Lateinamerika - Bernhard Wulff - E-Book

Lateinamerika E-Book

Bernhard Wulff

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Beschreibung

Lateinamerika“ hat einen geheimnisvollen Klang: grandiose Landschaften, Indios, Gold, wir erinnern einen der seltsamsten Eroberungserfolge der Menschheitsgeschichte durch die Spanier, untergegangene Kulturen, exotische Tiere, lebensfrohe Menschen: Lateinamerika ist ein weit entfernter Sehnsuchtsort. Das Buch nimmt den Leser auf Reisen von Mexico bis nach Feuerland. Wir erleben die erhabene Schönheit der Wasserfälle von Iguazú, ein Requiem für eine Mumie, eine halsbrecherische Busfahrt in die kristallklaren Höhe der Anden, wo man dem Universum etwas näher ist und atmet Sternenstaub atmet. In Chile tanzt das Wasserdampf-Ballett zum Sonnenaufgang auf dem El Tatio und Patagonien bietet nicht nur den kalbenden Gletscher Perito Moreno und springende Wale vor Peninsula Valdez: in Feuerland, am Ende der Welt, dürfen die Gedanken sehr weit schweifen. Buenos Aires ist nicht nur Tango und Steak, es ist auch immer noch das Paris Südamerikas und keine Stadt der Welt hat mehr Theatersäle. Argentinien ist geprägt von einer melancholischen Kultur des Wartens und Erwartens. Wir erfahren über den Tango, dass es traurige Gedanken sind, die man tanzen kann. Eine Laudatio auf das argentinische Steak erklärt den ehemaligen Reichtum des Landes.

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Bernhard Wulff

Geschichten aus Lateinamerika

Vergiss alles, was du über Regenbögen weißt

Inhalt

Auftakt

MEXICO

ARGENTINIEN

Melancholie

Die Unterrichtsstunde

Genuss

San Juan

Peinlichkeit – das Interview

Ein kleiner schwarzer Kasten

Das Orchester

Plan B

Vertrauen – die Busfahrt

Leoncito

Warten, erwarten

Das andere Zeitkonzept

Der Tod – nie wieder VERDI

Zwei Volkshelden

San Marti – Vielleicht ein Film

Philosophie – Dinos

Ein Requiem für eine Mumie

Vier alte Autos

IGUAZU – die Geburt des Regenbogens

BRASILIEN

Die Copacabana bei Sonnenaufgang

Die Rache

URUGUAY

Candela

Mercado II

Eine Verbeugung: Tannat

Zurück in Freiburg

GUATEMALA

Der kleine Park

Casa Santo Domingo in Antigua

Pyramiden von Iximché

Atitlan See

Marimba

Glaube an die Sicherheit

CHILE

Insel der Freiheit

Geisterballett – El Tatio, Atacama

Tod und Leben – Salzsee

Schrei der Erde

SIE

NOCHMALS ARGENTINIEN

Feuerland

Empathie

36 Fotos auf einem Bild

Danksagung

Bildteil

Auftakt

Wir strandeten nachts, mit großer Verspätung aus der Mongolei kommend, am Moskauer Flughafen Scherementjewo und verpassten unseren Aeroflot Anschlussflug nach Deutschland. Mit uns wartete eine größere Gruppe und sah erwartungsfroh einer Erklärung über das weitere Vorgehen entgegen. Diese fiel knapp und überraschend aus:

„Heute gibt es keinen Flug mehr nach Deutschland. Dafür bieten wir Ihnen eine Übernachtung in unserem Hotel am Flughafen. Leider haben wir nur noch einige Doppelzimmer. Bitte suchen Sie sich einen Partner, mit dem Sie das Zimmer teilen möchten.“

Eine delikate Aufgabe.

