Lauf, so schnell du kannst - Linda Howard - E-Book

Lauf, so schnell du kannst E-Book

Linda Howard

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Beschreibung

Angie Powell führte einst ein erfolgreiches Unternehmen, indem sie Touren durch die Wildnis anbot - bis Kriegsveteran Dare Callahan auftauchte und ihr Konkurrenz machte. Als Angie ein letztes Mal mit einem Klienten unterwegs ist, beobachtet sie einen kaltblütigen Mord und muss vor dem Killer fliehen. Ausgerechnet Dare ist zur Stelle, um ihr zu helfen, und Angie muss sich eingestehen, dass sie seinem raubeinigen Charme immer mehr verfällt.

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Inhalt

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

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Titel

Impressum

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Weitere Titel der Autorin:

Die Doppelgängerin

Mordgeflüster

Heiße Spur

Mitternachtsmorde

Ein gefährlicher Liebhaber

Ein tödlicher Verehrer

Auch Engel mögen’s heiß

Über dieses Buch

Angie Powell führte einst ein erfolgreiches Unternehmen, indem sie Touren durch die Wildnis anbot - bis Kriegsveteran Dare Callahan auftauchte und ihr Konkurrenz machte. Als Angie ein letztes Mal mit einem Klienten unterwegs ist, beobachtet sie einen kaltblütigen Mord und muss vor dem Killer fliehen. Ausgerechnet Dare ist zur Stelle, um ihr zu helfen, und Angie muss sich eingestehen, dass sie seinem raubeinigen Charme immer mehr verfällt.

Über die Autorin

Linda Howard gehört zu den erfolgreichsten Liebesromanautorinnen weltweit. Sie hat über 25 Romane geschrieben, die sich millionenfach verkauft haben. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet. Sie wohnt mit ihrem Mann und fünf Kindern in Alabama.

LINDA HOWARD

Lauf, so schnell du kannst

Aus dem Amerikanischen von Michaela Link

beHEARTBEAT

Vollständige digitale Neuausgabe des 2013 bei LYX erschienenen Titels.

»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2011 by Linda Howington

Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Prey“

Originalverlag: Ballantine Books, New York

This translation published by arrangement with Ballantine Books, an Imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Joern Rauser

Umschlaggestaltung und -abbildung: www.buerosued.de

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-8598-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1

Er hatte gewonnen.

Sie hatte verloren.

Sie hasste es, zu verlieren. Verlieren kotzte sie mehr an als so ziemlich alles andere.

Schon bei der bloßen Vorstellung knirschte sie mit den Zähnen und dachte noch einmal darüber nach, was sie am besten gleich tun sollte. Im Wesentlichen wohl das Handtuch werfen. Okay, nicht direkt das Handtuch werfen, aber sie wollte sich definitiv zurückziehen – doch jetzt musste sie erst handeln. Sturheit war einer ihrer größten Fehler, wie ihr nur allzu bewusst war. Aus diesem Grund setzte Angie Powell, bevor sie einen Fehler machen und ihre Meinung ändern konnte, hastig ihren Namen unter den Vertrag mit Harlan Forbes, dem einzigen Makler in der Gegend, lehnte sich dann in ihrem Stuhl zurück und versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren.

So, das war’s. Ihr Haus stand offiziell zum Verkauf. Ihr Magen war so verkrampft, dass sie das Gefühl hatte, kopfüber in einen Abgrund zu stürzen – aber nun gab es kein Zurück mehr. Na ja, wahrscheinlich doch; Harlan hatte sie fast ihr ganzes Leben lang gekannt und wäre vermutlich bereit, den Vertrag auf der Stelle zu zerreißen, würde sie ihn darum bitten. Nicht nur das, außerdem war der Vertrag befristet. Wenn sich ihr Haus nicht in der vorgegebenen Zeit verkaufte, würde sie den Vertrag entweder verlängern oder … tja, was? Was hatte sie denn sonst für eine Möglichkeit? Keine. Hier ging es ums Ganze, hier hieß es: Friss, Vogel, oder stirb. Aber auch wenn sie mit dem Rücken zur Wand stand – sie wollte verdammt sein, wenn sie jetzt einfach aufgab. Umziehen war nicht das Gleiche wie aufgeben.

»Ich werde es sofort ins Internet stellen«, sagte Harlan und schwang auf seinem Drehstuhl herum, um den Vertrag neben seinen eleganten All-in-One-Computer mit integriertem Monitor zu legen, ein überraschend modernes elektronisches Teil in seinem schäbigen, vollgestopften Zweiraumbüro, das sich im ersten Stock über dem Eisenwarenladen befand. »So knüpfe ich heutzutage die meisten meiner Kontakte.« Er warf ihr einen schnellen Blick zu, Sorgenfalten zeichneten sich auf seinem geröteten Gesicht ab. »Mach dir bloß keine Hoffnungen, sofort ein festes Angebot zu bekommen. Die Objekte hier sind im Durchschnitt sechs Monate auf dem Markt, was bei der derzeitigen Wirtschaftslage nicht mal schlecht ist.«

»Danke«, sagte sie. Harlan war einer der besten Freunde ihres Vaters gewesen. Sie nahm an, dass er den Verkauf genauso dringend brauchte wie sie selbst. Die wirtschaftliche Talfahrt hatte in dieser Gegend jeden getroffen. Sechs Monate. Gott, konnte sie noch sechs Monate durchhalten? Die Antwort war: Wenn sie musste. Sie konnte alles, wenn sie es musste.

Sie stand auf. »Glaub mir, ich mach mir erst mal gar keine Hoffnungen.«

Aber das tat sie doch; dagegen konnte sie gar nicht an. Sie wünschte sich, das Haus würde in dieser Minute verkauft werden, bevor sie zu viel darüber nachdenken konnte. Gleichzeitig graute ihr vor dem Gedanken, es zu verlassen, und die beiden Gefühle kämpften in ihr, bis sie schreien wollte. Als ob das etwas nützte.

Sie zog den Mantel an und griff nach ihrer großen Tasche, dann setzte sie sich die Mütze auf. Sie brauchte sowohl den Mantel als auch die Mütze. Der November hatte Kälte gebracht und die Täler bereits mit einer dünnen Schneeschicht überzogen. Die Berggipfel rings um das Tal waren weiß; der Wind, der von ihnen herabwehte, roch schon nach Winter, nach Tannen mit frischem Schnee. Eine Warmfront war im Anzug, die ein wenig Schnee schmelzen würde, aber jeder, Mensch und Tier, wusste schon jetzt, dass dieses Zwischenspiel bald wieder vorüber sein würde. Und dann trat der Winter mit seiner Kälte die monatelange Herrschaft an.

Sie musste damit rechnen, einen weiteren Winter hier zu verbringen. Natürlich wäre es schön, wenn sich ein Käufer für ihr Haus fand, aber Angie war realistisch. Die Taube auf dem Dach hatte sie noch nie gereizt, solange sie den Spatz in der Hand hatte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich mühsam über Wasser zu halten und mit der Zahlung ihrer Rechnungen nicht so lange zu warten, dass eine Zwangsvollstreckung unvermeidlich würde. Und das, bis ihr Haus einen Käufer gefunden hatte und sie umziehen konnte.

Wenn. Was für ein Wort. Wenn sich ihr Dad nicht vor fünf Jahren eine Menge Geld geliehen hätte, um das Unternehmen zu erweitern, weitere Pferde und Quads zu kaufen und drei kleine Ferienhäuser zu bauen, dann wäre das Haus immer noch schuldenfrei, und sie würde trotz des Rückgangs ihres Einkommens ganz gut zurechtkommen. Aber er hatte es nun einmal getan, und sie kam nicht zurecht. Sie hatte die Quads und die meisten Pferde verkauft und mit dem Geld das Hauptdarlehen abbezahlt, aber selbst wenn sie sich neu finanzierte, würden die Raten höher sein, als sie verkraften konnte, immer vorausgesetzt, dass die Bank bei der derzeitigen restriktiven Kreditvergabe einer Neufinanzierung überhaupt zustimmte.

Zumindest hatte sie nicht gewartet, bis sie in echte Schwierigkeiten geriet. Nein, mit dieser großen Portion Realismus hatte sie die Lage schnell durchschaut und erkannt, dass sie in spätestens einem Jahr pleite sein würde, wenn sie nichts dagegen unternahm. Aber ein Jahr war noch optimistisch gerechnet; die sechs Monate, die Harlan erwähnt hatte, um ihr Haus und Grundstück zu verkaufen, kamen der Sache schon näher. Bis dahin würde sie vielleicht noch nicht einmal aus den roten Zahlen sein, und sie wollte auf keinen Fall ihre Ersparnisse angreifen. Zum einen hatte sie nicht viele; zum anderen war es eine gute Möglichkeit, ausnahmslos alles zu verlieren, wenn man schlechtem Geld auch noch gutes hinterherwarf.

Harlan hievte seinen massigen Körper aus dem quietschenden Bürostuhl und ging mit ihr zur Tür. »Ich werde morgen rausfahren, um ein paar Fotos zu machen«, sagte er.

