Laura und das Siegel der Sieben Monde - Peter Freund - E-Book
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Laura und das Siegel der Sieben Monde E-Book

Peter Freund

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Beschreibung

Das Abenteuer geht weiter: Um ihren Vater Marius aus dem Kerker des Schwarzen Fürsten zu befreien, muss Laura Leander das große Geheimnis um das Siegel der Sieben Monde entschlüsseln, das zu den großen Mysterien der Menschheitsgeschichte zählt. Obwohl ihre Freundin Kaja und ihr Bruder Lukas ihr wieder treu zur Seite stehen, scheint ihr Unterfangen aussichtslos: Ihr kluger Mentor Professor Morgenstern, der Direktor ihrer Internatsschule, wird nämlich verdächtigt, den blinden Bibliothekar eines geheimen Archivs ermordet zu haben, und kann ihr deshalb nicht helfen. Doch zum Glück gibt es da den Knappen Alarik, den es durch die Geheime Pforte aus Aventerra auf die Erde verschlagen hat: Er unterstützt Laura mit wertvollen Vorschlägen. Doch als Laura sich nach ebenso aufregenden wie gefährlichen Prüfungen schon am Ziel ihrer Wünsche wähnt, stellt der Schwarze Fürst Borboron sie vor die schwerste Wahl ihres Lebens: Sie muss sich zwischen dem Kampf für das Gute und dem Leben ihres Vaters entscheiden. Nur das Siegel der Sieben Monde kann ihr jetzt noch helfen – aber dessen Rätsel hat noch niemand gelöst … »Fantastisch. Voller schöner Details und mächtig viel Spannung – Laura Leander ist unschlagbar!« (Bild am Sonntag) Die Fantasy-Reihe um die spannenden Abenteuer der Laura Leander erzählt die ebenso aufregende wie fantastische Geschichte eines eigentlich ganz normalen Mädchens. Eigentlich, denn an ihrem dreizehnten Geburtstag erfährt Laura, dass ihr seit Anbeginn der Zeiten eine ganz besondere Bestimmung zugedacht ist. Nur sie kann verhindern, dass die vom Schwarzen Fürsten Borboron angeführten Mächte des Dunklen, der Finsternis und des Bösen die Überhand gewinnen. Dies hätte die Vernichtung der Welt zur Folge, und zwar nicht nur die der unseren, sondern auch die von Aventerra, der Welt der Mythen … Die Romanserie besteht aus sieben Bänden: • Laura und das Geheimnis von Aventerra • Laura und das Siegel der Sieben Monde • Laura und das Orakel der Silbernen Sphinx • Laura und der Fluch der Drachenkönige • Laura und der Ring der Feuerschlange • Laura und das Labyrinth des Lichts • Laura und der Kuss des schwarzen Dämons

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Peter Freund

Laura und das Siegel der Sieben Monde

Roman

Für meine Eltern Anni und Karl Freund

»Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.« (Der kleine Prinz Antoine de Saint-Exupéry)

1. Kapitel: Die Höllenklamm

Es ging auf Mitternacht zu in Hinterthur. Die Nacht war kalt und klar. Myriaden von Sternen funkelten am Himmel um die Wette. Ihr silbriger Schein tauchte den kleinen Wintersportort in ein geheimnisvolles Licht, zauberte Glanz auf die verschneiten Bäume des Waldes und ließ den Schnee auf den Berghängen und in den Tälern glitzern. Die Menschen jedoch bemerkten dieses Leuchten nicht. Sie schlummerten in ihren Betten dem nächsten Morgen entgegen. Hinter den Fenstern der Häuser, die sich in die enge Talsenke duckten, war es dunkel. Nur in einigen Gaststätten, in der Diskothek und im Nightclub brannte noch Licht für die Nachtschwärmer, die kein Ende finden konnten.

Der festgefahrene Schnee auf dem Parkplatz hinter dem Restaurant Zur Sonne gleißte vor Glätte. Die kahlen Äste der alten Ulme, die in einer abgelegenen Ecke stand, warfen ein gespenstiges Schattengeflecht auf den Boden. Unter dem Baum parkte ein einsames Auto. Der Motor brummte leise; schwarze Qualmwolken quollen aus dem Auspuff und verbreiteten einen beißenden Geruch.

Im Inneren des Wagens herrschte Dunkelheit. Die Männer auf den Vordersitzen glichen schwarzen Scherenschnitten. Nur die rote Glut eines Zigarillos leuchtete ab und an vor dem Mann hinter dem Lenkrad auf. Die Gesichter der beiden Insassen, die sich flüsternd unterhielten, waren nicht zu erkennen.

»Ich weiß wirklich nicht, worauf du noch wartest«, sagte der Raucher kaum hörbar und rückte seine Brille zurecht. »Je eher wir sie ausschalten, desto besser. Sie hat viel mehr Mut, als wir alle geglaubt haben – und das macht sie so gefährlich. Du hast doch selbst erlebt, wie viel Schwierigkeiten sie uns bereitet hat! Oder hättest du damit gerechnet, dass sie den Kelch der Erleuchtung tatsächlich findet?«

»Nein. Aber –«

»Und dem Hüter des Lichts das Leben rettet?«

»Natürlich nicht.« Der Mann auf dem Beifahrersitz klang heiser. Fast gequält. »Aber eigentlich hätten wir damit rechnen müssen. Sie ist im Zeichen der Dreizehn geboren und verfügt über ganz außergewöhnliche Kräfte.«

»Was du nicht sagst!« Die Stimme des Rauchers triefte vor Ironie.

»Dieses Mal müssen wir doppelt vorsichtig sein. Es darf nichts schief gehen, und niemand darf Verdacht schöpfen.«

»Als ob ich das nicht selber wüsste!«

»Es muss wie ein Unglück aussehen, wie ein Unfall beim Skilaufen oder im Straßenverkehr. Sonst haben wir nicht nur die Polizei am Hals, sondern auch die anderen Wächter – und das können wir wirklich nicht brauchen.«

»Was wir erst recht nicht brauchen können, ist, dass sie von diesem verfluchten Siegel erfährt!« Der Mann mit dem Zigarillo klang verärgert, und es glühte rot auf vor seinem Gesicht. »Wenn sie hinter sein Geheimnis kommt, werden ihre Kräfte gestärkt, und es gelingt ihr am Ende auch noch, den Kelch nach Aventerra zurückzubringen! Also unternimm endlich was!«

»Das mach ich doch! Ich –«

»Leichter als hier wirst du sobald nicht mehr an sie rankommen.« Der Raucher war laut geworden. »Aber wenn du weiter so rumtrödelst, dann ist der Urlaub vorbei!«

»Die Vorbereitungen brauchen nun mal Zeit!« Der Beifahrer klang beleidigt. »Ich musste alles ganz genau planen, aber jetzt hab ich die Sache im Griff, glaub mir. Nur ein paar Tage noch – und der Spuk ist vorbei!«

»Ich hoffe, du hast recht!« Der glühende Punkt wanderte hektisch durch die Dunkelheit. »Noch so eine Pleite wie beim letzten Mal, und wir beide kriegen Ärger. Und zwar richtigen Ärger!«

Besänftigend legte der Gescholtene die Hand auf den Arm seines Gesprächspartners. »So weit wird es nicht kommen. Diesmal wird sie ihrem Schicksal nicht entgehen können. Ganz bestimmt nicht!« Für einen Moment leuchteten die Augen des Mannes rot auf. Fast hatte es den Anschein, als schwebe ein Paar glühender Kohlen über dem Sitz.

Die Handbremse wurde gelöst, und das Auto setzte sich langsam in Bewegung. Der Schnee knirschte unter den breiten Reifen der Limousine, als sie auf die Hauptstraße von Hinterthur einbog, die im fahlen Licht der Straßenlaternen verlassen dalag. Fast lautlos schlich der Wagen nun davon – wie ein gefährliches Raubtier auf der Suche nach Beute.

»Ist das nicht herrlich hier?« Laura Leander strahlte ihren Bruder an. »Das ist doch wunderschön, oder? Nun sag endlich was!«

Lukas verzog das Gesicht. »Na ja, nicht schlecht«, brummte er missmutig. Die Skimütze fast bis zu den Augenbrauen gezogen, schaute er gelangweilt hinunter in den Talkessel, der vor ihnen im hellen Sonnenschein lag.

Laura und ihr Bruder standen auf Skiern in der Nähe der Bergstation des Höllenklamm-Liftes und genossen den Ausblick auf die Winterlandschaft. Wie ein glitzerndes Band schlängelte sich eine Skipiste durch den verschneiten Bergwald hinunter ins Tal: die Höllenklamm-Abfahrt, beliebt und gefürchtet zugleich bei den Skifahrern. Beliebt, weil sie irrsinnig schnell war, und gefürchtet, weil sie hohe Ansprüche stellte und sich jeder Fehler gnadenlos rächte. Stürze waren deshalb an der Tagesordnung, und in beinahe regelmäßigen Abständen kam es zu schweren Verletzungen, sodass die Pistenwacht über Langeweile nicht klagen konnte.

Der Wind pfiff den Geschwistern um die Köpfe und färbte ihre Wangen rot. Laura hatte eine gelb getönte Skibrille aufgesetzt, während Lukas seine große Professorenbrille auf der Nase trug. Vom Lift her drang das fröhliche Gelächter der Ski- und Snowboardfahrer zu ihnen herüber. Kolkraben kreisten in der Luft, und auf dem Dach der Bergstation stritt sich ein Schwarm Spatzen um die harten Brotkrumen, die tierliebe Wintersportler ihnen zugeworfen hatten.

Es war ein klarer Tag mit ausgezeichneter Fernsicht. Im Süden ragten die zerklüfteten Gipfel der schneebedeckten Alpen auf und versperrten die Sicht. Nach allen anderen Richtungen hin war der Blick jedoch frei. Laura und Lukas konnten fast endlos weit sehen. Sogar bis zu der weit entfernten Ebene, die sich nördlich des Vorgebirges erstreckte.

