Laura und der Fluch der Drachenkönige - Peter Freund - E-Book
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Laura und der Fluch der Drachenkönige E-Book

Peter Freund

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Beschreibung

Das vierte Abenteuer für Laura auf Aventerra: Der Schwarze Fürst Borboron hält noch immer Lauras Vater gefangen. Laura muss deshalb unbedingt das sagenumwobene Sterneneisen finden. Nur damit kann das zerbrochene Schwert Hellenglanz, eine unverzichtbare Waffe zur Verteidigung des Guten, wieder zusammengeschmiedet werden. Allerdings befindet sich das seltene Metall im Besitz der Drachenkönige von Aventerra, und diese schützen es durch einen bösen Fluch. Laura ist völlig verzweifelt und scheint hoffnungslos verloren. Erst als sie sich auf ihre besonderen Gaben besinnt, schafft sie es, ihren Vater zu befreien. Aber die beiden wähnen sich zu früh in Sicherheit: Denn plötzlich taucht der doppelköpfige Drache Gurgulius auf, der Laura mit abgrundtiefem Hass verfolgt.

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Peter Freund

Laura und der Fluch der Drachenkönige

Roman

Für meinen Papa,einen wahren Krieger des Lichts

1. Kapitel:Das verwunschene Tal

Der Himmel spannte sich wie ein riesiges blaues Zelt über die Welt von Aventerra. Die Sonne stand hoch im Zenit und sandte sengende Strahlen auf das Fatumgebirge hinunter. Um die schroffen Gipfel flirrte die Hitze, und selbst in den engen Gebirgstälern war es unerträglich heiß. Auch in der Talsenke, die sich in die Ostseite des Gebirges fraß, herrschten Temperaturen wie in einem Backofen. Die Luft, die sich unter dem dichten Dach der Baumwipfel staute, war so feucht, dass die Blätter und Blüten des tropischen Dschungels glänzten wie von frischer Farbe überzogen.

Das braune Lederwams klebte Laura Leander am Oberkörper, und ihre Jeans waren so schwer, als seien sie mit Wasser vollgesogen. Nur mit Mühe konnte das Mädchen in der schwülen Luft atmen. Der Rucksack mit den drei Bruchstücken von Hellenglanz, dem Schwert des Lichts, lastete gleich einem Mühlstein auf seinem Rücken. Keuchend vor Anstrengung, zügelte es das Pferd. Sturmwind blieb sofort stehen. »Ho, mein Alter, ho«, ächzte Laura. »Lass uns einen Augenblick verschnaufen.«

Der Hengst bewegte träge den Kopf und ließ ein zustimmendes Schnauben hören. Auch sein Fell war von dunklen Schweißflecken gezeichnet, Schweif und Mähne troffen vor Nässe. Lauschend stellte der Schimmel die spitzen Ohren auf und spähte aus den großen schwarzen Pferdeaugen aufmerksam nach vorn, wo sich der schmale Pfad zwischen den Bäumen verlor.

Laura war der Erschöpfung nahe. Kraftlos hing sie im Sattel. Sie fühlte einen stechenden Schmerz in der Brust, ihre Lunge rasselte wie ein asthmatischer Blasebalg. Schwerfällig wischte sie sich das nasse Blondhaar aus der Stirn. Salzige Schweißtropfen rannen ihr in die Augen und brannten wie Feuer. Für einen Moment konnte Laura den Dschungelpfad, dem sie seit dem frühen Morgen folgte, nur durch einen wässrigen Schleier erkennen. Wie ein endloser Riesenwurm wand er sich durch die dicht stehenden Urwaldriesen, die ihn säumten. Fleischige Lianen schlängelten sich von Baum zu Baum, Moos und Flechten hingen wie grüne Speichelfäden von den Zweigen. Unterschiedlichste Schlingpflanzen mit üppigen, farbenprächtigen Blüten spannten sich gleich einem gigantischen Netz zwischen den überwucherten Stämmen, sodass es fast den Anschein hatte, als lauere irgendwo im Verborgenen eine mordgierige Spinne auf Beute.

Erneut holte Laura tief Luft. Der faulige Geruch raschen Werdens und Vergehens stieg ihr in die Nase, während unheimliche Laute an ihr Ohr drangen: ein Knacken und Knistern, untermalt von höhnischem Keckern und bedrohlichem Knurren. Waren das wilde Tiere, die, verborgen in der grünen Pflanzenwirrnis, auf sie lauerten? Oder wurde sie von den Schwarzen Kriegern Borborons verfolgt? Oder von anderen gefährlichen Geschöpfen, die ebenfalls im Dienst der Dunklen Mächte standen und sie daran hindern sollten, ihre große Aufgabe zu erfüllen? Beklommen sah Laura sich um. Wann bin ich endlich am Ziel?, fragte sie sich. Wie weit ist es denn noch bis zu diesem verwunschenen Tal, in dem der wundersame See verborgen sein soll?

Der See, der das Geheimnis des Lebens kennt!

