Läuft da was? - Judith Pinnow - E-Book
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Judith Pinnow

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Beschreibung

»In Filmen haben die ständig laue Nachtluft. In Wirklichkeit sind es draußen zwei Grad.« Im Leben läuft's anders als im Film. Nämlich so wie hier. Bei Annabel Förster, Moderatorin einer kleinen Fernsehsendung, verheiratet mit einem tollen Mann, Mutter dreier Kinder. ***Jetzt bin ich mal dran!*** Annabel hat jahrelang beruflich zurückgesteckt und sich um ihre drei Kinder gekümmert. Jetzt will sie den großen Auftritt zur Primetime. Alles läuft anscheinend nach Plan, doch dann kommt die niederschmetternde Nachricht: Dem Sender ist sie zu alt! Was tun? Botox? Schönheits-OP? Wie weit soll sie für ihre Karriere gehen? Ihre Freundinnen beraten sie, stecken aber selbst gerade in der Krise. In Annabels eigener Ehe scheint noch alles in Ordnung, Tom will einfach nur seine Ruhe. Oder? Ausgerechnet jetzt verliebt sich Annabel in einen jüngeren Mann. Muss das sein? Warum ist es nur so verdammt schwer, vierzig zu werden? War es vielleicht ein Fehler, drei Kinder zu bekommen? Kann man Mutter einer Herde sein und sich selbst trotzdem nicht verlieren? Kurz entschlossen läuft Annabel davon. Um am Ende zu wissen, dass das Glück kein großes Paket ist, auf das man jahrelang wartet. Es ist vielmehr so etwas wie die Ziege im Feinkostladen. Wenn die einmal drin ist, bekommt man sie so schnell nicht mehr heraus. »Wenn man erst in einem geklauten Bademantel auf einer schwedischen Insel begreift, wo es im eigenen Leben hakt, läuft wohl so einiges, und zwar falsch. Kann allerdings ziemlich lustig sein. Und seeehr romantisch!« Sönke Wortmann

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Seitenzahl: 556

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Judith Pinnow

Läuft da was?

Roman

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Inhalt

Danke, Bärbel! [...]Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20DankFreuen Sie sich auf [...]Kapitel 1

Danke, Bärbel!

Kapitel 1

Meine Zelle ist drei mal vier Meter groß. Ein Stuhl, ein Schreibtisch, mehr Möbel gibt es nicht. Ich putze mir die Nase und finde keinen Papierkorb für mein Taschentuch. Auf der Straße hasten Leute vorbei. Alle haben es eilig nach drinnen zu kommen bei dem Gruselnieselwetter. Nur ich wünsche mich nach draußen. Gefangen im ersten Stock. Ich stelle mir vor, wie ich mich mit dem Ladekabel meines Laptops aus dem Fenster abseile. Probeweise ziehe ich an der dünnen grauen Schnur. Fühlt sich stabiler an, als ich dachte. Meine Jacke und den Laptop selbst würde ich zuerst vorsichtig aus dem Fenster werfen und dann am Kabel hinterherrutschen. Das könnte ich super hier am Fenstergriff festknoten. So ein Ladekabel kann man ja nachkaufen.

Eine kurze Recherche im Netz, und die Suchmaschine teilt mir mit, sie habe kein Ergebnis für »Flucht mit Ladekabel« gefunden. Dann eben nicht.

Noch achtundvierzig Minuten. Wie soll ich die überleben? Ich könnte autogenes Training machen. Aber dazu müsste ich mich auf den Boden legen, und der sieht so gar nicht einladend aus. Ich stehe auf und laufe ein bisschen hin und her. Viel Platz habe ich ja nicht. Da hinten links in dem Gebäude müsste die Kantine sein. Ich könnte mich schnell abseilen und mir einen Kaffee holen. Mit Kaffee in der Hand komme ich nie das Ladekabel wieder hoch. Ich könnte auch einfach raus auf den Flur gehen und nach einem Kaffee fragen, aber die Ansage war ganz klar, bitte hier in diesem Raum zu warten. Eine Stunde, die spinnen doch. Ob jeder eine Stunde in seiner kleinen Zelle sitzen muss, oder nur ich?

Wenigstens ein Glas Wasser hätten sie mir reinstellen können.

Ich will diesmal alles richtig machen, darum reiße ich mich jetzt zusammen und gehe zum achthundertsten Mal meinen Text durch.

Die erste Moderation mache ich im Sitzen, die zweite im Stehen, die dritte am Fenster, bei der vierten versuche ich die Yogaübung »Hund«, aber das geht gar nicht, dazu ist meine Hose zu eng. Ich komme in den Vierfüßlerstand und mache einen Katzenbuckel, dann ein Hohlkreuz. Katzenbuckel, Hohlkreuz, Katzenbuckel. Mein Nacken ist komplett verspannt. Noch immer sechsunddreißig Minuten. Falls sie pünktlich anfangen. Man fängt nie pünktlich an.

Wie viele sie wohl casten? Uns alle zu Einzelhaft zu verpflichten finde ich lächerlich. Niemand soll wissen, wer noch gecastet wird, doch am Ende bekommt man es sowieso heraus. Interessieren würde es mich schon. Ob Hannah Weide wieder dabei ist? Die blonde Allzweckwaffe mit der schrillen Stimme. Ich setze mich auf die Fersen, dazu muss ich einen Hosenknopf öffnen, und strecke die Arme so weit nach vorne, bis meine Stirn fast auf dem unhygienischen Büroboden liegt. Ich angle mir die Laptophülle vom Tisch. Darauf platziere ich meine Stirn. Der Geruch von Gummi steigt mir in die Nase, aber meine Nackenmuskulatur entspannt sich etwas. Stelle mir vor, die nächsten sechsunddreißig Minuten so auszuharren, da geht plötzlich die Tür auf.

»Frau Förster?« Der Aufnahmeleiter streckt seinen Kopf herein. Durch einen schmalen Spalt zwängt er dann seinen Oberkörper in meine Zelle, während seine Füße im Flur bleiben. Ein kleiner Mann mit dunkelbraunen, hip geschnittenen Haaren. Ich schätze ihn auf Mitte zwanzig. Er trägt ein Headset, was darauf hindeutet, dass sie im Studio schon angefangen haben. Ich richte mich so würdevoll wie möglich auf und ziehe mir schnell meine opalblaue Seidenbluse über die geöffnete Hose. Er beschließt nicht nachzufragen und informiert mich: »Wenn Sie soweit sind, können Sie schon in die Maske.«

Er formuliert es als Möglichkeit, dabei ist es ganz klar eine Anweisung. Ich bin froh, dass er mich aus meinem Gefängnis holt, kann aber nicht aufstehen, solange er zuschaut.

»Ich komme. Den Flur runter rechts?«, versuche ich ihn loszuwerden. Er versteht den Wink. »Ich warte vor der Tür.«

 

Bei meinem ersten Casting vor achtzehn Jahren hat mich keiner gesiezt. Der Aufnahmeleiter war ein kleiner Mann mit blonden, hip geschnittenen Haaren und einige Jahre älter als ich, also Mitte zwanzig. Enge Hosen hatte ich damals keine einzige, und die Yogaübung Hund kannte noch niemand in meinem Alter. Die Casting-Kandidaten wurden auch nicht einzeln in Zellen weggeschlossen, damit sie sich nicht begegneten. Wir saßen alle aufgeregt in einem großen Raum, einem Container. Es gab Cola und Brötchen, und beinahe niemand hatte irgendeine Fernseherfahrung vorzuweisen. Eine dünne Frau machte Polaroid-Fotos von jedem. Wir kreischten alle rum, wie hässlich wir aussähen und ob sie bitte noch ein Foto machen könnte. Nur eine sah auf ihrem Foto phantastisch aus: eine wunderschöne Asiatin, die als Praktikantin der Kindersendung, für die gecastet wurde, ein Heimspiel hatte. Jedem, der es nicht wissen wollte, erzählte sie, dass sie hier alle kannte und jeder ihr geraten hätte mitzumachen, obwohl ihr Wunsch, vor der Kamera zu arbeiten, eher gering sei. Ihre langen schwarzen Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten. Sie trug einen Minirock und Stiefel. Dauernd lehnte sie sich aus unserem Containerfenster, um irgendjemanden lautstark zu begrüßen. Neben ihr kam ich mir vor wie ein Dorftrottel.

Aber ich gewann das Casting auch in Turnschuhen und mit mittelbraunen Haaren. Ich weiß nicht, wann ich danach jemals wieder so unglaublich glücklich war. Ich habe – abgesehen von ein paar schlecht gedrehten Joints – nie Drogen genommen, aber genau so stelle ich mir einen Rausch vor.

Das war der Jackpot. Mit einundzwanzig Jahren wurde ich Moderatorin einer Kindersendung. Mein Partner war ein fusselig niedlicher Handpuppenhund. Ich durfte mit ihm um die Welt reisen und bekam auch noch eine Menge Geld dafür.

Nach der Zusage lief ich zwei Wochen wie auf Wolken herum.