»Dann bin ich da. Ich habe übermorgen eine Tour und muss noch alles vorbereiten.« Zurzeit war diese geführte Jagd mit einem Stammkunden das Einzige, was in ihren Büchern an Aufträgen stand. Vor drei Jahren, bevor Dare Callahan zurückgekehrt war und begonnen hatte, große Löcher in ihre Geschäftsbücher zu reißen, hatte sie wochenlang zwischen den Touren gerade mal Zeit gehabt, ihre Vorräte wieder aufzufüllen. Selbst vor zwei Jahren noch, als er ihr Konkurrent geworden war, war sie einigermaßen zurechtgekommen und sogar dankbar gewesen, zwischen den Touren etwas Zeit zum Ausruhen zu haben. Letztes Jahr war schon wenig los gewesen. Und dieses Jahr war geradezu katastrophal geworden.

Harlan tätschelte ihr den Arm, als er ihr die Tür aufhielt. »Ich lasse dich nur ungern gehen, aber du weißt es sicher selbst am besten.«

»Das hoffe ich. Ich habe ein bisschen recherchiert, und ich denke, ich habe einen guten Ort gefunden, oben hinter Missoula.« Sie würde ihr Herz jedoch nicht an einen bestimmten Ort hängen, sondern sich Gebiete suchen, in denen Jagdführer dünn gesät waren, und dann von dort ausgehen. Ein Umzug würde schließlich nicht viel nützen, wenn sie sich nur wieder in eine Situation mit einem beinharten Wettbewerb begab.

Er warf einen Blick aus der Tür, auf die gebirgige Landschaft, die er schon tausend Mal gesehen hatte, und dabei schlich sich ein etwas trauriger Ausdruck auf sein Gesicht. »Ich … denke auch darüber nach fortzugehen.«

»Was?« Dieses unerwartete Geständnis riss Angie aus den Gedanken über ihre eigenen Probleme; sie starrte ihn erschrocken an. Er war doch immer hier gewesen, in dieser Gegend, und hatte einen Fixpunkt in ihrem Leben ausgemacht, von der Zeit an, da sie und ihr Dad hierher gezogen waren. Sie war zweimal weggegangen, einmal aufs College und dann anschließend nach Billings, aber Harlan war immer hiergeblieben, so verlässlich wie der Sonnenaufgang im Osten. Sie konnte sich diesen Ort gar nicht ohne ihn vorstellen. »Warum?«

In seinen Augen stand ein versonnener Ausdruck, als hätte er sich nach innen gewandt. »Je älter ich werde, desto näher bin ich den Menschen, die bereits gestorben sind, und umso schwerer wird die Beziehung zu den Leuten, die dableiben«, sagte er leise. »An manchen Tagen kann ich bloß noch an die Toten denken. Ich ertappe mich dabei, dass ich ständig mit Glory spreche.« Gloria war seine verstorbene Ehefrau; Angie hatte nie gehört, dass er sie anders als Glory nannte. »Und dein Dad … ich rede immer noch mit ihm, als würde er hier neben uns stehen. Und da sind noch andere, viel zu viele andere.«

Er seufzte. »Ich habe keine unbegrenzte Anzahl an Jahren mehr, weißt du, und ich verbringe zu viel von meiner Zeit allein. Ich muss in die Nähe von Noah und den Enkelkindern ziehen, ein bisschen mehr Kontakt zu ihnen aufbauen, solange ich das noch kann.«

»Du redest, als stündest du schon mit einem Fuß im Grab. Du bist doch nicht alt!« Sie war immer noch zu schockiert, um diplomatisch sein zu können, aber Diplomatie war noch nie ihre Stärke gewesen. Hinterher fiel ihr immer ein, was sie hätte sagen sollen, aber im gegenwärtigen Moment neigte sie eher dazu, mit dem herauszuplatzen, was ihr gerade durch den Kopf ging. Außerdem war Harlan wirklich nicht alt, wahrscheinlich Mitte sechzig, also etwa so alt wie ihr Dad.

Aber ihr Dad war tot, und plötzlich meinte Angie zu wissen, was Harlan meinte. Er hörte den Ruf des Jenseits; manchmal fing sie selbst ein Echo davon auf, in der Stille, die sie umgab – und die plötzlich voller Erinnerungen sein konnte. Vielleicht war das die Art der Natur, vom Leben zum Tod überzugehen, oder von diesem Leben zu einem anderen. Er wusste, dass er sich wahrscheinlich im letzten Viertel seines Lebens befand, und er wollte das Meiste daraus machen, mit den Menschen, die ihm das Meiste bedeuteten.

»Alt genug«, sagte er und schaute wieder zu den hoch aufragenden Bergen hinüber. »Wenn ich jetzt nicht umziehe, werde ich vielleicht keine Zeit mehr haben.«

Und das brachte es auf den Punkt. Sie tat genau das Gleiche, wenn auch aus anderen Gründen. Ihr lief die Zeit davon.

»Ja«, erwiderte sie sanft. »Ich weiß.«

Ganz plötzlich umarmte er sie, eine zwar einarmige, aber rippenzerquetschende Umarmung, die vorbei war, bevor sie auch nur einen Laut von sich geben konnte. »Ich werde dich vermissen, Angie, aber wir werden in Kontakt bleiben. Das verspreche ich dir.«

»Gleichfalls«, sagte sie verlegen. Wie üblich war sie von dem Gefühl des Augenblicks hoffnungslos überfordert, aber sie schaffte es, ihn anzulächeln, als sie vor die Tür trat. Manche Menschen sagten und taten instinktiv das Richtige, zu diesen gehörte sie allerdings nicht. Das Beste, was sie tun konnte, war, tja, war eben das Beste, was sie tun konnte – und sie hoffte, dass sie es nicht allzu sehr vermasselte.

Sobald sich die Tür jedoch hinter ihr schloss, wurde ihr Lächeln traurig. Sie wollte nicht fortgehen. Sie war in ihrem Haus aufgewachsen, sie mochte die kleine Gemeinde hier, obwohl es weiß Gott nichts gab, was ein Nachtleben genannt werden konnte, außer man zählte Frösche mit. Na und? Sie hatte gerne in Billings gelebt, und sie lebte noch immer gerne hier. Nach einer Weile wurde jeder Ort, in den sie zog, zu ihrer Heimat. Sie war die, die sie war, ganz gleich, wo sie lebte. Grimmig schüttelte sie ihre Traurigkeit ab. Wenn sie ihre Selbstmitleidsorgie nicht bald überwand, riskierte sie, das zu werden, was sie am meisten verabscheute: eine Heulsuse.

Sie nahm die Außentreppe in einem flotten Tempo und schritt dann über den rissigen Parkplatz zu ihrem sieben Jahre alten, dunkelblauen Ford Pick-up; dabei hielt sie den Kopf nur mit Mühe hoch erhoben. Sie war nicht ganz geschlagen, nein, noch nicht, aber diese Schlacht hatte sie definitiv verloren, und der Geschmack der Niederlage war bitter wie Galle in ihrem Mund. Das Schlimmste war: Dare Callahan wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass sie um ihr Überleben gekämpft hatte und er ihr, als sie zum dritten Mal unterging, praktisch den Stiefel auf den Kopf gesetzt und sie unter Wasser gedrückt hatte – und wenn er es doch gewusst hätte, wäre es ihm egal gewesen.

Gott, sie hasste ihn! Nein, es war kein richtiger Hass, aber sie konnte ihn auf den Tod nicht ausstehen. Allein der Gedanke, dass sie vor zwei Jahren in Versuchung gewesen war, seine Einladung zum Ausgehen anzunehmen, dass sie sogar Schmetterlinge im Bauch gehabt hatte! Aber damals hatte sie noch nicht begriffen, was er da eigentlich tat. Jetzt wusste sie es besser. Sie mochte nichts an ihm, nicht, wie er aussah, oder den Truck, den er fuhr, und noch nicht einmal seinen verdammten Namen. Dare.

Wenn sie fair sein wollte – und ihr war keineswegs danach zumute, fair zu sein –, musste sie vermutlich seinen Eltern die Schuld an seinem Namen geben, aber das bedeutete nicht, dass er vollkommen unschuldig war, denn schließlich hätte er seinen Namen in Jim oder Charlie ändern können, etwas in der Art. Aber auf einer Website machte sich ein Dare Callahan, Wildnisführer, natürlich erheblich cooler als zum Beispiel ein schlichter, alter Charlie Callahan – so hatten die Leute wahrscheinlich das Gefühl, sie engagierten jemanden wie Indiana Jones.

Und wenn sie ihre eigene Website mit seiner verglich, dann klang Powell-Touren so glanzlos, dass sie zugeben musste: Wahrscheinlich würde sie sich selbst nicht buchen. Es war hart, sich dieser Tatsache zu stellen, aber so war es nun mal. Sie hatte kein Geld, jemanden damit zu beauftragen, ihre Website aufzupeppen, also hatte sie in ihrer Freizeit herauszufinden versucht, wie sie es selbst tun konnte, obwohl ihr schmerzhaft bewusst war, dass man im Allgemeinen das bekam, wofür man zahlte. Ihre Website war zwar so eingerichtet worden, dass sie sie updaten konnte, aber ihr fehlte die Inspiration. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, damit sie fähiger rüberkam als Dare Callahan, Wildnisführer. Sollte sie ihren Namen vielleicht in Ace ändern?