Lukas kniff die Augen zusammen, schirmte sie mit der linken Hand gegen die Sonne ab und spähte in die Ferne. Dann streckte er den Arm aus und deutete nach Nordwesten, wo sich sanfte Hügel verschwommen am Horizont abzeichneten. »Irgendwo dahinten muss Hohenstadt liegen und ein kleines Stück weiter Ravenstein, auch wenn man beides aus dieser Entfernung natürlich nicht erkennen kann.«

»Vielen Dank, du Super-Kiu.« Laura grinste ihren Bruder breit an. Das von ihm erfundene Spezialwort für einen Überflieger benutzte sie immer nur dann, wenn sie ihn damit aufziehen konnte. »Von alleine wäre ich da bestimmt nicht drauf gekommen!«

Lukas schnitt eine Grimasse, worauf das Grinsen der Schwester noch breiter wurde. Lauras gerötete Wangen leuchteten wie die eines Clowns, als sie ins Tal hinunter blickte. Von hier oben sah Hinterthur aus wie ein Dorf in einer Modelleisenbahn-Landschaft. Die Häuser an der Hauptstraße und den kleinen Nebenstraßen, die sich in enge Seitentäler schlängelten, erinnerten an Gebäude aus einem Baukasten. So sauber und adrett, wie frisch aus dem Spielzeugladen. Die Fassaden waren sorgsam verputzt, und viele von ihnen zierten bunte Gemälde. Konrad Köpfer, der brummige Hausdiener von Maximilian Longolius, in dessen Chalet Laura und Lukas gemeinsam mit ihrer Stiefmutter Sayelle die Winterferien verbrachten, hatte ihnen erklärt, dass die korrekte Bezeichnung dafür Lüftlmalereien laute.

Mister L, wie Maximilian Longolius von Lukas nur genannt wurde, besaß ein riesiges Medienimperium, zu dem neben einigen Radio- und Fernsehstationen unter anderem auch DIE ZEITUNG gehörte, bei der Sayelle als Leiterin der Wirtschaftsredaktion beschäftigt war. Von hier oben konnte man sein Ferienhaus gut erkennen. Es stand auf einem parkartigen Grundstück am Rande von Hinterthur. Wobei »Ferienhaus« ziemlich untertrieben war, denn in Wirklichkeit besaß der steinreiche Unternehmer einen prächtigen Landsitz mit mehreren Schlafzimmern und Wohnräumen, zwei Marmorbädern und einer exquisit ausgestatteten Küche. Im Kellergeschoss gab es unter anderem einen Fernsehraum und ein Spielzimmer mit Poolbillard und Spielautomaten.

»Hey! Wollt ihr hier Wurzeln schlagen, oder was?« Die helle Stimme von Kevin schallte Laura entgegen. Der hoch gewachsene Junge fuhr von der Liftstation auf die Geschwister zu. Der Schnee stob auf, als er mit einem gekonnten Schwung neben ihnen zum Stehen kam und sie freundlich anlächelte. Seine weißen Zähne blitzten.

Kevin Teschner war der Neffe von Max Longolius. Mister L hatte ihn eingeladen, Laura und Lukas im Winterurlaub Gesellschaft zu leisten. Der Junge war genauso alt wie Laura, ein fröhlicher Kerl, der für jeden Spaß zu haben war. Und so hatten die drei recht bald Freundschaft geschlossen. Trotzdem hatte Laura Kevin kein Wort von den fantastischen Abenteuern erzählt, die sie zur letzten Wintersonnenwende auf Burg Ravenstein, ihrem Internat, bestehen musste. Und natürlich hatte sie ihm auch das große Geheimnis verschwiegen, das die Erde und Aventerra, den ältesten der alten Planeten, seit Anbeginn der Zeiten miteinander verband. Auch dass Laura erst vor ein paar Wochen, an ihrem dreizehnten Geburtstag, erfahren hatte, dass sie zu den Wächtern gehörte und deshalb für die Sache des Lichts kämpfen musste, brauchte Kevin nicht zu wissen. Jedenfalls noch nicht. Zumal er diese mysteriöse Geschichte ohnehin kaum verstehen würde – ebenso wenig wie all die anderen Menschen, die nicht hinter die Oberfläche der Dinge sehen konnten.

»Was haltet ihr von einem kleinen Wettrennen?« Kevin blickte Laura und Lukas herausfordernd an. Die schwarzen Augen hinter seiner Skibrille funkelten unternehmenslustig. Eine pechschwarze Wuschellocke stahl sich unter seiner Mütze hervor und kringelte sich auf die Stirn.

»Von mir aus.« Laura erwiderte sein fröhliches Lächeln. Eigentlich sieht Kevin gar nicht übel aus, dachte sie und wandte sich an ihren Bruder. »Machst du mit, Lukas?«

»Lust hätte ich schon – nur bin ich mir nicht sicher, ob das auch intelligent wäre.«

»Hä?« Laura blickte Kevin verwundert an, doch der zuckte nur mit den Schultern, während Lukas mit ernster Miene zu einem seiner gefürchteten Vorträge anhob: »Wie allgemein bekannt sein sollte, entstehen gemäß den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen die meisten Unfälle beim Wintersport dadurch, dass man sich überschätzt und sich viel zu viel zumutet. Gerade in Wettkampfsituationen sind die Menschen am ehesten bereit, über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit hinauszugehen. Was wiederum bedeutet, dass dabei das Verletzungspotenzial überproportional hoch ist! Aus diesem Grunde erscheint es mir als wenig intelligent, sich freiwillig einer solchen Gefahr auszusetzen. Ist doch logosibel, nicht wahr?«

Während Laura, gewöhnt an die Marotten ihres neunmalklugen Bruders, nur genervt die Augen verdrehte, blickte Kevin Lukas verständnislos an. »Logo-was?«

Lukas grinste nur, sodass Laura sich genötigt sah, den Freund aufzuklären. »Logosibel! Womit Lukas meint, seine Ausführungen wären überaus logisch und damit natürlich auch über die Maßen plausibel.« Ihre Ungeduld mühsam unterdrückend, wandte sie sich an den Bruder. »Würdest du uns freundlicherweise verraten, was du mit diesen nüchternen Worten sagen wollest, Mr. Superhirn? Heißt das jetzt, du machst mit – oder nicht?«

»Ich dachte, ich hätte mich klar und deutlich ausgedrückt. Natürlich mach ich mit, du Spar-Kiu – versuch mich doch zu kriegen, wenn du kannst!« Noch im gleichen Augenblick stieß er sich mit kräftigen Stockschüben ab und sauste dem Tal entgegen. Noch ehe Laura und Kevin reagieren konnten, hatte er bereits einen beträchtlichen Vorsprung gewonnen.

»Na warte!«, zischte Laura und setzte ihrerseits die Stöcke ein. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Kevin es ihr gleich tat. Den Mann, der sich im selben Moment aus dem Schatten der Liftstation löste, bemerkte sie allerdings nicht. Er schien nur darauf gewartet zu haben, dass sie endlich losfuhren, und setzte sich auf ihre Spur.

Die Piste führte zunächst schnurgerade und steil bergab, sodass Laura schon nach kurzer Zeit mächtig an Geschwindigkeit gewonnen hatte. Der Fahrtwind pfiff ihr ins Gesicht und knetete ihr kräftig die Wangen. Die Carvingski an ihren Füßen bretterten unruhig über den hart gewalzten Schnee. Die vereiste Piste war wellig, sodass die Skier schwer zu kontrollieren waren. Laura blickte nach vorn, wo Lukas in einiger Entfernung in eine scharfe Rechtskurve einbog und hinter einem Felsvorsprung verschwand. Das Mädchen ging tiefer in die Hocke und verlagerte das Gewicht nach hinten. Laura wurde schneller, aber die Skier begannen zu flattern. Die Kurve kam rasend schnell auf sie zugeflogen. Laura verlagerte erneut das Gewicht, um die Biegung so weit innen wie möglich zu nehmen – jeder eingesparte Meter konnte entscheidend sein, wenn sie Lukas einholen wollte. Und das wollte sie unbedingt, schließlich musste sie ihm eine Lektion erteilen. Zum einen, weil sie nicht gegen den jüngeren Bruder verlieren wollte. Und zum anderen musste sie ihm beweisen, dass selbst fiese Tricks nicht zum Erfolg führten. Aber Lukas war ebenfalls ein guter Skiläufer. Auch wenn er eher schmächtig war und außer einem gelegentlichen Tennisspiel keinerlei Sport betrieb, war er auf der Piste nicht zu unterschätzen.

In der engen Kurve wurde Laura mit Macht auf die Skier gepresst. Sie musste aufpassen, dass sie nicht aus der Bahn getragen wurde. Gleich nach der Rechtskurve führte ein längeres Flachstück auf eine Kante zu, hinter der der steilste Abschnitt der Strecke lag. Laura wusste, dass genau dort ihre Chance lag.

Ihr Bruder war in den letzten Tagen stets davor zurückgeschreckt, den Steilhang in voller Geschwindigkeit zu durchfahren, denn wie der riesige Rachen eines Ungeheuers, das alles zu verschlingen droht, gähnte an dessen Fuße die tiefe Schlucht der Höllenklamm. Zwar führte die Piste gut zwanzig Meter davor scharf nach links, aber Lukas fürchtete offenbar, aus der Kurve getragen zu werden und in die Tiefe zu stürzen. Das war im letzten Jahr einem jungen Skifahrer passiert, wie Kevin ihnen erzählt hatte. Jede Hilfe war für ihn zu spät gekommen – ein schrecklicher Unfall, der Lukas wohl nachhaltig beeindruckt hatte.