Wie aus weiter Ferne wehte ein Laut an ihr Ohr. Er war kaum vernehmbar – und dennoch schien es Laura, als schwinge darin eine Warnung mit. Trotz der Hitze beschlich sie ein Frösteln. Gänsehaut prickelte über ihren Rücken. Laura hielt den Atem an und spähte nach oben. Der Himmel schien mit einem Mal endlos weit entfernt zu sein. Die steilen Felswände der Schlucht dagegen rückten plötzlich näher zusammen.

Das ist doch nicht möglich, oder?

Ich muss mich täuschen!

Ein banges Gefühl stieg in Laura auf. Alle Zuversicht, die sie noch vor Kurzem erfüllt hatte, war mit einem Schlag wie weggeblasen.

Ein ungeduldiges Schnauben riss das Mädchen aus den Gedanken. Sturmwind scharrte unruhig mit den Vorderhufen, als wolle er ihr bedeuten, endlich weiterzureiten. Gleichzeitig war ein Fiepen zu vernehmen, und nur einen Augenblick später streckte ein seltsames Tierchen den Kopf unter Lauras Lederwams hervor, reckte ihr die spitze Schnauze entgegen und sah sie aus schwarz funkelnden Knopfaugen an, die von dunklen Flecken umrandet waren.

»Was ist denn los, Schmatzfraß?«, fragte Laura verwundert.

Behände kletterte das Pelztierchen auf Lauras rechte Schulter. Dort streckte es den buschigen, schwarz-weiß geringelten Schwanz in die Höhe, entfaltete die dünnhäutigen Fledermausflügel, die es auf dem Rücken trug, und ließ erneut ein Fiepen hören.

Da endlich begriff Laura: Natürlich!

Sturmwind und Schmatzfraß hatten ja recht! Sie musste weiter. Sie durfte nicht wankelmütig werden und vor der großen Aufgabe zurückschrecken, die das Schicksal ihr übertragen hatte. Sie musste dafür sorgen, dass das zerbrochene Schwert so schnell wie möglich wieder zusammengeschmiedet wurde. Denn nur mit seiner Hilfe würde sie ihren Vater aus der Gewalt des Schwarzen Fürsten befreien können. Deshalb musste sie schleunigst den versteckten See erreichen. Den See, der von der gleichen Quelle gespeist wurde, der auch das Wasser des Lebens entsprang. Da er alle Geheimnisse kannte, wusste er auch von dem großen Mysterium, welches das Schwert des Lichts umgab.

Laura schnalzte leise mit der Zunge. Sofort trabte Sturmwind an und trug seine Herrin weiter, immer den schmalen Pfad entlang. Kurze Zeit später schon lichtete sich das Dickicht, Bäume und Sträucher wuchsen spärlicher, bis sie schließlich ganz verschwanden und sich die nackten Wände des schmalen Canyons vor den Augen des Mädchens erhoben. Die Felsen ragten schier endlos in die Höhe und versperrten dem Sonnenlicht den Weg zum Boden der Schlucht, die höchstens fünf Meter breit war und sich zusehends verengte, bis sie schließlich in einen schmalen Durchlass von nicht einmal einen halben Meter mündete.

Erneut hielt Laura ihr Pferd an. Sturmwind würde das Nadelöhr nicht passieren können. Sie musste ihn zurücklassen und dem Pfad allein folgen. Die Frage war nur, ob dieser sie auch an ihr Ziel führen würde.

Beunruhigt kniff das Mädchen die Augen zusammen und spähte durch den Engpass. Wie ein verheißungsvolles Versprechen gleißte dahinter helles Tageslicht auf. Verbarg sich dort tatsächlich das verwunschene Tal? Oder lauerte dort vielleicht nur … Gefahr?

Wieder war es Sturmwind, der ihre Bedenken zu zerstreuen suchte. Wie eine barsche Aufforderung hallte das ungeduldige Wiehern des Schimmels von den Felswänden wider. Jetzt stell dich nicht so an, Laura!, schien er ihr sagen zu wollen. Geh endlich weiter – oder hast du alle Mühen auf dich genommen, nur um im letzten Moment zurückzuschrecken?

Laura zuckte zusammen. Sturmwind hatte ja recht! Sie hatte bereits unzähligen Gefahren getrotzt seit jener Nacht, in der sie in den Kreis der Wächter aufgenommen worden war, und immer wieder ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um den schwierigen Aufgaben gerecht zu werden, die das Schicksal ihr zugedacht hatte. Was hatte sie nicht alles gewagt, um sie zu erfüllen! Sie hatte den Kelch der Erleuchtung aufgespürt und ihn zurück nach Aventerra, in die Welt der Mythen, gebracht. Sie hatte das Geheimnis um das Siegel der Sieben Monde entschlüsselt und selbst das todbringende Orakel der Silbernen Sphinx gelöst – und da sollte sie vor diesem schmalen Felsspalt zurückschrecken?

Das war doch lächerlich!