Als ihr der Gedanke kam, blieb sie wie angewurzelt stehen und fragte sich, ob ihr da vielleicht eine brauchbare Idee gekommen war, eine Idee, die ihr zumindest etwas Zeit verschaffen würde. Ihr Einkommen war in den letzten zwei Jahren eingebrochen. Zum Teil lag das natürlich an der Wirtschaft, aber es war sicher auch kein Vorteil, dass sie eine Frau war. Zwar waren einige der Großwildjäger, die jedes Jahr nach Montana kamen, Frauen, und ein noch größerer Prozentsatz der Fotografen auf Fotoexkursionen waren ebenfalls Frauen, aber die meisten Leute schienen zu glauben, dass ein männlicher Führer sicherer war als ein weiblicher.

Wenn es Probleme gab, war ein Mann nun mal stärker, angeblich auch tougher, bla bla bla. Sie wusste doch, wie es lief. Sie konnte noch nicht einmal widersprechen, obwohl sie sicher sein durfte, dass sie ziemlich gut in dem war, was sie tat. Sie war eins siebzig, das war etwas über der Durchschnittsgröße einer Frau, mit einer schlanken, langgliedrigen Figur, der man nicht ansah, wie kräftig sie in Wahrheit war. Trotzdem war sie nicht annähernd so stark wie die meisten Männer hier in der Gegend, vor allem nicht so stark wie ein muskelbepackter Wichser wie Dare Callahan. Aber wenn sie ihre Website ändern und etwa ihre Initialen statt ihres Namens benutzen würde, sodass die Leute nicht sofort wussten, dass sie eine Frau war … ja, dann mochte sie zwar Stammkunden verlieren, aber die waren ohnehin praktisch gleich null, daher konnte jede neue Buchung nur ein Plus bedeuten.

Und vielleicht sollte sie sich mehr auf solche Aktivitäten wie Fotoreisen und Camping in der Wildnis konzentrieren statt auf Jagdausflüge, die sich naturgemäß eher an Männer richteten, als wäre ein Paar Eier eine Voraussetzung für eine kompetente Führung. Soweit sie das beurteilen konnte, durfte man es aber getrost als einen großen Pluspunkt auf der Habenseite verbuchen, keine Hoden zu haben. Sie wurde weder von Testosteron mit Ego- und Konkurrenzproblemen geblendet, noch brauchte sie sich Sorgen darum zu machen, ob sie sie links oder rechts tragen wollte, und sie fiel auch nicht gleich um und kotzte, wenn ihr jemand in die Eier trat.

Apropos Verkaufsargument: lebenslange Erfahrung, keine Hoden. Sie konnte es jetzt vor sich sehen, wie es in leuchtend roten Lettern auf ihrer Website prangte. Sie genoss die Vision noch einen Moment lang, dann konzentrierte sie sich wieder darauf, sich als Leiterin von Fotoexkursionen und Familienausflügen neu zu positionieren.

Nur, dass sie dies bereits im Frühjahr hätte tun sollen, um auf dem Höhepunkt der Jagdsaison Kunden anzulocken. Der Winter kam schnell, und mit ihm kam auch das Ende der Jagdausflüge bis zum nächsten Jahr. Nein, sie musste sich den Tatsachen stellen: Sie stand mit dem Rücken zur Wand. Es ärgerte sie, dass sie ihre Situation nicht umkehren konnte – zumindest nicht hier, nicht jetzt. Ihre einzige Chance, sie zu ändern, bestand darin, irgendwo anders hinzuziehen, wo ihr nicht die Konkurrenz eines blöden Superstars drohte. Aber sie hasste es, ein Versager zu sein, egal wo, wobei und unter welchen Umständen. Sie hatte nicht nur sich selbst enttäuscht, sondern auch ihren Dad und seinen Glauben an sie. Warum hätte er ihr sonst den Besitz und das Unternehmen hinterlassen, wenn er nicht gedacht hätte, dass sie damit erfolgreich sein könnte?

»Weil sonst niemand da war«, murmelte sie und musste trotz allem ein wenig lachen. Nicht, dass ihr Dad sie nicht geliebt hatte; das hatte er. Aber ob er sie geliebt hatte oder nicht, das hatte nichts mit der Entscheidung zu tun gehabt, ihr alles zu vermachen, weil sie sein einziges Kind war und es tatsächlich niemand anderen gegeben hatte. Wenn er geahnt hätte, dass er Herzprobleme hatte, bevor er buchstäblich tot umgefallen war, dann hätte er vielleicht das Haus verkauft und sich eine Arbeit gesucht, die körperlich nicht so anstrengend war. Aber alles in allem war Angie froh darüber, dass er, wenn er schon hatte sterben müssen, zumindest bei etwas gestorben war, das er geliebt hatte. Er war über das Land geritten und nicht in einem Laden oder einem Büro eingepfercht gewesen.

Sie hatte damals in Billings gelebt und gearbeitet und einen ganz normalen Job im Verwaltungsbüro eines Krankenhauses gehabt, aber sie konnte davon leben und fand es ganz okay. Die Sache war die, dass sie nie großen Ehrgeiz besessen hatte, etwas Besonderes zu tun. Damals hatte sie nichts anderes gewollt, als sich ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Als ihr Dad gestorben war, war es daher logisch gewesen, nach Hause zurückzukehren und sein Unternehmen mit Führungen durch die Wildnis zu übernehmen. Schließlich hatte sie ihm, bevor sie weggezogen war, auch schon des Öfteren geholfen. Es war also nicht so, als wäre sie eine Anfängerin gewesen und hätte nicht gewusst, wie man eine geführte Tour leitete. Sie war eine gute Fährtenleserin und eine gute Schützin. Damals hatte sie keinen Grund gesehen, warum sie es nicht schaffen sollte, und für eine Veränderung war sie ohnehin bereit gewesen. Warum also nicht?

Und dann hatte sie etwas festgestellt, womit sie nicht gerechnet hatte: Sie liebte den Job. Sie liebte es, draußen in den Bergen zu sein, sie liebte es, für ihr eigenes Schicksal verantwortlich zu sein. Es hatte etwas Besonderes, aus einem Zelt heraus direkt in den unberührten frühen Morgen zu treten und von der Einsamkeit und Schönheit ringsum überwältigt zu werden. Wie konnte sie so viele Jahre gelebt haben, ohne zu erkennen, dass das genau das war, was sie tun wollte? Vielleicht hatte sie eine Weile fortgehen müssen, um zu merken, wie sehr sie für dieses Leben geeignet war. Nicht, dass sie es nicht genossen hätte, in der Stadt zu leben. Sie hatte die Vielfalt geliebt, die Menschen, die Freunde, die sie gefunden hatte; sie hatte sogar Kochkurse besucht und überlegt, sich nebenbei ein bisschen Geld mit Catering zu verdienen. Aber sie liebte es, Wildnisführerin zu sein, und sie lebte jetzt gerne hier, viel lieber als damals, als sie noch ein Kind gewesen war.

Sie wünschte allerdings, sie hätte einige andere Entscheidungen getroffen und zum Beispiel die Pferde verkauft und die Quads behalten, statt das genaue Gegenteil zu tun. Späte Einsicht mochte ja ganz schön sein, nur, dass sie eben erst so verdammt spät kam. Sie hatte nicht mit der wirtschaftlichen Talfahrt und dem Verschwinden diskretionärer Ausgaben gerechnet. Sie hatte nicht gewusst, dass Dare Callahan zurückkehren und den größten Teil ihres Geschäftes abschöpfen würde. Warum hatte er nicht beim Militär bleiben können, wo er hingehörte, weit entfernt von ihrem kleinen Fleckchen Montana?

Wenn doch nur …

Nein. Kein wenn doch nur. Es tat nichts zur Sache, dass sie zweiunddreißig war und er ihr Schmetterlinge im Bauch beschert hatte. Sie misstraute Schmetterlingen, ließ sich nicht von Emotionen und Hormonen hinreißen. Einmal war genug gewesen. Sie hatte eine solche Närrin aus sich gemacht, dass sie immer noch bei jedem Gedanken an ihre kurze Ehe von dem beinahe überwältigenden Schamgefühl ein flaues Gefühl im Magen bekam. Der starke Wunsch, Billings zu verlassen, den Schauplatz des Debakels, hatte dazu geführt, dass sie es gar nicht hatte erwarten können, das Unternehmen nach dem Tod ihres Vaters zu übernehmen.

Wenn sie damals glücklich verheiratet gewesen wäre, hätte sie ohne Zweifel das Unternehmen verkauft und wäre in Billings geblieben, einfach weil sie sich dort ein Leben aufgebaut hatte. Als ihr Privatleben jedoch zerbrochen war, hatte sie sich so strikt zurückgezogen, dass ihre Freunde sie vor lauter Verzweiflung beinahe aufgegeben hatten. Nachdem sie dann wieder hergezogen war und sich gefangen hatte, hatte sie diese Beziehungen kitten können – eine Frau brauchte immer andere Frauen. Aber dann hatte sie sich so sehr in ihre eigene Art zu leben verliebt, dass nicht einmal Dynamit sie wieder in ein Büro hätte jagen können.

