Last Exit. Mein gefährliches Leben im Schnee - Benedikt Mayr - E-Book

Last Exit. Mein gefährliches Leben im Schnee E-Book

Benedikt Mayr

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Benedikt "Bene" Mayr war einer der besten deutschen Freestyle-Skifahrer. Er nahm an Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen teil, startete bei der Freeride World Tour und bei den X-Games, dem bedeutendsten Extremsportevent der Welt. Er lebte seinen Traum, reiste um die Welt, trat zu Wettkämpfen an und drehte spektakuläre Filme, für die er sich immer waghalsigere Tricks und Sprünge ausdachte. Ein Leben auf der Überholspur, voller Abenteuer – nach außen hin. In Wirklichkeit war es irgendwann nur noch eine Qual, der Sport ruinierte seinen Körper. Nach fünf Knieoperationen schluckte er täglich Schmerzmittel, verlor die Lust am Skifahren. Er stürzte sich ins Nachtleben, kam mit Drogen in Kontakt, geriet psychisch aus dem Gleichgewicht. Aber es gelang ihm, den Schein zu wahren, in den sozialen Medien folgten ihm fast hunderttausend Menschen, auch als Geschäftsmann wurde er erfolgreich. Bis irgendwann gar nichts mehr ging. In diesem Buch erzählt er erstmals seine ganze Geschichte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 375

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dies ist meine Geschichte. Eine Geschichte von Erfolgen und Niederlagen, guten wie schlechten Tagen, von glücklichen und traurigen Zeiten – und von Zeiten, in denen ich weder das eine noch das andere war, nicht einmal ich selbst. Oder ein anderes Selbst, das nur zum Vorschein kam, wenn ich der Realität entfloh. Kurz: Es geht um das Leben, wie es mir passiert ist. Dazu gehören Dinge, auf die ich nicht stolz bin. Für manche schäme ich mich, um ehrlich zu sein. Aber nichts geschieht ohne Grund, auch wenn es mitunter Jahre braucht, bis man den erkennt. Ich habe einiges verbockt, allein und mit Freunden. Oder mit vermeintlichen Freunden. So oder so, verantwortlich sind nicht andere, verantwortlich bin ich selbst. Da diese Personen aber zu meiner Geschichte, meinem Leben gehören, wie andere in diesem Buch, habe ich von einigen – um ihre Identität zu schützen und die Persönlichkeitsrechte zu wahren – den Namen geändert, charakteristische Merkmale verfremdet und gemeinsame Erlebnisse an andere Orte verlegt. Das ändert nichts daran, dass es sich um reale Personen handelt und um wahre Begebenheiten, wie sie mir in Erinnerung geblieben sind.

Have you run your fingers down the wallAnd have you felt your neck skin crawlWhen you’re searching for the light?Sometimes when you’re scared to take a lookAt the corner of the roomYou’ve sensed that something’s watching you(Fear of the Dark, Steve Harris/Iron Maiden)

Verstehen kann man das Leben nur rückwärts.

Leben muss man es vorwärts.(Søren Kierkegaard)

Inhalt

No panic – oder doch?Ein Tag im Oktober

„Benedikt ist ein sehr aufgewecktes Kind.“Waldorf, Vorfahren und Dämonen

Skifahren – okay, Sprünge – juchhe!„Der Münchner“ probiert alles aus

What’s up guys?Stürze, Helden und Sponsoren

Die Freestyler-WGVon Innsbruck um die Welt

Legs of SteelAmbitionierte Filmdrehs, waghalsige Sprünge, böse Stürze

Die erste LineAlte Verletzungen, neuer Frust und der Blick für Schnee

Ja, nein, doch …Olympia, geplatzte Träume und russische Schönheiten

Turbulente ZeitenSkifahrer, Barbetreiber, Tänzer – und das weiße Pulver

White LinesDer schöne Schein, die tödliche Gefahr und viel zu viele Lügen

Last ExitWenn das Ende ein neuer Anfang ist

No panic – oder doch?

Ein Tag im Oktober

Eine Zigarette, ich brauche eine Zigarette! Wenigstens einen Zug, jetzt sofort. Besser wäre, ich würde etwas essen. Ich sollte auch etwas trinken, Wasser wäre eine kluge Entscheidung. Aber mir ist nicht nach essen, kein Appetit. Und Hunger habe ich schon gar nicht. Auch keinen Durst. Ich zögere einen Moment, kämpfe mit mir, dann frage ich doch, ob ich rauchen darf. Normalerweise würde ich mir das in einer fremden Wohnung verkneifen. Heute schaffe ich das nicht, beim besten Willen, unmöglich. Mir ist warm und gleichzeitig kalt. Und ich bin müde, so verdammt müde, als würde ich augenblicklich einnicken, sobald ich meine Augen nur für eine Sekunde schließe.

Im Gedanken halte ich die Schachtel bereits in der Hand. Und in der anderen das Feuerzeug. Frau Printius sagt, sie habe selbst geraucht, bis vor zwei Jahren. Man höre es an ihrer Stimme, deswegen sei die so kratzig. Inzwischen verspüre sie kein Verlangen mehr, keinen Jieper, sagt sie, aber riechen würde sie es immer noch gern.

„Also, nur zu, junger Mann!“ Sie lächelt.

„Ist das wirklich in Ordnung?“, höre ich mich fragen. „Sonst kann ich es auch lassen.“ Warum ich das sage, weiß ich selbst nicht. Die Worte purzeln mir aus dem Mund, während ich im selben Moment nach der Zigarettenschachtel in meiner Hosentasche greife.

Frau Printius ist Anfang achtzig, noch gut beieinander. Eine gepflegte Dame. Sie trägt einen blauen Strickpullover, der zum Blau ihrer Augen passt, dazu eine hellblaue Chino. Ihre Haare sind grau, beinahe weiß, und so kurz geschnitten, dass die Ohren freiliegen. Sie gehört zu den Menschen, die nicht erst lächeln müssen, um einen freundlichen Blick zu haben. Wir sitzen in ihrem Wohnzimmer. Auf dem Tisch vor uns eine Kanne frisch gebrühter Kaffee, ein Teller mit Schokoplätzchen und zwei Tassen, eine für sie, eine für mich. Feines Porzellan mit Blumenmuster und Goldrand. Ihr Sonntagsgeschirr, vermute ich. Weil Besuch da ist.

Ich zünde mir eine Zigarette an und sehe, dass meine Hände zittern. Bestimmt sieht sie das auch. Sofort fühle ich mich ertappt. Ein Junkie auf Entzug. In diesem Zustand bildet man sich ein, ständig von jemandem beobachtet zu werden. Selbst Wände haben plötzlich Augen, oder sie sind durchsichtig – so kommt es einem vor.

Ich nehme einen tiefen Zug, inhaliere, um mir nichts von der Wirkung des Nikotins entgehen zu lassen, schöne Grüße an die Lunge. Schon fühle ich mich besser. Jedenfalls rede ich mir das ein, obwohl ich nicht den geringsten Unterschied spüre.