Laura richtete sich entschlossen auf, und der Wankelmut fiel von ihr ab wie ein lästiger Umhang, den ein Windstoß von den Schultern fegt.

Sie stieg aus dem Sattel und trat zu Sturmwind. »In Ordnung, Alter«, sagte sie, während sie dem Hengst zärtlich über die feuchten Nüstern strich. »Warte hier auf mich. Es wird bestimmt nicht lange dauern.« Dann wandte sie sich an den Swuupie, der immer noch auf ihrer Schulter thronte. »Du bleibst auch hier, Schmatzfraß«, sagte sie, »und leistest Sturmwind Gesellschaft.«

Offensichtlich hatte das putzige Tierchen sie verstanden. Es breitete die Flügel aus und flatterte auf den Rücken des Schimmels, wo es sich im Sattel niederließ und Laura flehentlich anschaute.

Das Mädchen begriff sofort. »Wie kann man nur so verfressen sein«, tadelte es den Swuupie im Scherz, bevor es in die Satteltasche griff und einen Duftapfel hervorholte. »Verschluck dich bloß nicht in deiner Gier«, warnte es nachsichtig lachend, während das Tierchen gierig nach der Frucht griff und sich laut schmatzend darüber hermachte. Nach einem letzten Klaps auf den Hals von Sturmwind drehte Laura sich um und ging festen Schrittes auf den Durchlass zu, als das Licht am anderen Ende mit einem Male heller wurde.

*

Weithin sichtbar krönte Burg Ravenstein die sanft gewellte Hügellandschaft. Wie eine riesige Katze aus Stein, die im Mittagsschlaf vor sich hin döst, lag das dreigeschossige Internatsgebäude inmitten einer weitläufigen Parklandschaft. Nur der hohe Ostturm mit der zinnenbewehrten Aussichtsplattform schien darüber zu wachen, dass niemand die Stille störte. Die Ziegeldächer und die mit Efeu berankten Mauern sahen aus, als habe die Sonne ihnen einen silbrig glänzenden Anstrich verpasst. Auch das überlebensgroße Reiterstandbild des Grausamen Ritters, das sich im Park erhob, erweckte den Anschein, als sei es aus purem Silber und nicht aus nüchternem Granit gefertigt.

Die Luft über der grünen Kunstrasenfläche des Sportplatzes flirrte vor Hitze. Er war ebenso menschenleer wie der benachbarte Skateboard-Parcours. Am Rand des nur einige Dutzend Schritte entfernten Basketballcourts jedoch saß ein schmächtiger Junge. Obwohl er im Schatten einer mächtigen Weide hockte, waren seine blonden Haare verschwitzt. Schweißtropfen glänzten auf seinem schmalen Gesicht, und über die dicken Gläser der großen Hornbrille, die seine Stupsnase zierte, zogen sich klebrige Rinnsale. Lukas Leander bemerkte das alles gar nicht. Während er einen vergammelten Tennisball unablässig auf den roten Tartanboden tippen ließ – »Plopp! Plopp! Plopp!« –, starrte er abwesend vor sich hin. Die fröhlichen Rufe und das Gelächter seiner Mitschüler, die im nahen Drudensee Abkühlung von den für Ende Juni ungewöhnlich hohen Temperaturen suchten, klangen wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Selbst das pummelige Mädchen, das sich ihm nun mit dem unbeholfenen Watschelgang einer übergewichtigen Ente näherte, bemerkte er nicht. Erst als es unmittelbar vor ihm stand, sah der Junge irritiert auf.

»Was ist denn mit dir los, Lukas?«, fragte Kaja Löwenstein und verzog verwundert das sommersprossige Gesicht.

»Mit mir?« Falten kräuselten die Stirn des Jungen. »Was soll denn mit mir los sein?«

»Oh, nö!« Missmutig rümpfte das Mädchen mit den Korkenzieherlocken die Nase. »Du ziehst ein Gesicht wie nach neun Tagen Regenwetter. Dabei scheint die Sonne wie verrückt – und morgen ist auch noch der letzte Schultag.«

»Ja, und?«

»Das fragst du noch?« Der Rotschopf pustete die Wangen auf und ließ sich schwerfällig neben ihm auf den Boden plumpsen. »Ich dachte, du freust dich auf die Sommerferien genauso sehr wie ich und alle anderen Ravensteiner!«

Natürlich freute sich Lukas ebenfalls auf die Sommerferien. Sehr sogar, denn dass er ein überaus strebsamer und hochintelligenter Schüler war, dem das Lernen ungeheuren Spaß bereitete, vermochte nichts daran zu ändern, dass ihm die langweiligsten Ferien allemal lieber waren als jeder noch so aufregende Schultag. Zumal er sich überhaupt nicht mehr daran erinnern konnte, wann er zuletzt so etwas wie Langeweile verspürt hatte. »Ja, schon«, gab Lukas also zurück, doch sein Lächeln wirkte überaus gequält. »Klaromaro freue ich mich auf die Ferien …«