Jetzt dachte sie sich, dass sie einige E-Mails schreiben musste, wenn sie nach Hause kam, nur um sich mal wieder zu melden, dann öffnete sie die Tür des Trucks und wollte gerade einsteigen, als ihr plötzlich einfiel, dass sie Nägel und Krampen brauchte, um Zäune zu reparieren. Sie konnte sie genauso gut jetzt gleich besorgen, wo sie schon mal am Eisenwarenladen vorbeikam, und sich so eine Fahrt sparen. Außerdem wollte sie von Evelyn French den neuesten Klatsch aus der Gemeinde hören, falls es welchen gab. Evelyn war die schwatzhafte Hälfte des Mann-und-Frau-Teams, dem der Eisenwarenladen gehörte. Ihr Sohn, Patrick, war damals das einzige andere Kind in ihrem Alter gewesen, das es in der kleinen Gemeinde gegeben hatte, und während ihrer gesamten Schulzeit hatten die Frenches und ihr Dad sich abgewechselt, um sie beide in die nächste richtige Stadt zur Schule zu fahren, vierzig Meilen entfernt. Patrick war jetzt ein Cop in Spokane, verheiratet, mit zwei eigenen Teppichratten. Evelyn war völlig verrückt nach ihren Enkelkindern, zwei kleinen Jungen im Alter von vier und zwei Jahren, und sie hatte immer Zeit, die neuesten Geschichten darüber zu erzählen, was sie gesagt und getan hatten. Sie schien ihre Streiche zu genießen, als dächte sie, dass Patrick alles verdiente, was sie da so taten. Bei der Erinnerung an einige der Dinge, die Patrick angestellt hatte, als sie klein waren, musste ihr Angie recht geben.

Sie schloss die Tür, die sie eben geöffnet hatte, stapfte über den Parkplatz, ging vorsichtig um ein tiefes Schlagloch herum – und als sie den Kopf hob, sah sie ihn, den großen Mann, den Teufel, Dare Callahan selbst, direkt auf sie zugehen. Er kam vom Parkplatz auf der anderen Seite des Ladens, wo sein großer schwarzer Truck wie ein glänzendes, finsteres Metallmonster aufragte.

Ihn zu sehen war zu viel. Angies Herz tat einen plötzlichen, harten Schlag, und ihr wurde flau im Magen. Sie reagierte vollkommen automatisch, dachte gar nicht erst nach, redete sich nicht gut zu, überlegte nicht, wie es aussah; sie machte einfach kehrt und ging zu ihrem eigenen Truck zurück, wobei sie leise vor sich hin murmelte. Sie würde die Nägel und Krampen später holen, wenn sie von der Führung zurückkam; bis dahin würde sie ohnehin keine Zeit haben, an den Zäunen zu arbeiten. Weglaufen war zwar feige, aber sie konnte ihm auch nicht zunicken und höflich sein, konnte nicht so tun, als hätte sie nicht gerade seinetwegen ihre Welt auf den Kopf gestellt. Verdammt, das passte, dass sie ihm vor dem Eisenwarenladen über den Weg lief, nachdem sie gerade ihren Besitz zum Verkauf ausgeschrieben hatte, wozu er sie doch gezwungen hatte. Manchmal waren Zufälle wirklich ätzend.

»He!«

Das tiefe, wütende Bellen grollte durch den Raum zwischen ihnen. Angie sah nicht zurück. Sie dachte auch gar nicht, dass er mit ihr sprach – schließlich hatte sie über zwei Jahre lang alles getan, um ihm so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen und kaum ein Hallo zu grunzen, wenn sie gezwungen war, ihn zu grüßen. Darum schaute sie sich doch um, um zu sehen, mit wem er redete, denn ihr war sonst niemand in der Nähe aufgefallen.

Schlagartig wurde ihr bewusst, dass tatsächlich niemand sonst da war. Er sprach mit ihr.

2

Der feine Kies auf dem Asphalt knirschte unter seinen Stiefeln, als er mit großen Schritten auf sie zukam. Wie sein Truck war auch sein Hut schwarz, und er trug ihn so tief heruntergezogen, dass die Krempe den größten Teil seines Gesichtes verschattete. Schwarzer Hut gleich Bösewicht, oder? Damit war sie einverstanden, denn soweit es sie betraf, war er definitiv der Bösewicht in ihrem Leben – der Bösewicht, der wie eine Dampflok auf sie zukam. Sie legte die Hand an den Türgriff, dann hielt sie inne und kämpfte gegen ihre eigenen Impulse an. Sie hatte keine Angst vor ihm. Sie fühlte sich in der Gegenwart von Männern nicht wohl, aber es war ihr eigenes fehlerhaftes Urteil, dem sie nicht traute. Außerdem, wie viel Feigheit konnte sie sich selbst erlauben, bevor sie jegliche Selbstachtung verlor?

Offensichtlich hatte sie gerade ihren eigenen Schlusspunkt erreicht. In ihren Truck zu springen und wegzufahren war das Beste, was ihr einfiel, vor allem wenn sie Dare auf dem Weg vom Parkplatz runter plattmachte, aber, okay, sie würde ihm noch erlauben, zu sagen, was ihm unter den Nägeln brannte. Sie mochte die Schlacht verloren haben – Scheiße, vielleicht sogar den ganzen verdammten Krieg –, aber dieses eine Mal konnte sie sich ihm stellen, und danach würde sie nie wieder mit ihm reden müssen, nicht einmal aus Höflichkeit. Sie nahm die Schultern zurück, hob das Kinn, ließ den Türgriff los und trat von dem Truck zurück. Innerlich zitterte sie wie Wackelpudding, aber äußerlich war ihr nichts anzusehen, ihre ganze Haltung war die einer Revolverheldin, die sich mitten auf der Straße einem Gegner stellte.

Er schob sich vor sie und blieb erst stehen, als er ihr so nahe gekommen war, dass die Krempe seines Hutes gegen ihre stieß. wütend funkelte er auf sie herab; so nah war er, dass sie die weißen Streifen in seinen dunkelblauen Augen sehen konnte, als sie aufschaute. Angie holte schnell und automatisch Luft, dann wünschte sie, sie hätte es nicht getan, weil die Luft selbst von ihm erfüllt zu sein schien, von dem Duft von Leder und Kaffee und Jeans, erhitzt von seiner Haut. Ein primitives Gespür für Gefahr sorgte dafür, dass sich ihr die Haare im Nacken sträubten und ihr ein Schauer über den Rücken lief. Ihr Instinkt schrie ihr zu, zurückzuweichen, außer Reichweite zu gehen, ihr Gefühl für ein unberührtes Selbst wiederzugewinnen, das seine Nähe irgendwie bedrohte. Aber jetzt zurückzuweichen wäre ausgerechnet heute ein Rückzug zu viel gewesen, da ihr Stolz seinetwegen bereits zu sehr gelitten hatte.

Sie biss die Zähne zusammen, drückte den Rücken durch und blieb, wo sie war. »Was willst du?«, fragte sie schroff, und bei Gott, wenn schon kein anderer Teil von ihr fest war, ihre Stimme war es.

»Ich will wissen, was zum Teufel mit dir los ist«, knurrte er, und seine Stimme klang dabei so rau, dass sie darum kämpfen musste, nicht zusammenzuzucken, als hätte sie sie gekratzt. Er sprach noch kehliger, als sie es in Erinnerung hatte. Bevor sie sich beherrschen konnte, schaute sie auf seinen Hals, auf die bleiche Narbe, die in einer leichten Diagonale quer über die muskulöse Säule verlief. Verschlechterte sich seine Stimme, oder klang er nur deshalb so, als hätte er gemahlenes Glas gegessen, weil er wegen irgendwas sauer war? Sie hoffte, dass er sauer war, hoffte, dass sie unabsichtlich irgendetwas getan hatte, um ihn so wütend zu machen, dass er kaum sprechen konnte. Denn wenn sie herausfinden konnte, was sie getan hatte, würde sie alles daransetzen, es wieder zu tun.

»Mit mir ist überhaupt nichts los«, antwortete sie und biss die Zähne so fest zusammen, dass ihr der Kiefer schmerzte. Jetzt, da sie die Narbe an seiner Kehle gesehen hatte, ertappte sie sich dabei, dass sie die anderen Narben in seinem Gesicht anstarrte: Die Furche oben auf seinem rechten Wangenknochen, eine weitere neben seinem Mund; die sah wie ein Grübchen aus, wenn man nicht wusste, dass die Narben von Granatsplittern stammten. Und dann war da noch eine pfeilförmige Narbe auf seinem Nasenrücken. Keine der Narben war entstellend; sie schienen ihn nicht zu stören, und sie sollten auch sie nicht stören, nur, dass sie bei ihrem Anblick einen Schmerz in der Brust verspürte, der sich unerklärlicherweise wie Kummer anfühlte.