Ich schaute mich um. Neben mir stand ein Naturbursche, braungebrannt, der, wie sich herausstellte, von einem Trekking-Urlaub aus der Mongolei kam. Er strahlte die ruhige Gelassenheit eines Mannes aus, den nach einer Wanderung durch die Steppe nichts mehr erschüttern kann. Wir nickten uns zu, er öffnete wortlos lächelnd seine Plastiktüte mit trockenen Keksen und einer Flasche Wodka, was sich prima mit meinen trockenen Keksen und meiner Flasche Wodka ergänzte. Unsere erste Übereinstimmung. Die Nacht war damit gerettet, und unter größtmöglichen Sicherheitsvorkehrungen wurden wir in ein luxuriöses, und vor allem gesichertes Moskauer Hotel eskortiert. Auf jedem Hotelflur saß ein Sicherheitsoffizier, der misstrauisch kontrollierte, ob jemand heimlich ins Freie lief. Auch waren sämtliche Zimmerfenster verriegelt, selbst ein eventueller Fenstersturz war ausgeschlossen. Der heilige russische Boden wurde sorgfältig geschützt.

Im Zimmer angekommen, unternahmen wir zunächst den vergeblichen Versuch, einen nichtrussischen Fernsehkanal zu finden, der unsere Trübsal hätte lindern können und legten uns schließlich ermattet auf das riesige Bett, öffneten die erste Flasche Wodka und begannen, uns die ganze Nacht Geschichten und Reiseerlebnisse zu erzählen, wie Scheherazade in tausendundeiner Nacht, die ihr Leben einst durch ihre spannende Erzählkunst rettete. Werner reiste gerne und viel und hörte sehr genau zu, als ich von meinen Erlebnissen und Abenteuern aus Südamerika berichtete. Am nächsten Morgen waren nicht nur die Wodka- und Keksvorräte aufgebraucht, sondern wir verließen das Hotel als Freunde, die wir bis heute geblieben sind. Einige Monate nach unserer denkwürdigen Nacht in Moskau rief er mich an:

„Rate mal, wo ich gerade herkomme?“

„Keine Ahnung.“

„Deine Schilderungen in Moskau haben mich bewogen, so rasch wie möglich zu allen Stationen, Städten, Landschaften, Ländern deiner Geschichten in Südamerika zu reisen. Ich musste das einfach selbst erleben. Es hat sich gelohnt.“

Ich fühlte mich geehrt und gerührt.

Sicherlich hatte der Wodka im Moskauer Hotel seinen Beitrag dazu geleistet, dass die Schilderungen besonders farbig ausgefallen waren.

Einige dieser Moskauer Geschichten über Südamerika haben in dieser Sammlung ihren Platz gefunden, weitere kamen seither hinzu.

Erste Begegnung mit Lateinamerika

Es begann mit meiner sechswöchigen Konzertreise durch Lateinamerika als künstlerischer Leiter des Ensemble Modern aus Deutschland. Das war in den frühen 1980ern, die Inflation in Argentinien war damals so dramatisch, dass ein Restaurantbesuch mehrerer Personen mit einem Berg Papiergeld bezahlt werden musste. Es war das Zeitalter vor dem Internet, Faxgeräte gab es zunächst nur an Hauptpostämtern, und ein Fax wurde vom Expressboten ausgetragen. Ein normaler Brief brauchte von Deutschland etwa drei Wochen nach Buenos Aires, die Antwort drei Wochen zurück, plus Bearbeitungszeit konnte es schon zwei Monate dauern, bis man sich ausgetauscht hatte. Zwei ganze Monate, in denen man sich auch ganz anderen Dingen widmen konnte. Um diese Konzerttournee zu organisieren, schickte ich pro Station etwa zwei bis drei Briefe, zwei bis drei Faxe und telefonierte zwei- bis dreimal.

Mitte der 1990er war das Internet noch nicht verbreitet, doch gab es bereits sehr einfache Übersetzungscomputer, manches Mal mit hohem Unterhaltungswert: auf meine Frage nach dimmbaren, beleuchteten Notenpulten wurde mit der Gegenfrage geant-wortet, warum wir die Glühbirnen essen wollten.