»Na, also! Alles andere wäre auch nicht normal.«

»Aber trotzdem …«

»Hä? Was ist denn los?«

Lukas schaute das Mädchen über den Rand seiner verschmierten Brille an. »Ich mach mir Sorgen um Laura!«

Kaja bewegte erst zweimal stumm den Mund wie eine ratlose Kaulquappe, bevor sie dem Jungen antwortete. »Aber dazu hast du doch gar keinen Grund! Deine Schwester hat ihre Aufgaben bisher doch prima gelöst. Sie hat nicht nur das zerbrochene Schwert gefunden, sondern ist auch noch rechtzeitig durch die magische Pforte nach Aventerra gekommen.« Sie nahm den kleinen Rucksack vom Rücken und begann darin herumzuwühlen. »Und glaub mir, Lukas, sie wird auch euren Papa aus der Dunklen Festung befreien, da bin ich ganz sicher!«, fuhr sie fort, ohne aufzublicken.

»Ah, ja? Bist du das?« Lukas ließ den Ball in der Tasche seiner blauen Baumwollshorts verschwinden. »Deinen Optimismus möchte ich haben!«

»Oh, nö!« Erneut blies das Pummelchen die Wangen auf. »Laura hat es wirklich nicht verdient, dass du ihr so wenig zutraust.«

Unwirsch schüttelte der Junge den Kopf. »Ich weiß, sie hat ganz außergewöhnliche Fähigkeiten, aber …«

Das Mädchen rückte näher an ihn heran. »Ja?«

»Laura war doch noch nie auf Aventerra – von einer kurzen Traumreise einmal abgesehen. Sie kennt sich dort doch gar nicht aus!«

»Na und?« Kaja hatte einen Schokoriegel aus dem Rucksack geholt und riss die Verpackung auf. »Der Hüter des Lichts und seine Helfer werden schon aufpassen, dass ihr nichts passiert.«

»Und wenn nicht?« Vor Sorge um seine Schwester war Lukas’ Gesicht ganz grau geworden. »Woher willst du wissen, was Laura dort erwartet? Was ist, wenn sie sich aus irgendeinem Grund ganz alleine durchschlagen muss und keinen hat, der ihr gegen ihre Feinde beisteht? Und dass mit diesem Schwarzen Fürsten und seinen Vasallen nicht zu spaßen ist, das weißt du genauso gut wie ich!«

Der Schokoriegel war so weich, dass er beinahe zerfloss. Doch das schien Kajas Appetit nicht im Geringsten zu mindern. Sie verschlang ihn mit einem Happs. »Wa, wa!«, sagte sie mampfend, auch wenn sie nicht mehr so zuversichtlich dreinblickte wie noch wenige Minuten zuvor.

Lukas sah sie verständnislos an. Er wartete, bis sie aufgegessen hatte, und deutete dann auf ihren Mundwinkel. »Du hast da noch was.«

»Danke.« Kaja lächelte verlegen und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen, verschmierte die Schokokrümel aber nur über das Kinn.

Lukas konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Das Pummelchen ließ sich davon nicht stören. »Ich meine«, fuhr es ungerührt fort, »immerhin hat Laura mit dieser Syrin schon mal einen ihrer gefährlichsten Gegner ausgeschaltet, oder nicht?«

»Logosibel!« Lukas nickte bestätigend. »Es scheint allerdings nicht einfach gewesen zu sein, dieses Monster zu besiegen. Du hast ja die Spuren in der Halle an der Freilichtbühne selbst gesehen, die deuteten auf einen verdammt harten Kampf hin.«

»Und trotzdem hat Laura gewonnen!«, bekräftigte Kaja. »Und wer sich gegen einen so mächtigen Feind wie Syrin durchsetzen kann, der schafft auch noch ganz andere Sachen. Nur schade, dass Laura nicht miterleben konnte, welche Folgen ihr Sieg gehabt hat.«

Lukas kräuselte die Stirn. »Du meinst, dass Dr. Schwartz gleich am nächsten Tag als Konrektor zurückgetreten ist und Professor Morgenstern überdies gebeten hat, die Leitung des Internats wieder zu übernehmen?«

»Ja, genau!« Kaja hob den Zeigefinger, als wollte sie ihre Aussage unterstreichen. »Schwartz hat doch felsenfest damit gerechnet, dass diese fiese Gestaltwandlerin Laura überwältigt und ihr die Schwertteile entreißt. Die Niederlage seiner Verbündeten muss ihm einen Schock versetzt haben, sonst hätte er doch nie auf seinen Posten verzichtet! Und das haben wir nur Laura zu verdanken!«

»Wahrscheinlich hast du re…« Der Junge brach abrupt ab und blickte erstaunt zum Besucherparkplatz. Dort stand ein junger Mann und winkte ihm aufgeregt zu.

»Ist das unser Sportlehrer?« Mit eng zusammengekniffenen Augen schielte Kaja zum Parkplatz. Offensichtlich brauchte sie dringend eine Brille.