Frau Printius schenkt Kaffee ein, rührt Milch in ihre Tasse, trinkt vorsichtig einen Schluck, dann steht sie auf, als wäre ihr plötzlich etwas Wichtiges eingefallen. Sie geht zum Schrank hinüber, öffnet die Tür, scheint sich kurz zu orientieren, bevor sie ein dünnes Büchlein herauszieht, das sich als Fotoalbum entpuppt. So eins mit Klarsichthüllen, in die man Papierabzüge stecken kann, etwa im Format von Postkarten. Es sind Bilder von ihrer Katze, einer weißen Perserkatze, die es anscheinend nicht mehr gibt. Zumindest sehe ich nirgendwo eine herumschleichen. Frau Printius blättert weiter, um mir Fotos von dem Haus zu zeigen, in dem sie früher mit ihrem Mann lebte, der sei vor einigen Jahren verstorben. Zu sehen ist ein Einfamilienhaus mit Spitzdach, Terrasse und Garten, den habe ihr Mann immer picobello gepflegt.

Sie erzählt noch mehr aus ihrem Leben. Ich höre zu – und höre doch nicht zu, nehme ihre Worte wahr, vergesse die meisten aber direkt wieder. Nur die im Zusammenhang mit den Fotos bleiben hängen. Als würde alles andere, was sie sagt, gerade bis zu meinen Ohren dringen, jedoch nicht weiter ins Gehirn. Sobald dort ein Gedanke aufzukeimen scheint, sich sozusagen andeutet, noch gar kein fertiger Gedanke ist, flattert er davon wie ein aufgescheuchter Vogel.

Es ist Sonntag, der 10. Oktober 2021. Ein Herbsttag, als wäre der Sommer noch einmal zurückgekommen: Der Himmel makellos blau, die Farbe so intensiv, als wäre ein Filter drübergelegt worden, wie man das auf dem Handy bei Fotos machen kann. Seit dem Morgen scheint die Sonne. Über Mittag dürften es an die zwanzig Grad gewesen sein. Von den Blättern an den Bäumen auf dem Weg hierher schimmerten manche golden, dass man denken konnte, jemand hätte Schmuck aufgehängt.

Seit drei Tagen bin ich im Rheinland unterwegs. Geschäftstermine. Der bei Frau Printius ist mein letzter auf der Tour. Ihre Wohnung liegt in einem Mehrfamilienhaus in Meerbusch. Die Stadt zählt zum Speckgürtel von Düsseldorf. Eine attraktive Wohngegend, etwas ruhiger, in manchen Ecken fast ländlich, aber nah an der Großstadt, viel Grün, kleine Waldstücke und weite Wiesen und Felder, die sich nach Osten hin bis zum Rheinufer erstrecken. Das Haus, in dem Frau Printius wohnt, wurde von einer Immobilienfirma gekauft, die sämtliche Wohnungen sanieren ließ, um sie als Eigentumswohnungen auf den Markt zu bringen. Mit Ausnahme der von Frau Printius, die ist noch nicht gemacht. Dafür hätte sie ausziehen müssen. Das würde sie auch, nur hat sie bisher keine neue Wohnung gefunden, keine, die ihr zusagte. Deswegen bin ich hier: um sie bei der Suche zu unterstützen. Dazu muss man wissen, dass besagte Immobilienfirma meinem besten Freund Sven, den ich seit unseren gemeinsamen Freeskier-Zeiten kenne, und mir gehört. Wir waren es, die das Haus gekauft haben. Häuser kaufen und verkaufen ist unser Geschäft. Doch bevor jemand etwas Falsches denkt, von wegen skrupelloser Immobilienhai vertreibt arme alte Dame aus ihrem Zuhause – so sind wir nicht, ich schwörs.

Frau Printius und ich hatten uns über den Vormittag einige Wohnungen angeschaut, die zur Vermietung stehen. Und tatsächlich fanden wir eine, gar nicht weit entfernt von der hier, in die sie sich vorstellen kann einzuziehen. Abgesehen vom Badezimmer, das sei ihr zu schäbig. Mit demselben Wort hatte sie es schon bei der Besichtigung beurteilt. Da es ihrerseits der einzige Einwand zu sein scheint, verspreche ich, das Bad auf unsere Kosten sanieren zu lassen. Und ich gebe ihr mein Wort, gleich am nächsten Tag alles in die Wege zu leiten, damit sie bald umziehen kann.

Dann wird es Zeit für mich. Bis zu mir nach Hause in München sind es gut 600 Kilometer. Inzwischen ist später Nachmittag. Ich fühle mich erleichtert: Mission erfüllt! Überhaupt geht es mir deutlich besser. Die Müdigkeit – wie weggeblasen. Fiel es mir vor einer halben Stunde noch schwer, den aufmerksamen Zuhörer zu mimen, der ich definitiv nicht war, schnappe ich nun jedes Wort auf wie ein hungriger Fisch das Futter im Aquarium. Und noch mehr drängt es mich, selbst etwas zur Konversation beizutragen. Wie von allein schwappt ein Satz nach dem anderen aus meinem Mund. Es sind ungeheuer kluge Sätze, so empfinde ich es, durchdacht, perfekt formuliert und jedes Wort genau richtig betont, dass ich mich vor lauter Begeisterung selbst auf die Schulter klopfen könnte. Wenn ich diesen Zustand nicht kennen würde, mich in diesem Zustand nicht kennen würde, ich wäre vermutlich ganz schön erstaunt. Als wir uns an der Wohnungstür zum Abschied die Hand geben, muss ich mich regelrecht bremsen, um die gute Frau in meinem Überschwang nicht auch noch an die Brust zu drücken, wie ich das sonst bei meinen Eltern mache oder bei meinen Freunden.

Woher diese Hochstimmung auf einmal kommt? Nicht von der Zigarette, um die Wahrheit zu sagen. Ich hatte mir danach noch zwei gegönnt, aber auch die waren es nicht, die mich – wie soll ich sagen? – in eine andere Umlaufbahn katapultierten. Dabei hatte ich mir am Morgen, bevor ich das Hotel verließ, fest vorgenommen, es nicht zu tun, auf gar keinen Fall, nicht bei der netten Frau Printius. Abgesehen davon, dass ich sie mag, irgendwie erinnert sie mich an meine verstorbene Großmutter, war es ein beruflicher Termin, und da gehörte sich so etwas einfach nicht.

Mit diesem Gedanken war ich losgefahren. Er war auch noch da, als wir zu den Wohnungsbesichtigungen aufbrachen. Irgendwo unterwegs muss es dann gekippt sein. Ein neuer Gedanke schlich sich in meinen Kopf, breitete sich aus, bis er den guten Vorsatz vom Morgen verdrängt hatte. Und zwar vollständig, als hätte es ihn vorher gar nicht gegeben. Das geschah natürlich nicht, ohne dass es einen Grund dafür gab, eine Ursache. Meine Verfassung war die Ursache, ganz einfach. Und diese hing mit dem weißen Pulver zusammen, das ich im Hotelzimmer über die Nasenschleimhaut in meinen Blutkreislauf befördert hatte. Muss ich mehr dazu sagen?