Es folgten weitere Reisen als Gastdirigent diverser örtlicher Sinfonieorchester, Reisen zu Vorträgen und Meisterklassen oder auch mit dem Schlagzeugensemble der Freiburger Musikhochschule. Das siebenköpfige Ensemble reiste mit viel Gepäck und allerlei Instrumentenkisten – insgesamt mit 15 größeren Koffern und Gepäckstücken. Um Diskussionen über das Übergepäck an den Flughäfen zu umgehen, hatten wir Geheimwaffen: die blonde Ines und den genauso blonden Falko. Sie waren in Südamerika auffallende Exoten. Wenn eine Frau am Schalter saß, musste der schöne blonde Falko die Verhandlungen führen, war es ein Mann, die schöne blonde Inez. Das Ergebnis war ernüchternd: Es klappte jedes Mal.

Über einen Zeitraum von 30 Jahren waren es etwa 20 Konzertreisen – nach Mexico, Brasilien, Guatemala, Uruguay, Chile, Argentinien und Ecuador. Von dort kam später der wichtige Komponist Mesias Maiguashca nach Freiburg, dem Komponisten aller südamerikanischen Länder folgten, einige von ihnen erhielten Kompositionsaufträge. Die Stadt am Oberrhein wurde dank des Einsatzes einiger Freiburger Ensembles das europäische Zentrum zur Pflege zeitgenössischer Musik Südamerikas.

Kapitel I

MEXICO

„Lateinamerika“ klingt weit weg, geheimnisvoll, fremd. Der Kontinent steht für grandiose Landschaften, Indios, Gold, untergegangene Kulturen, exotische Tiere, Eroberungskriege, Montezuma, soziale Ungerechtigkeit, überwundene Militärregierungen, Reichtum, zerrüttete Staatsfinanzen. Auswandererschicksale werden in Erinnerung gerufen.

Nach dem zweiten Weltkrieg trafen sich dort die Täter und die Opfer. Man erinnert sich an einen der seltsamsten Eroberungserfolge der Menscheitsgeschichte durch die Spanier. Auf der Suche nach Reichtum und Gold fanden die spanischen Conquistadores im Mexico des Jahres 1519 Azteken- und Mayareiche vor, deren Existenz ebenfalls das Ergebnis von Eroberungskriegen war. Doch waren sie nicht widerstandsfähig genug: Mit nur 15 Pferden und einer Handvoll Draufgängern wurde der Conquistador Cortés von den Indios zunächst willkommen geheißen, denn entsprechend ihrer Mythologie erwarteten sie Heil, das aus dem Osten kommend, von einem weißen Gott mit Bart gebracht werden sollte. Cortés erkannte seine Chancen, nutzte die Feindschaft der Stämme untereinander, gewann alle Kriege, großen Reichtum und öffnete für seine noch brutaleren Nachfolger die Tür zur Eroberung eines ganzen Kontinents.

Die Schiffbesatzung war eine bunte Mischung kampferprobter Soldaten der spanischen Reconquista, die zuvor gegen die Mauren in Spanien gekämpft hatten, von mittellosen Spaniern und Sträflingen, Mördern und Raufbolden, denen man als Alternative zu einem Leben zwischen Ratten im Gefängnis die große Fahrt mit der Aussicht auf Reichtum und Ländereien in der Ferne anbot. Es war zunächst eine nur kleine Schar, gleichwohl eine gefährlich motivierte Gruppe Wildentschlossener, angeführt von dem trickreichen, intrigant-brutalen Cortès, denn die Spanier kamen in Unterzahl, jedoch in großer militärischer Überlegenheit, mit taktisch und strategisch neuer Kriegsführung, einer blitzschnellen Kavallerie. Sie kämpften mit Waffen, die den Indios unbekannt waren, wie zum Beispiel mit gepanzerten Hunden. Auch Pferde kannten sie nicht, Ross und Reiter verschmolzen in ihrer Wahrnehmung zu monströsen Ungeheuern.