»Sieht ganz so aus«, murmelte Lukas, während der hoch aufgeschossene Blonde ihm erneut zuwinkte, als wolle er ihm bedeuten, schnellstmöglich zu ihm zu kommen.

Seltsam, dachte Lukas. Was kann Percy bloß so Wichtiges von mir wollen?

*

Der Felsspalt war noch enger, als Laura vermutet hatte. Obwohl sie schlank war, gelang es ihr nur unter größten Mühen, sich in die Öffnung zu zwängen. Sie war schon fast hindurch, als sie plötzlich stecken blieb und weder vor noch zurück konnte. Schon stieg Panik in ihr auf, als sie mit einem verzweifelten Ruck doch noch loskam. Ratsch!, machte es, und ein großer Riss klaffte in dem Lederwams. So was Blödes!, schalt Laura sich im Stillen. Die schöne Jacke von Alarik! Was er wohl dazu sagen würde? Warum hab ich die auch nicht ausgezogen! Es ist schließlich heiß genug.

Das Mädchen blieb schwer atmend stehen und ließ den Blick in die Runde schweifen. Vor ihm öffnete sich ein kleiner Talkessel, dessen senkrechte Felswände bis in den Himmel zu reichen schienen. Aus dem gegenüberliegenden Massiv stürzte sich ein mächtiger Wasserfall in die Tiefe und ergoss sich tosend in einen kleinen See.

Ein erleichtertes Lächeln verzauberte Lauras hübsches Gesicht.

Endlich!

Endlich habe ich mein Ziel erreicht, kam es Laura in den Sinn. Da fiel ihr auf, dass sie sich urplötzlich in einer völlig anderen Welt befand. Keine Spur mehr von der üppig wuchernden Vegetation des tropischen Dschungels. Eine liebliche Blumenwiese, die in voller Blüte stand, erstreckte sich vor ihr bis zum kaum hundert Meter entfernten Ufer des Sees. Die unerträgliche Schwüle war einer sanften Brise gewichen, angenehm warm und gleichzeitig erfrischend. Bunte Schmetterlinge spielten im Wind, Bienen summten, Vögel zwitscherten. Mit offenem Mund blickte Laura sich um. Seltsam, dachte sie. Ich habe doch nur wenige Schritte zurückgelegt. Ihre Verwunderung war jedoch nur von kurzer Dauer. Schließlich hatte sie in den letzten Monaten immer wieder erlebt, dass es vieles gab, was mit dem menschlichen Verstand nicht zu begreifen war. Gleichwohl existierte es und hatte zudem eine tiefere Bedeutung, auch wenn sich diese nicht auf Anhieb erschloss. Selbst den anderen Wächtern nicht, die mit ihr gegen die Dunklen Mächte kämpften und im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen in der Lage waren, hinter die Oberfläche der Dinge zu blicken. Auch sie mussten bei so manchen Erscheinungen darauf hoffen, sie irgendwann mithilfe ihrer besonderen Gaben zu entschlüsseln. So verbannte Laura die lästigen Gedanken aus ihrem Kopf. Wenn die Zeit reif war, würde sich ihr das Rätsel des verwunschenen Tales schon erschließen, dessen war sie sich sicher. Sie hatte Wichtigeres zu tun, hatte sie diesen Ort doch aus einem ganz bestimmten Grund aufgesucht.

Entschlossen näherte Laura sich dem Seeufer. Seltsamerweise wurde das Rauschen des Wasserfalls nicht lauter. Noch merkwürdiger aber war, dass der See, der höchstens dreißig Schritte im Durchmesser maß, glatt wie ein Spiegel blieb, obwohl sich die mächtige Kaskade in ihn ergoss. Während Laura sich noch wunderte, vernahm sie plötzlich eine Stimme in ihrem Inneren. »Es ist, wie es ist, auch wenn du es nicht begreifst«, flüsterte diese.

Von einem plötzlichen Impuls getrieben, kniete Laura sich nieder und beugte sich vor, um von dem Nass zu schöpfen, wich aber sogleich erschrocken zurück. Drei Gesichter blickten ihr von der Wasseroberfläche entgegen. Das mittlere war unverkennbar ihr eigenes Spiegelbild. Links daneben erschien das Gesicht eines Babys, das Laura aus blauen Augen neugierig anschaute und ihr ein freundliches Lächeln schenkte. Hatte sie dieses Neugeborene schon einmal gesehen? Wie sonst war es zu erklären, dass es ihr so vertraut vorkam? Das ernst dreinblickende Frauengesicht zu ihrer Rechten erkannte Laura jedoch sofort.

Es war ihre Mutter Anna Leander, die seit vielen Jahren tot war!

Während Laura sich noch fragte, was das bedeuten mochte, vernahm sie über sich einen heiseren Laut. Laura schaute auf. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Hatte sich die scheußliche Harpyie, in deren Gestalt die Schwarzmagierin Syrin sie vor etlichen Wochen angegriffen hatte, nicht genauso angehört?