Laura dagegen ließ sich davon nicht abhalten, stets in voller Fahrt durch das Steilstück zu rauschen. Sie wusste, was sie sich zutrauen konnte, und die Kurve nach dem Hang bereitete ihr nun mal keine Probleme, nicht einmal bei höchster Geschwindigkeit. Wenn es ihr also gelang, das Tempo noch etwas zu steigern, dann könnte sie Lukas spätestens dort überholen.

Laura sah sich noch einmal um. Kevin, der sich rund zwanzig Meter hinter ihr befand, war an seiner quietschgelben Skimütze leicht zu erkennen. Den Skifahrer dagegen, der ihn gerade überholte, kannte sie nicht. Er trug die Kluft der Pistenwacht und war ein exzellenter Fahrer. Fast mühelos ließ er Kevin hinter sich und kam immer näher heran. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er sie ebenfalls passierte.

An der Kante hob Laura ab. Sie spürte ein leichtes Kribbeln im Bauch, während sie durch die Luft flog. Ein Ruck ging durch ihren ganzen Körper, als sie wieder auf dem Boden aufsetzte. Es gelang ihr aber mühelos, den Aufprall mit den Knien abzufedern.

Das Mädchen beugte sich nach vorn, ging tief in die Hocke und wurde immer schneller. Laura war noch niemals so schnell gefahren. Mit größter Konzentration zischte sie davon, den Blick starr auf die steile Piste gerichtet, während der Rest der Welt als verschwommenes Weiß am Rand ihres Gesichtsfeldes vorüberrauschte.

Mit einem Male spürte Laura Gefahr. Wie ein Blitz zuckte die Ahnung durch ihr Gehirn, dass irgendetwas nicht stimmte.

Aber was?

Da hörte sie das Schlagen von Skiern hinter sich. Trotz der irrwitzigen Geschwindigkeit drehte sie den Kopf und sah den Pistenwachtler heranbrettern. Er war im Begriff sie zu überholen. Sollte er doch! Schließlich ging es bei der Wettfahrt nur um ihren Bruder, Kevin und sie.

Der Mann fuhr nun direkt neben ihr. Plötzlich fiel ihr auf, dass er sich reichlich merkwürdig verhielt. Er starrte unentwegt auf ihre Skier. Oder waren es die Skistiefel, die er ins Visier genommen hatte?

Was soll das?, wunderte sich Laura. Was ist so besonders an meinen Stiefeln?

Der Kopf des Mannes verschwand fast vollständig in der Kapuze seines Dienstanoraks, und seine Augen waren hinter einer verspiegelten Skibrille verborgen. Dennoch kam er Laura auf merkwürdige Weise bekannt vor. Obwohl sie niemanden von der Pistenwacht kannte, war sie sich ganz sicher, dass sie diesem Mann schon einmal begegnet war. Mehrere Male sogar. Wie aus dem Nichts stieg ein ungeheuerlicher Verdacht in ihr auf: Wenn sie nicht alles täuschte, dann war dieser Mann niemand anderer als –

Da lösten sich die Skier von ihren Füßen. Laura wurde von den Beinen gerissen und wirbelte durch die Luft. Die Welt um sie herum drehte sich wie die Trommel einer riesigen Waschmaschine. Das Mädchen schlug auf dem eisigen Boden auf, spürte aber nichts. Keinen Aufprall. Keinen Schmerz. Nichts.

Wieder und wieder überschlug es sich und wurde aus der gewalzten Spur getragen. Der lockere Schnee neben der Piste stob hoch auf, während Laura verzweifelt versuchte, den mörderischen Sturz zu bremsen. Doch da war nichts, woran sie sich hätte festhalten können – und dann sah sie durch die Wolke aus weißem Staub, dass sie unaufhaltsam auf den Abgrund der Höllenklamm zuschlitterte.

*

Der Hüter des Lichts seufzte leise und schüttelte den Kopf. Dann wandte er sein zerfurchtes Antlitz, in dem endlose Jahre tiefe Spuren hinterlassen hatten, einem Mädchen mit blonden Zöpfen zu. In ein schlichtes weißes Gewand gehüllt, stand es inmitten des riesigen Thronsaals von Hellunyat vor ihm und schaute ihn aus großen Augen an. Elysion konnte die Furcht darin lesen, die Morwenas Elevin ergriffen hatte. »Ich kann verstehen, dass du dir Sorgen machst, Alienor, aber ich weiß nicht, wie ich dir helfen soll. Paravains Männer haben tagelang nach deinem Bruder gesucht, aber nicht eine Spur von ihm entdecken können. Wir werden auch weiterhin alles unternehmen, um Alarik zu finden. Dass uns das allerdings gelingt, kann ich dir nicht versprechen. Leider!«

Alienor senkte den Kopf und blickte traurig auf die steinernen Bodenfliesen. Helles Licht flutete durch die Fenster in den Saal, und von draußen, vom Innenhof der mächtigen Gralsburg her, drangen das Trappeln von Pferdehufen, das Klirren von Waffen und Werkzeugen und das Hämmern der Schmiede an das Ohr des Mädchens. Doch Alienor nahm die Geräusche kaum wahr, denn ihre Gedanken waren bei ihrem Bruder, der seit der Wintersonnenwende vermisst wurde.

Alarik war damals mit den Weißen Rittern und ihrem Anführer Paravain zum Tal der Zeiten aufgebrochen, um an der magischen Pforte auf das Mädchen zu warten, das den Kelch vom Menschenstern nach Aventerra bringen sollte. Als die Truppe dann ohne den Kelch der Erleuchtung zur Gralsburg zurückgekehrt war, hatte alle Bewohner von Hellunyat ein lähmendes Entsetzen gepackt, und niemandem war aufgefallen, dass sich der Knappe nicht mehr unter den Reitern befand. Alle hatte nur der schreckliche Gedanke an den unabwendbaren Tod ihres Herrschers Elysion und den Untergang ihres Planeten Aventerra beschäftigt. Die Furcht, dass die schlimme Wunde, geschlagen vom Schwert des Schwarzen Fürsten Borboron, ihren Herrn in die ewige Dunkelheit befördern würde, hatte die Anhänger des Lichts alles andere vergessen lassen. Erst als Elysion wenig später ganz unverhofft auf wundersame Weise geheilt wurde und damit der drohende Untergang und die Herrschaft des Ewigen Nichts abgewendet waren, fiel Alariks Abwesenheit auf. Doch niemand, weder Paravain noch einer seiner Weißen Ritter, wusste, wo ihnen der Knappe abhandengekommen war. Einige meinten, ihn im Tal der Zeiten zum letzten Mal gesehen zu haben, während andere beschworen, Alarik sei noch bei ihnen gewesen, als sie auf dem Rückweg die Donnerberge überquerten. Eine der beiden jungen Frauen, die Aufnahme in den edlen Kreis von Elysions Leibwache gefunden hatten, war dagegen der festen Überzeugung, der Junge sei schon auf dem Hinweg nicht mehr bei ihnen gewesen, konnte sich jedoch nicht genau erinnern, wann und wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Ob in den unwirtlichen Weiten des Rollenden Steinmeeres oder erst auf den schmalen Saumpfaden, die hoch zur sturmumtosten Passhöhe der Donnerberge führten – sie wusste es einfach nicht mehr.

Recht schnell jedoch stellte sich heraus, dass Sarina sich getäuscht haben musste, denn Paravain hatte noch unmittelbar, bevor er zur magischen Pforte geschritten war, mit seinem Knappen gesprochen. Alarik hatte seinen Herrn gebeten, ihn dorthin begleiten zu dürfen, war jedoch abgewiesen worden. Was danach mit dem Jungen geschehen war, wusste Paravain aber ebenso wenig wie seine Begleiter.

Natürlich machte der Anführer der Weißen Ritter sich Vorwürfe. Schließlich war Alarik seiner Obhut anvertraut, seit dieser als Knappe an die Gralsburg berufen worden war. Paravain hatte denn auch umgehend einen Suchtrupp aus den besten seiner Männer zusammengestellt und diesen losgeschickt. Doch obwohl die Ritter die gesamte Strecke bis zum Tal der Zeiten abgesucht und sogar die Regionen abseits des Weges durchkämmt hatten, konnten sie nicht die geringste Spur von dem Jungen entdecken. Er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.

Alienors blaue Augen schimmerten feucht, als sie zu dem Hüter des Lichts aufsah. »Ich weiß, Herr, Paravain wird auch weiterhin alles in seiner Macht Stehende tun, um Alarik zu finden. Ich hatte allerdings gehofft, dass Ihr mehr ausrichten könnt. Ihr verfügt doch über ganz besondere Kräfte, und –« Sie brach ab und senkte erneut den Blick, als habe sie Angst, sich einen Tadel einzuhandeln.