 

Die Maskenbildnerin heißt Kerstin und kennt mich von einer Koch-Show, für die ich vor Jahren mal in Hamburg gedreht habe. Ich kann mich überhaupt nicht an sie erinnern, finde das aber unhöflich und täusche also vor, sie zu kennen. Ich kann mir generell nicht gut Gesichter merken. Mein Mann Tom weiß das und gibt mir immer dezente Hinweise, wenn wir auf der Straße entfernten Bekannten begegnen.

Als Person des öffentlichen Lebens darfst du nie zugeben, dass du dich nicht an den anderen erinnerst. Das würde ja bedeuten, dass er oder sie weniger wichtig ist als du, nur weil dein Gegenüber, an das du dich leider gar nicht erinnerst, sein Gesicht nicht ständig vor die Kamera hält. Ich bin also ziemlich geübt im So-tun-als-Ob.

Kerstin legt mir einen Umhang um und stellt die Kopfstütze richtig ein. Früher gab es Lockenwickler, heute kommt Hitzeschutzspray ins Haar, und das Glätteisen wird schon mal eingesteckt.

Wir plaudern über alte Zeiten. Ich lenke das Gespräch geschickt auf die Personen, an die ich mich erinnere, und wir lachen gemeinsam über den Regisseur, der immer im selben grauen Norwegerpulli auftauchte, egal ob Sommer oder Winter.

Kerstin reibt mir einen kühlenden Concealer unter die Augen und findet meine Stiefel schön. Ich verschweige, dass ich die extra gestern noch für dieses Casting in einer Hauruckaktion gekauft habe. Ich war bestimmt in vier Läden, bis ich sie gefunden hatte. Graue Wildlederstiefel mit kleinem Absatz, vorne spitz. Ein Hauch von Western, aber trotzdem elegant. Zu einer guten Maskenbildnerin gehört das Komplimenteritual. Nach den Stiefeln ist meine schöne Haut dran.

»Wie ein Pfirsich, Annabel, wirklich, wie ein Pfirsich!«

Routiniert trägt sie das Make-up mit einem pinkfarbenen Schwamm auf, der wie ein Ei geformt ist.

»Wie alt bist du jetzt?«

»Neununddreißig.« Im Zeitalter von Suchmaschinen kann man nicht mehr schummeln. Damit hätte ich dann schon konsequent vor achtzehn Jahren beginnen müssen, und wer denkt mit einundzwanzig daran, sich jünger zu machen?

»Waaaaas? Das hätte ich nicht gedacht. Du siehst aus wie Anfang dreißig!«

Obwohl ich weiß, dass es zu ihrem Komplimenteritual gehört, freue ich mich. Ich sehe tatsächlich nicht aus wie fast vierzig. Gut, Anfang dreißig ist jetzt vielleicht übertrieben, aber als sechsunddreißig gehe ich noch durch.

»Wir betonen wieder die Augen, gell?«, sagt sie vertraulich und schaut einmal unter meinen Umhang, um die Farbe meines Oberteils mit dem Lidschatten abzustimmen.

Klick, klick, klick, klackern die Schminkpinsel aneinander, als sie aus ihrer gut sortierten Tasche, die sorgfältig ausgebreitet auf dem Tisch vor dem Spiegel liegt, den richtigen auswählt. Ich mag dieses Geräusch. Es hat so etwas Beiläufiges, als wäre Fernsehen machen so unspektakulär wie Straße fegen.

Kerstin kann ihren Job. Bald leuchten meine Augen strahlend blau, als Echo meiner Seidenbluse. Ich fange an, mich richtig auf das Casting zu freuen. Ähnlich wie Kerstin kann ich meinen Job ganz gut. Ich war bei unzähligen Castings und weiß, worauf es ankommt. Wenn du richtig gut aussiehst, sind schon siebzig Prozent erfüllt. Die anderen dreißig sind Handwerkszeug.

An den siebzig Prozent habe ich gearbeitet. Ich war jeden zweiten Tag laufen, habe fleißig meine Yogastunden besucht und mir beim Friseur die ersten grauen Haare wegtönen lassen.

Die Produktion hat mir alle Filme, die ich anmoderieren soll, nach Hause geschickt. Ich konnte also mit fertig geschriebenen und gelernten Moderationstexten anreisen. Das ist eigentlich selten. Redakteure haben normalerweise Spaß daran, dir am Casting-Tag einen Stapel Arbeit auf den Tisch zu knallen, und dann hast du gewöhnlich ein, zwei Stunden, in denen du wie eine Wilde Anfänge und Enden der Filme schaust, für mehr ist keine Zeit, Moderationen in die Tastatur hackst und fiktive Interviews vorbereitest.

Das hier wird ein Kinderspiel. Wobei man noch so gut aussehen und vorbereitet sein kann, wenn man nicht auf der Liste steht. Die Produktion muss dich wollen. Beinahe vor jedem Casting ist schon vorher klar, wer genommen wird. Gemein für alle anderen, die als Casting-Futter mit eingeladen werden. Sollte Hannah Weide heute dabei sein, hat sie richtig Pech. Diesmal stehe ich auf der Liste. Der Produzent Richard Kleisterberg hat mich persönlich angerufen und gesagt: »Annabel, das ist was für dich. Wir holen dich ins Abendprogramm.«

20:15 ist die absolute Primetime, das, was jeder sich wünscht.

Kerstin bearbeitet meine Haare mit dem Glätteisen. Zwischendurch schaut sie mich prüfend an, ob ich zufrieden bin mit dem, was sie da tut. Ich gebe mir Mühe, das passende Gesicht zu machen, und merke, wie mich bei dem Gedanken daran, eine Abendsendung zu moderieren, das Lampenfieber überkommt. Es fängt im Bauch an und breitet sich dann langsam in alle Körperteile aus. Ich werde kribbelig und zappelig und kann nicht mehr stillsitzen. Ungeduldig warte ich, bis Kerstin mit dem Haarspray fertig ist und mir den Umhang abnimmt. »Viel Glück!«, sagt sie und umarmt mich schnell.

 

»In fünf, vier, drei, zwei, eins …«, zählt mich der Regisseur runter. Das Rotlicht geht an. Ich spreche meine ersten Sätze fehlerfrei in die Kamera zwei, während ich mich zwinge, langsam zu sprechen. Trotzdem bin ich immer noch zu schnell. Ich hab mal gehört, dass für Rennfahrer das Rennen in Zeitlupe abläuft. So haben sie gefühlt alle Zeit der Welt, um zu lenken und zu überholen. Mir geht es ähnlich. Ich habe das Gefühl, in Zeitlupe zu sprechen, weiß aber, dass ich in Wahrheit durch die Wörter rase und die Sätze nur so aus mir herausschießen.

Breathe in and breathe out, sagt die Stimme meiner alten New Yorker Sprechtrainerin in meinem Kopf. Mein Herzschlag beruhigt sich, ich atme und spreche, moderiere einen Film nach dem anderen an. Es läuft. Die Kameramänner fahren genau die Einstellungen, die sie fahren sollen, hinter mir auf dem Monitor laufen die richtigen Filme an. Das Ganze klappt wie ein lange einstudiertes Ballett. Ich spreche immer in die Kamera, die rot leuchtet. Gleich kommt der Staubsaugertest. Ich stelle einen Herrn Werner von der Verbraucherzentrale Duisburg vor, der in Wahrheit ein Praktikant aus der Redaktion ist. Glücklicherweise haben sie ihn gut gebrieft, und er kann mir tatsächlich auf meine Fragen, ob nun Staubsauger mit oder ohne Beutel vorteilhafter sind, antworten. Ich verschütte Kaffeepulver auf dem Boden, sage, das hätte ich immer schon mal machen wollen, und trete es noch ein bisschen in den Requisitenteppich. Wir lachen beide. Meine Stiefel waren jetzt auch im Bild und haben sich also schon gelohnt. Wir saugen um die Wette, und der Kerl entwickelt einen richtigen Ehrgeiz. Ich muss mich anstrengen, um zu gewinnen. Ich lass mich doch nicht von einem Praktikanten aus dem Rennen saugen. Testauswertung, Anmoderation in Kamera Eins.

Die Zeitlupe ist weg, der Rest der Sendung fliegt im Zeitraffer an mir vorbei. Ich verabschiede mich, weise auf eine fiktive Sendung nach mir hin und bin fertig. Ein Dankeschön kommt von der Studiodecke aus der Regie. Ich bedanke mich bei allen im Studio und schwebe auf den Gang. Eine strahlende Kerstin mit nach oben gerecktem Daumen empfängt mich in der Maske.

Ich schminke mich selbst ab und bin richtig zufrieden. Genauso sollte es laufen. Ich habe gezeigt, was ich kann, war einigermaßen unaufgeregt und hoffentlich sympathisch. Das Augen-Make-up lasse ich drauf, reduziere nur etwas den dunklen Lidschatten.

Der Aufnahmeleiter mit der hippen Frisur reißt die Maskentür auf und schiebt sich mit dem Oberkörper durch den Türspalt. Scheint eine Macke von ihm zu sein. Vielleicht steht in seinem Vertrag auch, dass er außer dem Studio keinen anderen Raum betreten darf.