Die vielleicht stärkste Waffe allerdings war Cortes‘ Sklavin Malinche, eine geschickte Dolmetscherin für mehrere Indiosprachen. Sie war Cortés‘ wichtigste Ratgeberin und Verräterin ihrer Landsleute bei weiteren Eroberungen. Als Resultat der Begegnung der Indios mit den Europäern starben in den ersten hundert Jahren der Eroberungen durch Kriege und vor allem durch die eingeschleppten Krankheiten 15 Millionen Menschen. Jeder Tod ist individuell, doch große Zahlen verkleinern individuelles Leid. Die Krankheiten und der Tod trafen auch Stammesfürsten, Medizinmänner, Geschichtenerzähler; große Populationen verloren widerstandslos innerhalb kurzer Zeit ihre Identität und ihr Gemeinwesen.

Meine ersten Erfahrungen mit Lateinamerika machte ich in Mexico, dem ersten Dominostein von Hernando Cortés. Das Flugzeug landete in Mexico City auf einem Hochplateau in 2.200 Metern. Die Luft in diesem Großraum für ca. 22 Millionen Menschen ist dünn, Verbrennungsmotoren hinterlassen in dieser Höhe besonders schmutzige Abgase. Vier Millionen PKW, 120.000 Taxen, 28.000 Omnibusse und einige zehntausend Lastkraftwagen erzeugen einen Smog, den die umgebenden Berge der Hochebene an Ort und Stelle halten. Die Luft von Mexico City eignet sich nicht gut zum Atmen. Bei Regen wird der in der Luft schwebende Dreck des Tages herunter gewaschen und legt sich rutschig auf die Straßen. Dennoch sind Mexico City und seine Umgebung ein Erlebnis.

Ich vereinbarte mit einem Taxifahrer, einem älteren gebildeten Herrn, eine Pauschale für ein paar Tage, und er fuhr mich zu den Sehenswürdigkeiten innerhalb und außerhalb der Stadt, zu den Pyramiden und Klöstern, zu großen Marienprozessionen und zum Hausberg, dem Popocatepetl. Auf etwa 3.500 Metern Höhe kann man mit dem Auto zu einer Basisstation fahren, um von dort eine Kletterpartie zu unternehmen. Doch die bequeme Fahrt hat den Nachteil, dass die Zeit für eine Akklimatisierung fehlt: Bereits nach 100 Schritten wird man in dieser Höhe atemlos. Der Fahrer beglei-tete mich über den Fruchtmarkt von Pueblo und brachte mich zu einer kinderreichen Familie, die den besten fermentierten Kaktusschnaps, Pulpe, für den Eigengebrauch herstellt. Über den Fermentationsimpuls werden viele Geschichten erzählt, die man besser erst nach dem Genuss erfährt.

Das anthropologische Museum hat die wohl schönste Museumsarchitektur der Welt. Die Ausstellungskonzeption lädt den Besucher sanft und unaufdringlich ein, die einzigartigen vorkolonialen Kulturreste zu entdecken. Ein freischwebendes Dach spannt sich elegant über den Innenhof. Schwalbengroße Schmetterlinge fliegen in den umgebenden Parkanlagen und in den wenigen Grünstreifen der Avenidas.

Mexico City bietet neben den enormen sozialen Kontrasten eine großartige, kulturelle Eigenständigkeit und pralles Leben auf den Straßen.

Von Mexico nach langer Reise in mein damaliges Haus im schweizerischen Basel zurückgekehrt, war mein erster Eindruck: tot ist es hier, wie nach dem Abwurf einer Neutronenbombe: kaum Menschen auf der Straße, kein Lächeln.

Hernando Cortés traf vor 500 Jahren auf einen einzigartigen Ort, auf dessen Ruinen später Mexico City entstand. Alte Zeichnungen lassen das Wunderwerk erahnen: Auf diesem Hochplateau lag einst der Texcoco See und auf dessen Inseln verteilte sich die Hauptstadt Tenochtitlan des Gottkönigs Montezuma, mit 100.000 Einwohnern damals eine der größten Städte der Welt. Die Abbildungen der Stadtanlage laden zum Träumen ein und erfüllen jeden Bildbetrachter mit schmerzhafter Trauer über den Verlust dieser Kostbarkeit. Die Spanier waren gründlich: Die Stadt wurde komplett zerstört und mit Mexico City überbaut, die Kathedrale auf dem Platz des alten Tempels und der Palast der spanischen Vizekönige aus den Überresten des Montezuma-Palastes errichtet, der See trockengelegt.