Aber Syrin war tot! Erschlagen vom Kopf des riesigen Drachenmodells, das sie mithilfe ihrer Schwarzen Künste zum Leben erweckt hatte. Doch war es nicht denkbar, dass sich noch weitere Gestaltwandler in den Reihen der Dunklen Mächte befanden? Teuflische Kreaturen, die sich ebenfalls in jedes beliebige Wesen verwandeln konnten, um ihre Widersacher anzugreifen? Laura sprang auf.

Oh, nein!

Ging es jetzt schon wieder los? Schreckten Borboron und seine Vasallen denn vor nichts zurück? Sollten sie sich sogar über das uralte Gesetz der »Leeren Hand« hinwegsetzen, um sie, Laura, an der Erfüllung ihrer Aufgabe zu hindern?

2. Kapitel:Der Geist, der über dem Wasser schwebt

»Aber das … das ist doch nicht möglich!« Fassungslos blickte Lukas in die Runde, doch weder Percy Valiant noch Miss Mary Morgain machten den Eindruck, als wollten sie ihn auf den Arm nehmen. Und Professor Aurelius Morgenstern schon gar nicht. Der Direktor des Internats schien den blonden Jungen und die beiden Lehrer gar nicht wahrzunehmen, die sich im geräumigen Wohnzimmer seines Hauses eingefunden hatten. Da die Angesprochenen stumm blieben, setzte Lukas nach: »Ich hab die Frau doch mit eigenen Augen gesehen. Und Sie auch, Miss Mary, oder?« Hilfesuchend wandte er sich an die zierliche Frau mit dem kastanienbraunen Haar, die neben ihm an dem großen Holztisch saß. Die Tischplatte war mit kunstvollen Intarsien geschmückt: Ein Rad mit acht Speichen, das entfernt an eine Kompassrose erinnerte. Diese Speichen allerdings symbolisierten nicht die verschiedenen Himmelsrichtungen, wie Lukas von seiner Schwester wusste, sondern standen für die großen Sonnen- und Mondfeste im Jahreslauf.

Die Lehrerin hatte keinen Blick für die meisterhafte Verzierung. »Lukas hat recht.« Mit braunen Rehaugen sah sie ihren Kollegen Percy an, der ihr gegenüber saß. »Ich kann seine Aussage nur bestätigen. Und Kaja Löwenstein und Magda Schneider natürlich auch: Als wir drei vorgestern Nacht in der großen Halle neben der Drachenthaler Freilichtbühne ankamen, lag die Frau unter dem Kopf dieses Monsters …«

»Du meinst sischerliisch Niffi, n’est-ce pas?«, fragte Percy, dessen dicker Akzent trotz seiner vielen Jahre in Deutschland immer noch seine Herkunft verriet. »Unseren neuen Drachen?« Ein spitzbübisches Lächeln verlieh dem Franzosen ein jungenhaftes Aussehen.

»Genau den meine ich: Diesen monströsen mechanischen Drachen, den ihr für eure Open-Air-Aufführung angeschafft habt«, bestätigte Miss Mary ohne eine Spur von Ironie. »Sein Kopf lag auf dem Boden und hatte diese unheimliche Gestaltwandlerin zu Tode gequetscht.«

Percy kniff das linke Auge leicht zusammen. »Bist du dir dessen auch gewiss?«

»Klaromaro!«, kam Lukas der Lehrerin zuvor. »Syrin war tot, ganz bestimmt. Dieser Drachenkopf ist doch so schwer, dass er selbst Superman zerschmettert hätte! Das wissen Sie doch genauso gut wie wir, Monsieur Valiant!«

»Natürlich weiß er das.« Miss Mary lächelte Lukas besänftigend an, bevor sie sich wieder dem Kollegen zuwandte. Wie zur Bekräftigung ihrer Aussage beugte sie sich vor. »Auch wenn der Riesenkopf die Frau fast vollständig verdeckt hat, konnten wir deutlich erkennen, dass sie nicht mehr am Leben war. Sie hat nicht mal mehr gezuckt. Schließlich haben ihre Hände darunter vorgeragt. Obwohl …« Die bloße Erinnerung ließ sie erschaudern. »Eigentlich waren es gar keine richtigen Hände, sondern eher so etwas wie … wie …«

»Geierkrallen«, half Lukas ihr auf die Sprünge.