Diesen Gedanken schob sie beiseite; sie konnte es sich nicht leisten, Mitleid mit ihm zu haben. Schön, er war also im Irak von Granatsplittern getroffen worden; er lebte aber, er war nicht entstellt oder behindert, und sie konnte rein theoretisch Mitgefühl für ihn als Angehörigen der Streitkräfte empfinden, ohne dass er bei ihr irgendwelche anderen Gefühle auslöste.

Sie wünschte, dass er Mundgeruch gehabt hätte, statt angenehm nach Kaffee zu riechen … wünschte, dass es etwas, irgendetwas, an ihm gegeben hätte, das körperlich abstoßend gewesen wäre. Was war sie nur für ein Idiot, dass sie in schwachen Momenten wehmütig daran dachte, was hätte geschehen können, wenn sie tatsächlich mit ihm ausgegangen wäre, als er in die Gegend zurückgekehrt war und sie eingeladen hatte. Was, wenn sich etwas daraus entwickelt hätte? Dann kamen die Zweifel, und sie fragte sich, ob er sich vielleicht absichtlich darangemacht hatte, ihr Geschäft zu zerstören, weil sie ihn abgewiesen hatte; wenn ja, machte ihn das zu einem Riesenwichser, und es hätte gar nichts genützt, mit ihm zu gehen. Sie fuhr jedoch Gefühlsachterbahn, weil sie einfach nicht wusste, was es bedeutete, dass sie sich ständig über die verschiedenen Szenarien Gedanken machte, ohne wissen zu können, welches davon nun zutraf. Alles, was sie mit Bestimmtheit wusste, war, dass sie nicht gut mit Männern umgehen konnte und dass Dare Callahan ihr Geschäft ruiniert hatte. Von diesen beiden Punkten war sie felsenfest überzeugt.

Durch seine Nähe und den Truck im Rücken kam sie sich eingepfercht, gefangen vor. Verdammt, genug war genug; sie konnte es keine Sekunde länger ertragen. Also rutschte sie zur Seite, ein Stückchen von dem Truck weg, obwohl ihr verdammter, halsstarriger Stolz es ihr nicht erlauben würde, vor Dare zurückzuweichen.

Auch er veränderte seine Position und drehte sich mit ihr, sodass sie einander nach wie vor gegenüberstanden.

»Warum verhältst du dich dann jedes Mal in meiner Gegenwart, als hättest du einen Stock verschluckt?«, fuhr er sie an. »Gerade eben hast du dich umgedreht und bist weggerannt, sobald du mich gesehen hast. Ich bin es allmählich leid, verdammt noch mal! Wenn du ein Problem mit mir hast, dann sag es mir ins Gesicht.«

»Ich bin nicht weggerannt«, blaffte sie zurück. Instinktiv rutschte sie noch ein paar Zentimeter zur Seite. »Vielleicht ist mir eingefallen, dass ich noch woandershin muss.« Sie versuchte noch nicht einmal, ihrem Ton einen Anflug von Aufrichtigkeit zu verleihen. Stattdessen schien ihr gesunder Menschenverstand sie verlassen zu haben, denn sie klang, als verspottete sie ihn. Sie wollte kein rotes Tuch vor dem Bullen schwenken, sie wollte es nicht in einen großen Streit eskalieren lassen, sie wollte nur in ihren Wagen steigen und losfahren. Aber stattdessen blieb sie dort stehen, und es kamen weitere Dinge, die sie nicht hatte sagen wollen, aus ihrem Mund. »Vielleicht steht es nicht besonders weit oben auf meiner To-do-Liste, dich zu sehen oder mit dir zu sprechen.«

Wieder bewegte er sich, behielt die Angriffsposition ihr gegenüber aber bei, und diesmal schienen beide von einem unbewussten Schwung erfasst zu werden, der sie in Bewegung hielt. Langsam umkreisten sie einander wie wütende Kämpfer, und jeder suchte nach der Schwäche des anderen. Sie war sich undeutlich bewusst, dass sie wie Narren aussahen, die einen feindseligen Tango auf dem Parkplatz tanzten, und hoffte, dass niemand sie sah; jeder wusste hier über jeden Bescheid, und sie wollte nicht mit Fragen konfrontiert werden, über das, was da zwischen ihr und Dare Callahan vorging. Gott, bitte, mach, dass Harlan jetzt nicht aus dem Fenster schaut. Er würde sich verpflichtet fühlen, herauszukommen und sich davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war.

»Bleib stehen«, sagte er immer noch knurrend, obwohl er wegen seiner Kehlkopfverletzung auch dann noch knurrig klingen mochte, wenn er versuchen würde, Schlaflieder zu singen.

»Weshalb sollte ich? Du bist doch derjenige, der mich bedrängt, nicht andersrum. Wenn du willst, dass ich stehenbleibe, dann geh zurück.« Sie unterstrich die beiden letzten Worte, indem sie ihm die Fingerspitze mitten auf die Brust setzte und etwas Druck ausübte; es war, als stemmte man sich gegen einen Fels – einen lebenden, atmenden Fels, aber trotz allem ein Fels. Sie war sich nicht sicher, wie einfach es war, mit einem Fels zu kommunizieren, daher wiederholte sie ihre Worte, wenn auch nur, um sicherzugehen, dass er verstand. »Geh. Zurück.«

Seine strahlend blauen Augen unter der Hutkrempe waren schmal und wütend. Er legte den Kopf ein wenig schief, dazu kam eine arrogante, kampflustige Neigung seines Kinns, und dann setzte er ihr den rechten Zeigefinger mitten auf das Brustbein und kopierte ihre Bewegung. »Zwing. Mich.«

Eine wütende Hitze stieg in ihr hoch. Ihn zwingen? Gott, sie wünschte, sie könnte es! Frustration und Zorn breiteten sich in ihr aus, erstickten sie beinahe. Sie konnte ihn keinen Zentimeter bewegen, und das wussten sie beide. Als es nicht klappte, wollte sie ihm am liebsten einen Kinnhaken verpassen, aber sie war nicht dumm. Dafür würde er sie bestenfalls wegen tätlichen Angriffs verhaften lassen. Aber sie bezweifelte, dass ihm diese Lösung auch nur in den Sinn käme. Nein, er würde die Konsequenzen selbst verhängen, und obwohl sie nicht wusste, welche Form sie annehmen würden, war sie sich absolut sicher, dass ihr das Ergebnis überhaupt nicht gefiele. Manchmal wusste man einfach etwas über Menschen, und sie wusste, dass Dare Callahan ein sturer Esel war, der sich jederzeit über gute Manieren hinwegsetzen würde, wenn er etwas Wichtiges sagen wollte.

Sie hätte ebenfalls wissen sollen, dass er nicht nachgeben würde. Vielleicht war er in seiner Jugend ausgeglichener und freundlicher gewesen, aber seit er die Armee verlassen hatte und zurückgekommen war, war er bestenfalls als mürrisch und meistens als richtig schlecht gelaunt bekannt. Vielleicht hatte er einen Grund, jetzt die beleidigte Leberwurst zu spielen, vielleicht war er sogar früher schon eine gewesen. Wie auch immer, sie musste ihn nehmen, wie er jetzt war. Und im Augenblick stand er genau vor ihrer Nase.

Für den Bruchteil einer Sekunde wog sie ihre Möglichkeiten ab, während sie zu ihm emporstarrte, hin- und hergerissen zwischen all diesen widersprüchlichen Gefühlen, und dann stieß etwas in ihr abrupt einen kleinen Seufzer aus und gab auf. Sie konnte an ihrem Stolz festhalten und so tun, als würde sie losfahren, weil sie es wollte – aber warum versuchen, gute Miene dabei zu machen? Er hatte doch gewonnen. Sollte er es genießen.

Sie knirschte mit den Zähnen und versuchte, die Worte herauszubekommen. Verdammt, war das schwer! Sie holte ein paar Mal Luft, bemühte sich um Selbstbeherrschung und war schließlich sogar in der Lage zu sagen: »Es geht dich zwar nichts an, aber ich habe gerade mein Haus auf den Markt gebracht.« Sie sprach leise, damit er es nicht merkte, falls ihre Stimme zitterte. »Es tut mir leid, wenn es deine Gefühle verletzt, dass mir im Moment nicht danach ist, mich mit dir zu unterhalten, aber im Moment ist mir einfach nicht danach, mich mit dir zu unterhalten. Kapiert?«

Seine Miene wurde ausdruckslos. Er warf einen Blick zu Harlans Büro empor, dann sah er wieder sie an. »Du machst einen Ausverkauf?«

Und schon ging es wieder los. Sie knirschte mit den Zähnen. Hätte er nicht irgendeinen anderen Begriff benutzen können als Ausverkauf? Sie atmete noch ein paar Mal tief durch und stieß die Luft durch die Nase wieder aus – wie ein wütender Stier. »Ich habe keine andere Wahl. Mit meinem Unternehmen ist es bergab gegangen, seit du zurückgekommen bist und mir Konkurrenz gemacht hast. Ich kann entweder verkaufen oder pleitegehen.« So, das war nüchtern genug. Sie hatte gar nicht erst versucht, ihren Stolz zu schützen, aber sie hatte ihn auch nicht beschuldigt, sie vorsätzlich aus dem Geschäft gedrängt zu haben. Vielleicht hatte er es getan, vielleicht auch nicht. Jedenfalls war er definitiv die Ursache, absichtlich oder nicht, und das bedeutete mehr Anerkennung und weniger Schuld, als sie ihm eigentlich geben wollte. An diesem Punkt spielte es keine Rolle, denn das Endergebnis war dasselbe.

