, rannte geradewegs auf die Krieger zu und feuerte, was seine Winchester hergab.
Derweil wurde das Knistern und Prasseln des Feuers lauter.
Es kam näher!
Der Geruch brennender Bäume mischte sich mit dem des Pulvers, vergiftete die Luft und ließ die Augen brennen, als stünden sie in Flammen. Noch ließ der Regen auf sich warten. Der Himmel war schwer von den Wolken, aber wenn der Niederschlag ausblieb, standen sie bald vor einem neuen, noch gefährlicheren Problem: einem sich ausbreitenden Waldbrand!
Lassiter fluchte in sich hinein.
Seine Unterstützung schien den Mut der Siedler zu heben. Sie verdoppelten die Zahl ihrer Schüsse, wagten sich nun ebenfalls hinter ihren Wagen hervor und stürmten ihren Peinigern entgegen. Geradewegs in den Rauch hinein.
Brüllend setzten sie sich zur Wehr!
Damit hatten die Angreifer offenbar nicht gerechnet.
Wilde Rufe gellten.
Dann zogen sich die Indianer zurück! Sie sprangen auf ihre Pferde und flohen in die Dunkelheit des Waldes. Die Schüsse verstummten. Dafür war nun ein gedämpftes Rauschen zu hören. Es begann zu regnen!
Binnen weniger Augenblicke wurde der Niederschlag stärker.
Lassiter gestattete sich ein leises Aufatmen.
Mit einem Mal gellte ein kurzer Schrei in seiner Nähe. Er verstummte jedoch so schnell, als wäre er durch eine harte Faust aufgehalten worden.
Lassiter fuhr herum. Inmitten des Qualms ahnte er mehr, als dass er es sah, dass einer der Angreifer eine Frau quer vor sich auf sein Pferd geworfen hatte und mit ihr davonjagte. Ihre langen Haare wehten wie eine Flagge, so rotgolden wie Feuer. Sie wehrte sich, aber das nutzte ihr nichts. Er hielt sie gepackt, ließ nicht von ihr ab.
Wenig später hatten der Wald und die Dunkelheit den Fliehenden verschluckt!
✰
Linnet saß in der Klemme.
Und zwar gewaltig.
Der fremde Krieger hatte sich an sie herangeschlichen, als sie mit Nachladen beschäftigt gewesen war. Bevor sie noch wusste, wie ihr geschah, hatte er sie gepackt und vor sich auf sein Pferd gezogen. Das Gewehr, das ihr Violet überlassen hatte, hatte sie vor lauter Schreck fallen gelassen und ...
Oh! Violet! Die andere Frau war von einer Kugel getroffen worden und in die Knie gegangen. Linnet betete, dass die Verwundung nicht lebensgefährlich war. Sicher war sie sich da jedoch keineswegs. Violet war so blass geworden ...
Linnet wurde unsanft durchgerüttelt, als der Unbekannte mit ihr durch den Wald preschte, auf Pfaden, die er allein zu sehen vermochte. Für sie selbst war die Dunkelheit schier undurchdringlich. Es hätte sie nicht gewundert, wenn sie im vollen Galopp gegen einen Baum geprallt wären, aber das geschah nicht.
Allmählich wurde die Atemluft wieder klar und kalt. Sie entfernten sich weiter vom Lager, und Linnet hatte keine Ahnung, wie sie je wieder zurückfinden sollte.
Sie strampelte, wollte von dem Pferderücken springen, aber ihr Häscher hielt sie fest gepackt wie eine Eisenklammer. Der Geruch von Pferd und seltsam fremdartigen Kräutern stieg ihr in die Nase.
In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken umher wie Blätter im Sturm.
Was hatte er mit ihr vor?
Wollte er sie zu seiner Frau machen? Zur Sklavin?
Umbringen würde er sie vermutlich nicht. Wozu sollte er sich die Mühe machen, sie zu entführen? Er hätte sie gleich in ihrem Wagen töten können.
Seltsamerweise beruhigte dieser Gedanke sie.
Sie würde nicht sterben. Noch nicht jedenfalls.
Oder vielleicht doch?
Mit einem Mal krachte ein Schuss hinter ihnen. Ein Remington war es, der da Feuer und Blei spuckte, Linnet kannte das Geräusch nur zu gut. Ihr Mann hatte diese Waffe gemocht und gemeint, sie würde ihm am besten liegen.
Ihr Mann ... etwas in ihr zog sich schmerzlich zusammen.
Sie hörte das Dröhnen fremder Pferdehufe, das rasch näherkam.
Wer auch immer da kam, veranlasste den Krieger, sein Pferd schneller laufen zu lassen. Er spie einige Worte in einer fremden Sprache aus, deren Inhalt sie nicht verstand, aber der Klang war eindeutig der einer Verwünschung.
Linnet hoffte nur, wer auch immer ihnen da nachjagte, würde nicht versehentlich sie erschießen ...