Während ich also mit Frau Printius von einer zur nächsten Wohnung getigert war, hatte die Wirkung des Pulvers allmählich nachgelassen, sodass ich das dunkle Loch, auf das ich in einem solchen Fall immer zumarschierte, mental gesehen, bereits erahnen konnte. Man spürt, wie es einen mehr und mehr runterzieht, ab in den Keller, in die Finsternis. Nur dass man gar nicht dorthin will. Also lügt man sich selbst die Hucke voll, redet sich ein, es irgendwie auf die Reihe zu kriegen, die nächsten paar Minuten zu überstehen, dann die danach und so weiter. Genau in dieser Phase steckte ich, als wir wieder zurück waren und ich meinte, in Frau Printius’ Wohnung zum Kaffee unbedingt rauchen zu müssen. Da stand ich sozusagen schon am Rand dieses dunklen Lochs und klammerte mich an die absurde Idee, dem Abmarsch ins Reich der Finsternis fürs Erste mit einem Glimmstängel entkommen zu können.

Die pure Illusion. Bei klarem Verstand hätte ich das gewusst. Und dann passierte, was zu dieser Zeit zwar nicht tagtäglich, aber doch verdammt häufig passierte – als hätte jedes Mal jemand in meinem Hirn das abgeschaltet, was man Vernunft nennt: Wie fremdgesteuert stand ich auf, entschuldigte mich unter dem Vorwand, einem dringenden Bedürfnis nachgeben zu müssen (was nicht gelogen war, wenn Frau Printius sich auch etwas anderes darunter vorgestellt haben dürfte), und marschierte geradewegs ins Badezimmer. Geübt wie ich war, brauchte ich dort keine drei Minuten, alles zusammengenommen – zack zack und rein damit. Anschließend drückte ich die Spülung, alibimäßig, prüfte kurz im Spiegel, ob an meiner Nase verräterische Spuren zu sehen waren, und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo ich zu meiner Erleichterung feststellte, dass das Pulver bereits anfing zu wirken.

Es wirkt auch jetzt noch. Ich nehme zwei Treppenstufen auf einmal, stoppe kurz, drehe mich um, noch ein Blick zu Frau Printius, ein Lächeln und ein flüchtiger Gruß mit der Hand, den sie erwidert – und weiter gehts.

Draußen ist es angenehm warm, obwohl die Sonne schon tief steht. Ich steige in meinen Wagen, den ich vor dem Haus geparkt hatte, starte und fahre los. Richtung Düsseldorf. Dort lenkt mich das Navi nach Osten, damit ich auf die A 3 gelange. Die Musik aus den Lautsprechern übertönt das Motorengeräusch. Meine Playlist vom Smartphone. Acht Stunden sind da drauf, hauptsächlich Electro, House und Deep House, Solomun zum Beispiel, auch Deutschrap und Stücke von Metallica und anderen Metalbands, Iron Maiden, Black Sabbath, Motörhead.

Während ich die ersten 200 Kilometer runterschrubbe, ändert sich die Lage. Normalerweise fahre ich gern Auto, auch längere Strecken. Man spürt die Geschwindigkeit, ist in Bewegung und als Zugabe wechselt rechts und links der Fahrbahn ständig die Kulisse. Vielleicht mag ich auch diesen Zwischenzustand, weder da noch dort zu sein, oder dass man einem Ziel entgegenstrebt, das klar definiert und in absehbarer Zeit erreichbar ist. Jedenfalls kann ich es meistens genießen. Das ist jetzt anders. Wenn ich die Symptome richtig deute, dürfte mein Körper dehydriert sein. Mund und Zunge trocken, der Blutdruck im Keller, dazu ein seltsam schummriges Gefühl, schwer zu beschreiben, als wollten Müdigkeit und Schwindel sich gegenseitig überrumpeln. Wie vorhin im Wohnzimmer von Frau Printius, mit dem Unterschied, dass mir jetzt alles irgendwie intensiver vorkommt, viel intensiver.

Irgendwo bei Frankfurt lege ich einen Stopp ein, um mir auf einer Raststätte einen Kaffee zu besorgen. Nicht gerade vernünftig, aber mit Vernunft ist sowieso nicht mehr viel, wenn man erst mal einen bestimmten Grad an Dehydrierung erreicht hat. Man denkt dann nicht rational, falls man überhaupt denkt. Sonst hätte ich mich anstatt dieser lächerlich kleinen Dosis Kaffee, die höchstens meinen Harndrang anregt, für eine große Flasche Wasser entschieden und mir dazu eine Currywurst mit Pommes einverleibt oder wenigstens eins von diesen eingeschweißten Sandwiches aus dem Kühlregal neben der Kasse. Und anschließend hätte ich mein Handy nach dem nächstbesten Hotel suchen lassen, dieses schnurstracks angesteuert und mich für mindestens zwölf Stunden aufs Ohr gehauen. Aber ich muss ja unbedingt nach München zurück, heute noch, aus irgendeinem Grund, der mir im Moment dummerweise nicht einfallen will. Wahrscheinlich habe ich es mir einfach nur in den Kopf gesetzt – um endlich wieder nach Hause zu kommen, in meine Wohnung, wo ich mich sicher fühle, geschützt wie in einem Kokon. Es ist kompliziert.

Also wieder ins Auto, die Musikanlage an, das Handy koppelt sich automatisch. Zurück auf die Autobahn. Ich drücke auf die Tube. Es ist immer noch die A 3. Die Hälfte der Strecke sollte fast geschafft sein. Bis Nürnberg noch, fange ich an, mir selbst gut zuzureden, dort am Autobahnkreuz auf die A 9, dann ist es nicht mehr weit. Du schaffst das! Du hast immer alles geschafft!

So setzt sich der stille Monolog noch eine Weile fort. Eine Art Affirmation. Glaubenssätze formulieren und diese wiederholen, bis man so sehr davon überzeugt ist, dass sie einem Kraft geben und motivieren.

In dem Zusammenhang kommt mir Sotschi in den Sinn, 2014. Zum ersten Mal war unsere Sportart bei Olympischen Spielen vertreten. Ich wollte unbedingt dabei sein. Und: Ich habe es geschafft. Obwohl die Knochen da schon arg geschunden waren, speziell mein Knie, das linke. Fünf Operationen. Dass ich mit so einem Knie überhaupt antreten konnte – für mich ein kleines Wunder. Aber als wäre das nicht Handicap genug gewesen, ramponierte ich mir kurz vorher bei einem Sturz noch sauber die Schulter, ebenfalls die linke. Links scheint meine Teufelsseite zu sein. Tossy II, Experten werden wissen, was das bedeutet. Und für Nichtexperten erklärt es der, wie ich finde, etwas martialische Begriff „Schultereckgelenksprengung“. Wobei die Schulter nach einer solchen Verletzung durchaus Furcht einflößend aussehen kann, kommt auf den Schweregrad an, was alles kaputt geht und wie dann die Knochen stehen. In meinem Fall, also bei Tossy II (es gibt auch I und III, also harmloser und schlimmer), waren die Gelenkkapsel und die Bänder, die Schlüsselbein und Schulterblatt zusammenhalten, eingerissen. Kein schöner Schmerz, das kann ich sagen. Nicht als es passierte und nicht in den Wochen danach. Gestartet bin ich im olympischen Schnee trotzdem, habe als einziger Freeskier die deutsche Fahne hochgehalten. Bei den Herren, da hatte nur ich die Quali geschafft, arschknapp, aber das ist eine andere Geschichte. Die Schulter wurde getapt, schön straff, damit sie einigermaßen stabil war. Und gegen die Schmerzen warf ich einige Extradosen Ibuprofen ein. Also zusätzlich zu dem, was ich von diesem Zeug wegen meines Knies sowieso schluckte. Dabei war schon das nicht wenig. In Spitzenzeiten schraubte ich meine Tagesdosis locker bis auf 1600 Milligramm hoch. Wahrscheinlich lag sie sogar noch höher. An die vorgeschriebenen Zeitabstände, wie viele Stunden zwischen der Einnahme der Tabletten liegen sollten, hielt ich mich schon lange nicht mehr – die Schmerzen richteten sich schließlich auch nicht danach. Und irgendwann hörte ich auf, die Tabletten zu zählen. Ohne Ibu ging damals praktisch nichts. Ganz weg waren die Schmerzen dann zwar meistens trotzdem nicht, aber einigermaßen zu ertragen.