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde härter. »Und du gibst mir die Schuld.«

»Sonst sehe ich hier niemanden, der ein Unternehmen mit Wildnistouren aufzieht.«

Er sah mit schmalen Augen auf sie herab, sein Mund bildete eine grimmige Linie. »Nur damit das klar ist, ich habe dir keine Kunden abgejagt. Falls welche davon zuerst bei dir waren, sind sie auf mich zugekommen, nicht umgekehrt. Und ich will verdammt sein, wenn ich mich dafür entschuldige, dass sie mich vorgezogen haben.«

»Ich glaube nicht, dass ich dich um eine Entschuldigung gebeten habe. Ich glaube nicht, dass ich dich überhaupt um irgendetwas gebeten habe.« Und das würde sie auch nicht tun, noch nicht mal um eine Kleinigkeit. »Du wolltest wissen, was mein Problem ist, und ich habe es dir gesagt. Jetzt nimm deine Nase aus meinen Angelegenheiten und lass mich in Ruhe.« Sie trat aus ihrem kleinen feindseligen Kreis heraus und streckte wieder die Hand nach dem Türgriff des Trucks aus.

Seine Hand schnellte vor, packte sie am Arm und hielt sie fest. »Warte!« Angie erstarrte, und ihr Herzschlag donnerte abrupt wie ein fliehendes Pferd, als sie auf die gebräunte, kraftvolle Hand hinabsah, die ihren Unterarm umfasst hielt. Es war eine schmale, langfingrige Hand, schwielig, und der Rücken war von einer fünf Zentimeter langen, weißen Narbe gezeichnet. Seine Berührung verströmte eine Hitze, die durch die dicke, doppelte Stoffschicht von Hemd und Mantel brannte. »Wie viel verlangst du für dein Unternehmen?«

Für einen Moment konnte sie nicht glauben, dass er sie das tatsächlich fragte, dann wurde sie weiß vor Zorn und entriss ihm den Arm. »Ich verkaufe nicht mein Unternehmen«, blaffte sie. »Ich verkaufe mein Haus. Und dann mache ich, dass ich hier wegkomme, und das heißt auch: fort von dir!«

Sie zog die Trucktür auf, warf ihre Umhängetasche hinein und stieg auf den Fahrersitz. Sie wollte handgreiflich werden, ihn schlagen, treten, aber sie begnügte sich damit, die Tür zuzuknallen und den Schlüssel ins Zündschloss zu stoßen, und zwar so fest sie konnte. Der Motor sprang an, als sie den Schlüssel drehte, erwachte brüllend zum Leben. Wenn sie eine Kupplung gehabt hätte, hätte sie den Gang reingeknallt, aber sie musste sich damit begnügen, das Gaspedal durchzutreten und schleudernd aus der Parktasche zu schießen, obwohl es erheblich befriedigender gewesen wäre, wenn der Platz geschottert statt asphaltiert gewesen wäre und ihm die Räder Steine gegen die Beine gespritzt hätten.

Sofort stellte sie sich die Narben auf seinem Gesicht und auf seiner Hand vor, und ihre Fantasie wies die bloße Idee, ihn mit Kies zu beschießen, heftig zurück. Die Ähnlichkeit mit Granatsplittern war zu groß, und sie konnte nicht … also, sie konnte einfach nicht. Sie würde diesen Teil ihres Lebens der Vergangenheit zuweisen und sich verändern. Die Zukunft musste besser sein; sie hatte sich ein paar Mal verrechnet, falsche Entscheidungen getroffen, aber sie würde aus ihren Fehlern lernen, und es würde besser werden. Es würde. Es musste.

Dare Callahan stand auf dem leeren Parkplatz und sah dem blauen Ford wütend nach, als Angie Powell die Straße entlangschoss, als flöhe sie vor dem Satan persönlich. »Scheiße!«, sagte er heftig und ballte die Fäuste. Er hätte jetzt Lust auf eine gute, altmodische Kneipenschlägerei gehabt, aber die nächste Kneipe war über dreißig Meilen entfernt, und um diese Tageszeit würde wahrscheinlich ohnehin keiner da sein, mit dem er sich hätte prügeln können. Seine nächstbeste Wahl war ein Sandsack. Er hatte zwar einen in der Scheune auf seiner Ranch hängen, aber er wollte jetzt schon die Scheiße aus irgendwas rausprügeln, nicht erst in einer Stunde. Er hatte Pech, es sei denn, er wollte sich beim Eindreschen auf den verwitterten Ziegelbau sämtliche Handknochen brechen.

Das war die Wirkung, die sie auf ihn hatte. Zehn Sekunden in ihrer Nähe, und er war bereit, gegen etwas zu kämpfen, gegen irgendwas. Sie war stur wie eine Ziege, und feindselig. Außerdem machte sie ihn wütend und gab ihm das Gefühl, ein Idiot zu sein. Und tschüss. Er würde froh sein, wenn sie fort war.

Nur, dass er – obwohl sie ihn immer so ansah, als wäre er ein frischer, dampfender Kuhfladen, in den sie gerade reingetreten war – nichts lieber wollte, als es mit ihr zu tun, bis sie beide den Verstand verlieren würden. So war es seit dem Tag gewesen, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte sie sogar eingeladen – zweimal – und hatte zweimal eins auf den Deckel bekommen. Ihre Einstellung machte unmissverständlich klar, dass sie nicht im Mindesten an ihm interessiert war, aber sein Schwanz war einfach zu blöd, um das zu kapieren. Er brauchte nur ihren hohen, runden Hintern zu sehen oder diesen dunklen Pferdeschwanz, der ihr über dem Rücken baumelte, und das verdammte Ding wurde munter und bettelte fast um Zuwendung.

Das Leben würde ohne sie erheblich ruhiger werden. Zum Teufel, sie war noch nicht einmal besonders hübsch. Dunkles Haar, dunkle Augen, genau die Art von ausgeprägten, scharf geschnittenen Zügen, die auf etwas indianisches Blut hindeuteten, aber sonst nichts. Attraktiv, ja, aber das war es auch schon. Bis auf ihren Hintern. Bei ihrem Hintern klappte einem die Kinnlade runter, fielen einem die Augen aus dem Gesicht, triefte einem der Sabber aus dem Mund. Er war absolut erstklassig.

Wenn sie fort war, würde sein Schwanz vielleicht endlich diese idiotische Hoffnung aufgeben, dass er eines Tages eine Chance bei ihr bekäme. Und vielleicht würde er sich dann ernsthaft auch mal nach einer anderen Frau umsehen, nach jemandem, der es vielleicht ein paar Minuten in seiner Gesellschaft aushalten konnte, wozu Angie Powell offenbar nicht in der Lage war. Er verbrachte seine Zeit bestimmt nicht damit, wegen ihr ins Bier zu heulen; er war schon früher abgewiesen worden, und manchmal war das auch Scheiße gewesen, aber er hockte deswegen nicht jammernd in der Ecke rum. Doch aus irgendeinem Grund schwächte ihre Anwesenheit das Verlangen, nach jemand anderem Ausschau zu halten. Obwohl er sie nach dem zweiten Korb nicht wieder gefragt hatte, kannte er seine ehrgeizige Natur gut genug, um zu wissen, dass ein Teil von ihm – wie sein Schwanz – nach wie vor auf sie konzentriert war und sich weigerte aufzugeben.

Ohne sie würde sein Kundenkreis noch weiter anwachsen. Er würde vielleicht sogar anfangen müssen, Leute abzuweisen …

Eine Idee blitzte in seinem Kopf auf und ließ ihn erstarren. Es war so offensichtlich und doch so ungeheuerlich, dass er automatisch versuchte, den Gedanken zu verwerfen. Sie würde nie im Leben damit einverstanden sein … oder doch? Nein. Vielleicht.

Vielleicht?

Verdammt! Es könnte funktionieren.

Er warf einen Blick zu Harlans Maklerbüro hinauf und dann die Straße hinunter, wo der blaue Truck nur noch ein dunkler Fleck war.

»Ach, was solls«, sagte er laut. »Warum versuch ich es nicht einfach?« Er schritt über den Parkplatz und stieg die Treppe zu Harlans Büro hinauf. Harlan hörte ihn natürlich kommen; seine Stiefel knallten auf den Stufen und den Brettern des Treppenabsatzes. Als er die Tür öffnete, hatte sich Harlan bereits in seinem Drehstuhl umgedreht und erwartete ihn mit einem gespannten Ausdruck auf dem geröteten Gesicht.