»Genau!« Erneut lächelte die Lehrerin den Jungen an. »Geierkrallen – diese Bezeichnung trifft es genau.«

»Wenn du es sagst!« Percy Valiant grinste unsicher. »Verste’t miisch bitte niischt falsch, i’r beiden, aber trotzdem …« Er hob die rechte Hand und kratzte sich unschlüssig hinterm Ohr. »Als iisch in die ’alle kam, war weit und breit keine Frau me’r zu erblicken. Weder eine leibhaftiische noch eine tote! Und auch Niffi stand exactement an der Stelle, wo i’n ’annes, der Drachenlenker, am Abend davor abgestellt ’atte!« Ratlos schaute er Lukas und Miss Mary an. »I’r müsst doch zugeben, dass das irgendwie niischt riischtig zusammenpasst – eure Aussagen und was iisch mit eigenen Augen gese’en ’abe.«

Lukas dachte einen Augenblick nach, bevor er antwortete: »Ich kann mir das ja auch nicht erklären, Monsieur Valiant.« Der Junge stupste die Brille von der Nasenspitze zurück an ihren Platz. »Sie vielleicht, Miss Mary?«

»Nein.« Die Lehrerin schüttelte energisch den Kopf. »Und trotzdem bleibe ich dabei, Percy: Es war alles genau so, wie wir es dir geschildert haben.«

Ihr Kollege antwortete nicht sofort. Offensichtlich konnte er sich noch immer keinen Reim auf das merkwürdige Geschehen machen. »Wenn iisch miisch rescht entsinne, dann ’abt i’r auch be’auptet, dass alle Neonleuschten an der ’allendecke zersprungen waren«, sagte er nach einer Weile.

»Waren sie ja auch«, ereiferte sich der Junge.

Percy antwortete nicht, aber ihm war anzusehen, dass er keine defekten Lampen in der Halle entdeckt hatte.

Lukas legte den Kopf in den Nacken und starrte verkniffen zur niedrigen Zimmerdecke, an der einige Stubenfliegen ziellos umherkrabbelten. Sie wissen offenbar genauso wenig wie wir, wo es lang geht, kam es ihm in den Sinn. Als er sich wieder an den Lehrer wandte, stand ihm Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. »Und wenn sich am nächsten Tag jemand in die Halle geschlichen hat und heimlich wieder alles in Ordnung gebracht hat? Die Taxus und Dr. Schwartz zum Beispiel? Oder Albin Ellerking?«

»Ausgeschlossen!« Percy Valiant schüttelte den Kopf. »’annes hat gleisch am nächsten Morgen in aller ’errgottsfrü’e ein Textbuch aus dem Büro ge’olt und dann abgeschlossen, weil die Tür offen stand.«

»Und nach ihm hat niemand mehr die Halle betreten?«, fragte Lukas mit wenig Hoffnung.

»Nein. Niischt bis ’eute Vormittag. ’öchstens …«

Das Gesicht des Jungen hellte sich auf. »Ja?«

»Bedauerliischerweise ’at ’annes es versäumt, einen Blick in Niffis ’alle zu werfen. Es wäre also durschaus mögliisch, dass man die Schäden noch in der Nacht beseitiischt ’at. Was iisch allerdings für ziemliisch unwa’rscheinliisch ’alte. Wo ’ätten sie denn Lampen ’erbekommen sollen mitten in der Nacht? Und wie Niffi zu steuern ist, weiß außer ’annes und mir auch niemand!«

Lukas antwortete nicht, sondern starrte nur gedankenverloren vor sich hin. Deshalb entging ihm, dass Percy und Miss Mary ein schmales Lächeln wechselten.

»Wie es aussie’t, müsst i’r eusch wohl getäuscht ’aben – alle vier«, fuhr Percy, wieder ganz ernst, fort. »Das wäre schließliisch nur allzu leischt verständliisch. Überleg doch mal: Es war mitten in der Nacht, und i’r wart sischerliisch völliisch übermüdet. Zudem werdet i’r eusch riesiische Sorgen um Laura gemacht ’aben! Das alles ’at bestimmt dazu gefü’rt, dass i’r allesamt einer Täuschung des Geistes unterlegen seid!«

»Nein, nein und noch mal nein!« Lukas sprang vor Erregung auf. Einen Augenblick sah es fast so aus, als verlöre er die Beherrschung und wolle seinem Sportlehrer an den Kragen gehen. Dann aber beruhigte er sich wieder. Zwei-, dreimal atmete er tief durch, bevor er die rechte Hand hob und Zeige- und Mittelfinger in die Höhe reckte. »Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist!«

»Niischt nötiisch!« Ein spitzbübisches Grinsen legte sich auf Percys Gesicht. »Iisch glaube dir auch so!«

»Was?« Die Gesichtszüge des Jungen entgleisten, während er zunächst Miss Mary und dann Percy Valiant anblickte. »Und was soll dann das ganze Getue …?«

»Iisch wollte nur se’en, ob du diisch von mir verunsiischern lässt oder niischt. Aber diesen Test ’ätte iisch mir wo’l sparen können. Schließliisch bist du Lauras Bruder. Auch wenn du im Gegensatz zu deiner Schwester niischt dem Kreise von uns Wäschtern ange’örst, ’ätte iisch wissen müssen, dass du diisch niischt so leischt ins Bocks’orn jagen lässt!«

»Natürlich nicht!« Lukas schnaufte vor Empörung. »Ich muss doch kein Wächter sein, um zu wissen, was ich gesehen habe.«

Erstmals meldete sich nun der Professor zu Wort. »Bist du dir da auch ganz sicher, Lukas?« Der Klang seiner sonoren Stimme ließ den Jungen überrascht den Kopf wenden. »Nicht alles ist so, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag – aber das hat dir deine Schwester mit Sicherheit längst beigebracht, oder?«

Der Junge nickte nur.