Also, was jammere ich eigentlich? Dagegen sind die restlichen Kilometer bis nach München ein Klacks – geradezu lächerlich. Ich sitze bequem, die Heizung ist auf angenehme zwanzig Grad eingestellt … Ich schaffe das! Natürlich schaffe ich das!

Kilometer um Kilometer lasse ich hinter mir. Inzwischen ist es dunkel. Auf einmal spüre ich, dass mit meinem Bein etwas nicht stimmt, natürlich wieder das linke. Genau genommen ist es nicht das Bein, sondern der Fuß – noch genauer sind es die Zehen. Als Sportler und nach all den Verletzungen, die ich mir zugezogen habe – Knie und Schulter waren längst nicht die einzigen Stellen, die es erwischte –, kenne ich jede Faser meines Körpers.

Die Zehen fühlen sich auf einmal an, als wären sie eingeschlafen. Während ich grüble, woran das liegen könnte, merke ich, dass die Taubheit, wenn man es so nennen kann, ins Sprunggelenk wandert – besser gesagt: sich dorthin ausbreitet. Denn die Taubheit in den Zehen verschwindet nicht. Wie eine giftige Schlange windet sie sich weiter nach oben.

Die lange Fahrerei, denke ich, und das Stillsitzen, daher kommt das sicher. So gut es möglich ist, versuche ich, Fuß und Bein zu bewegen. Bei Automatik geht das. Ich strecke das Bein, kreise mit dem Fuß, bewege die Zehen. Dann beuge ich das Knie, kreise mit dem Fuß in die andere Richtung, kralle die Zehen nach unten, als wollte ich etwas aufheben, und strecke sie. Danach wiederhole ich die erste Übung, anschließend mache ich wieder die zweite und überlege, was ich noch anstellen könnte, denn irgendwie bringt das alles nichts. Nebenbei muss ich mich aufs Fahren konzentrieren. Eine Raststätte ist nicht in Sicht, auch kein Parkplatz. Und einfach auf dem Seitenstreifen zu halten, scheint mir keine gute Idee – zu gefährlich, erst recht in der Dunkelheit.

Zu allem Überfluss macht sich nun auch noch ein Ziehen in der Schulter bemerkbar, das direkt zum Nacken weiterwandert. Da mir nichts Besseres einfällt, rede ich mir wieder gut zu: Ist bestimmt gleich vorbei. Bist eben auch nicht mehr der Jüngste … irgend so einen Quatsch.

Ich schätze, im Moment glaube ich selbst nicht so richtig daran, dass es gleich aufhört. Also plappere ich es noch ein paar Mal halblaut wie ein Mantra vor mich her, als könnte ich damit etwas ändern: Ist gleich vorbei … ist gleich vorbei … du schaffst das … du schaffst das … du scha… Bis es mir mitten im Wort die Sprache verschlägt. Verdammt, was ist jetzt mit meinem Arm los? Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass es der linke ist, die Herzseite. Ein seltsames Druckgefühl, beschissen seltsam. Wie soll ich das anders beschreiben? Gibt es das Wort überhaupt – Druckgefühl? Kann man Druck fühlen? Verflucht, ja! So genau hätte ich es gar nicht wissen wollen. Ein irres, hastiges Selbstgespräch. Kann es sein, dass ich gerade panisch werde?

Jetzt hat es auch die Brust erreicht, dieses Druckgefühl oder was das ist. Ich schnappe nach Luft, kriege viel zu wenig, als schnürte mir jemand die Kehle zu.

Scheiße … atme!

Tief durchatmen!

Bene, bleib ruhig … du musst atmen!

Wenigstens gelingt es mir, mit der rechten Hand das Lenkrad so zu halten, dass ich in der Spur bleibe. Fragt sich nur, wie lange, wenn die Luft noch knapper wird.

Gedankenfetzen wirbeln durch meinen Kopf. Ein einziger Rummelplatz. Kettenkarussell und Achterbahn. Und Wilde Maus. Und Freefall Tower. Nichts ergibt einen Sinn. Und die Musik dröhnt immer noch.

Ich muss anhalten! Wann kommt die nächste Ausfahrt? Oder ein Parkplatz?

Ich brauche Hilfe!

Das Handy – ich muss jemanden anrufen! Aber wen? Und was soll ich demjenigen sagen? Ich weiß gar nicht, wo genau ich bin. Was stand auf dem letzten Schild? Wie lange bin ich daran schon vorbei? Und wie soll ich überhaupt einen Ton rauskriegen, wenn es schon kaum zum Atmen reicht?

Verdammt, wann kommt endlich eine Ausfahrt …?

Erstaunlich, dass man selbst in solchen Momenten noch irgendwie funktioniert. Mechanisch wie ein Roboter schalte ich den Warnblinker ein, nehme meinen Fuß vom Gaspedal, bremse, etwas zu stark, dass ich ins Schlingern gerate. Dann habe ich es wieder im Griff, drehe sogar die Musik leiser. Kann auch sein, dass ich sie ausschalte, ich höre sie jedenfalls nicht mehr. Als ich glaube, langsam genug zu sein, steuere ich leicht nach rechts, bremse wieder, diesmal zaghafter, bis ich auf dem Seitenstreifen zum Stehen komme.

Eine Spur von Erleichterung, aber das ändert an meinem Zustand nichts. Ich sitze da wie angewurzelt, starre vor mich hin, versuche, etwas zu spüren. Der Fuß … das Bein … der Arm … die Brust – immer noch das Gleiche. Kein Albtraum. Und doch ein Albtraum.

Ein Stück weiter vorn scheint eine Brücke zu sein. Oder ist das nur eine Fata Morgana? Nein, da steht etwas … tatsächlich eine Brücke. Das könnte ein Anhaltspunkt sein, falls ich es hinkriege, jemanden anzurufen.