»Dare«, sagte er mit milder Überraschung. »Ich dachte, du wärst vielleicht Angie, die zurückkommt. Setz dich und trink einen Kaffee mit mir.«

»Danke«, erwiderte Dare, denn er lehnte aus Prinzip keinen Kaffee ab. Er wusste nie, wann er die nächste Tasse bekommen würde, und er hatte schon so oft auf Kaffee verzichten müssen, dass er ihn noch immer nicht als selbstverständlich hinnahm. Also ging er zur Kaffeekanne und schenkte erst sich und dann Harlan eine Tasse ein. »Schwarz, weiß, süß?«

»Schwarz und süß.«

»Wie viele?«

»Zwei.«

Dare gab zwei Löffel voll Zucker in den Kaffee, rührte schnell um und reichte sie dann Harlan. Er warf seine hochgewachsene Gestalt auf einen der vier Besucherstühle, die Harlan – optimistisch – im Büro aufgestellt hatte. »Angie hat mir gerade erzählt, dass sie ihr Haus verkaufen will«, begann er schroff. Seiner Meinung nach war mit dem Kaffeeritual der Höflichkeit Genüge getan. »Was will sie dafür haben?«

3

Angie starrte nach vorn durch die Windschutzscheibe, die Hände um das Lenkrad gekrallt. Ihre Augen brannten, aber sie weigerte sich zu weinen. Sie war ohnehin keine Heulsuse; der einzige völlige Zusammenbruch in ihrem Leben, an den sie sich erinnern konnte, war ihre Hochzeit gewesen, auf der sie sich zum Narren gemacht hatte. Wenn sie den Zusammenbruch nicht gehabt hätte, wäre es ihr auch nicht so peinlich gewesen, daher war Heulen für sie nicht nur reine Zeitverschwendung, sondern öffnete auch allen möglichen schlechten Folgen Tür und Tor.

Sie würde ohnehin nicht wegen Dare Callahan weinen. Es gab nichts, worüber sie hätte weinen müssen. Sie hatten schließlich keine Beziehung, keine andere Verbindung als die, dass sie Konkurrenten waren, und das würde ihm ganz sicher keine Sympathiepunkte einbringen. Nein, wenn sie wegen irgendetwas heulen könnte, dann war es der Verkauf ihres Hauses. Sie war dort aufgewachsen. Ihr Dad hatte es hier im Westen Montanas geliebt, hatte die Menschen und seine Arbeit geliebt; sein Grab war hier. Diesen Ort zu verlassen kam ihr so vor, als würde sie ihn verlassen.

Auf keinen Fall. Sie musste zwar umziehen, aber sie schwor sich in diesem Moment, dass sie mindestens einmal im Jahr zurückkäme, wenn möglich häufiger, um sich um sein Grab zu kümmern und Blumen niederzulegen, sogar um mit ihm zu reden, so, als könnte er sie hören. Liebe verschwand nicht, wenn jemand starb, und sie würde ihn auf jeden Fall für den Rest ihres Lebens ehren. Er war ein guter Mann gewesen, und er hatte sich ganz ihrer Erziehung gewidmet, nachdem ihre Mutter sie beide wegen so einem schmierigen Typen verlassen hatte. Das war geschehen, als Angie fast zwei gewesen war.

Ihr Dad hatte ihr gereicht. Sie wusste nicht, wo ihre Mutter war, ob sie überhaupt noch lebte, und es interessierte sie ehrlich gesagt auch nicht. Sie hatte den Namen ihrer Mutter nie gegoogelt und sich auch nie die Mühe gemacht, einen Profi anzuheuern, der nach ihr hätte suchen sollen. Angies Dad war für sie da gewesen, hatte sie großgezogen, sie geliebt und ihr nichts als Verständnis und Trost geschenkt, als ihre Hochzeit schiefgegangen war. Sie konnte jetzt nichts mehr für ihn tun, außer ihn im Tod zu ehren, und darum würde sie, solange sie lebte und körperlich dazu in der Lage war, sein Grab pflegen.

»So wahr mir Gott helfe«, sagte sie laut und fühlte sich ein wenig besser, da es durch das Aussprechen allein irgendwie feierlich vollzogen wurde, als hätte sie einen Vertrag unterschrieben. Sie brach nicht alle Verbindungen hinter sich ab. Sie würde woanders leben, und irgendwann würde dieser neue Ort genauso zu ihrem Zuhause werden wie ihr Apartment in Billings, nachdem sie eine Weile dort gelebt hatte. Anpassungsfähig zu sein bedeutete nicht, dass sie das Andenken an ihren Vater aufgab.

Der Gedanke an ihren Dad machte ihr klar, dass sie sich jetzt auf die beiden Kunden konzentrieren sollte, die übermorgen kommen würden. Einer von ihnen, Chad Krugman, war ein Wiederholungskunde, aber er hätte auch jemand Neues sein können, denn sie konnte sich kaum an ihn erinnern, außer, dass er insgesamt ziemlich unscheinbar gewesen war. Zum Glück hatte sie eine Kopie des Fotos, das sie von ihm und seinem Kunden gemacht hatte, nachdem der Kunde einen Hirsch erlegt hatte. Anderenfalls hätte sie keinen Schimmer mehr gehabt, wie er aussah. Er war einfach einer dieser Leute, die keinen großen Eindruck hinterließen: eher klein, aber nicht so klein, dass es auffiel; ein wenig kahl werdend, ein wenig weich um die Mitte. Nicht hässlich, nicht attraktiv, einfach … irgendwie unsichtbar.

Obwohl sie sich das Foto angesehen hatte, hatte sie Mühe, sein Bild im Gedächtnis zu behalten. Sie erinnerte sich nur noch deutlich daran, dass er weder ein erfahrener Outdoor-Mensch noch ein besonders guter Schütze gewesen war. Als er sie im letzten Jahr gebucht hatte, hatte sie sogar den Eindruck gehabt, dass es ihm keinen großen Spaß gemacht hatte und er eigentlich gar nicht hatte da sein wollen, daher hatte sie auch keine Ahnung, warum er für dieses Jahr wieder gebucht hatte. Doch unterm Strich war es ihr egal, warum er es getan hatte, wichtig war nur, dass er es überhaupt getan hatte – denn sie brauchte das Einkommen. Die Jagdsaison würde bald vorbei sein, und falls kein Profifotograf Aufnahmen der verschneiten Berge für eine Naturzeitschrift oder so was machen wollte, würde sie für den Winter nichts anderes haben.

Vielleicht würde Harlan entgegen jeder Wahrscheinlichkeit doch schnell ein Angebot für ihr Haus bekommen. Sie würde sich beeilen müssen, eine andere Bleibe zu finden, aber lieber war es ihr heute als morgen. Jetzt, da der schwere erste Schritt hinter ihr lag, brannte sie darauf weiterzuziehen. Es war wieder dieser Anflug von Realismus: Sobald sie über ihr Vorgehen entschieden hatte, war sie bereit zu handeln.

Doch jetzt musste sie sich ums Geschäft kümmern und alles für die Tour organisieren. Sie hatte Chad Krugman eine E-Mail geschickt und um Einzelheiten über den Kunden Mitchell Davis gebeten, den er als Gast mitbringen wollte. War er schon einmal auf einer Jagd gewesen, welche Erfahrung hatte er, wonach suchte er, notwendige Lizenzen – dergleichen Dinge. Mr Davis war offenbar erfahrener als Chad, und er wollte einen Schwarzbären erlegen.

Das allein erhöhte ihr Stresslevel. Sie war nicht auf Bärenjagden spezialisiert, darum war sie auch etwas überrascht gewesen, als Krugman bei ihr gebucht hatte. Ihre normale Vorgehensweise auf einer Jagd bestand darin, Bären zu meiden, weil sie ein wenig Angst vor ihnen hatte. Gut, doch etwas mehr als nur ein wenig. Sie gab sich die größte Mühe, niemanden wissen zu lassen, wie unbehaglich sie sich wirklich auf einer Bärenjagd fühlte, denn niemand wollte einen Führer, der alles andere als zuversichtlich war. Sie war durchaus zuversichtlich, was ihre Fähigkeit betraf, einen Bären zu finden. Aber das war kein Trost, denn tief in ihrem Inneren wollte sie gar keinen Bären finden – überhaupt keinen Bären, braun oder schwarz, groß oder klein. Warum konnte Krugmans Kunde nicht einen Elch jagen? Ein Elch stellte nicht dieselben Probleme dar; er würde sie wahrscheinlich nicht jagen und fressen. Bären, nun ja, Bären waren immerhin Raubtiere und noch dazu mächtige Raubtiere.

Angie tat, was sie konnte, um ihre Furcht zu beschwichtigen und sich selbst und ihre Kunden so weit wie möglich zu beschützen; sie wandte alle Sicherheitsregeln im Umgang mit Bären an, was Nahrungsmittel und Abfall betraf, außerdem trug sie ständig zwei große Dosen Bärenspray bei sich und sorgte dafür, dass jedes Mitglied ihrer Gruppe das Gleiche tat. Trotzdem war ihr wohl bewusst, dass Pfefferspray bei Bären ungefähr genauso funktionierte wie bei Menschen, dass nämlich der Angesprühte hinter dem Sprüher herkam. Sie hatte nicht vor, selbst zu schießen, aber sie würde absolut sichergehen, dass ihre Munition stark genug dafür war, falls Schießen notwendig werden würde.