Elysion machte einen Schritt auf sie zu und schenkte ihr ein gütiges Lächeln. »Du hast recht.« Die Stimme klang trotz seines hohen Alters klar und kräftig. »Ich verfüge in der Tat über ganz außergewöhnliche Kräfte. Wie gerne würde ich dir dabei helfen, deinen Bruder zu finden. Aber auch mir sind Grenzen gesetzt. Hellsehen kann ich nicht. Diese Gabe wurde mir leider nicht verliehen.«

»Und wenn ihm etwas zugestoßen ist, Herr?« Tiefe Besorgnis bewölkte das sonst so heitere Gesicht der Mädchens. »Wenn er in die Fänge eines Grolffs geraten ist oder Flugkraken ihn angegriffen haben? Paravains Ritter haben erzählt, dass diese Ungeheuer sich in letzter Zeit kräftig vermehrt haben. Und sie sind blutrünstiger denn je, weil ihr Nachwuchs nach Futter giert. Was ist, wenn Alarik einem Schwarm dieser Bestien begegnet ist, der sich gerade auf Nahrungssuche befand?«

»Ich weiß, dass du deinen Bruder über alles liebst, Alienor, und kann verstehen, dass du das Schlimmste befürchtest. Aber deine Angst ist unbegründet, glaube mir. Auch wenn ich nicht zu sagen vermag, wo Alarik sich im Augenblick aufhält oder wann er wieder zu uns in die Gralsburg zurückkehren wird, so bin ich mir doch ganz sicher, dass er noch am Leben ist.«

»Woher wollt Ihr das wissen, Herr?« Alienor blickte den Hüter des Lichts verdrossen an, und die Verzweiflung, die sie quälte, ließ sie die Stimme erheben. »Gerade habt Ihr zugegeben, dass Ihr nicht hellsehen könnt – und jetzt behauptet Ihr so etwas!«

Der alte Mann schüttelte milde lächelnd das Haupt. Die schlohweißen Haare und der lange Bart wurden von den Sonnenstrahlen, die durch die Fenster drangen, in sanften Glanz gehüllt. Das Rad der Zeit, der goldene Anhänger, den er an einer schlichten Kette um den Hals trug, blitzte hell auf und spiegelte das Licht. »Es gibt viele Dinge, die man weiß, ohne sie gesehen zu haben, meine Tochter. Mit dem Herzen kann man oftmals besser sehen als mit den Augen – und ich dachte, das sei auch dir bekannt, Alienor.«

Die Wangen des Mädchens röteten sich vor Scham. »Natürlich, Ihr habt recht«, antwortete es mit belegter Stimme. »Verzeiht meine Unbeherrschtheit, das wird nie wieder –«

»Schon gut!« Der alte Mann unterbrach Alienor und legte besänftigend die Hand auf ihre Schulter. »Du hast keinen Grund, dir Vorwürfe zu machen. Dein Verhalten beweist nur, wie sehr du dich um deinen Bruder sorgst, und das ist ein gutes Zeichen. Aber nun geh – Morwena wartet bestimmt schon auf dich!«

Alienor erschrak. »Natürlich«, sagte sie hastig, »das hätte ich beinahe vergessen.« Nach einer Verbeugung eilte sie davon, um sich zur Heilerin in den Krankentrakt zu begeben. Sie wollte gerade das Portal öffnen, das auf den Flur hinausführte, als Elysions Stimme sie innehalten ließ.

»Alienor!«

Das Mädchen drehte sich um. »Ja, Herr?«

»Vergiss niemals, was dir schon die Eltern beigebracht haben, als du noch auf Burg Gleißenhall im Güldenland gelebt hast: Vertraue auf die Kraft des Lichts – und du wirst niemals vergeblich hoffen!« Damit wandte er sich ab und sank in den Sessel zurück, der in der Nähe des lodernden Kaminfeuers stand.

Nachdem Alienor die Flügel der Tür hinter sich geschlossen hatte, verharrte sie im Flur. Ein leichter Schwindel hatte sie befallen, die Oberschenkel zitterten, und die Knie waren weich. Rasch lehnte sie sich an die Wand, schloss einen Augenblick die Augen und atmete tief durch, bis der Schwächeanfall vorüber war. Dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf.

Alienor war enttäuscht. Sie hatte so sehr gehofft, dass der Hüter des Lichts ihr die Angst nehmen könne, die sie plagte und gegen die sie sich nicht zu wehren vermochte. Die Angst, ihren Bruder nie wiederzusehen. Denn eines war ihr klar geworden: Etwas Ungeheuerliches musste geschehen sein, sonst wäre Alarik mit Sicherheit längst zu ihr zurückgekehrt. Schließlich war das Steppenpony, mit dem er zur Pforte geritten war, einen Tag später reiterlos vor den Mauern von Hellunyat aufgetaucht. Ihm musste etwas zugestoßen sein, sonst hätte er seinen Braunen gewiss nicht zurückgelassen. Aber der Bruder hatte nicht ein Lebenszeichen gesandt, obwohl er wissen musste, wie sehr sie ihn vermisste. Mit jedem Tag, der ohne eine Nachricht von Alarik verstrich, wuchs ihre Angst. Und plötzlich erkannte Alienor, dass es nur eine Lösung gab: Sie musste sich selbst auf den Weg machen, um nach Alarik zu suchen, auch wenn sie dabei ihr Leben aufs Spiel setzte.

2. Kapitel: Ein rätselhaftes Verschwinden

Laura schrie laut auf. Es war vorbei. Es gab keine Rettung mehr. Nur ein Wunder könnte sie noch davor bewahren, in die Höllenklamm zu stürzen. Der gähnende Abgrund war nur noch wenige Meter entfernt.

Es war ein alter Baumstumpf, der Laura das Leben rettete. Obwohl vollständig unter der Schneedecke verborgen, ragte er glücklicherweise so weit auf, dass sie mit dem Hinterteil dagegen stieß und ihre Rutschpartie abrupt gebremst wurde. Ihr war, als werde ein heißes Eisen jäh in ihren Rücken getrieben. Doch der Schmerz wurde von einem Gefühl grenzenloser Erleichterung überlagert. Noch wirbelte die Welt wie ein Malstrom vor Lauras Augen umher, aber bald beruhigte sich das wilde Kreiseln, und ihr Blick wurde klar. Fassungslos starrte sie in die Tiefe. Sie konnte den schäumenden Wildbach erkennen, der auf dem Grund der Höllenklamm in seinem Felsenbett dahin rauschte. Selbst der strenge Frost der letzten Tage hatte ihn nicht zu bändigen vermocht. Übelkeit stieg in Laura auf, und sie spürte einen Würgereiz im Hals.

Aber da war Kevin auch schon heran. Atemlos keuchend hielt er neben ihr an und beugte sich über sie. »Bist du okay? Hast du dir wehgetan?«

Laura verzog das Gesicht. »Keine Ahnung«, stöhnte sie. »Ich glaub, es ist alles in Ordnung.«

Langsam versuchte sie sich aufzurichten. Auch wenn sie jedes Körperteil spürte, gelang ihr das beinahe mühelos. Vorsichtig bewegte sie Arme und Beine, ließ den Kopf kreisen, reckte und dehnte sich – es war alles heil. Nichts war gebrochen, und auch Bänder, Sehnen und Muskeln schienen den fürchterlichen Sturz unbeschadet überstanden zu haben. Nur im Rücken war ein zunehmendes Puckern zu spüren, und die linke Wange schmerzte. Sie war aufgeschürft und blutete ein wenig.

Kevin schaute das Mädchen immer noch besorgt an. »Ist es sehr schlimm?«

»Geht so«, antwortete Laura und mühte sich zu einem Lächeln.

Der Junge atmete erleichtert auf. »Ein Glück! Das hat ja richtig übel ausgesehen. Was ist denn passiert? Du hattest doch sonst nie Probleme an dieser Stelle, oder?«

»Stimmt.« Für einen Moment starrte Laura nachdenklich vor sich hin. »Ich versteh das auch nicht. Die Bindungen sind ganz plötzlich aufgegangen, alle beide, und dann hab ich auch schon den Abflug gemacht.«

»Die Bindungen?« Kevin zog ein verwundertes Gesicht. »Aber – deine Ski sind doch ganz neu, oder?«

»Natürlich. Ich hab sie erst zu Weihnachten bekommen. Dass gleich beide Bindungen defekt sein sollen, ist schon mehr als merkwürdig, eigentlich so gut wie ausgeschlossen. Und deshalb glaube ich –«

Sie brach ab und starrte wie abwesend in die Ferne. Sie war plötzlich ganz ernst geworden.

»Was?«, bedrängte Kevin sie. »Was glaubst du?«

Laura schaute den Jungen eindringlich an. »Ich glaube, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht! Und ich habe auch schon einen Verdacht!«

»Du täuschst dich, Laura, ganz bestimmt!« Sayelle Leander-Rüchlin sah vom Abendbrotteller auf und musterte ihre Stieftochter kopfschüttelnd. »Das wäre schon ein großer Zufall, wenn Dr. Schwartz seinen Urlaub ebenfalls in Hinterthur verbringen würde! Hast du nicht erwähnt, dass er in die Karibik reisen wollte?«

»Ja, schon.« Laura nickte. »Jedenfalls hat er das erzählt. In der letzten Chemiestunde vor den Ferien. Aber vielleicht hat er sich kurzfristig anders entschieden.«

Sie stieß ihren Bruder an, der neben ihr saß und mit einer Riesenportion Dampfnudeln kämpfte. »Kannst du mir bitte die Schüssel rüberreichen?«

Lukas gab missmutige Laute von sich, griff dann aber doch zu der Terrine aus feinstem Porzellan, die vor ihm auf dem Tisch stand.

Während Laura sich von der Mehlspeise auftat, warf sie der Stiefmutter einen Verständnis heischenden Blick zu. »Wie auch immer – ich bin jedenfalls ganz sicher, dass dieser Mann in der Pistenwachtkluft niemand anderer als Quintus Schwartz gewesen ist.«

Sayelle verzog ungläubig das Gesicht. »Und ich bin sicher, dass du dich täuschst, ganz bestimmt. Selbst wenn es Schwartz gewesen sein sollte – was könnte das mit deinem Sturz zu tun haben?«

»Ähm … ich … ähm.« Laura wechselte einen raschen Blick mit Lukas. Der schüttelte kaum merklich den Kopf.

Lukas hatte recht. Ihre Stiefmutter durfte nicht erfahren, dass Laura vermutete, Dr. Schwartz, ihr Chemielehrer, habe den Unfall mithilfe seiner telekinetischen Fähigkeiten verursacht. Sayelle wusste nämlich immer noch nichts von den geheimnisvollen Dingen, die vor Weihnachten auf Burg Ravenstein vorgefallen waren. Sie ahnte nicht einmal, was für aufregende Abenteuer Laura und Lukas auf der Suche nach dem Kelch der Erleuchtung erlebt hatten. Welchen Gefahren sie ausgesetzt gewesen waren, bevor sie Professor Morgenstern und den Hüter des Lichts im letzten Augenblick vor dem sicheren Tod retten und damit die Erde und Aventerra vor dem Untergang bewahren konnten. Und natürlich hatten die beiden ihrer Stiefmutter auch verschwiegen, dass Laura eine besondere Aufgabe im ewigen Kampf des Guten gegen das Böse zugedacht war und sie als eine der Wächter über fantastische Fähigkeiten verfügte. Sayelle würde das ohnehin nicht verstehen – und schon gar nicht glauben. Für die Wirtschaftsjournalistin zählten lediglich Fakten, die jederzeit überprüfbar waren. Dass der Anführer der Dunklen auf Burg Ravenstein Lauras Skibindungen durch Telekinese gelöst haben könnte, würde Sayelle für völlig ausgeschlossen halten und als bloße Spinnerei abtun.