Aber erst mal muss ich hier raus, an die Luft. Ich könnte auch das Fenster runterlassen, aber darauf komme ich nicht. Ich öffne die Tür, stemme meinen Oberkörper dagegen, bis sie nachgibt, steige aus – meine Knie, weich wie Pudding.

Du musst hinters Auto gehen, denke ich, damit die Leute sehen, dass da jemand ist, der Hilfe braucht. Warum ich im selben Augenblick genau die andere Richtung anpeile, mich an der Motorhaube vorbei vors Auto schleppe – ich kann es nicht erklären. Das Verrückte ist, dass es mir vorkommt, als würde ich mich selbst beobachten, wie ich auf wackligen Beinen einen Schritt nach dem anderen mache, es irgendwie bis zur Leitplanke schaffe, mich daran festklammere und zur Fahrbahn umdrehe.

Das Licht von Scheinwerfern fliegt vorbei. Dann ist es kurz dunkel, bis der nächste grelle Lichtschein durch die Dunkelheit schießt. Geräusche höre ich komischerweise keine, obwohl welche da sein müssen.

Dann sehe ich auch nichts mehr, spüre nur, wie meine Beine nachgeben und ich zu Boden sacke.

Ab dem Moment sind Lücken. Zwei- oder dreimal komme ich zu mir, kurz nur, wie ein Aufflackern der letzten Lebensgeister. Winzige Erinnerungssplitter. Ich liege auf dem Seitenstreifen, mit dem Rücken nach unten. Vor mir eine dunkle Gestalt, wie ein Schattenriss, ein fremder Mann, er hält meine Beine hoch. Wie ich dann auf eine Trage verfrachtet und in einen Rettungswagen bugsiert werde, bekomme ich nicht mit, das wird mir erst später erzählt. Aber dass im Rettungswagen das Licht so grell ist, dass ich meine Augen zusammenkneife – diese Erinnerung ist da. Genauso wie der Anblick von mehreren Köpfen, die sich über mich beugen. Allerdings ohne dass ich sagen kann, um wie viele Köpfe es sich handelt, wie die Gesichter aussehen und ob es Männer oder Frauen sind.

Die nächste Erinnerung stammt aus dem Krankenhaus. Uniklinik Würzburg, Notaufnahme. Ich hänge am Tropf und an vier oder fünf Kabeln, die mit Klebeelektroden an meinen Oberkörper gepappt wurden. Neben dem Bett piept ein Monitor, der die Vitalfunktionen überwacht: Herzfrequenz, Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Körpertemperatur, solche Sachen. Wobei ich Tropf, Verkabelung und die Gerätschaften nicht sofort wahrnehme. Es ist eine Krankenschwester, die zuerst durchs Bild huscht, als ich zu mir komme. Oder ein Geist. Die Vorstellung von einer Krankenschwester. Damit ich nicht allein bin.

Dann taucht ein Arzt auf, der wissen will, wie ich mich fühle. Ich zucke mit den Schultern, was aus meiner Sicht eine ehrliche Antwort ist. Gleichzeitig frage ich: „Was ist passiert?“ Meine Stimme klingt rau wie nach einem langen Marsch durch die Wüste ohne einen Schluck Wasser.

„Wie es aussieht, hatten Sie Koronarspasmen“, sagt er mit ernster Miene und scheint in meinem Blick ein Fragezeichen zu erkennen, auf das er mit einer Erklärung reagiert. Demnach – ich sage es mit meinen Worten – verkrampfen bei einem solchen Spasmus die Blutgefäße, die das Herz mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgen. Die Herzkranzgefäße. Mit dem Resultat, dass im Pumpwerk nicht mehr genug ankommt, sich der unterversorgte Herzmuskel darüber mit Schmerzen beklagt und solche Symptome auftreten, wie ich sie im Auto erlebt hatte. Wenn es ganz dumm läuft, die Blutversorgung sich extrem verringert, kann das zu einem Herzinfarkt führen. Was das bedeutet, muss er mir nicht erläutern.

„Mir gehts aber gut, oder?“, frage ich vorsichtshalber.

„Durch das Medikament, das wir Ihnen gegeben haben, entspannen sich die Gefäße. Trotzdem sollten Sie erst mal hierbleiben, das muss beobachtet werden.“

Bevor er das Zimmer verlässt, interessiert ihn noch, ob ich irgendwelche Arzneimittel nehme, also regelmäßig. Die Zeit des Ibu-Dauerkonsums ist längst vorbei. Darüber hinaus habe ich nichts zu bieten. Aber seine Frage zielt ohnehin auf etwas anderes, nur dass er das in dem Moment für sich behält – und mir in meinem Zustand auch nicht gleich ein Licht aufgeht. Ich bin viel zu erschöpft, außerdem steckt mir der Schrecken in den Gliedern, besser gesagt im Kopf: Auf der Autobahn, das hätte auch anders ausgehen können.

Wie soll man unter den Umständen einen klaren Gedanken fassen? Zum Beispiel, um abzuwägen, ob es ratsam ist, dem Arzt die Wahrheit anzuvertrauen. Also versuche ich das mit dem Abwägen gar nicht erst – viel zu kompliziert, viel zu anstrengend –, sondern sage einfach, wie es ist: „Nee, keine Medikamente, aber Kokain.“

Er nickt mit dem Kopf, als würde das einiges erklären. Keine Spur von Überraschung. Am nächsten Tag wird er mir verraten, dass er von meinem Kokainkonsum zu diesem Zeitpunkt bereits wusste. Bei den Symptomen, mit denen ich eingeliefert worden war, noch dazu in dem jungen Alter und bei meiner recht sportlichen Konstitution – ich pumpe immer noch fleißig, vor allem Kraft-Ausdauer, mehrmals die Woche –, hatten sie natürlich sofort mein Blut gecheckt.

Es heißt, Kokain ist eine Stimmungskanone. Man fühlt sich unwiderstehlich und überhaupt wie Superman, glaubt, die Welt aus den Angeln heben oder irgendwelche anderen großartigen Taten vollbringen zu können. Da passiert richtig was im Körper. Es werden kräftig Botenstoffe ausgeschüttet, viel mehr als sonst, Serotonin und Dopamin und so was, und die verpassen dem zentralen Nervensystem einen kräftigen Kick. Aber das Ganze ist auch ein ziemlich fieses Täuschungsmanöver. Der Körper bekommt das Signal, mit all der neuen Energie Bäume ausreißen zu können. Dabei gibt es sie gar nicht, diese neue Energie. Es werden lediglich Reserven mobilisiert, die bereits vorhanden sind. Die Leistungsfähigkeit steigt also nur scheinbar, während sie in Wirklichkeit abnimmt. Außerdem – und das dürfte meinen Zustand im Auto erklären – treibt das weiße Pulver bei dem ganzen Spielchen Herzfrequenz und Blutdruck in die Höhe, kaum dass man sich damit die Nase pudert. Und parallel sorgt es dafür, dass sich die Blutgefäße zusammenziehen. Da läuft also etwas komplett gegeneinander. Das Herz schlägt schneller, der Herzmuskel muss mehr pumpen, kontrahiert häufiger als im Normalzustand, bräuchte demzufolge mehr Sauerstoff. Da gleichzeitig jedoch die Gefäße enger werden, geschieht genau das Gegenteil: Die Arterien transportieren weniger Blut Richtung Herz und somit kommt dort auch weniger Sauerstoff an. Das muss nicht zwangsläufig zu Koronarspasmen führen oder, in der nächsten Stufe, zu einem Herzinfarkt. Es verringert das Risiko aber nicht gerade, noch weniger bei längerem und intensiverem Konsum. Das hatte ich gerade am eigenen Leib erfahren.