Sie hatte sich bereits vergewissert, dass das Camp, das sie gemietet hatte, über eine Grundausstattung verfügte, aber trotzdem blieb noch viel zu tun; der Lagerplatz war ziemlich primitiv und bestand aus einigen Zelten, Luftmatratzen und einer Campingtoilette. Der Rest ihrer Vorräte würde eingepackt werden müssen: Lebensmittel und Wasser für drei Personen, genug Futter für die Pferde. Krugman und Davis brachten ihre eigenen Waffen und Munition mit, daher brauchte sie sich darum nicht zu kümmern. Und doch – eine Woche in den Bergen war nichts, was man mal eben planen konnte. Sie würde ihr Bestes tun, um ihren Kunden in Schussposition zu bringen, aber ihr Hauptziel war es, die beiden Männer und sich selbst heil und lebendig wieder zurückzubringen.

Siebenunddreißig Meilen westlich und vier Meilen nördlich des Lagerplatzes, den Angie gemietet hatte, hielt ein gewaltiger Schwarzbär in seinem langsamen, schlurfenden Gang inne und schwang den Kopf hin und her, als der Wind einen verlockenden Geruch zu ihm heranwehte. Und er erkannte eindeutig sowohl den Duft als auch den Ort. Zufrieden mit dem, was ihm seine Sinne sagten, begann er sich durch die Bäume und das Unterholz zu arbeiten, bis er durch eine Lücke im Gebüsch sehen konnte. Und bei diesem Anblick wurde er vollkommen still. Er hatte keinen Hunger, er hatte an diesem Morgen bereits gut gefressen, nachdem er eine alte Elchkuh gerissen hatte, aber die ahnungslose, umherschweifende Herde von Schafen auf dem Abhang unter ihm fesselte seine Aufmerksamkeit, vor allem das halbwüchsige Lamm, das sich zum Schlafen niedergelegt hatte, während seine Mutter ein Stück weiter hangabwärts graste.

Die Nahrungskonkurrenz war um diese Zeit nicht mehr so stark; einige der Bärinnen hatten sich bereits in Höhlen niedergelassen, und ältere Bären, die die Blüte ihrer Jahre bereits überschritten hatten, wanderten nicht mehr so viel umher, jetzt, da die Tage kürzer wurden und die kalte Jahreszeit immer näher und näher kam. Aber noch war das Wetter relativ mild, und der Bär hatte weiter gejagt, anstatt sich eine Höhle zu suchen. Er hatte in den vergangenen Tagen das Revier zweier anderer Bären durchquert, und vor zwei Tagen hatte er mit einem von ihnen gekämpft, einem zimtfarbenen Männchen, das den Kampf nicht überlebt hatte.

Der Bär war drei Jahre alt, groß und gesund, über fünfhundert Pfund schwer. In dem Sommer, der gerade vergangen war, hatte er zum ersten Mal Junge gehabt. Im Sommer hatte er auch seinen ersten Menschen getötet und – gefressen. Er war eine leichte Beute gewesen, außerstande, so schnell wie Schafe oder Ziegen zu laufen, ohne Klauen oder Reißzähne oder ein Geweih, um sich zu verteidigen. Und das Fleisch war ohne Fell und süßer gewesen als das der meisten anderen Geschöpfe. Der Mann war ein Durchreisender gewesen, von niemandem bemerkt und vermisst. Davon hatte der Bär keine Vorstellung, und selbst wenn, hätte es ihn auch nicht interessiert; alles, was er wusste, alles, was seine Überlebensinstinkte bemerkt hatten, war, dass dies eine leichte Nahrung darstellte. Wenn er wieder einmal den Weg dieser Art von Beute kreuzte, würde er sie jagen.

Außerdem hatte er keine Vorstellung von Spaß, aber er hatte eine Vorstellung von Vergnügen, und es bereitete ihm Vergnügen zu töten. Wann immer er etwas sah oder roch, das ihm »Beute« signalisierte, setzte er ihr nach, irgendetwas tief in seinem Innern spornte ihn an und schwelgte in dem Ausbruch von Energie, dem heißen Geschmack von frischem Blut und Fleisch, dem Töten, selbst der Furcht, die er riechen konnte, wenn er sich auf seine ausgewählte Beute stürzte. Die Natur hatte ihn gut ausgestattet, um das Raubtier zu sein, das er war. Sie hatte ihm Aggressivität und Schläue verliehen sowie eine ungewöhnliche Größe, Kraft und Schnelligkeit.

Er musterte die Schafe. Er war auf der windabgewandten Seite der Herde, scharf und klar trug die kalte Bergluft den Geruch seinen Nüstern zu und machte ihm Appetit auf seine Beute. Er näherte sich langsam durch die Bäume und blieb jedes Mal stehen, wenn eins der wachsamen Schafe den Kopf hob und seine Umgebung für einen Moment absuchte, bevor es weitergraste. Ein großer Widder drehte sich um und blickte direkt auf das Unterholz, in dem der Bär lauerte; ob der Widder ihn gesehen hatte und Alarm schlagen würde, würde der Bär nie erfahren, denn er wartete nicht ab, um es herauszufinden. Er kannte keine Vorsicht; er kannte nur seinen scharf ausgeprägten Killerinstinkt, der ihm sagte, dass jetzt der Moment für den Angriff gekommen war. Und dann brach er mit der ganzen rohen Kraft, die er besaß, mit gespannten Muskeln und langen Krallen aus dem Unterholz.

Die Schafherde stob auseinander; panisch blökend rappelte sich das Lamm hoch und sprang zu seiner Mutter. Der Bär schlug mit seiner riesigen Pranke nach den Hinterbeinen des Lamms, seine Klauen ließen Blut spritzen, aber das Lamm war kein Neugeborenes und machte einen gewaltigen Satz, der es aus der Reichweite des Bären brachte. Nach dreißig Metern begriff der Bär, dass seine Beute verschwunden war, während die Schafe den Berg hinauf und in das felsigste Gelände geflohen waren, das sie finden konnten.

Er verfiel in blinde Zerstörungswut, brüllte seinen Zorn und seine Verzweiflung heraus, während er seinen Tötungsrausch auf die Vegetation in seiner Umgebung richtete, junge Bäume mit den Wurzeln ausriss, Sträucher zerfetzte und Felsbrocken, so groß wie sein Kopf, den Berg hinunterrollen ließ. Schließlich konnte er nicht mehr und blieb an Ort und Stelle schnaufend und keuchend stehen. Die Schafe waren verschwunden. Er schnüffelte in der Luft, aber keine anderen Gerüche erregten jetzt sein Interesse. Er scharrte fast eine Stunde durch das Grün auf der Suche nach Nüssen oder Insekten, aber es war spät in der Jahreszeit, und die meisten Nüsse waren fort. Nach einer Weile hob er den Kopf, um den Wind erneut zu prüfen; sein Wutanfall hatte ihn durstig gemacht, und diesmal hatte sich sein scharfer Geruchssinn auf den frischen Duft von Wasser gerichtet. Er fand, wonach er suchte, und dann sogar etwas, das noch interessanter war. Zielstrebig begann er, sich den Berg hinabzubewegen.

Der Name des Wanderers war Daniel Warnicki. Er war dreiundzwanzig; im letzten Sommer hatte er seinen Abschluss an der University of California in Berkeley gemacht, aber noch hatte er keine richtige Arbeit gefunden, daher behalf er sich tagsüber mit einem stumpfsinnigen Job und arbeitete abends Teilzeit in einer beliebten Bar als Kellner. Seine Trinkgelder waren beinahe so hoch wie sein Lohn in dem Job, und das sollte etwas heißen. Manchmal waren die Stunden hart, aber er war noch jung, und das Extraeinkommen bedeutete, dass er es sich manchmal leisten konnte wegzukommen. So wie jetzt.

Er blieb auf einer hohen Kurve des schmalen Pfades stehen und stützte sich auf seinen dicken, schweren Wanderstock, während er die atemberaubende Aussicht betrachtete, die sich vor ihm auftat: Die Landschaft bildete ein riesiges natürliches V, das weiter unten mit einem gewundenen, tanzenden Bach begann, der weiß spritzend über aufragende Steine floss, und sich dann nach oben erweiterte: Der schmale, sandige Kiesstreifen neben dem Bach, die steile Anhöhe einer Wiese, die all ihre Herbstfarben verloren hatte, aber nun, da die Konturen der Landschaft klar zu erkennen waren, eine andere, kahle Erscheinung angenommen hatte, und schließlich die schroffen, majestätischen Berge, die sich in den kristallklaren blauen Himmel erhoben.

Er atmete tief ein. Gott, hier draußen zu sein, war unglaublich! Die Luft war frischer als alles, was er jemals in der Stadt einatmen konnte, die Landschaft war der Wahnsinn, und die Stille war so tief, dass er seinen eigenen Atem hören konnte. Er liebte es, sich in diesen Wäldern zu verlieren – nicht, als hätte er den Weg verloren, sondern verloren in dem Sinne, dass er der einzige Mensch weit und breit war. Es gab keine Abgase, keine klingelnden Handys, keine SMS, kein ständiges Geräusch von Menschen und Maschinen, das die Luft erfüllte. Es gab nur ihn selbst, die Berge und den Himmel.