»Ähm«, räusperte sich Laura noch einmal. »Ich … äh … ich hab mich irgendwie irritiert gefühlt, als der Typ mich mitten im Steilhang überholt hat.«

»Aber Laura, da kann der arme Mann doch nichts dafür, oder?« Maximilian Longolius bedachte sie mit einem aufgesetzten Lächeln. Die Schweinsäuglein hinter seiner teuren Designerbrille funkelten.

»Natürlich nicht. Das hab ich ja auch nicht behauptet.« Rasch wandte Laura sich ab. Sie konnte Mister L einfach nicht ausstehen. Dabei hatte er ihr nichts zuleide getan. Im Gegenteil: Die Familie zum Wintersport einzuladen war sogar überaus großzügig von ihm. Auch wenn er sich damit nur bei Sayelle einschleimen wollte. Longolius hatte nämlich seit Langem ein Auge auf die junge Frau geworfen, und sie wahrscheinlich nur deswegen bei der ZEITUNG angestellt. Was nicht nur üble Gerüchte unter ihren Kollegen in Gang gesetzt, sondern auch Lauras Misstrauen geweckt hatte. Sayelle schien das keineswegs zu stören. Sie genoss Maximilians unverhohlene Anbaggerei und ließ keine Gelegenheit aus, in seiner Nähe zu sein.

Laura fand das ausgesprochen peinlich. Schließlich war Sayelle immer noch mit ihrem Vater verheiratet, der seit gut einem Jahr als vermisst galt. Natürlich konnte ihre Stiefmutter nicht wissen, dass Marius Leander von den Mächten der Finsternis nach Aventerra verschleppt worden war und im Verlies der Dunklen Festung, der unheimlichen Trutzburg des Schwarzen Fürsten Borboron, gefangen gehalten wurde. Aber das gab ihr noch lange nicht das Recht, Marius zu hintergehen. Schon gar nicht mit diesem schleimigen Maximilian Longolius, der etliche Jahre älter als Marius war und so steif, dass er selbst beim Abendessen Jackett und Fliege trug.

»Max und ich fahren nachher in die Stadt und gehen ins Theater.« Sayelle sah die Geschwister erwartungsvoll an. »Habt ihr nicht Lust, uns zu begleiten?«

»Nein, danke«, sagte Laura, während Lukas seine Ablehnung mit einer wortlosen Grimasse kundtat.

»Und was ist mit dir, Kevin?«

Auch der schwarz gelockte Junge machte kein begeistertes Gesicht. »Ach, wissen Sie«, sagte er gedehnt, »eigentlich wollten wir nach dem Essen das neue Quiz spielen.«

Verärgert verdrehte Sayelle die Augen. »Gute Güte, das könnt ihr doch auch morgen noch!« Ihre Stimme klang gereizt. »Die Inszenierung soll ganz ausgezeichnet sein, hab ich gelesen, und ihr hättet die einmalige Chance, ein außergewöhnliches Theaterereignis zu erleben!«

Mister L legte ihr mit sanftem Lächeln die Hand auf den Unterarm. »Lass gut sein, Sayelle! Wenn die jungen Leute andere Pläne haben, sollten wir sie nicht davon abhalten, nicht wahr?« Damit grinste er Laura und Lukas übertrieben freundlich an.

Widerlich!

Der Typ war einfach widerlich. Und irgendwie hinterhältig. Laura wusste nicht warum, aber sie hatte das merkwürdige Gefühl, dass mit Max Longolius etwas nicht stimmte. Bei dem Versuch, seine Gedanken zu lesen, hatte sie allerdings nichts Verdächtiges entdecken können. Trotzdem: Longolius war nicht zu trauen, das spürte sie einfach. Auch wenn er noch so freundlich tat.

»Möchte jemand von euch noch Nachtisch?«, fragte Max wie zur Bestätigung. »Eis? Pudding? Obst?«

»Eis wär nicht schlecht.« Lukas’ Augen glänzten bereits vor Vorfreude auf die Leckerei. »Mit Sahne, wenn’s geht.«

»Natürlich, mein Junge.« Mister L nahm die silberne Glocke vom Tisch und läutete. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und der Hausdiener trat geräuschlos ins Esszimmer.

Konrad Köpfer war ein hagerer Mann undefinierbaren Alters mit einer blassen Haut, die ihn kränklich aussehen ließ, und mit pumucklrotem Haar. Manchmal, wenn die Sonne darauf schien, kam es Laura so vor, als lodere ein Feuer auf seinem Kopf. Zudem hatte er etwas von einem Kater an sich. Kaum hörbar schlich er überall im Haus herum und tauchte ständig irgendwo auf, wo man ihn nicht vermutete. Er hatte Laura schon des Öfteren erschreckt, wenn er plötzlich wie aus dem Nichts neben ihr gestanden hatte. Am meisten jedoch gab ihr die rätselhafte Bemerkung zu denken, mit der Konrad sie bei ihrer ersten Begegnung begrüßt hatte. Damals, als die Familie am Bahnhof von Hinterthur angekommen war. Konrad hatte Laura kaum erblickt, da huschte ein vieldeutiges Lächeln über sein Gesicht – geradeso, als kenne er sie bereits. Und auf dem Weg zum Auto hatte er ihr zugeflüstert: »Hab ich ihr nicht prophezeit, dass sich unsere Wege wieder kreuzen werden!« Ohne jede weitere Erklärung, als wisse Laura schon, was er damit meinte. Dabei war sie ihm nie zuvor begegnet. Ganz bestimmt nicht. Konrad Köpfer musste sie mit einem anderen Mädchen verwechseln.

Der Diener also machte eine kleine Verbeugung und schaute den Hausherrn fragend an. »Der Herr haben geläutet?«

»Ja, Konrad. Sie können abräumen und das Dessert servieren. Eis für unsere jungen Gäste – und was möchtest du, Sayelle?«

»Danke, nichts«, antwortete sie und zog ein Gesicht wie nach einem unsittlichen Antrag.

Typisch!, dachte Laura. Sie hat nur Angst, ein Gramm zuzunehmen. Dabei ist sie spindeldürr.

Sayelle ähnelte den magersüchtigen Models in den exklusiven Modezeitschriften, die sie mit größter Vorliebe studierte. Offensichtlich setzt sie ihren ganzen Ehrgeiz daran, die darin vorgestellten Designerfummel auch selbst tragen zu können, dachte Laura. Na ja, soll sie doch – solange sie von mir nicht das Gleiche erwartet!

Kurz nach dem Essen klingelte Lauras Handy. Es war ihre Freundin Kaja, die sich aus dem Urlaub meldete. Laura strahlte über das ganze Gesicht. »Hey, wie geht’s dir denn?«

»Eigentlich ganz gut.« Obwohl Kaja Tausende von Kilometern weit weg war, konnte Laura sie so deutlich verstehen, als rufe sie aus dem Nachbarort an. »Das Hotel hier ist einfach spitze, und Nevis ist schlichtweg ein Traum.«

Nevis war ein kleines Eiland in der Karibik und zählte zu den Inseln über dem Wind. Eine Trauminsel mit Sonne, Palmen und Meer. Klar, dass Kaja sich auf den Urlaub mit ihren Eltern gefreut hatte!

»Hört sich ja alles super an«, sagte Laura ohne Neid.

»Ist es ja auch.« Kaja klang allerdings alles andere als begeistert. »Bis auf zwei Ausnahmen: Erstens nerven mich meine Alten mit jedem Tag mehr. Von morgens bis abends meckern sie an mir rum.«

»Du Ärmste!« Laura empfand aufrichtiges Mitleid mit der Freundin. Kaja verbrachte fast das gesamte Jahr im Internat Ravenstein und war immer nur kurze Zeit mit den Eltern zusammen. Umso bedauerlicher, wenn es dann Stress gab.

»Aber weißt du, was der größte Hammer ist?« Kaja schien regelrecht empört zu sein. »Stell dir vor, wer noch in unserem Hotel Urlaub macht!«

»Keine Ahnung.«

»Halt dich fest, Laura: In unserem Hotel wohnt auch – Pinky!«

»Nein!« Lauras Gesicht verriet echtes Entsetzen. Rebekka Taxus, die von allen Schülern auf Ravenstein gefürchtete Mathe- und Physiklehrerin, in der Schulzeit ertragen zu müssen war schon schlimm genug. Der widerwärtigen Schnepfe, die an allen herummeckerte und insbesondere Laura das Leben so schwer wie möglich machte, allerdings auch noch in den Ferien zu begegnen, das grenzte fast an Folter.

Kein Wunder, dass Kaja sauer war!