Was ich dem Doktor sofort hoch anrechne: Er hält mir keinen Vortrag. Ich weiß selber, dass ich in der Scheiße sitze. Vier bis fünf Gramm vom weißen Pulver – am Tag, so weit habe ich es inzwischen getrieben – sind die absolute Oberscheiße.

Und dennoch: Sucht? Ich doch nicht, ich hab das im Griff. Mit dieser Lüge segelte ich seit Monaten durch die Gegend, die Füße kaum auf dem Boden, mehr ein anderer als ich selbst. Das war sozusagen die große Lüge, die alles zusammenfasste. Daneben gab es unzählige kleine Lügen, fast jeden Tag neue, die notwendig waren, um die eine große aufrechtzuerhalten. Und mit jeder verfluchten Lüge fühlte ich mich schlechter, schämte mich – weil ich das nicht bin, ein Lügner, normalerweise. Und weil ich wusste, dass ich Menschen enttäusche, die mir wichtig sind, nicht wenn ich im Schneegestöber steckte, sondern bei klarem Verstand, also echt wichtig. Wichtig in der Realität, wenn die Füße auf dem Boden standen. Aber lassen konnte ich es eben auch nicht, nicht das Pulver und – gewissermaßen zwangsweise – nicht die Lügen. Sonst hätte ich mir eingestehen müssen, dass die anderen recht haben, Sven und meine Freundin und wer es sonst gut mit mir meinte. Hätte mir eingestehen müssen, dass ich Hilfe brauche, weil ich es allein nicht schaffe. Dass ich eben doch süchtig bin. Ein Looser, der sein Leben nicht auf die Reihe kriegt.

Dabei habe ich es wirklich versucht, kein weißes Pulver, kein Schneegestöber, ein paar Tage, auch Wochen, Monate. Sogar den Jakobsweg bin ich gelaufen, mutterseelenallein, um vom Dope wegzukommen und jenen Bene wiederzufinden, der ich einmal war. Doch am Ende habe ich es jedes Mal vermasselt. Und jetzt liege ich hier in diesem Krankenbett, mit Schläuchen und Strippen am Körper, was für ein jämmerliches Bild. Das Grinsen, das ich mir ins Gesicht klebe, damit es aussieht, auch für mich selbst, als wäre das alles kein Drama, nur ein kleines Missverständnis, no panic, guys – die reinste Staffage. Dahinter ist nichts von dem strahlenden Helden, dem Siegertypen, der ich war und der ich gern wieder wäre. Wie konnte es nur so weit kommen – was ist schiefgelaufen in meinem Leben?

„Benedikt ist ein sehr aufgewecktes Kind.“

Waldorf, Vorfahren und Dämonen

Das menschliche Gehirn kann belastende Erinnerungen vergessen, angeblich sogar löschen. Und das freiwillig, wie von selbst, ohne dass man komplizierte Bewältigungsstrategien anwenden oder zeitraubende Sitzungen beim Psychologen über sich ergehen lassen müsste. Wissenschaftler sehen darin keine Fehlfunktion unseres Gehirns, eher eine besondere Fähigkeit. Man könnte auch sagen, es ist ein Geniestreich der Natur. Oder einfach ein Segen. Es macht das Leben leichter. Und manchen macht es das Leben überhaupt erst erträglich.

Daran musste ich schon oft denken, zum Beispiel wenn ich mit Freunden zusammensaß und jeder in der Runde Geschichten aus seiner Kindheit zum Besten gab – frühe Kindheit, die ersten Jahre. Bei den anderen schienen die Erinnerungen wie auf Kommando nur so hervorzusprudeln. Ich dagegen musste meine grauen Zellen mächtig anspornen, damit sie überhaupt etwas lieferten, das mir erzählenswert erschien. Mit einer Ausnahme: Sobald es um sportliche Aktivitäten ging, konnte ich nicht nur mithalten, sondern hatte in der Regel auch die meisten Sportarten vorzuweisen, in denen jemand von uns schon mal unterwegs war. Als wäre das mein ganzer Lebensinhalt gewesen.

Abgesehen von der Schule natürlich, aber das zählte nicht, damit hatte sich schließlich jeder zu arrangieren. Wobei es bei mir schon ein gewisser Sonderfall war, da meine Eltern sich aus irgendwelchen Gründen in den Kopf gesetzt hatten, ihre Kinder – meinen Bruder Dominik und mich – mit der Lehre der Waldorfpädagogik auf den Ernst des Lebens vorbereiten zu lassen. Das Individuelle einer Persönlichkeit fördern, die Entwicklung zu einem freien Menschen, überhaupt die Erziehung zur Freiheit. Nicht zu vergessen die Fähigkeit, seinen Namen tanzen zu können – wer kriegt das schon hin? Eurythmie, so heißt das Fach, in dem uns das beigebracht wurde. Anthroposophische Bewegungskunst. Stand fest im Lehrplan, von der ersten bis zur zwölften Klasse, kam man nicht drum herum. Körper, Geist und Seele treten in Verbindung. Sprache und Musik oder auch nur Klänge werden in Gebärden und Bewegungen „übersetzt“, die dann wie ein Tanz aussehen können – eine gewisse Fantasie vorausgesetzt. Und noch mehr die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, dem Hier und Jetzt hinzugeben, vollkommen bei sich zu sein.

Man kann das so oder so sehen. Ich kannte nichts anderes, wurde bereits durch die Zeit im Kindergarten darauf konditioniert, bei dem es sich natürlich ebenfalls um eine Waldorfeinrichtung handelte. An die Stuhlkreise dort erinnere ich mich, immer kurz vorm Mittagessen. Zeit zum Sammeln. Dabei wurden uns Märchen oder Geschichten erzählt, oft waren es die gleichen. Kinder, so hieß es, mögen das in dem Alter, weil sie im Vertrauten, dem, was sie schon kennen, jedes Mal etwas Neues entdecken könnten. Diese Stuhlkreise bedeuteten allerdings auch Stillsitzen. Das war nicht so meine Stärke. Dafür war mein Bewegungsdrang bereits damals zu ausgeprägt. Anstatt mich in Märchenwelten hineinzuträumen, beschäftigte sich mein Gehirn lieber damit, wie ich auf der Schaukel draußen im Garten Überschläge hinbekomme. Eine Zeit lang versuchte ich es jeden Tag, schaffte es immer höher, beinahe bis zur Horizontlinie, doch nie reichte mein Schwung aus, um die Schwerkraft zu überwinden. Das Wort kannte ich damals garantiert noch nicht. Überhaupt hatte ich von physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die bei einer Schaukel mit Seilen wie unserer höchstens mit einem ausgeklügelten Raketenantrieb am Sitz zu überlisten gewesen wären, nicht die geringste Ahnung.