Bei meinem ersten Casting ging damals das Gerücht um, ich müsste einen Vertrag unterschreiben, in dem mir Extremsportarten verboten werden. Das Risiko für den Sender sei sonst zu hoch, hieß es. Ich war richtig enttäuscht, als dann im fünfzehnseitigen Vertrag nichts von dieser Klausel zu finden war.

»Frau Förster, ich darf Sie noch schnell zu Herrn Kleisterberg bringen.«

Kerstin wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Jedem hier ist klar, was das heißt, wenn man direkt nach dem Casting zum Produzenten gerufen wird. Das normale Prozedere läuft nämlich so ab: Direkt nach dem Casting hüllen sich alle in vornehmes Schweigen, so dass du das Gefühl hast, irgendetwas Peinliches gesagt oder getan zu haben. Von den Entscheidern bekommst du nie jemanden zu sehen, und wenn du den Redakteur fragst, wann du mit einer Entscheidung rechnen kannst, bekommst du ein langes Ausatmen und die vage Aussage, das könne schon einige Wochen dauern.

Also verbringst du einige Wochen in quälender Ungewissheit, malst dir aus, wie toll dein Leben mit genau dieser Sendung wäre, rechnest jeden Tag neu deine Chancen aus, deutest noch mal ganz genau jeden Satz und jede Geste von Redakteuren, Aufnahmeleitern und Kameraleuten und wirst langsam, aber sicher, wahnsinnig. Wenn du eine Agentur hast, bombardierst du sie mit E-Mails und Anrufen, wenn nicht, beginnst du ab Woche zwei vorsichtige Mails an die Redaktion zu schicken, die erst mal dreizehn Tage lang ignoriert und schließlich ziemlich genervt beantwortet werden, mit der unbefriedigenden Auskunft, man wüsste noch nichts. Dann gehst du laufen, zappst durch die Programme und bleibst immer an der einen Sendung hängen. Der Wunsch, sie zu moderieren, wird übermächtig. Du schreist Mann und Kinder wegen Nichtigkeiten an und wirst ein Nervenbündel mit langen spitzen Stacheln auf dem Rücken. Schließlich rufst du in der Redaktion an und bettelst um eine Auskunft, wirst weiter hingehalten, sollst dir bitte das ganze Jahr freihalten, für alle Fälle, man wüsste noch nicht. Du bist in der engeren Auswahl, einer der Favoriten angeblich. Inzwischen weiß ich, dass Favorit ein anderes Wort für Back-up ist. Wenn du wochenlang nichts hörst, bist du nichts als die zweite oder dritte Wahl. Sie halten dich hin, bis der Wunschkandidat den Vertrag unterschrieben hat und alles unter Dach und Fach ist. Wer weiß, ob man sich einig wird, wer weiß, ob er den Konditionen zustimmt. Man geht auf Nummer Sicher und zerstört den übrigen Kandidaten Monate ihres Lebens, in denen sie nicht schlafen, minütlich ihre Mails checken und ihre Mobiltelefone niemals auf lautlos stellen, weil doch gleich, dringend bitte, bitte heute der erlösende Anruf kommen muss.

Ich habe bisher kein Mittel gegen Absagen gefunden. Kein Mittel gegen die Wucht, die dich trifft, wenn endlich der erlösende Anruf kommt und du schon an der Stimme hörst, dass dein Gegenüber es eilig hat und dieses unangenehme Gespräch ganz schnell hinter sich bringen will. Es sei knapp gewesen, du hättest allen ganz toll gefallen, leider hat sich der Produzent für jemand anderen entschieden. Und du nickst tapfer und erwachsen, lässt deiner Stimme nichts anmerken, versicherst dem anderen, das sei gar nicht schlimm, legst auf und brichst zusammen. Jedes Mal ist da das Gefühl, dass so eine Chance nie wiederkommt.

 

Heute wird es anders laufen. Eine Audienz beim Produktionsleiter bekommst du nur, wenn sie dich für die Sendung wollen.

Kerstin streckt mir zum Abschied noch mal den erhobenen Daumen hin, dann trabe ich grinsend dem Aufnahmeleiter hinterher. Ich folge ihm in den Aufzug. Er drückt den Knopf der sechsten Etage, lehnt sich dann an die Wand und presst sein Klemmbrett an seine Brust, als könnte es ihn vor einem Gespräch mit mir bewahren. Wir lächeln uns höflich an und schweigen. Ich vermisse einen Spiegel in dem Aufzug. Hoffentlich habe ich mich richtig abgeschminkt. Ich will keine Flecken im Gesicht haben, wenn Richard Kleisterberg mir erklärt, dass ich ab sofort eine Abendsendung moderiere. Ich muss mich richtig zusammenreißen, nicht allzu offensichtlich zu grinsen. Die Aufzugtür öffnet sich, und wir betreten die Chefetage. Es sieht hier genauso aus wie in jedem anderen Stockwerk. Breite Flure mit graumeliertem Teppich. Wir laufen an vielen geschlossenen Türen links und rechts vorbei. Ab und zu begegnen wir gut gepflegten Zimmerpflanzen, die mir alle fröhlich zuwinen und freudig mit ihren Blättern rauschen. Die Atmosphäre ist in Chefetagen immer eine andere. Die Wände strahlen eine Wichtigkeit aus. Automatisch geht man auch schneller über den Flur. Mein Guide klopft jetzt an einer Tür an, auf der steht: »Sekretariat Produktion Anne Selm«. Frau Selm, eine Frau um die fünfzig mit langen braunen Haaren und Brille, bittet uns herein, und er macht wieder seine Füße-bleiben-im-Flur-Akrobatik.

Frau Selm und ich begrüßen uns, als würden wir uns kennen. Sie kennt mich auch sicher, und ich weiß mal wieder nicht, ob wir uns schon mal gesehen haben. Vermutlich, denn ich war schon ein paar Mal bei Richard im Büro.

Jetzt, da er mich vorschriftsmäßig abgeliefert hat, verschwindet der Aufnahmeleiter wieder, und ich reibe in einem unbeobachteten Moment schnell meine Handflächen aneinander. Ich will Herrn Kleisterberg nicht gleich eine Eishand hinstrecken. Alles an mir ist bestens durchblutet. Sicher habe ich jetzt auch diese roten, aufgeregten Wangen, aber meine Hände bleiben eben immer kalt. Frau Selm ist im Chefzimmer verschwunden, und ich lege mir die kalten Hände schnell an meinen Nacken, um sie aufzuwärmen. Viel zu früh kommt Frau Selm wieder heraus, hinter ihr der Chef. Ich reiße mir die Hände vom Nacken und mache eine seltsam schwungvolle Bewegung nach vorne.

Richard breitet lächelnd die Arme aus, und ich verschwinde kurz an seiner Brust. Wir geben uns also gar nicht die Hand, ich hätte mir die Aufwärmerei sparen können. Jedes Mal bin ich überrascht von seiner Größe. Ich muss richtig nach oben gucken, um seine braunen Augen zu treffen. Sein dunkles Haar ist zurückgekämmt, er ist nur an den Schläfen grau, obwohl er schon auf die sechzig zugeht. Ein sportlicher Mann mit einer Spitzenfigur für sein Alter. Ich vermute, er färbt sich die Haare. Guter Friseur, der das mit den Schläfen so natürlich hinkriegt. Richard trägt eine Anzughose und einen fließenden Pullover mit V-Ausschnitt. Ohne Kopf könnte er glatt als Til Schweiger durchgehen.

Ich betrete sein großes Büro mit Blick auf den Rhein. Die Aussicht ist phantastisch. Frau Selm bietet Wasser, Tee und Kaffee an. Richard nimmt einen Cappuccino, ich ein stilles Wasser.

Er verlässt noch mal kurz den Raum, nachdem er mich aufgefordert hat, Platz zu nehmen. Ich versinke in einem bequemen sandfarbenen Sessel an dem runden Tisch, der neben seinem imposanten Schreibtisch noch gut Platz hat. Hinten in der Ecke sehe ich einen Crosstrainer, der offensichtlich auch benutzt wird. Jedenfalls liegt ein Handtuch über den Handgriffen. An der Wand hängt ein gerahmtes Poster von einer vor Jahren sehr erfolgreichen Produktion. »Reif für die Insel« hieß die Show, bei der Paare gegeneinander antraten, um einen Traumurlaub zu gewinnen.

Vielleicht wird meine Show dieses Poster eines Tages ablösen. Ein Service-Magazin mit Talk-Elementen, bei dem die Zuschauer sowohl informiert als auch unterhalten werden, hätte das Zeug dazu. Mein Herz klopft jetzt noch schneller. Ich versuche mich zu beruhigen. Er muss mir ja nicht gleich ansehen, dass ich vor Freude gleich ausflippe. Das kann ich dann zu Hause machen. Wir werden alle gemeinsam essen gehen heute Abend. Die Kinder, Tom und ich, wir werden feiern!

Vielleicht gehen wir mal so richtig schick aus oder zu unserem kleinen Italiener, den wir alle so lieben.

Richard kommt zurück, hinter ihm balanciert Frau Selm unsere Getränke herein.