Plötzlich kam Laura ein Gedanke. »Wohnt zufällig auch Dr. Schwartz in eurem Hotel?«

»Oh, nö, das hätte noch gefehlt. Nicht dass ich wüsste. Würde mich aber nicht wundern, wenn der auch auftaucht. Pinky und er wollten doch zusammen in Urlaub fahren, oder?«

»Stimmt. Zumindest hat Schwartz das erzählt.«

»Ich geb dir sofort Bescheid, wenn ich ihn sehen sollte. Jetzt muss ich aber Schluss machen. Es gibt gleich Mittagessen, und ich hab einen Bärenhunger. Tschau, Laura.«

Das Quiz machte überhaupt keinen Spaß. Was weniger am Spiel lag, sondern daran, dass Lukas jede Frage beantworten konnte, auch die kniffeligste. Laura und Kevin hatten nicht die geringste Chance gegen ihn, obwohl er jünger war. Sogar die Millionenfrage, die Laura unlösbar vorkam, bereitete ihm keine Probleme: »Wie lautet der offizielle Name von Südkorea? A: Celau hua Celau? B: Taehan Min’guk? C: Chung-mi Ho-tau? Oder D: Taki-Nipon-Chi?«

Als Lukas einen Moment zögerte und nachzudenken schien, freute Laura sich schon, in dem Glauben, ihn endlich dabei erwischt zu haben, dass er etwas nicht wusste. Aber dann ging das typische Grinsen über sein Gesicht – und ihr wurde klar, dass er nur deswegen mit der Antwort gewartet hatte, um sie in falscher Hoffnung zu wiegen.

»Die richtige Antwort ist B.« Lukas lächelte triumphierend. »Der offizielle Name von Südkorea lautet Taehan Min’guk!«

Damit hatte er gewonnen.

Natürlich.

Laura machte ein missmutiges Gesicht. »Ich hab keine Lust mehr.«

»Wie wär’s mit einem Computerspiel?«, schlug Kevin vor. »Age of Empires?«

»Ach, lieber nicht.« Laura schüttelte gelangweilt den Kopf. »Und im Fernsehen gibt’s auch nichts Vernünftiges.« Sie griff sich die Tageszeitung, schlug sie auf und studierte die Anzeige des örtlichen Kinos. Mist! Die Vorstellung hatte bereits begonnen. Aber dann entdeckte sie, dass am nächsten Abend Der Herr der Ringe auf dem Programm stand. »Super!«, jubelte sie und sah Lukas und Kevin erwartungsvoll an. »Kommt ihr mit?«

Der Bruder rümpfte angewidert die Nase. »Den kenn ich schon fast auswendig! Und du mit Sicherheit auch. Du hast ihn doch mindestens dreizehnmal gesehen!«

»Quatsch! Die zeigen doch den zweiten Teil! Da war ich erst siebenmal drin.« Verärgert wandte sie sich an Kevin. »Kommst wenigstens du mit?«

»Sorry, Laura, aber ich kenn den Film auch schon.«

»Na, und? Daran kann man sich doch einfach nicht sattsehen!«

Aber Kevin und Lukas tauschten nur einen müden Blick.

»Na gut«, sagte Laura trotzig. »Dann schau ich ihn mir eben alleine an.« Verärgert erhob sie sich und ging zur Tür. Die Typen konnten ihr gestohlen bleiben!

Die Küche war picobello aufgeräumt. Als Laura das Licht einschaltete, spiegelte es sich in den blitzblank gewischten Bodenfliesen. Die Uhr tickte laut vor sich hin, und der Kühlschrank an der Wand gegenüber der Tür summte leise. Die durstige Laura ging darauf zu, als sie plötzlich eine Eingebung hatte. Ich muss meine besonderen Fertigkeiten trainieren, überlegte sie. Je eher ich sie richtig beherrsche, desto besser.

Das Mädchen blieb stehen und sammelte sich. Mit zusammengekniffenen Augen starrte Laura auf die metallisch glänzende Kühlschranktür, bemüht, all ihre Gedanken und Willenskraft darauf zu lenken. Öffne dich!, befahl sie der Tür. Gehorche mir, und geh auf!

Zunächst tat sich nichts. Doch Laura ließ sich nicht beirren. Sie hatte inzwischen gelernt, dass man nicht gleich aufgeben durfte, wenn etwas nicht auf Anhieb klappte.

Sie versuchte sich noch besser zu konzentrieren. Nur die Vorstellung der sich öffnenden Eisschranktür hatte Platz in ihrem Kopf, alles andere trat dahinter zurück. Sie hörte das Ticken der Uhr nicht mehr, und auch das Brummen der dicken Fliege, die in der Nähe durch die Luft surrte, nahm sie nicht wahr. Ihr Bewusstsein galt einzig und allein dem Kühlschrank.

Öffne dich! Geh auf!

Schließlich geschah es: Die Tür sprang mit einem sanften Schmatzen auf und schwang ihr langsam entgegen.

Na also. Geht doch!

Laura freute sich. Die fantastischen Kräfte, die sie als Kriegerin des Lichts dringend benötigte, beherrschte sie allmählich immer besser. Schon bald würde sie den erwachsenen Wächtern Percy Valiant, Miss Mary und selbst Professor Aurelius Morgenstern nicht mehr nachstehen. Aber Laura wusste auch, dass es dazu ständiger Übung bedurfte. Das hatten ihr die drei Lehrer eingeschärft, die im Kampf gegen die Dunklen Mächte mit ihr im Bunde waren und sie anleiteten.

Also weiter!

Im Getränkefach der Kühlschranktür stand eine volle Flasche. »Power Cola« war auf dem Etikett zu lesen. Die Marke war Laura völlig unbekannt. Die Eineinhalb-Liter-Flasche war vermutlich viel zu schwer, um sie mit purer Willenskraft zu bewegen. Das schaffte sicherlich nur ein Meister vom Schlage eines Professor Morgenstern. Aber versuchen konnte sie es ja mal.

Laura fixierte die Flasche mit der fast schwarzen Flüssigkeit. Ihre Augen funkelten vor Energie, während sie sich mühte, der dicken Brausepulle ihren Willen aufzuzwingen. Zunächst wollte es ihr nicht gelingen, doch dann begann die Flasche zu rucken, mehr und mehr, um schließlich ein Stück emporzuschweben und munter hin und her zu wackeln, als werde sie von unsichtbarer Hand geschüttelt. Aber sie ganz aus der Tür zu heben gelang Laura nicht.

Sie war trotzdem zufrieden. Es war schließlich das erste Mal, dass sie einen solch schweren Gegenstand mittels ihrer telekinetischen Fähigkeiten bewegt hatte. Unbändige Freude erfüllte das Mädchen – und als sein Blick auf die Eier in der Ablage fiel, wurde es übermütig.

Wieder kniff Laura die Augen zusammen und starrte auf das dickste Ei. Nur Augenblicke später begann es zu vibrieren, um dann, wie an einer Schnur gezogen, in die Höhe zu steigen und auf sie zuzuschweben. Gleich einem Miniaturluftschiff glitt es langsam und völlig geräuschlos quer durch die Küche.

»Was treibt sie denn da?« Die grimmige Stimme von Konrad Köpfer riss Laura aus der Versenkung. Das Ei stürzte wie ein Stein in die Tiefe und zerplatzte mit einem satten »Plopp« auf den Fliesen. Eierschalen, Eigelb und Eiweiß verbreiteten sich auf dem frisch gewienerten Küchenboden.

»Beim Beelzebub!« Konrad Köpfers Gesicht lief rot an vor Zorn, und seine Augen loderten. »Als hätt ich den Boden nicht grad eben gescheuert!«

»Tu … tu … tut mir leid«, stammelte Laura. Der Hausdiener war nicht wiederzuerkennen in seiner Wut. »Ich … ähm … ich wisch das auch wieder weg!«

»Red sie nicht so ein dummes Zeug!«, blaffte Konrad. »Ein solches Tun steht nur mir zu. Was glaubt sie denn, wie mein Herr mir die Leviten lesen wird, wenn das an sein Ohr dringt!« Damit holte der Feuerkopf ein Putztuch aus dem Unterschrank und machte sich daran, das zermatschte Ei zu beseitigen.

Laura wollte sich schon still und leise verdrücken, als ihr wieder einfiel, aus welchem Grunde sie in die Küche gekommen war. Sie zögerte einen Moment, denn sicherlich war es nicht ratsam, den wütenden Köpfer noch mehr zu reizen. Dann holte sie doch eine Flasche Saft aus dem Kühlschrank.

Als Laura sich an dem Hausdiener vorbeidrückte, hob der plötzlich den Kopf und starrte sie aus Augen an, in denen ein Höllenfeuer zu brodeln schien. »Das wird sie mir büßen, die vermaledeite Hexe!«, zischte er und klang mit einem Male ganz sonderbar.

Gar nicht wie ein Mensch. Eher wie ein wütender Drache oder ein anderes Untier, das sein Jagdfieber nur mühsam unterdrücken konnte.

Ein beklemmendes Gefühl stieg in Laura auf, und sie fror plötzlich.

*

Ritter Paravain sah Alienor tadelnd an. »Das kann nicht sein.« Der Anführer der Leibgarde klang ungehalten. »Das hätte ich gemerkt, glaub mir!« Kurzerhand wandte er sich ab und ließ seinen Blick wieder über das Dutzend junger Männer schweifen, das sich unter seiner Anleitung im Schatten der Südmauer von Hellunyat im Schwertkampf übte. Die Sonne stand hoch über der Gralsburg und trieb den Knappen den Schweiß in die vor Anstrengung geröteten Gesichter, während das Klirren der Waffen durch die hitzeflirrende Luft des Nachmittags hallte.