Aber noch mal zur Schule: Ich fand die ziemlich cool, zumindest am Anfang. Keine Hektik, kein Leistungsdruck, jeder Schüler bekam Zeit und Raum, um sich frei zu entwickeln und seine Interessen zu entdecken. Neben den üblichen Fächern, die an allen Schulen gepaukt werden, lernten wir eine Menge handwerklicher Sachen, die einem heute fast exotisch erscheinen, so was wie Nähen, Holzschnitzen, Steinhauen und Gartenbau. Ich machte das gern. Die Hände waren beschäftigt, der Kopf musste sich voll und ganz auf diese eine Tätigkeit konzentrieren, und am Ende hatte man etwas geschaffen, das man sehen und anfassen konnte. Zum Beispiel nähte ich mir damals einen Rucksack und eine Shorts. Aber auch für einige der gewöhnlichen Fächer konnte ich mich durchaus begeistern. Erdkunde fand ich super interessant, später Physik und Chemie. In allen drei Fächern war ich richtig gut. Geschichte mochte ich ebenfalls, genauso Sport. Dagegen war Deutsch die Hölle für mich.

Und noch etwas bereitete mir Schwierigkeiten, unabhängig davon, welches Fach gerade an der Reihe war: Ich konnte ums Verrecken nicht still sitzen. Hummeln im Hintern wäre noch gelinde ausgedrückt. Ähnlich wie beim Stuhlkreis im Kindergarten, nur dass der vergleichsweise kurz ausfiel und mir nur einmal am Tag abverlangt worden war. Außerdem schaffte ich es selten, mich länger als zwei, drei Minuten auf das zu konzentrieren, was der Lehrer – oder die Lehrerin – von uns wollte. Und das war dann schon lange. In meinem Kopf ging es zu wie in einem Flipperautomaten, die Kugeln als Gedanken vorgestellt: hin und her, her und hin, rechts, links, oben, unten – ich wusste nie, wo sie gerade waren. Auf jeden Fall nicht dort, wo sie hätten sein sollen. Ständig schaute ich auf die Uhr, in dem innigen Wunsch, dass die Stunde bald vorüber sein möge, damit ich endlich wieder Auslauf bekam, mich bewegen konnte. Kein Wunder also, dass sich auf meinem Zeugnis in verlässlicher Regelmäßigkeit eine Formulierung fand, die das ungefähr so beschrieb: „Benedikt ist ein sehr aufgewecktes Kind. Er folgt eher den Hasen, die vor dem Fenster herumhoppeln, als dem, was vorn an der Tafel geschieht.“

Einmal legte ich das mit der freien Entfaltung als anthroposophische Lern- und Lebensmaxime offenbar etwas zu großzügig aus. Ich glaube, es war in der zweiten oder dritten Klasse, was zu meinen Gunsten angerechnet werden sollte – ich war noch verdammt jung, stand erst am Anfang meiner Schulkarriere und der entsprechenden Waldorfsozialisation. Es ging um meinen Klassenkameraden Markus. Obwohl wir unterschiedliche Typen sind, es auch damals schon waren, er ein Technikfreak, ich der Sportler, hatten wir uns ziemlich schnell angefreundet. So etwas lässt sich manchmal schwer erklären, es passt oder eben nicht. Bei uns passte es. Er ist bis heute einer meiner besten Freunde. Jedenfalls wurde Markus eines Tages von einem Mitschüler dumm angemacht. Worum es ging, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war es nur ein blöder Spruch, den wir heute ignorieren würden. Es spielte auch keine Rolle, jemand griff meinen Freund an – und so fackelte ich nicht lange. Unüberlegte Entscheidungen sind meistens nicht die besten, trotzdem können sie überaus wirkungsvoll sein. Ein kurzer Kopfstoß, ohne Vorwarnung, gezielt gegen die Nase, sozusagen auf den Punkt, und der Typ war außer Gefecht gesetzt. Und das von einem Waldorfschüler! Um es kurz zu machen: Die Schulleitungskonferenz, quasi Verwaltungsrat und Oberster Gerichtshof in einem, drückte mir einen Verweis auf, den ich zu Hause vorzuzeigen hatte, und fortan wurde aus dem getadelten Schüler Benedikt ein braver Zeitgenosse. Oder sagen wir, er bemühte sich nach Kräften, ein solcher zu sein, so im Großen und Ganzen – der eine oder andere Tadel ließ sich auch danach nicht vermeiden.

Wobei der Kampf gegen die Dämonen, die mich nicht zur Ruhe kommen ließen, im Stillen weiterging. Doch das schien ein aussichtsloses Unterfangen zu sein. Heutzutage wäre jemand mit den Symptomen, die sich bei mir zeigten – extremer Bewegungsdrang, auch Hyperaktivität genannt, Konzentrationsschwäche und ein Hang zu unüberlegtem Handeln –, ein sicherer Kandidat für eine ADHS-Untersuchung. Wahrscheinlich wäre ich der Allererste in der Reihe. Umso mehr, wo es sich um die drei klassischen Merkmale schlechthin handelte. Kann man überall nachlesen. Damals war ADHS – die Abkürzung steht für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung – zwar schon bekannt, aber längst nicht so ein großes Thema wie heute, nicht hierzulande und nicht in den Kreisen, in denen unsere Familie sich bewegte. So kam niemand auf die Idee, das mal checken zu lassen, weder die Lehrer in der Schule, denen meine Hummelei unmöglich entgangen sein kann, noch meine Eltern.

Eine meiner größten Niederlagen der gesamten Schulzeit erlebte ich in der achten Klasse. Dabei hatte ich mit einem Triumphzug gerechnet, oder wenigstens mit ein paar lobenden Worten. In dem besagten Schuljahr stand die sogenannte Achtklassarbeit auf dem Programm. Eine Art Jahresarbeit, für die man mehrere Monate Zeit bekam, in denen man sich ausgiebig mit einem Thema zu beschäftigen hatte. Das Thema durfte jeder selbst auswählen. Freie Entwicklung der Individualität, da wars wieder. Manche malten ein Gemälde, andere erstellten eine Fotokollektion, wieder andere schnitzten eine Figur. Man konnte auch eine kluge schriftliche Abhandlung verfassen, aber das wäre für mich sowieso nicht infrage gekommen.

Ich suchte mir als Thema das aus, womit ich mich am liebsten beschäftigte: Sport. Das klingt erst mal recht banal. Dabei warf ich alles in die Waagschale, was ich zu bieten hatte, angefangen bei einer großen Portion Kreativität – aus meiner Sicht. Dann natürlich, ohne angeben zu wollen, meine sportliche Begabung. Überhaupt meine ganze Begeisterung für die Sache, mein Feuer. Und obendrauf kamen noch hilfreiche Beziehungen meines Vaters.