»Annabel. Das war richtig gut.«

»Danke. Es hat auch sehr viel Spaß gemacht. Das Format ist toll!«

»Ja, wir haben lange daran gearbeitet, und es soll tatsächlich auch etwas Längerfristiges werden.«

Längerfristig klingt gut, das klingt verdammt gut. Es klingt wie ein sicherer Job für die nächsten Jahre.

»Kein Problem«, sage ich lächelnd, »meine Familienplanung ist abgeschlossen, wie du weißt.«

»Wie alt sind deine Kinder jetzt?« Er will den Höhepunkt des Gesprächs noch etwas herauszögern, und ich spiele das Spiel gerne mit.

»Elf, acht und fünf Jahre.«

Ich weiß nicht, ob Richard sich daran erinnert, dass ich drei Kinder habe. Normalerweise ernte ich an dieser Stelle immer Ohs und Ahs. Auf den ersten Blick trauen mir die meisten keine drei Kinder zu. »Das sieht man dir nicht an!«, höre ich dann. Ich nehme das immer als Kompliment, obwohl ich gar nicht weiß, wie sie sich eine Mutter von drei Kindern vorstellen. Alt und dick vielleicht. Witzigerweise kenne ich überhaupt keine Mutter, die drei Kinder hat und alt und dick aussieht. Müde vielleicht, aber wer ist das nicht?

Richard spart sich Ohs und Ahs. Er nickt bedächtig mit dem Kopf und nimmt einen Schluck von seinem Cappuccino. Weil er nichts sagt, rede ich: »Ich finde es schön, wenn sie älter werden, man bekommt seine Freiheit Stück für Stück zurück und kann sich wieder mehr auf den Job konzentrieren.«

Das wäre jetzt sein Stichwort, aber er rührt weiter in seiner Tasse und stellt noch eine Füllfrage: »Und wie läuft es bei Jeanny-TV?«

Jeanny-TV ist die kleine Sendung, die ich momentan moderiere. Sie dauert nur eine halbe Stunde und findet eigentlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Im dritten Programm läuft sie Dienstagnacht um zwei Uhr. Um diese Uhrzeit schauen nur Rentner mit seniler Bettflucht zu, oder Betrunkene, die gerade von einer Party zurückkommen und jemanden brauchen, der sie in den Schlaf murmelt. Die Sendung ist einfach aufzuzeichnen, ich brauche keine große Vorbereitung. Ich sehe mir die lustigen YouTube-Filme an, die wir zeigen, und lese ein bisschen über unseren Gast, der kommt. Für eine Mutter ist der Job perfekt. Für eine Frau, die im Fernsehen gerne Karriere machen möchte, eine Katastrophe.

Ich wäge meine Antwort kurz ab und sage: »Es läuft gut wie immer. Das Beste ist – ich kann jederzeit kündigen!«

Jetzt strahle ich ihn an, und er legt seinen Kaffeelöffel weg und ist bereit, die bedeutenden Worte zu sagen.

»Annabel. Du bist eine sehr gute Moderatorin, das brauche ich dir nicht zu sagen.«

Ich lächle schweigend.

»Du hast hier heute gute Arbeit abgeliefert. Keine Frage, dass du das kannst.«

Ich lächle weiter.

»Aber ehrlich gesagt, suchen wir tatsächlich eine Moderatorin, die unser Format längerfristig begleitet.«

Hat er gerade ein »aber« in dem Satz benutzt?

»Ich muss dir nicht erklären, wie es in unserer Branche läuft. Du wirst dieses Jahr vierzig. Da können wir dich natürlich nicht einsetzen.«

Er kann mich was nicht? Ich verliere abrupt mein Lächeln.

»Richard, ich versteh nicht ganz. Willst du mir sagen, ich bin zu alt?!«

»Schätzchen, jetzt nimm das bitte nicht persönlich. Wir wissen doch beide, wie Fernsehen funktioniert. Der Sender will sich verjüngen. Wir peilen die Zielgruppe zwanzig bis fünfunddreißig an, da kann ich einfach keine reife Frau einsetzen.«

Reife Frau. Er hat tatsächlich reife Frau gesagt. Als wollte er mir eine Gesichtscreme verkaufen.

»Man sieht es dir ja noch nicht an. Deshalb habe ich dich auch eingeladen, aber nach Rücksprache mit der Redaktion und den Sponsoren sind mir leider die Hände gebunden.«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Meine Augen brennen, mir ist schlecht, und ich will einfach nur aus diesem Büro raus.

Irgendwie stehe ich auf und bewege mich zur Tür.

»Macht doch einfach noch ein drittes Kind«, sagt Richard zum Abschied. Er umarmt mich, und ich lasse es stocksteif über mich ergehen. »Das geht doch heutzutage sogar noch in deinem Alter!«

 

Ganz langsam gehe ich allein durch den Flur der sechsten Etage. Das Blut hämmert in meinen Schläfen, und ich brauche meine volle Konzentration, um jetzt nicht loszuheulen. Ich muss es irgendwie unbemerkt in meine Zelle schaffen und meine Sachen holen. Die Zimmerpflanzen sehen mir mitleidig nach. Während ich auf den Aufzug warte, betrachte ich meine neuen Wildlederstiefel. Plötzlich packt mich eine rasende Wut. Alles umsonst. Das ganze Gejogge und Geyogae. Das ganze Feilen an den Moderationen. Tom und ich, wie wir im Wohnzimmer geübt haben. Und die Stiefel. Diese viel zu teuren unbequemen, blödsinnigen, idiotischen Stiefel! Vermutlich bin ich sowieso zu alt für solche Schuhe. Ich reiße sie mir von den Füßen und werfe sie, so weit ich kann, in den Chefetagenflur. Schade, dass ich schon so weit entfernt von Richards Zimmer bin. Am liebsten hätte ich sie an seine Tür geknallt. In hohem Bogen fliegt erst der eine, dann der andere durch die Luft und landet mit einem leisen »Klopp« auf dem graumelierten Teppich. Besonders weit konnte ich noch nie werfen, aber diesmal bin ich mit meiner Leistung ganz zufrieden. Der Aufzug kommt, und ich beschließe dreihundertvierzig Euro hier im Flur liegen zu lassen. Die Tür geht auf, und Hannah Weide strahlt mich an.

Kerstin hat ganze Arbeit geleistet. Ihre blonden Locken fallen ihr perfekt bis über die Schultern. Smoky eyes hat sie ihr gezaubert, und entweder hat die blöde Kuh tatsächlich endlose Wimpern, oder Kerstin hat auch dabei nachgeholfen. Faltenfrei lacht Hannah mich an. Klar. Sie ist ja auch sieben Jahre jünger. Keine »reife« Frau. Richard kann sie sicher noch »einsetzen«.

Es ist nicht das erste Mal, dass Hannah mir einen Job wegschnappt. Ich weiß nicht, was alle immer mit blonden Frauen haben. Sobald eine Blondine den Raum betritt, hast du als Brünette einfach keine Chance mehr, außer du hast Körbchengröße D und die Blondine zufällig nicht. Ich versteh das nicht. Was ist an diesen, kaum jemals echten Haaren so besonders? Ich habe mal eine Studie darüber gelesen, dass acht von zehn Männern blonde Frauen bevorzugen und sie bei einem Vorstellungsgespräch automatisch doppelt so gute Chancen haben wie braun- oder schwarzhaarige Frauen. Sechzig Prozent aller Chefinnen in Deutschland sind blond. Blondinen machen schneller Karriere. Für die Medienbranche gilt das auf alle Fälle.

So würdevoll, wie es mir möglich ist, gehe ich auf Strümpfen an Hannah vorbei in den Aufzug und drücke den Knopf. Sie ruft mir noch lachend irgendetwas zu, aber die Aufzugtür ist gnädig und schließt erstaunlich schnell. Ich fahre nach unten. Ganz nach unten.

 

Im Auto habe ich nicht nur eiskalte Hände, sondern jetzt auch eiskalte Füße. Vier Grad und Nieselregen ist nicht gerade das Wetter, um in Seidenstrumpfhosen durch Pfützen zu deinem Auto zu laufen. Ganz verloren steht mein kleiner roter Mini auf dem Parkplatz. So schnell ich kann, steige ich ein, werfe meine Tasche auf den Beifahrersitz und starte den Motor, um die Heizung in Gang zu bringen. Statt mich anzuschnallen, kauere ich mich auf dem Fahrersitz zusammen und umarme meine Knie. Heiße Tränen laufen mir die Wangen runter. Es ist mir egal, dass ich mir jetzt das ganze kunstvolle Augen-Make-up wegheule. Die Scheiben um mich herum beschlagen. Der Scheibenwischer wischt alle sieben Sekunden mit einem quietschenden Geräusch den Regen weg, der inzwischen heftig auf das Dach prasselt.

Ich komm mir so bescheuert vor.

Ich brauche ein Taschentuch und mein Handy. Finde beides, benutze erst das eine, dann das andere und rufe Tom an.

»Und?«, meldet er sich.

Statt einer Antwort heule ich ins Telefon.