Der Gedanke war ihr kaum durch den Kopf gegangen, als sie eine Bewegung rechts von sich erhaschte. Im nächsten Moment schien sich ein riesiger Schatten auf sie und ihren Angreifer zu werfen. Er riss sie beide vom Pferd.
Linnet prallte mit dem Rücken auf dem Boden auf. Sie überschlug sich mehrmals. Ein schmerzhaft harter Ruck ging durch ihren Leib. Die Luft wurde aus ihren Lungen gepresst, und sie war sich sicher, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte.
Da hörte sie den Krieger brüllen, drehte den Kopf und bemerkte überrascht, dass sich ein fremder Mann über ihrem Entführer aufgebaut hatte und ihn mit kräftigen Oberschenkeln an den Boden nagelte. Groß und kräftig war er, mit sandfarbenem Haar und einem markanten Gesicht. Sein Blick musterte sie, prüfend, offenbar sorgte er sich, sie könnte verletzt sein. Oder Schlimmeres.
Wärme breitete sich in ihr aus.
Dieser große Kerl gefiel ihr.
Sie wollte ihm gerade zu verstehen geben, dass es ihr gut ging. Da bemerkte sie die blitzende Klinge, die der Krieger unvermittelt in seiner Faust hielt. Er riss den Arm nach oben, aber der Fremde reagierte blitzschnell und fing den Hieb mit dem Unterarm ab. Die Klinge, die in sein Herz dringen sollte, fuhr stattdessen in seinen Arm. Der Fremde stieß den Atem aus und schmetterte im selben Augenblick die Faust gegen die Schläfe seines Gegners.
Das ließ bei diesem sämtliche Lichter ausgehen. Sein Körper erschlaffte.
Der Hüne schwang sich von ihm herunter, nahm seinen Gürtel ab und fesselte dem Angreifer damit die Arme und Beine zusammen. Dann kam er herüber und beugte sich über Linnet.
»Sind Sie verletzt, Ma'am?« Seine Stimme war warm und rauchig wie ein guter Whiskey.
»Ich glaube nicht«, flüsterte sie und horchte in sich hinein. Ihr Körper fühlte sich an wie ein einziger blauer Fleck, aber ernstlich verletzt war sie nicht. Nein.
Er streckte ihr eine Hand hin, half ihr beim Aufstehen.
»Mein Name ist Lassiter«, stellte er sich vor.
»Zu den Siedlern gehören Sie aber nicht, oder?«
»Nein, zu den Siedlern gehöre ich nicht. Ich bin mit einem Auftrag unterwegs und war zufällig in der Nähe, als die Krieger Ihr Lager angriffen.«
»Dann haben Sie den Kampf für uns gewendet. Ich glaube, es stand nicht gut. Der verflixte Rauch ... Wir konnten kaum sehen, wo wir hinschießen. Und dann kamen Sie und haben den Zorn der Angreifer auf sich gezogen.«
»Ja, das passiert mir manchmal.« Ein Lächeln huschte über das ernste Gesicht des Mannes.
»Mein Name ist Linnet. Ich reise erst seit kurzem mit den Siedlern.« Linnet schaute auf seinen verletzten Arm. »Sie bluten ja! Wir müssen die Wunde verbinden. Im Lager kann ich sie nähen, aber jetzt muss das reichen.« Sie bückte sich, riss ein Stück von ihrem Unterrock ab und wickelte es um seine Verletzung.
Die Pferde waren nicht mehr weit gelaufen und trotteten nun wieder heran.
Lassiter fing die beiden Tiere ein. Er half Linnet auf den Rücken seines Pintos und wollte sich gerade über den Krieger beugen, als hinter ihnen ein Schuss krachte.
Der Körper des Indianers zuckte noch einmal – dann lag er reglos.
Ein Bleistück hatte ihm den halben Schädel weggesprengt.
Linnet schrie vor Entsetzen.
Einer der Siedler ritt mit einer Schrotflinte in der Faust auf sie zu. Es war Joe Porter, dessen Frau Josefine ein Kind erwartete.
»Habe ich den Mistkerl erledigt?«, grollte er.
»Er war keine Gefahr mehr«, erwiderte Lassiter finster.
»Er hat noch geatmet, das ist für mich Gefahr genug.«
»Sir ...«
»Einer dieser Mistkerle hätte um ein Haar meine Frau und unser Ungeborenes erschossen. Es gibt keinen Frieden, solange diese Halunken noch am Leben sind.«
»Die Krieger wollten Sie nicht töten.«
»Ach nein? Dafür haben sie aber verdammt viel Blei vergeudet.«
»Sie wären alle längst tot, wenn das der Plan gewesen wäre. Nein, diese Männer wollten Ihre Pferde. Vielleicht auch die Rinder.«
Der Siedler stieß einen Fluch aus. »Woher wollen Sie das wissen?«
»Weil das Shoshoni sind. Sie durchstreifen diese Gebiete und sie sind verdammt gute Schützen.« Lassiter blickte auf den toten Krieger nieder und seine Miene verdüsterte sich. »Seine Brüder werden ihn suchen und dafür sorgen, dass er ein anständiges Begräbnis erhält.«