Doch der Reihe nach: Die Idee war, die vier Sportarten vorzustellen, mit denen ich damals so ziemlich jede Minute meiner Freizeit ausfüllte, natürlich nicht mit allen gleichzeitig. Die erste war Taekwondo, die zweite Inlineskaten, die dritte Trampolinspringen, die vierte Skifahren. Mir schwebte vor, sie nicht einfach nur vorzustellen, das würde langweilig sein, ich wollte sie richtig präsentieren – in action, mit Sprüngen, Tricks, Saltos und allem. Also brauchte ich jemanden, der mich dabei filmte, zum Beispiel wie ich in der Halfpipe auf Skates meine Kunststücke vollführte. Oder wie ich auf dem Trampolin verschiedene Saltos machte. Hier kamen Vaters Kontakte ins Spiel. Er hatte eine kleine Werbeagentur und kannte jemanden an der Filmhochschule, der uns eine Studentin vermittelte. Sie übernahm das Filmen – absolut professionell, soweit ich das beurteilen konnte. Wir verstanden uns blendend. Ich war hochzufrieden mit dem Ergebnis. Erst recht, nachdem die besten Sequenzen zusammengeschnitten und mit cooler Musik unterlegt waren. Das Mädel – Pia hieß sie – hatte es echt drauf, der Clip war der Hammer. Mit diesem Hochgefühl marschierte ich in die Schule und gab mein Werk ab, beziehungsweise unser Werk. Da es um Sport ging, bekam es der Sportlehrer. Wie gesagt, ich erwartete, dass er ungefähr so begeistert sein würde wie ich. Doch mit Erwartungen ist das so eine Sache, wie ich lernen sollte. Erwarte nichts, dann kannst du auch nicht enttäuscht werden.

Es kam also der Tag der Wahrheit: Ich war ziemlich aufgeregt und noch unruhiger als sonst. Gleich würde die ganze Klasse erfahren, was ich da Feines abgeliefert hatte. Doch Pustekuchen, die erhoffte Lobeshymne blieb aus. Und nicht nur das. Für den Sportlehrer war es gerade mal eine Drei – eine lächerliche Drei! Befriedigend. Ich war am Boden zerstört, verletzt, enttäuscht, als würde ich alle schlechten Gefühle auf einmal spüren. Noch heute versetzt es mir einen Stich, wenn ich daran denke. Vor allem an seine Begründung, mein Video sei reine Selbstdarstellung. Bestimmt hatte er noch mehr rumzumäkeln, aber das ist hängen geblieben: Selbstdarstellung! Nicht für eine Sekunde hatte ich das im Sinn gehabt. Nicht mal für eine Millisekunde. Wollte ich doch lediglich zeigen, so anschaulich wie möglich, dass es spannende Sportarten sind und was alles dazugehört, wie man beispielsweise einen Bruchtest beim Taekwondo hinbekam, ohne sich die Knochen zu brechen. Allerdings hätte ich daran denken sollen, dass die Waldorfphilosophie seit jeher moderne Technik eher kritisch betrachtet, als wäre manches ein Fluch, der die Menschheit unweigerlich ins Verderben treibt. Und da kam ich ausgerechnet mit einem Videoclip um die Ecke, für den man eine Filmkamera, Computer, Software und so was brauchte.

Darauf hätte ich wirklich kommen können, allein wegen der Geschichte mit dem Fernsehen. Fernseher waren in diesem Kosmos ja auch solche Werkzeuge des Teufels, die man gefälligst zu meiden hatte. Ob meine Eltern tatsächlich diese Überzeugung teilten oder nur gewissenhaft die Vorgaben erst des Kindergartens und dann der Schule umsetzten, kann ich nicht sagen. Bei meiner Mutter könnte ich es mir vorstellen, bei meinem Vater eher nicht, aber ich kann auch falschliegen. Auf jeden Fall gab es bei der Familie Mayr ewig keinen Fernseher – für uns Kinder. Und als dann endlich einer für alle zugänglich im Wohnzimmer stand, wurde er für Domi und mich genau einmal pro Woche angestellt – sonntags um 11:30 Uhr, Die Sendung mit der Maus. Die lief damals noch zu dieser Zeit, dreißig Minuten, danach war sofort wieder Schluss.

Diese kurzen kostbaren Momente, in denen wir das, was da vor uns auf dem Bildschirm flimmerte, regelrecht aufsaugten wie Botschaften aus einem mysteriösen Universum, bringen mich zu einem anderen Thema. Die Erinnerung daran ist nämlich fest verknüpft mit einer weiteren Freizeitbeschäftigung. Genau genommen war es eine Verpflichtung – und ein Bekenntnis, aber auch eine gewisse Ehre, irgendwie alles zusammen. Wie es sich für eine ordentliche bayerische Familie gehörte, hatten unsere Eltern meinen Bruder und mich gleich als Babys taufen lassen – katholisch, versteht sich. Sie sind selbst Katholiken, hatten auch kirchlich geheiratet. Und als wir später in dem entsprechenden Alter waren, Anfang der Schulzeit, schickte uns Mutter – es ging wohl hauptsächlich von ihr aus – eine Zeit lang regelmäßig in die Kirche. Dominik entsprechend später, er ist zwei Jahre jünger als ich. Wir beteten abends auch immer mit Mutter, das war ein festes Ritual. Ich glaubte an Gott, weil sie an Gott glaubte. Somit gab es keinen Grund, den Glauben oder die Kirche infrage zu stellen. Eher war es so, dass mir der Glauben guttat. Ich hatte das Gefühl, da ist jemand, der mich beschützt. Und welcher kleine Junge ist nicht froh, einen großen Beschützer an seiner Seite zu wissen? Ob sichtbar oder nicht, Hauptsache, es gab ihn.

Für mich war es also eine ernste Sache – und nur folgerichtig, dass ich als Krönung des Kirchenunterrichts die Erstkommunion empfing, das heilige Brot, die Hostie als Leib Christi. Das müsste in der dritten Klasse gewesen sein. Kurz danach wurde ich Ministrant, auch Messdiener genannt, was mich zu unseren seltenen Fernsehmomenten im heimischen Wohnzimmer zurückbringt. Die Messen, bei denen Klein Benedikt im festlich weißen Gewand dem Pfarrer unserer Gemeinde assistierte, wofür es jedes Mal fünfzehn Pfennige gab, pro Stunde, fanden fast immer sonntags statt. Und so wie das allabendliche Beten ein Ritual war, so war es nach den Messen für mich eins, mit Volldampf nach Hause zu düsen, zu Fuß oder mit dem Radl, um pünktlich vor dem Fernseher zu sitzen und bloß keine Minute mit der Maus zu verpassen.

Später, mit vierzehn, fünfzehn, verließ mich der Glauben – beziehungsweise ich kehrte ihm den Rücken. Es gab nicht das eine einschneidende Ereignis, das meine Sicht auf Gott und die Welt veränderte, vielmehr war es ein schleichender Prozess, der mit leisen Zweifeln begann. Irgendwann passte das, was ich dachte und woran ich glaubte, nicht mehr zu dem, was ich denken und glauben sollte, wenn es nach unserem Pfarrer und der Kirche gegangen wäre. Mutter akzeptierte das, besser gesagt, sie nahm es hin, schluckte die Kröte, zwangsläufig, was blieb ihr übrig? Aber sie war Kummer gewohnt. Und sie war eine starke Frau, das ist sie immer noch.