»Ach, Hase«, sagt er schnell »So schlecht war es sicher gar nicht. Warte doch mal ab, bis …«

»Vergiss es!«, bringe ich zwischen Schluchzern raus. »Es ist alles … aus. Richard hat …«

»Was hat Richard?«

»Er hat gesagt … Ich bin zu …«

»Zu was?«

»Zu, zu … alt!«

Eine Weile höre ich nur mein eigenes Schniefen, dann murmelt Tom: »So ein Idiot!«

Es knirscht seltsam. Ich möchte gerne weiterjammern und ihm von meinen Stiefeln erzählen, die oben im sechsten Stock im Flur liegen und mir inzwischen peinlich sind, aber er spricht im Hintergrund mit Tia, unserer Jüngsten. »Nein, du kannst jetzt nicht fernsehen. Mama ist dran. Nein, sie kann jetzt nicht. Ja, sie kommt gleich heim.« Er klingt jetzt genervt und sagt zu mir: »Komm doch erst mal nach Hause, dann reden wir.«

»Aber ich …«

»Nein, verdammt, Tia, ich hab gesagt, der Fernseher bleibt aus!« Es rumpelt, und dann höre ich nur noch Tut, Tut, Tut.

Ich lasse das Handy sinken, ohne das Gespräch zu beenden, und lege den Kopf auf meine Knie. Rechts von mir macht es leise Tut, Tut, Tut, und vorne quietschen die Scheibenwischer im Takt dazu. Breathe in and breathe out.

Kapitel 2

Ich habe noch nicht mal die Jacke ausgezogen, da werde ich schon bombardiert. »Mama, wo sind deine Schuhe?« Lucy, meine Mittlere, wartet meine Antwort gar nicht ab. »Tia war schon wieder in meinem Zimmer! Und sie hat mein Tagebuch geklaut!«

»Schätzchen, Tia kann noch gar nicht lesen.«

»Kann ich WOHL!«, schreit es aus dem Wohnzimmer, und gleich darauf hören wir die Fünfjährige die Treppe hochstampfen. Dabei trampelt sie, so doll und so laut sie kann, über die Holzstufen, damit wir merken, wie sauer sie ist. Tom kommt in den Flur, er hat eine Schürze umgebunden und gibt mir einen Kuss. »Das geht schon den ganzen Tag so. Ganz schlimme Phase hat sie! Ich mach Hühnchen-Curry, ist gleich fertig!«

Er verschwindet in Richtung Küche. Der alte Dielenboden knarzt unter seinen Füßen bei jedem Schritt. Wir nennen unser Haus liebevoll »das Hexenhäuschen«, weil alles klein, alt und verwinkelt ist. Das charmante, marode Ding zu kaufen war eine typische Bauchentscheidung. Tom und ich hatten es bei einem Spaziergang entdeckt und uns sofort verliebt. Wir sahen das kleine Haus mit dem spitzen Dach und den Fensterläden, die schief und größtenteils kaputt an den Fenstern hingen. »Die streichen wir blau«, sagte Tom.

»Hellblau«, machte ich das Spiel mit.

»Da wohnt keiner drin«, stellte er fest. »Komm, wir gehen mal gucken.« Schon war er mit einem Satz über den kleinen Zaun.

»Tom, das ist Hausfriedensbruch. Wir können da nicht einfach rein.«

»Hausfriedensbruch ist es erst, wenn du das Haus betrittst. Was wir machen, ist Grundstücksfriedensbruch.« Er grinste mich an, und wir schlichen lange um das Häuschen herum. Drei Monate später waren wir stolze Besitzer von hundertvierzig Quadratmetern ziemlich renovierungsbedürftiger Wohnfläche und fünfhundert Quadratmetern verwildertem Garten.

Ich liebe unser Hexenhäuschen, auch wenn wir es in den neun Jahren, in denen wir jetzt hier wohnen, noch nicht geschafft haben, alles zu renovieren. Die Heizung ist alt und eine ziemliche Katastrophe, aber immerhin haben wir seit sieben Jahren endlich neue Fenster und müssen im Winter keine Wolldecken mehr auf die Fensterbänke stopfen, damit es nicht reinzieht. Neben der Haustür ist gleich rechts das Gäste-WC. Es wird aber nur als Stellplatz für Pflanzen benutzt, weil es in der kalten Jahreszeit ohne Heizung unzumutbar ist. Der Flur führt direkt ins Wohnzimmer. Von dort kommt man in die kleine und sehr gemütliche Küche. Ich habe die Küchenfronten hellgrün gestrichen und blauweiß karierte Vorhänge vor die Fenster gehängt. Die Fensterbank ist voller Kräuter. Wir benutzen sie zwar kaum zum Kochen, aber sie sehen schön aus dort.

Es riecht schon gut nach Hühnchen-Curry. Tom werkelt am Herd herum. Ich nehme die enge Holztreppe ins obere Stockwerk, die etwas unpraktisch nur vom Wohnzimmer aus zu erreichen ist. Im ersten Stock ist Tias winziges Zimmer, in dem sie sich gerade eingeschlossen hat. Hoffentlich findet sie ihren Schlüssel wieder. Tom musste sie schon ein paar Mal befreien, indem er durch ihr Fenster einstieg und ihr beim Suchen half. Ich habe immer noch keinen Zweitschlüssel machen lassen, obwohl ich das schon seit Wochen vorhabe. Neben Tias Zimmer ist Lucys Zimmer und daneben das Schlafzimmer. Ich muss erst mal aus meinen schmutzigen, nassen Seidenstrümpfen. Und am liebsten auch unter die Dusche.

»Bella, kannst du Tisch decken?«, schreit Tom von unten. Ich setze mich in Unterhose aufs Bett und stelle mir vor, ich hätte keine Familie und könnte einfach in die Badewanne gehen und heulen. Einen Liter Chai-Tee, Kerzen und am Telefon eine gute Freundin. Meine Karriere wurde gerade beendet, und ich soll den Tisch für Hühnchen-Curry decken?

»Mami, alles o.k.?« Flip steht in der Tür, ihre grünen Augen fragend auf mich gerichtet. Ihr entgeht nichts. Meine Große hat ein gutes Gespür für Menschen. Ich will nicht vor meiner Elfjährigen heulen, darum steh ich schnell auf und murmele in meinen Schrank: »Den Job hab ich jedenfalls nicht.«

Ich zieh mir meine graue kuschelige Jogginghose an, und als ich mich umdrehe, steht Flip ganz nah hinter mir. Wortlos breitet sie die Arme aus, und wir umarmen uns. Jetzt weine ich doch ein bisschen. Noch ist sie einen Kopf kleiner als ich, aber sie muss nicht hochschauen, um zu wissen, dass bei mir die Tränen laufen.

»Die sind alle doof, Mama, hör nicht auf die. Du bist toll. Und überhaupt nicht alt.« Ihr entgeht wirklich nichts. Ich nicke und schaffe ein Lächeln. Plötzlich bin ich doch lieber nicht die Frau ohne Familie, die in der Badewanne liegt. Ich wasche mir das Gesicht, und als ich unten im Esszimmer ankomme, hat Lucy schon den Tisch gedeckt. Tom wirft mir einen stolzen Blick zu, als sei das sein Verdienst. Dann serviert er mit großen Gesten sein Hühnchen-Curry. Wir müssen alle ziemlich nah beieinander sitzen, um zu fünft an den runden Tisch zu passen. Ich habe immer von einer schönen langen Tafel geträumt, aber die passt nicht in unser Esszimmer. Die Tür zur Küche haben wir schon ausgehängt, um etwas Platz zu sparen. Der Raum ist quadratisch und allein mit dem Tisch komplett vollgestellt. Um in den Garten zu kommen, muss man sich an der Wand entlangquetschen. Genauso sinnlos wie die Treppe im Wohnzimmer ist der Zugang zum Garten durch das winzige Esszimmer. Freunde und Eltern reden immer auf uns ein und haben viele Ideen, wie man das alles hier umbauen könnte. Aber mal ganz abgesehen vom fehlenden Geld, hängen Tom und ich irgendwie an der eigensinnigen Aufteilung des Hauses. Er hat den Reis in der Küche vergessen, und ich stehe auf, um ihn zu holen. Die Küche sieht ziemlich »bekocht« aus. Überall steht schmutziges Geschirr. Ich packe schnell die geöffnete Sahne und die Butter zurück in den Kühlschrank.

Tom kocht eigentlich nicht so gern. Wenn er es tut, dann nur streng nach Rezept. Ich koche, wie es mir gerade einfällt. Kühlschrank auf, sehen, was wir haben, und los. Zusammen können wir deshalb gar nicht kochen. Tom stirbt sofort, wenn ich die Nudeln nicht abgewogen habe und nicht mal eine Uhr stelle, wie lange sie kochen müssen. Das geht für ihn nicht. Genauso wenig wie Angaben in Rezepten, die nicht EXAKT sind. »Eine Prise«, »eine Handvoll«, »etwas«, Tom will Maßeinheiten. »Wie viel Ananas nimmst du für die Garnelenpfanne?«, fragt er, wenn er eins meiner Improvisationsgerichte kocht. Ich weiß es nicht. Ich nehme so viel, wie da ist, oder so viel, wie ich Lust habe. Manchmal auch einfach so viel, bis es gut aussieht in der Pfanne. Ich weiß, das sind keine befriedigenden Antworten für meinen Mann. Also sage ich: »Viereinhalb Scheiben« und habe heimlich Spaß daran, wenn ich sehe, wie er tatsächlich eine Ananasscheibe in der Mitte teilt.