Das Mädchen mit den blonden Zöpfen verzog das Gesicht und schwieg für einen Moment. Es hatte zwar nicht erwartet, dass Paravain ihm auf der Stelle zustimmen würde. Dass er sie aber so schroff abblitzen ließ, traf Alienor tief. »Und warum hat Alarik Schmatzfraß mitgenommen?«, fragte sie trotzig. »Damals, als er sich in die Dunkle Festung einschleichen wollte, hat er seinen Swuupie doch auch in meiner Obhut zurückgelassen! Als er dagegen mit Euch zur magischen Pforte aufgebrochen ist, hat er das Tier bei sich gehabt.«

Paravain drehte sich zu ihr um und schaute sie zweifelnd an. »Davon hab ich nichts bemerkt.«

»Wie auch? Alarik hatte Schmatzfraß unter seinem Wams versteckt, damit Ihr ihn nicht seht.«

Die Strahlen der Sonne ließen die Rüstung des jungen Recken blitzen. Finster kniff er die Augen zusammen. »Und was folgerst du daraus?«

»Nun …« Alienor brach ab, weil selbst ihr der Gedanke reichlich abwegig erschien. Dann aber überwand sie sich doch, die Vermutung auszusprechen, die ihr bereits gekommen war, nachdem sich ihr Bruder überaus herzlich von ihr verabschiedet hatte. »Vielleicht ist Alarik durch die magische Pforte geschritten, um sich auf den Menschenstern zu begeben.«

Paravains Gesicht verfinsterte sich noch mehr. »Unsinn, Alienor! Du weißt ganz genau, dass das nicht sein kann!«

»Warum denn nicht, Herr? Schließlich habt Ihr bislang keine Spur von ihm entdecken können, obwohl Eure Weißen Ritter –«

»Weil es unmöglich ist!«, unterbrach Paravain sie heftig, »so glaub mir doch endlich! Einem Knappen ist es strengstens verboten, die Pforte zu durchschreiten …«

Das Mädchen räusperte sich und wollte schon einwerfen, dass gerade das einen besonderen Anreiz darstellen mochte, ließ es aber bleiben, als es den tadelnden Blick Paravains bemerkte. »Dieses Verbot wurde doch nicht ohne Grund ausgesprochen, Alienor, das weißt du ganz genau! Wer sich ohne ausreichende Vorbereitung auf den Menschenstern begibt, bringt sich in größte Gefahr. Die Verhältnisse dort sind doch ganz anders als in unserer Welt. Jeder, der auf unseren Schwesterstern reisen möchte, muss sich erst eingehend mit ihm vertraut machen. Ansonsten wird er sein Unterfangen möglicherweise mit dem Leben bezahlen. Insbesondere, wenn er gezwungen ist, sich für längere Zeit dort aufzuhalten.«

Alienor wurde aschfahl. Sie wollte zu sprechen anheben, als der Weiße Ritter ihr mit einer raschen Geste zu schweigen gebot. »Ich weiß, was du sagen willst. Das Verbot alleine hätte Alarik nicht abgeschreckt, und dass er bereit ist, den Tod in Kauf zu nehmen, um der Sache des Lichts zu dienen, hat er hinlänglich unter Beweis gestellt, als er in die Dunkle Festung einzudringen versuchte.«

»Genauso ist es, Herr, und deswegen ist es doch möglich, dass Alarik –«

»Nein!« Der Ritter schüttelte so heftig den Kopf, dass sein halblanges braunes Haar aufgewirbelt wurde. »Ganz bestimmt nicht! Erinnere dich doch, Alienor: Ich selbst habe während der gesamten Nacht der Wintersonnenwende an der magischen Pforte Wache gestanden und voller Sehnsucht darauf gewartet, dass der Kelch der Erleuchtung zu uns zurückgebracht wird. Ich habe mich nicht von der Stelle gerührt, bis die Pforte sich wieder geschlossen hat. Wenn Alarik sie durchschritten hätte, wäre mir das doch aufgefallen!«

Das Mädchen schluckte und schaute Paravain aus großen Augen an. »Aber … wo mag er sonst sein, Herr?«

»Um das herausfinden, durchstreifen meine Ritter seit Tagen die Lande von Aventerra, und wir werden nicht eher ruhen, bis wir deinen Bruder gefunden haben – das verspreche ich dir!«

Paravain schenkte Alienor ein Lächeln und wollte sich schon abwenden, als das Mädchen nach seinem Arm griff und ihn am Ärmel zupfte. »Ähm … Herr?«, sagte sie kaum hörbar.

Der Ritter fuhr herum und sah sie unwirsch an. »Was denn noch?«

»Ähm … darf ich mich an der Suche beteiligen, Herr?«

»Das fehlte gerade noch!« Paravain schnaubte genervt. »Als ob ich mir nicht schon genug Vorwürfe machen würde, dass mir mein Knappe abhandengekommen ist!«

Als der Ritter sah, dass das Mädchen den Tränen nahe war, mäßigte er seine Stimme und lächelte. »Ich weiß, dass du dich um deinen Bruder sorgst.« Besänftigend legte er die Hand auf Alienors Schulter. »Aber es würde uns nicht im Geringsten helfen, wenn du uns auf unseren Streifzügen begleiten würdest – und deinem Bruder erst recht nicht!« Damit wandte Paravain sich ab, schritt auf einen der Knappen zu und korrigierte mit ruhiger Stimme dessen Schwerthaltung.

Gedankenverloren ging Alienor davon. Eigentlich klang es ja ganz einleuchtend, was der Ritter ihr dargelegt hatte. Aber wenn Alarik sich wirklich nicht auf dem Menschenstern befand, wo konnte er dann sein? Es war doch nicht möglich, dass jemand spurlos verschwand!

Mit einem Male blieb sie stehen und erbleichte. War es nicht denkbar, dass er in die Hände der Dunklen Mächte geraten war? Wem es wie Borboron und seinen Kriegern gelang, in die schwer bewachte Gralsburg einzudringen, für den war es doch ein Kinderspiel, mit einem Knappen wie Alarik fertig zu werden! Vielleicht hatten sie ihn ja längst in die Dunkle Festung verschleppt, wo er nun sein Leben als Sklave fristete oder sogar schon …

Aber der Gedanke war so schrecklich, dass Alienor ihn ganz schnell verscheuchte.

3. Kapitel: Der schwarze Lieferwagen

Am nächsten Tag besichtigten Laura und die Jungen die Skeletonbahn. Hinterthur war einer der wenigen Wintersportorte, die über eine Naturbobbahn verfügten. Richtige Bobrennen wurden in dem sich einen steilen Hang hinunterschlängelnden Eiskanal eher selten ausgetragen. Dafür war die Bahn zu eng, und man beschränkte sich lieber aufs Skeletonfahren.

Laura hatte nicht die geringste Ahnung, was es damit auf sich hatte. Obwohl es ihr widerstrebte, bat sie den Bruder um Auskunft.

Wie befürchtet, legte sich augenblicklich ein überhebliches Lächeln auf sein Gesicht. »Hab ich’s mir doch gedacht, dass du das nicht weißt, du Spar-Kiu!«

Laura verdrehte die Augen und wollte schon zu einer heftigen Erwiderung ansetzen, als Kevin sich zu Wort meldete: »Ich weiß das auch nicht, Lukas. Und du hast wirklich keinen Grund, dich darüber lustig zu machen. Ich wette, dass die wenigsten wissen, was ein Skeleton ist, oder?«

Lukas hörte auf zu grinsen, und seine Wangen färbten sich sogar ein wenig rot. »Ist ja gut«, brummte er, bevor er sein lexikalisches Wissen über die Freunde ergoss. »Bei einem Skeleton handelt es sich um einen flachen, fast vollständig aus Stahl gefertigten Sportschlitten, der dem ursprünglich bei den Indianern Nordamerikas gebräuchlichen Transportschlitten nachempfunden wurde. Im Gegensatz zum Rodeln, bei dem man auf dem Rücken liegt, rast man beim Skeleton bäuchlings und mit dem Kopf voran die Eisbahn hinunter.«

Am oberen Ende der Eisrinne stand eine Holzhütte. Von der davor liegenden Terrasse hatte man einen guten Blick über die Anlage. Skeletonfahrer müssen ganz schön verwegene Typen sein, ging es Laura durch den Kopf, nachdem sie einige Läufe beobachtet hatte. Aufgrund der rasenden Geschwindigkeit kippte immer mal wieder ein Schlitten um. Einige Stürze sahen ziemlich übel aus, sodass sie schon vom bloßen Zusehen Schmerzen verspürte. Die Fahrer rappelten sich zwar allesamt wieder hoch, aber einige humpelten und konnten nur unter Mühen davon gehen. Es gehörte wohl einiges an Mut dazu, eine solche Fahrt zu wagen.

»Tja – Skeleton ist halt nichts für Weicheier!«, hörte sie da eine Stimme neben sich.

Überrascht drehte Laura sich um und sah einen Mann, der aus der Hütte auf die Terrasse getreten war. Er trug eine Pudelmütze und hatte die Hände in den Taschen seines dunkelblauen Overalls vergraben – offensichtlich war er ein Service-Mann, der im Augenblick nichts zu tun hatte.

Sepp Riedmüller – der Name stand auf einem Aufnäher auf seiner Dienstkleidung – gesellte sich zu den Freunden und deutete auf den Eiskanal. »Die Bahn hier hat ein paar ganz kniffelige Kurven, und deshalb muss man höllisch aufpassen, wenn man die Fahrt heil überstehen will.«

Wie zum Beweis schoss im Mittelteil der Strecke gerade ein Schlitten gegen die oberste Begrenzung, kippte um und überschlug sich mitsamt Fahrer. Der Mann hielt sich eisern an seinem Gefährt fest und schlitterte mit ihm unkontrolliert weiter, bis er nach mehr als fünfzig Metern endlich zum Halten kam. Glücklicherweise schien ihm nichts passiert zu sein. Er richtete sich fast mühelos auf und verließ die Bahn.