Cortes war ein rücksichtsloser Eroberer, doch die Geschichten vom braven, gutgläubigen Indio und den goldgierigen, brutalen Spaniern ist zu einfach, um wahr zu sein. Es war keineswegs eine friedvolle Gesellschaft, auf die Cortés traf: Die Azteken waren berüchtigt für ihre Menschenopfer: Auf dem Opferstein der Pyramidenspitze wurde Kriegsgefangenen, Kollaborateuren, Männern, schwangeren Frauen, sogar Kindern mit einem Steinmesser das Herz aus dem Leib geschnitten, damit gesichert war, dass die Sonne jeden Morgen erneut aufgehen würde. Einige Quellen sprechen von jährlich bis zu 40.000 Opferungen. Allerdings gab es auch Freiwillige, die ihr Leben der Sonne opferten.

Virtuelle Talkshow

Ein Gedankenspiel drängt sich mir auf: Wäre Cortez nicht gekommen und hätte es keine gewaltsame Eroberung durch die Europäer gegeben und die Azteken würden weiterhin ihre Ritualmorde begehen, wie würde die Weltgemeinschaft wohl darauf reagieren? Wäre das Opfern von Menschen ein zu respektierendes religiöses Ritual, eine innere Angelegenheit Mexicos, in die sich niemand einzumischen hätte? Wo wäre die Toleranzgrenze?

In meinem Gedankenspiel sehe ich nun eine der vielen Fernseh-Talkshows vor mir. Thema: die jährlichen 40.000 Menschenopfer in Mexico. Der höchste Würdenträger der Azteken ist geladen, Gott-König Xototl, „Meister der Sonnenbefragung“, ein vornehmer Herr um die 60, in einem exotisch bunten Gewand, ferner ein katholischer Bischof, ein Vertreter der konservativen Parteien und ein Journalist. König Xototl hat feingeschnittene, weiche Gesichtszüge, eine zartbraune Haut und Pupillen mit einem leichten Goldglanz, der auch seine Haarspitzen ziert. Er trägt einen tiefblauen Feder-kopfschmuck, an den Ohren große, schmale Goldringe und an den bloßen Armen je einen breiten, verzierten Armreif. Er stammt in direkter Linie vom berühmten König Montezuma ab und er ist sich seiner Wirkung wohl bewusst. Der „Meister der Sonnenbefragung“ spricht acht Sprachen, darunter Deutsch. Er hat eine hervorragende Ausbildung an verschiedenen internationalen Universitäten genossen, Astrophysik in Havard studiert und in Heidelberg über Heidegger promoviert. Als Staatsgast in Deutschland nutzt er in der Talkshow einer sehr bekannten deutschen Journalistin die Gelegenheit, einer breiten Öffentlichkeit die Traditionen seines Landes zu näher zu bringen und für die Idee eines neuen Tourismus zu werben: für eine Möglichkeit, sich in total abgeschiedenen Touristen-Camps in die traditionellen Kampfspiele einführen zu lassen, deren Sieger sich freiwillig der Sonne opfern dürfen. Es hat bereits überraschend viele Anfragen aus aller Welt gegeben, von Menschen, die ihrem Leben einen Sinn geben möchten.

Immer wieder haben uns sonderbare Berichte aus seinem Land erreicht. Denn wenig ist über dieses Mexico bekannt, es ist abgeriegelt wie Nordkorea und nur einigen wenigen Wagemutigen gelang es, das Land zu betreten und es auch lebend zu verlassen. Andere wurden gefasst und als Sondergabe der Sonne geopfert: Den Azteken ist es eine Ehre, der Sonne geopfert zu werden.