Für Hähnchen-Curry gibt es glücklicherweise ein Rezept mit exakten Maßeinheiten, deshalb kocht Tom das oft und gern.

Tia fehlt, und ich schicke Flip, um sie zu holen. Flip heißt eigentlich Annika. Mit drei fand sie ein altes Biene-Maja-Buch, und wir mussten es ihr jeden Tag vorlesen. Immer blätterte sie auf die Seite mit dem Grashüpfer Flip. Sie konnte gar nicht genug von ihm kriegen, und irgendwann fing Tom an sie »Fräulein Flip« zu nennen. Der Name blieb, auch wenn es das Buch längst nicht mehr gibt. Flip hat es tatsächlich geschafft, Tia aus ihrem Zimmer zu locken. Kurze Zeit später setzt sich die Kleine missmutig neben mich, ohne mir einen Blick zu schenken. Ich ritze mit meiner Gabel TIA in meine Serviette und frage sie leise: »Was steht da?«

»Tia«, sagt sie ebenso leise.

»Du kannst ja doch lesen!«, flüstere ich, und sie strahlt ihren Teller an, statt mich, weil sie noch nicht bereit ist, ihre muffelige Haltung komplett aufzugeben.

Flip erzählt von einem Projekt für den Musikunterricht. Die Kinder sollen Tiere basteln, die sie dann zu einer eigenen Choreographie zu Karneval der Tiere auf einer kleinen Puppentheaterbühne bewegen. Sie möchte eine Katze basteln und braucht dazu Fellstoff. Tom und sie diskutieren, wo und wann man den am besten besorgen kann. Ich stochere in meinem Essen rum. Ob es Tiere gibt, die alt aussehen? Zu alt, um bei dem Puppentheater mitzumachen? Truthähne vielleicht. Die haben doch diese Haut unter dem Kinn hängen. Ich kontrolliere mit meinem Messer die Haut unter meinem Kinn. Wenn ich es schräg halte, spiegelt sich meine Unterkinnhaut im Messer. Na ja. Ist fast schon ein Doppelkinn. Ich strecke den Hals nach oben. Jetzt ist es weg. Ich senke den Kopf. O Gott, das sieht ja furchtbar aus. Muss ich mir merken. Kopf niemals senken. Tia ahmt mich nach und wird sofort von Tom gerügt: »Spiel nicht mit dem Messer rum!«

»Aber die Mama hat das auch gemacht!«, schwärzt sie mich an.

»Schmeckt’s dir nicht?«, fragt Tom. Man muss ihn immer genug loben, wenn er etwas gekocht hat.

»Doch. Ist lecker.« Um abzulenken, frage ich, um wie viel Uhr er morgen zu drehen anfängt.

»Ich muss erst um zehn in der Maske sein. Ich bin zum Glück erst im dritten Bild dran.«

Tom ist Schauspieler. Er spielt in einer der hundert Polizeiserien, die es gibt, mit. Die Rheincops heißt sie. Tom hat seine hundertfünfzig Drehtage im Jahr, was für einen Schauspieler heißt, dass er gut im Geschäft ist. Hin und wieder geht er auch zu einem Casting, aber das ist für ihn nur so etwas wie eine Übung. Ich weiß nicht, wie er das macht. Für ihn ist es einfach ein Termin, den man hinter sich bringen muss. Wie die halbjährliche Zahnarztkontrolle. Manchmal frage ich ihn nach Wochen, was denn aus der Rolle xy geworden ist, und er schaut ganz erstaunt und sagt: »Ach, stimmt, da muss ich mal nachfragen.« Ich habe lange versucht, mir das abzugucken, aber ich schaffe es einfach nicht.

Tom ist ziemlich glücklich mit den Rheincops. Er spielt einen coolen Polizisten und darf in der Serie alles tun, wovon Männer träumen. Rumballern, Verfolgungsjagden machen und Verbrecher festnehmen. Da kann er so richtig Mann sein, was ja zu Hause eher schwierig ist mit vier Frauen im Haus. Mit seinen lässig verwuschelten dunklen Haaren und den braunen Augen sieht er auf dem Bildschirm in der Uniform verwegen aus. Zu Hause trifft man ihn meistens ohne coole Frisur und natürlich auch ohne Polizeiuniform. Seine Uniform für zu Hause ist seine Jogginghose. Weil er keinen gewöhnlichen Bürojob hat, ist er sehr viel mehr bei seiner Familie als andere Väter. Er liebt seine drei Mädchen. Väter und Töchter haben so eine magische Verbindung. Ich weiß das, weil ich die auch mit meinem Vater habe. Mein Vater war lange Zeit mein Held, und Tom ist momentan noch der Held unserer Töchter. Wenn ich nach Hause komme, sagen die Kinder gewöhnlich: »Hi, Mama.« Kommt Tom nach Hause, flippen sie aus und rennen um die Wette, um als Erste an seinem Hals zu hängen. Manchmal stelle ich mir vor, wir hätten einen Sohn. So einen kleinen Kerl mit dunklen Locken und blauen Augen. Der würde MIR um den Hals fallen, wenn ich nach Hause komme, seine kleinen Arme um mich schlingen und ganz zärtlich »meine kleine Mama« in meine Haare flüstern. Und ich würde ihm Feuerwehrautos mitbringen und Legohäuser mit ihm bauen. Jungsspielzeug ist sowieso viel schöner als Mädchenspielzeug. Ich kann einfach keine Pferde und Puppen mehr sehen.

 

Tia lässt ein Playmobilmännchen über meinen Arm wandern, und Tom fragt genervt, ob ich mal helfen könnte abzuräumen. Ich tue es schweigend und baue auf den Abend zu zweit, wenn die Kinder im Bett sind. Bis dahin liegt noch etwas Arbeit vor uns. Lucy fällt ein, dass sie für Mathe ja noch ein Arbeitsblatt machen muss.

»Habt ihr etwa keine Hausaufgaben gemacht?«, frage ich Tom sauer. Es ist fast halb acht, und das ist normalerweise die Zeit, alle bettfertig zu machen, und ganz sicher nicht die Zeit, um noch Arbeitsblätter für Mathe zu erledigen.

»Du brauchst gar nicht so blöd zu fragen. Natürlich haben wir Hausaufgaben gemacht.«

»In Deutsch!«, sagen Lucy und Tom gleichzeitig. »Aha. Und mit Mathe wartet man dann lieber, bis es halb acht ist? Weil Zweitklässler dann besser rechnen können?« Ich weiß, ich bin unfair, aber ich will einfach aufs Sofa und Tom endlich alles erzählen. Ich rausche mit Tia nach oben und putze ihr die Zähne. Sie schreit, dass sie das alles schon alleine kann und ich doof und gemein bin. »Und alt …«, füge ich in Gedanken hinzu. Eine reife Frau … Ich zwinge mich, im Badezimmer nicht noch mal meine Unterkinnhaut zu kontrollieren, hetze Tia ins Bett und lese ihr viel zu schnell eine kurze Elfengeschichte vor. Danach drapiere ich den rosa Stoff ihres Betthimmels ordentlich um ihr verschnörkeltes Metallbett. Elfen haben es gerne hübsch, wenn sie schlafen gehen. Bevor ich ihr Nachtlicht anknipsen kann, sagt sie: »Licht an …«

»… Tür auf«, vervollständige ich den Satz, den sie mir jeden Abend sagt, bevor ich das Zimmer verlasse. »Weiß ich doch, mein Engelchen.« Ich küsse sie auf die Stirn und stopfe die Decke fest um sie herum, so wie sie es gerne hat.

Auf dem Flur wartet schon Flip. »Kommst du noch zu mir hoch, Mama?«

Flip wohnt im Dachgeschoss und hat eine zweite Ebene in ihrem Zimmer, auf der sie schläft. Mein Papa hat ihr das Hochbett gebaut. Eine steile Holztreppe führt nach oben zu einem kleinen Einstiegsloch, durch das man sich schlangenartig winden muss, um auf das Bett zu gelangen. Man darf auf keinen Fall hochschwanger sein, wenn man Flip besuchen möchte. Ich bin eigentlich gerne da oben. Es ist ein Ort, an dem man ein bisschen allein sein kann. Von diesen Orten gibt es nicht viele in unserer lauten Familie. Manchmal sitzen Flip und ich abends noch eine Weile auf ihrem Bett und reden über alles, was wir nicht besprechen können, wenn die beiden jüngeren Schwestern dabei sind.