Laura wandte sich an Riedmüller. »Wie wird so ein Skeleton eigentlich gelenkt?«

»Einzig und alleine durch Gewichtsverlagerung«, erklärte der Mann mit der Pudelmütze. »Und es dauert natürlich seine Zeit, bis man den Kniff richtig raus hat. Deshalb sind insbesondere für Anfänger Stürze nicht zu vermeiden, auch wenn die meisten glimpflich enden. Aber manchmal …« Riedmüller brach ab und zog ein gequältes Gesicht – offensichtlich kam es gelegentlich wohl doch zu schwereren Verletzungen! »Und den Wahnsinnigen, der im letzten Jahr unbedingt auf seinen Skiern durch die Bahn fahren musste, den hat’s natürlich auch übel erwischt. Schließlich erreicht man dabei irre Geschwindigkeiten, und wenn man da nicht aufpasst, katapultiert einen die Fliehkraft aus der Bahn!«

Sepp erwies sich als absoluter Skeletonexperte und konnte alle Fragen der drei erschöpfend beantworten. Er erläuterte die Besonderheiten der Hinterthurer Bahn, erklärte die Bauweise der Schlitten und gab Auskunft zur Fahrtechnik, sodass es den Freunde schon nach kurzer Zeit so vorkam, als seien sie mit allen Geheimnissen des Sports bestens vertraut. Als Riedmüller sie aber zu einer Fahrt einlud – in der Hütte konnte man Schlitten und Helme leihen – kniffen sie dann doch.

»Nein, danke.« Lukas zog ein skeptisches Gesicht. »Ich bin doch nicht lebensmüde.«

»Außerdem haben wir keine Zeit«, setzte Kevin rasch hinzu. »Wir müssen nämlich nach Hause, zum Essen!«

»Bitte – wie ihr wollt!« Sepp Riedmüller grinste breit und zog sich in die Service-Station zurück.

Erst als Laura mit Lukas und Kevin die Terrasse verließ und den Heimweg einschlug, fiel ihr der Schneemann auf, der neben der Hütte stand. Er war richtig groß – über zweieinhalb Meter hoch. Zudem schaute er reichlich grimmig drein für einen Schneemann. Fast böse. Wer immer ihn erbaut haben mochte, musste an dem Tag ziemlich übel drauf gewesen sein. Sonst hätte er ihm wohl kaum einen solch mürrischen Ausdruck verpasst, der eher zum Vögelverscheuchen oder Kindererschrecken taugte als dazu, anderen Freude zu bereiten.

Laura blieb stehen und musterte ihn. Merkwürdig!, dachte sie. Schon wegen dieser fiesen Fratze hätte der Kerl mir doch auffallen müssen. Sie zuckte mit den Achseln, bevor sie den Jungen wieder hinterher lief. Dass der mächtige Schneemann plötzlich den Kopf drehte und ihr nachblickte, bekam sie deshalb gar nicht mit.

Der Schneekoloss fixierte das Mädchen mit seinen Kohleaugen, die von abgrundtiefer Schwärze waren. Und plötzlich hatte es den Anschein, als bewege er sich von der Stelle.

Der Junge in seinem Versteck strich sich das blonde Haar aus der Stirn und spähte ängstlich auf den Mann mit der Knollennase und den spitzen Ohren, der sich auf dem Parkweg unaufhaltsam näherte. Ein Sack aus grobem Leinen hing über dessen Schulter. Doch der Mann schenkte dem halb verfallenen Gartenhaus keinerlei Beachtung. Den Blick starr auf den Boden gerichtet, schlurfte er achtlos daran vorbei. Ein pestilenzartiger Gestank stieg dem Jungen in die Nase. Er muss aus dem Sacke kommen. Als ob ein Kadaver darin wäre, dachte er gerade, als er ein Flattern in der Luft hörte.

Der Blonde schaute auf – und sah einen großen Krähenschwarm heranrauschen. Die schwarzen Vögel begannen zu kreisen, ein riesiger schwarzer Wirbel vor dem bleiernen Grau des Himmels, und dann folgten sie dem Mann mit dem Sack, der sich in Richtung Wald entfernte. Wenig später waren er und die Krähen verschwunden.

Der weitläufige Park war nun menschenleer, kein lebendes Wesen war mehr zu entdecken. Er konnte es also wagen.

Er musste es einfach wagen! Wenn er nicht bald etwas zu Essen bekam, würde er verhungern.

Der Junge wusste nicht mehr, wie lange er sich schon in dem unbekannten Land aufhielt. Wie viele Tage mochten seit der Wintersonnenwende verstrichen sein? Seine Ankunft auf der kleinen Insel im See schien ihm eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen. Er wunderte sich gerade, wie einfach es gewesen war, dorthin zu gelangen, als ein Mädchen auf einem Pferd heran preschte. Er konnte sich gerade noch hinter einem Busch verstecken. Als Pferd und Reiterin wieder verschwunden waren, hatte er jedoch zu seinem Schrecken feststellen müssen, dass ihm der Rückweg versperrt war. Er konnte nicht mehr nach Hause zurück.

Zumindest vorerst nicht.

Zunächst war er wie gelähmt gewesen. Wie sollte er sich in der Fremde zurechtfinden? Wie sollte er überleben, abgeschnitten von Freunden und Gefährten? Doch dann hatte er sich an seine gute Ausbildung erinnert. Er hatte den besten Lehrmeister gehabt, den man sich nur wünschen konnte, und alles gelernt, was nötig war, um selbst eine anscheinend aussichtlose Lage zu überstehen. Am Wichtigsten war es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Und vor allem stets auf die Kraft des Lichts zu vertrauen, dann würde sich alles zum Besten wenden.

Also hatte der Junge sich einen sicheren Unterschlupf gesucht, der sowohl Schutz vor der Witterung wie vor Entdeckung bot. Den Einheimischen würde sofort auffallen, dass er aus einer fernen Welt stammte. Und was sie dann mit ihm anstellen würden, war fraglich. Würden sie ihm Gastfreundschaft gewähren – oder würden sie ihn einkerkern oder gar töten? Der Blonde wusste es einfach nicht, und so entschied er, dass es besser war, sich zu verbergen.

Obwohl er weder einen Kahn noch ein Floß auf der Insel finden konnte, fiel es ihm nicht allzu schwer, das Eiland zu verlassen. Er hatte gelernt, sich so tief in sich selbst zu versenken, dass er äußere Einflüsse nicht mehr registrierte. Die eisigen Wasser hatten ihm deshalb nicht das Geringste anhaben können, während er den See durchschwamm, um ans jenseitige Ufer zu gelangen.

Geleitet von den Mächten des Lichts, war er schon nach kurzer Zeit auf das halb verfallene Gemäuer in der hintersten Ecke des weitläufigen Parks gestoßen, der sich vom See bis zu der stattlichen Burg auf der Anhöhe erstreckte. Die Tür war nicht verriegelt, sodass der Junge mühelos in das Häuschen eindringen konnte. Darin hatte er sich inmitten von Gerümpel ein Lager bereitet und hielt sich dort versteckt. Bei Nacht hatte er Holz im Park und im nahen Wald gesammelt und ein Feuer entfacht, an dem er sich gewärmt und seine Kleider getrocknet hatte. Der See bot ihm reichlich zu trinken, nur an Nahrung mangelte es ihm. Es gab kaum Wild in der Umgebung, und da er keine Waffen mit sich führte, war es ohnehin aussichtslos, sich auf die Jagd zu begeben. Nur eine altersschwache Ente war in eine der Fallen gegangen, die er aufgestellt hatte. Ihr Fleisch war zäh wie altes Leder, aber allemal besser als nichts und hatte ihn für einige Zeit versorgt. Doch nun hatte er schon seit Tagen keinen Bissen mehr zwischen die Zähne bekommen. Sein Magen knurrte wie ein wütender Wolf, und am Morgen, nach dem Aufwachen, war ihm schwarz vor Augen geworden, so sehr quälte ihn der Hunger. Er musste dringend etwas unternehmen, wenn er nicht in der Fremde sterben wollte. Er hatte beschlossen, sich in die Burg zu schleichen, wo er mit Sicherheit etwas Essbares finden würde.

Erneut spähte der Junge nach draußen. Dann öffnete er die Tür. Die rostigen Angeln quietschten. Zum Glück standen die anderen Häuser im Park zu weit entfernt, als dass ihren Bewohnern das Geräusch hätte auffallen können.

Ein eisiger Wind schlug dem Jungen entgegen. Er hob den Kopf und sog die Luft durch die Nase ein wie ein wildes Tier. Sofort wusste er, dass es in Kürze schneien würde. Er konnte den Schnee riechen. Eine dicke weiße Decke würde das ganze Land überziehen und ihn zwingen, in seinem Versteck zu bleiben. Andernfalls würden die Fußabdrücke im Schnee ihn verraten und die Fremden auf seine Spur führen. Deshalb war schnelles Handeln geboten. Er musste die Gelegenheit nutzen, sich einen ausreichenden Essensvorrat anzulegen. Schon bald konnte es zu spät dazu sein.

Noch einmal sah sich der Junge nach allen Seiten um. Dann huschte er geduckt auf die Burg zu. Geschickt nutzte er die mächtigen Baumstämme als Deckung, während er sich Meter um Meter der efeubewachsenen Festung näherte.

Unbemerkt gelangte er in das Gebäude. Seine feine Nase ließ ihn die Vorratskammer in kürzester Zeit aufspüren. In sie einzudringen war ein Kinderspiel – sie war nicht einmal abgeschlossen.

Der Junge zog die Tür hinter sich zu und blickte sich in dem großen Raum um, in dem ein dämmeriges Zwielicht herrschte. Seltsamerweise konnte er nirgends eine Kerze oder eine Fackel entdecken. Und wenn schon – er würde auch so zurechtkommen. Schließlich hatte er gelernt, nicht nur auf die Augen, sondern auch auf die anderen Sinne zu vertrauen und sich selbst in tiefster Nacht zu orientieren.

Der würzige Geruch von Würsten und Schinken stieg ihm in die Nase, und der Duft von geselchtem Fleisch und Gänseschmalz ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Dann roch der Junge die Äpfel. Ihr süßer Wohlgeruch entlockte ihm einen kleinen Freudenschrei. Eilig trat er zu dem Brett mit den Früchten, griff sich einen der rotbackigen Äpfel und biss hinein. Hmmm – wie das schmeckte! Gierig schlang er das köstliche Obst hinunter und griff gerade nach dem nächsten Apfel – als ihn gleißendes Licht blendete. Erschrocken fuhr der Junge herum.