Die Sieger der blutigen Ballspiele, die berühmtesten Sportler und Tänzer widmen Ihr Leben der Sonne, sie werden ein Jahr lang mit sämtlichen Ehren und köstlich bewirtet, junge Mädchen erbitten ihre Defloration durch den Auserwählten, der sich nach einem Jahr auf der Spitze der Pyramide von Teotehuacan mit dem Rücken auf den Opferstein legt, den Kopf weit nach hinten gebeugt, die Arme ausbreitet, um die Strahlen der Sonne zu empfangen, während der Oberpriester mit einem scharfen Steinmesser blitzschnell in seine Brust sticht und mit geübtem Griff das pumpende Herz herausschneidet und es der Sonne darbietet. Auch Fremden wird diese Ehre manchmal zuteil. Sie werden ein Jahr lang gepflegt und bekommen den bläulich schimmernden Honig der seltenen Kazatekl-Bienen, der einen weichen Rausch bewirkt und für die Betroffenen die Welt in ein zartes Rosa taucht. Die Fingernägel und Haarspitzen färben sich nach längerer Einnahme zart golden, das Herz schlägt schnell und wird so für die Opferung gestärkt.

Nur wenige können ihrer Opferung entkommen, die Berichte sind spärlich, manchmal widersprüchlich. Man spricht davon, dass den Neugeborenen zur Ehre der Sonne die Ohrläppchen abgeschnitten werden. Nur der höchste aller Azteken darf seine Ohrläppchen behalten, um die goldenen Sonnenohrringe zu tragen.

Xototl hört der Anmoderation der Journalistin aufmerksam zu, freundlich und wissend lächelnd, ähnlich wie der Dalai Lama. Die Kamera schwenkt langsam von seinem Antlitz zu den Gesichtern im Studiopublikum, das mit Entsetzen die grausamen Details im Anmoderationstrailer gesehen hat, einige verwackelte Bilder einer Opferungszeremonie, aus der Ferne unscharf aufgenommen. Die Moderatorin wendet sich ihm mit einer ersten Frage zu.

„Warum 40.000?“

Xototl lässt sich Zeit mit seiner Antwort: „Damit die Sonne am nächsten Morgen – auch für Sie – wieder aufgeht!“ Dabei fixierte er sie mit den Augen. Ein leises Raunen des Publikums ist zu hören.

„Entschuldigen Sie, die Wissenschaft weiß doch seit 500 Jahren, dass sich die Erde um die Sonne dreht.“ Die Moderatorin ist fassungslos.

„Nun, das ist die wissenschaftliche, physische Deutung. Ich kenne natürlich die Theorien und akzeptiere die Version Ihrer Kultur. Sie mögen sich daran erinnern, ich habe Astrophysik in Havard studiert. Unser Land finanziert die fünf wichtigsten Observatorien der Welt mit. Die Wissenschaften erklären uns den Lauf der Welt mit rationalen Konzepten. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe Physik und Astronomie in den USA und England studiert. Doch das reicht keinesfalls, um die Welt zu verstehen. Es gibt in allen Dingen eine metaphysische, spirituelle Ebene, die sich nicht wie eine einfache Rechenaufgabe erschließt. Der Kern der Dinge bleibt uns verborgen, im Großen und im Kleinen. Wir wissen zum Beispiel, dass unsere Körpertemperatur normalerweise zwischen 36,3 bis 37,4 °C liegt, doch weiß niemand genau, warum das so ist. Auch der Weg von der Wahrnehmung in das Bewusstsein ist, trotz großer Erfolge der Neurologie, bislang unbekannt. Das Universum sowieso. Wir verstehen es nicht, weil wir unser Gehirn nicht verstehen können, denn der Mensch ist nicht in der Lage, das System, in dem er lebt, selbst zu erkennen. Mir sind die Diskussionen, die in der sogenannten westlichen Welt geführt werden, alle bekannt und ich kann Ihnen sagen, dass das, was Sie als Realität bezeichnen, eine Scheinwelt ist, besser im Plural: Scheinwelten. Unsere Ethnologen haben Ihre Kultur genau studiert und sie haben die Scheinweltebenen Ihrer Kultur in Abschnitte und Segmente unterteilt. Da wären zum Beispiel: die Ideale von Sicherheit, individueller Freiheit, von Frieden, Gerechtigkeit, Zufriedenheit, Glück, dem Einklang mit der Natur und vieles mehr. Ihre Menschen reden sich ein, und es wird ihnen eingeredet, dass diese wichtigen Themen keiner Diskussion mehr bedürften, dass man sich alles auch mit Geld kaufen könne. Jeder von Ihnen jedoch weiß insgeheim, dass dies nicht möglich ist. Deshalb sind viele Menschen in Ihrer Kultur innerlich leer, unzufrieden und ohne Lebensziel. Wir hingegen leisten einen Dienst für die gesamte Welt: Sie sollten uns dankbar sein.“

„Warum denn 40.000?“ fragt sie nach.