Ich weiß, ich sollte heute Abend zu ihr hoch kommen. Ich weiß, sie war in letzter Zeit viel zu wenig dran. Aber ich habe heute nicht den Kopf für Mensa-Geschichten und kann auch nicht erörtern, warum Frau Ziehberger, die Sportlehrerin, wieder so unfair war. Außerdem soll Flip sich nicht mit meiner Karrierekrise rumschlagen müssen. »Heute nicht, mein Schätzchen«, sage ich und füge schnell hinzu: »Aber danke, dass du gefragt hast.«

Sie nickt tapfer und gibt mir einen kleinen Kuss auf die Wange. Ich husche noch schnell bei Lucy rein, die mit ihrem Arbeitsblatt fertig ist. Auch hier ein Nein von mir, als sie fragt, ob ich noch mit ihr kuschele. Eine Rabenmama bin ich. Dafür erledige ich aber jetzt alle anderen Aufgaben mit größter Sorgfalt. Ich stelle Lucys Rollladen so ein, dass genau sieben Spalten auf sind, und verstecke alle Stofftiere, die tagsüber auf dem Schrank wohnen, im Schrank. Lucy meint, die Stofftiere würden sie nachts beobachten, mit großen Augen auf sie herunterstarren, und dann kann sie nicht schlafen. Nachts ist Lucy keine acht Jahre alt, sondern höchstens vier. Sie fürchtet sich vor allem. Mal hört sie seltsame Geräusche, mal riecht ihr Zimmer angeblich komisch. »So als wäre da gerade noch jemand Fremdes drin gewesen!« Sie kann einem wirklich Angst machen. Als sie noch ganz klein war, stand sie einmal nachts in ihrem Bettchen. Ich hatte sie sprechen hören und war schon sehr beklommen in ihr Zimmer gegangen. Eine kleine blasse Gestalt im Schlafsack zeigte mit ausgestrecktem Ärmchen auf den Schrank und sagte: »Mann da!« Ich habe beinahe einen Herzinfarkt bekommen. Tom hatte einen Nachtdreh, und so musste ich selbst den Schrank öffnen und nachschauen. Natürlich war kein Mann da. Aber Lucy sah ihn, und ich brauchte Stunden, um sie wieder in den Schlaf zu kriegen. Die ganze Zeit hatte ich den Film The Sixth Sense vor Augen. Was wenn das Kind tatsächlich tote Menschen sieht? Tom fand das alles super albern. Als er um fünf Uhr morgens nach Hause kam und mich schlaflos mit Festbeleuchtung in der Küche am Laptop vorfand, hat er sich unheimlich amüsiert und mir verboten, weiter »Kinder, die Geister sehen« zu googeln. Es gibt 1890000 Ergebnisse dazu, wer weiß, ob da nicht doch etwas dran ist. Ich meine, Kinder sind einfach sensibel, wie Hunde, die können ja auch Erdbeben und Stürme und so was vorhersehen.

Heute sieht Lucy keine unsichtbaren Männer mehr, aber sie vermutet Geister in ihrer Schreibtischschublade, deshalb muss man immer kontrollieren, ob sie auch fest geschlossen ist, bevor man aus dem Zimmer geht. Manchmal frage ich mich, ob andere Eltern auch so ein Theater mitmachen müssen, bevor sie endlich auf die Couch fallen dürfen.

Ich fühle mich, als wäre es schon nach dreiundzwanzig Uhr, als ich endlich mit einer Tasse Tee in der Hand den Weg ins Wohnzimmer einschlage. Tom sitzt auf unserem roten Sofa, die Füße auf dem kleinen Lederpuff mit dem aufgenähten Elefanten oben drauf, der eigentlich ganz klar für meine Füße reserviert ist, und lernt routiniert seinen Text für morgen. Ich lasse mich in den blauen Ohrensessel fallen, stelle meinen Tee auf dem Tischchen daneben ab und streiche mit den Händen über den abgewetzten Samtbezug der Sessellehne.

»Hast du die Stofftiere noch weggeräumt?«, fragt er, ohne aufzublicken.

»Ja, alles o.k. oben. Das war vielleicht ein Scheißtag …«, leite ich ein, in der Hoffnung, dass er sein Drehbuch zur Seite legt.

»Ach, es wird ein neues Casting geben«, sagt er und liest weiter seine Szene.

Das glaube ich jetzt nicht. »Sag mal, hast du überhaupt verstanden, worum es hier geht?«

Alarmiert durch meine Stimme legt er den Text weg.

»Das ist das Ende! Es wird eben kein weiteres Casting mehr geben. Vielleicht hatte ich sogar Glück, dass Richard mir mal die Wahrheit gesagt hat. Ich bin zu alt!!« Ich schreie jetzt fast. Tom macht eine »Sei doch leise«-Geste Richtung Kinderzimmer, was mich nur noch wütender macht.

»Bella, das ist doch Schwachsinn. Es gibt viele Moderatorinnen, die sind viel älter als du.«

»Welche?«

»Na die Dings, die im NDR diese …«

»Im NDR! Genau! Im dritten Programm kann man dann noch rumdümpeln. Nenn mir eine Frau über vierzig, die eine Abendsendung moderiert. Eine! Los!«

Tom überlegt. »Lara de Winter.«

»Hat erstens eine eigene Produktionsfirma und wurde zweitens bei der letzten Show nach nur zwei Wochen abgesetzt. Außerdem ist die geliftet und alles.«

»Mit so einem Scheiß fängst du bitte nicht an.« Er wendet sich wieder seinem Drehbuch zu.

Ich kontrolliere meine Unterkinnhaut und schweige, warte, dass er noch etwas Versöhnliches sagt, aber er lernt weiter Text.

»Ich bin alt«, sage ich trotzig und knete mit den Händen ein rotweiß gestreiftes Sofakissen, als wäre es daran schuld.

»Du bist NICHT alt«, wiederspricht er mir automatisch. Wieder schweigen wir eine Weile. Ich bearbeite weiter das Kissen. Tom sitzt da und lernt seinen bescheuerten Text. In seiner bescheuerten Jogginghose. Er ist übrigens auch nicht mehr der Jüngste. Demnächst braucht er sicher eine Lesebrille. Er hält den Text schon verdächtig weit weg. Er wird dieses Jahr fünfundvierzig, wieso hat er keine Probleme mit dem Alter? Ich werfe das Kissen an die Wand und fange es wieder auf. Tom liest weiter. Ich werfe das Kissen an die Decke. Tom liest weiter. Seine Lippen bewegen sich tonlos. Was für eine alberne Bewegung. Wenn seine Fans ihn so sehen könnten, mit Matschfrisur und Löchern in der einen Socke. Kann er nicht mal eine halbe Stunde sein blödes Drehbuch weglegen und mit mir reden?

»Sag mal, spinnst du?«

Ich verkneife mir ein Grinsen. Ich werde noch richtig gut im Werfen, das Kissen hat ihn voll getroffen. Er hält sich das Auge.

»Komm, so doll war das gar nicht!«

»Ich hab den Reißverschluss ins Auge gekriegt! War das wirklich nötig?« Das wollte ich nicht. Sein Auge tränt. Ich hole ein Kühlkissen. Ein echter Vorteil für Eltern, man hat diese Dinger stapelweise im Kühlschrank.

»Tut mir leid«, entschuldige ich mich kleinlaut.

»Schon gut«, brummt er und hält sich das Kühlding auf sein Auge.

»Willst du Augentropfen, ich hab …«

»Nee, geh jetzt eh ins Bett.« Er trottet leidend die Treppe hoch. Ich lösche alle Lichter, geh noch mal nach den Kindern gucken und vermeide beim Abschminken allzu genaues In-den-Spiegel-Schauen.

»Bella, du bist wunderschön und überhaupt nicht alt.« Tom küsst mich und dreht sich auf die Seite. Ich habe hundert Abers auf den Lippen, aber bis ich mich für eins entschieden habe, schläft er schon. Ich denke an das Casting. Es lief doch alles so perfekt. Das Wettsaugen war richtig lustig. Der Praktikant, den ich aus dem Rennen gesaugt hatte, klopfte mir nach der Aufzeichnung auf die Schulter. »Respekt, schöne Frau«, hat er grinsend gesagt. Das war sicher auch nur ein Spruch. Genau wie das Komplimenteritual von Kerstin. Alle belügen einen. Und ich Schaf hab das auch noch geglaubt. Eingelullt von Tom und Freunden, die alle wohlwollend rumflunkern, habe ich überhaupt nicht bemerkt, wie mein Haltbarkeitsdatum abläuft. Jetzt ist es zu spät. Ich hätte spätestens nach Tias Geburt anfangen müssen, mich wirklich um meine Karriere zu kümmern. Stattdessen saß ich mit drei kleinen Kindern zu Hause rum und wechselte schlaflos Windeln, während Toms Rolle in den Rheincops immer größer wurde. Irgendwo zwischen Biene-Maja-Büchern und Babyschwimmen habe ich meine besten Jahre verloren. Ich wünschte, ich könnte jetzt mit Sarah reden.