„Sehen Sie“, der Aztekenkönig lächelt nachsichtig: „Was ist mit euren Verkehrstoten, die den Göttern der Geschwindigkeit und dem Luxusgift der Bequemlichkeit geopfert werden? – 2014 waren es weltweit 1.2 Millionen! Bei uns sind es lediglich 40.000, die sich freiwillig als Opfer darbringen – die Besten der Besten. Ich denke, wenn man heute das Automobil als neue Technologie einführen würde und gleichzeitig wüsste, dass dafür jedes Jahr weltweit 1.2 Millionen – alleine in Deutschland 3.000 – geopfert werden müssen, niemand wäre bereit, diese Technologie der Beweglichkeit einzuführen. Die Opferzahlen sind höher als bei jeder anderen Technologie – und doch, sie werden als bedauerlicher Schaden stillschweigend akzeptiert. Bei uns geben sich 40.000 freiwillig der Sonne hin, damit sie jeden Tag auf’s Neue in großer Pracht aufgeht.“ Er reibt sachte an dem Armring und küsst die eingravierte Abbildung der Sonne.“

Der Bischof wirft ein: „Sie finden Menschenopfer notwendig?“

„Damit der Mensch als Dialogpartner von den großen Gottheiten der Natur akzeptiert wird, werden seit Menschengedenken Opfer gebracht. Das hat es immer gegeben und wird es immer geben – es ist das größte Opfer für die größten Götter. Wir sprachen bereits über Ihre westlichen Opfer. Im Buddhismus, besonders im Lamaismus wurden Flöten aus den Oberschenkelknochen jungfräulicher Mädchen gearbeitet – Menschopfer für Ritualinstrumente! Sie machen Geschäfte mit Ländern, die behaupten, die Todesstrafe oder das Abhacken von Gliedmaßen sei eine lange Rechtstradition und eine innere Angelegenheit des Landes. Ich bitte Sie, wir haben immerhin ehrenwerte Absichten und helfen der gesamten Welt. Wir können es uns nicht erlauben, der Sonne nicht mehr zu opfern – die Welt würde untergehen. Wir sind ein auserwähltes Volk.“

„Warum schneiden sie Babys die Ohrläppchen ab?“

„Das ist Teil der Idee von dem Bund mit der Sonne und Teil unserer Religion. Man darf die Menschen nicht in Versuchung führen, Ringe zu tragen, nur der König darf diese Ringe tragen, damit er von allen hervorgehoben wird.“ Er streicht mit beiden Händen langsam über seine Ohrringe, führt sie an die Nase und saugt dann den Sonnenduft der Ohrringe von seinen Fingern ein.

Der Politiker in der Runde wird grundsätzlich: „Die Würde des Menschen ist unantastbar – warum also schneiden sie?“

„Nun, da sind wir nicht allein“, erwiderte er nachsichtig: „Warum werden in einigen Ländern aus gesellschaftlichen oder religiösen Gründen immer noch Mädchen und Jungen beschnitten? Das Ohrläppchen ist eine Verunzierung, ein kleiner Fettsack, der als Missbildung entstand, als vor vielen Jahrhunderten einige unserer Vorfahren auch den Mond anbeteten – es gab eine Fettsack-Epidemie, die sich weltweit ausbreitete. Wir korrigieren das. Wir sind ein auserwähltes Volk – es gibt andere, die sich für auserwählt halten, doch alle haben Probleme mit ihren Nachbarn, wir nicht.“

Nach einem weiteren Gedankenaustausch über Fragen religiöser Riten und Traditionen fragt die Moderatorin abschließend nach dem Grund seines Staatsbesuches.