Sarah ist eine sehr gute Freundin, vielleicht sogar meine beste, wobei ich es albern finde, in unserem Alter von bester Freundin zu sprechen. Meine Kinder haben beste Freundinnen. Ich habe Sarah. Wir mögen uns seit zwölf Jahren. Ich habe sie im Geburtsvorbereitungskurs für Paare kennengelernt. So etwas macht man beim ersten Kind ja noch. Sarah und Andi waren die einzigen normalen Menschen, die an diesem Kurs teilnahmen. Außer Tom und mir natürlich. Ich glaube, es gibt ein Muster, das sich so ziemlich in jedem Geburtsvorbereitungskurs wiederholt. Es gibt immer ein Öko-Pärchen, das in selbstgestrickten Klamotten auf seiner Matte im Schneidersitz neben dir nach Vollkornkeksen riecht und mit leiser Stimme erklärt, eine Geburt sei etwas ganz Natürliches, weswegen sie keine Aufklärung über eine PDA brauchen und lieber eine hübsche Stelle im Wald finden möchten, um das Kind auf die Welt zu bringen. Dann gibt es das schicke Paar aus der Innenstadt, bei dem er immer zu spät kommt, weil er einen extra guten Parkplatz für den Porsche Cayenne finden muss. Seine Freundin überbrückt die Zeit, in der er fehlt, indem sie allen anderen Schwangeren mitleidige Blicke zuwirft und sich abwechselnd über ihren perfekten Minibauch oder über ihr langes, glattes und selbstverständlich blondes Haar streichelt. In jedem Kurs gibt es auch die Unsicheren. Bei diesem Paar ist der Mann immer blass und schmächtig und so unmännlich, dass man glaubt, der Briefträger muss seine Frau geschwängert haben, weil man es ihm einfach nicht zutraut. Die unsichere Frau hat meistens kurze braune Haare und tausend Fragen über alles, mit denen sie den kompletten Kurs aufhält. Beide wollen unbedingt alles richtig machen, hyperventilieren aber jedes Mal bei den Atemübungen, weswegen die Hebamme beide ab der dritten Stunde verpflichtet, im Liegen zu hecheln.

Frag irgendeine Mutter deiner Wahl, und sie wird dir bestätigen, dass all diese Leute bei ihr im Kurs saßen.

Sarah war mir sofort sympathisch, weil ihr Bauch und der Rest von ihr noch dicker waren als mein Bauch und mein Rest von mir. Als sie sich in der Vorstellungsrunde mit den Worten: »Guten Tag, ich bin Sarah Johann, und ich wünsche mir von diesem Kurs, dass er möglichst schnell zu Ende geht«, vorstellte, wusste ich, mit wem ich anschließend essen gehen wollte. Ich warf Tom einen Blick zu und sah, dass er gerade Andi, Sarahs Mann, angrinste.

Wir hängten den Rest der Truppe ab und gingen zum Mexikaner um die Ecke. Sarah und ich tranken Cocktails ohne Alkohol, die Männer mit. Wir Frauen jammerten über unsere dicken Hintern und das Wasser in den Beinen, die schlaflosen Nächte, in denen man sich wie ein Walross von links nach rechts wälzte, und darüber, dass man dauernd so tun musste, als sei man unendlich glücklich darüber, demnächst das schmerzhafteste Erlebnis überhaupt zu haben. Die Männer jammerten über uns. Ab sofort hatten wir jeden Montagabend nach dem Kurs richtig viel Spaß zusammen. Der Mexikaner wurde zur Tradition, und Sarah und Andi wurden unsere Freunde. Inzwischen haben sie zwei Söhne, die fünf und elf Jahre alt sind. Beide müssen genau wie wir jeden Tag früh raus, deshalb ist es eher unwahrscheinlich, dass Sarah jetzt noch wach ist.

Ein Blick auf die Uhr: Null Uhr dreiundzwanzig. Ich könnte ihr eine SMS schicken. Leise stehe ich auf und knarze die Treppe runter. Mein Handy ist nicht in der Küche, nicht im Wohnzimmer, nicht in meiner Handtasche. Das gibt’s doch nicht! Ob Tia sich das wieder heimlich geschnappt hat? Wann hatte ich es das letzte Mal in der Hand? Das Telefonat mit Tom, im Auto. Mir bleibt heute aber auch nichts erspart. Ich finde meine Hausschuhe nicht und schlüpfe in die viel zu kleinen Schlappen von Lucy. Es ist windig und eiskalt draußen. Ein richtig hässliches Januarwetter. Wenn wir wenigstens Schnee hätten. Ich friere mich die paar Meter durch den Vorgarten. Wir haben weder Stellplatz noch Garage, aber man findet fast immer einen Parkplatz direkt vor dem Haus an der Straße. Auf dem Weg zum Auto verliere ich einen Schlappen. Schon wieder nasse, kalte Füße. Mein Handy liegt auf dem Beifahrersitz und ist schon ganz beschlagen von der feuchten Luft im Mini. Ich sammle den verlorenen Schlappen ein, flitze zurück ins Haus und wickle mich in zwei Sofadecken. Es wird ewig dauern, bis meine Füße wieder warm sind.

Vierzehn Anrufe in Abwesenheit! Wer um Himmels willen hat da so dringend versucht, mich zu erreichen? Ganz kurz keimt Hoffnung in mir auf. Richard hat plötzlich eingesehen, dass er einen Fehler gemacht hat. Eine Frau mit so viel Talent konnte er doch unmöglich gehen lassen, auch wenn sie reif ist … Wieso hab ich Dussel das Handy im Auto vergessen? Was, wenn es jetzt schon wieder zu spät ist? Ein anderer Gedanke kommt mir. Die haben nur wegen meiner Stiefel angerufen. Ich höre schon die Stimme von Frau Selm auf meiner Mailbox: »Ja, Frau Förster. Sie können Ihre Stiefel hier bei mir im Büro abholen. Ich habe sie für Sie aufbewahrt. Wär doch schade um das Geld. Teure Stiefel werden Sie sich in Zukunft ja auch gar nicht leisten können. Wir reifen Frauen müssen doch zusammenhalten!«

Es ist niemand von der Produktion. Sarah hat mich so oft angerufen, aber keine Nachricht hinterlassen. Ich schicke ihr eine SMS:

Was ist los? Mein Tag war der Horror …

Wenn sie noch wach ist, wird sie das so neugierig machen, dass sie mich noch anruft.

Blingdibling kommt schon ihre Antwort.

Andi hat mich verlassen.

Kapitel 3

»Das glaube ich nicht!« Tom steht mit seinem Kaffee in der Hand an die Küchenzeile gelehnt. Die Kinder sind alle schon weg, und wir haben glücklicherweise noch etwas Zeit, bis er los muss.

»Genau das habe ich gestern auch etwa dreißig Mal zu Sarah gesagt.«

»Das gibt’s doch nicht. Der Andi, das hätte ich nie vermutet. Wie hat sie es rausgefunden?«

»Gar nicht. Das ist ja das Schlimme daran. Sarah hat all die Wochen nichts davon gemerkt, dass er eine Affäre hatte. Gestern kam er nach Hause und meinte, sie müssten mal reden. Und Sarah dachte noch, jetzt käme wieder die alte Leier, dass er sich gerne in Hamburg bewerben will und ob sie sich nicht doch vorstellen könnte, mit den Kindern noch mal umzuziehen. Aber dann kam einfach nur der Hammer.«

»Wie hat er ihr das gesagt?«

»Ja, keine Ahnung. Er sagte, dass er auszieht, er hätte sich verliebt in diese Tussi Anfang zwanzig, und sie sei seine große Liebe, und es täte ihm sehr leid, aber er könnte nicht anders. Er hätte sich das nicht ausgesucht, es sei einfach passiert.«

»Wo hat er die denn kennengelernt?«

»Ich glaube, im Fitnessstudio. Am Anfang hat er Sarah sogar von ihr erzählt und sich noch darüber lustig gemacht, dass sie sich mit zwanzig solche Gedanken macht, ob ihre Figur noch gut ist.«

»Na, da kannste mal von ausgehen, dass ihre Figur ziemlich gut ist.«

»Was soll das denn jetzt? Sarah hat doch auch eine gute Figur.«

Sarah ist etwas kleiner als ich und wirklich eine schöne Frau. Sie hat einen blonden Pagenschnitt, ein süßes Gesicht mit blauen Augen und geht wie ich auch regelmäßig laufen. An ihrer Figur gibt es nichts zu bemängeln.

»Nein, so meine ich das auch nicht.« Tom setzt sich an den Esstisch. Ich bleibe in der Küche stehen. »Aber eine Zwanzigjährige hat eben von Natur aus eine tolle Figur. Schon klar, dass er darauf abfährt.«

»Schon klar, dass er darauf abfährt? Heißt das, du findest es o.k., dass er seine Frau und die Kinder verlässt für ein unreifes Flittchen, das übrigens locker seine Tochter sein könnte?!«

»Annabel, jetzt werd doch nicht auf mich sauer. Ich hab dich nicht betrogen.«

»Noch nicht.«

Tom schaut mich fragend an.

»Ja, noch nicht. Bis du drauf kommst, was Andi denkt und was Richard Kleisterberg denkt. Dass wir mit fast vierzig plötzlich zu alt sind, nicht mehr attraktiv genug. Wir haben nicht mehr von Natur aus eine gute Figur!«

»Jetzt vergiss doch endlich den blöden Kleisterberg. Langsam geht mir das auf die Nerven, dieser Quatsch. Mein Gott, Annabel, was sollen denn fünfzigjährige Frauen sagen? Man wird eben älter, aber deswegen verliert man kein Casting oder wird von seinem Mann verlassen.«