„Wir hörten von einem neuen touristischen Konzept für deutsche Touristen.“ Xototl streckte sich für einen Moment und ließ die Moderatorin nicht aus den Augen, ihre Blicke trafen sich. Seine Zunge fuhr kurz über die Oberlippe, sein Gesicht spannte sich und bekam etwas Echsenhaftes. Die Nahaufnahme der Kamera zeigt den kühl zarten Goldglanz der Augen. Nach einem kurzen Moment entspannt sich Xototl, lehnt sich sanft ins weiche Kissen zurück, strahlt erneut in freundlicher Milde und fährt mit weicher Stimme fort:

„Ich kann Ihnen verraten, dass nur durch Mund-zu-Mund-Propaganda bereits einige tausend Personen zu uns gekommen sind. Wir geben diesen Menschen ein Lebensziel. Zugegeben, es ist nicht ganz billig und wird auch immer exklusiv bleiben. Diese Gäste müssen erst erklären, dass unser Staat als ihr Erbe eingesetzt wird. Sie werden erster Klasse nach Mexico geflogen, leben vier Wochen in einem sehr exklusiven Camp, werden in unsere Traditionen eingeführt, mit seltenen, kostbaren Speisen verwöhnt und bekommen unsere geheimen Weichdrogen, die ihnen bei ihrer letzten Reise zu spirituellen Erlebnissen auf der Pyramide von Teotihuacan behilflich sein werden, um direkt in das Licht der Sonne blicken zu können. Sie können jedoch jederzeit aussteigen und müssen den Weg der Sonnenopferung nicht zuende gehen. Das ist bislang nur drei Mal passiert.“

Er lächelt der Moderatorin freundlich zu…… „Wenn Sie möchten, lade ich Sie gerne ein, seien Sie mein Gast. Als Journalistin notieren Sie sich alles und wenn es Ihnen nicht bei uns gefällt, fliegen Sie zurück und schreiben über Ihre Erlebnisse. Weltweit können Sie exklusiv berichten. Es könnte jedoch auch sein, dass Sie bleiben, bis die Sonne sich wendet.“ Er lächelt höflich und grüßt, sich verabschiedend, ins Publikum. Der Moderatorin bietet er seinen Goldring am Arm mit dem Sonnenrelief zum Kuss.

Einige Wochen nach dieser Talkrunde erhält die Moderatorin ein Schreiben der aztekischen Regierung. Ein Kurier überbringt ein prächtiges Kuvert, verziert mit goldenen Ornamenten in Goldprägung, geschrieben auf feingegerbten Pergament aus Echsenhaut. Versiegelt und vom König unterzeichnet: die Einladung. Sie erinnert sich an sein echsenhaftes Gesicht mit dem Goldschimmer in seinen Augen und ihr ist, als würde er sie durch das Pergament hindurch anschauen.

Kapitel II

ARGENTINIEN

Argentinien hat zwei Regionen: die Hauptstadt und den Rest. Buenos Aires ist das Paris Südamerikas und kulturelles Zentrum des Landes. Es leben 13 Millionen Menschen in der Metropolregion Buenos Aires und die Stadt verfügt über mehr Theatersäle als irgendeine andere Metropole der Welt: fast 190 Theater zählt der Kulturfreund. Eines der berühmtesten Opernhäuser der Welt ist das Teatro Colon. New York hat circa 135 Säle, Paris und Berlin jeweils etwa 150. Die Zahl der zur gleichen Zeit gespielten Theaterstücke ist beeindruckend. Außer im Hochsommer hat man zu jeder Zeit die Auswahl zwischen etwa 400 verschiedenen großen und kleinen Theateraufführungen.

Die Militärdiktatur war eine finstere Zeit der jüngeren Geschichte, spurlos verschwanden etwa 30.000 Menschen. 2.000 von ihnen starben durch den Abwurf aus Militärflugzeugen über dem nahen Atlantik. Diese allwöchentlichen Todesflüge wurden von einem Priester begleitet, der die Absolution erteilte. Seither protestieren bis heute Mütter von Verschwundenen vor dem Präsidentenpalast.