Ein Lächeln tanzte über das faltige Gesicht des Direktors. »Das ist schließlich das Erste, was man lernen muss, wenn man in unseren Kreis aufgenommen wird – und darüber hinaus auch der Grund, weshalb ich Percy gebeten habe, dich ein wenig in die Mangel zu nehmen.«

»In die Mangel? Mich?« Lukas war die Verwunderung anzusehen. »Weshalb das denn?«

Der alte Mann seufzte, bevor er fortfuhr: »Auch wenn ich meine Vermutung durch nichts belegen könnte, bin ich fest davon überzeugt, dass in den nächsten Wochen so einiges auf dich zukommen wird, Lukas.«

»Auf mich?« Lukas wirkte völlig perplex. »Aber wieso denn? Soll das heißen, dass die Dunklen es jetzt auf mich abgesehen haben?«

Aurelius Morgenstern nickte nur stumm.

Ein schneller Blick verriet Lukas, dass Miss Mary und Percy die Meinung des Direktors ganz offensichtlich teilten.

Lukas wurde schwummerig, und seine Knie begannen zu zittern.

*

Mit banger Miene starrte Laura zum Firmament, als sie einen zweiten Schrei hörte. Er klang wie der Ruf eines Adlers, doch in dem gleißenden Licht waren keinerlei Umrisse auszumachen – weder die einer Harpyie noch die eines Raubvogels. Seltsam, dachte Laura. Was hat das zu bedeuten? Oder habe ich mir diese Laute nur eingebildet?

Sie wandte den Blick wieder zum See. Zu ihrer Verwunderung waren die Gesichter des Neugeborenen und ihrer Mutter von der Wasseroberfläche verschwunden. Nur ihr eigenes Spiegelbild schimmerte ihr noch entgegen. An der Stelle, an der sich Annas Gesicht befunden hatte, ragte ein einsames Schilfrohr aus dem Wasser.

Laura hätte schwören können, dass es vorher noch nicht dort gewesen war. Jetzt aber wiegte das Schilf sich sanft im Wind, als habe es seit ewigen Zeiten nichts anderes getan. Obwohl die Morgenstunde längst verstrichen war, hingen dicke Tautropfen an den Blättern. Am obersten baumelte eine mehr als zwei Finger lange Larve. Unter ihrer dünnen, durchscheinenden Haut bewegte sich etwas – ein Schmetterling wahrscheinlich, der den beengenden Kokon abzustreifen versuchte, um endlich ins Leben zu schlüpfen.

Laura kniete nieder, um das wundersame Schauspiel aus der Nähe zu beobachten, als sie ein Blubbern vernahm. Silbernen Perlen gleich stieg ein Schwall von Luftblasen in der Mitte des Sees empor, die an der Oberfläche zerplatzten. Das Wasser sprudelte, als koche es. Gleichzeitig begann der See zu dampfen. Schlieriger Dunst waberte daraus empor, ballte sich mehr und mehr zusammen, bis eine gewaltige Nebelwolke über dem Gewässer stand. Nur Augenblicke später verfinsterte sich der Himmel. Schwarze Schatten senkten sich über das Tal. Laura wurde von Panik erfasst.

Was hatte das zu bedeuten?

Mit angehaltenem Atem schaute sie sich um, konnte jedoch niemanden entdecken. Trotzdem fühlte sie, dass sich jemand in unmittelbarer Nähe befinden musste.

Die Haare in ihrem Nacken richteten sich auf, Gänsehaut prickelte gleich einem Ameisenheer über ihren Körper. Da ertönte die Stimme einer alten Frau. »Laura! Laauraaaa!«, rief sie.

Das Mädchen wirbelte herum und spähte nach allen Seiten – doch noch immer war niemand zu entdecken.

*

»Aber … das verstehe ich nicht.« Lukas sah Aurelius Morgenstern konsterniert an. »Monsieur Valiant hat doch eben erst betont, dass ich nicht zu euch Wächtern gehöre.« Mit theatralischer Geste hob er die Arme. »Natürlich stehe ich voll und ganz auf Ihrer Seite und bin jederzeit bereit, Sie nach besten Kräften zu unterstützen. Aber trotzdem – weshalb sollten Ihre Feinde plötzlich mich im Visier haben?«

Percy Valiant kam dem Professor mit der Antwort zuvor. »Weil i’nen jedwedes Geschöpf, das auf der Seite des Liischts ste’t, ein Dorn im Auge ist, deshalb! Und außerdem …«

Die Falte auf Lukas’ Stirn erschien erneut. »Ja?«

»Streng dein kluges Köpfschen doch einmal an, Lukas.« Der Sportlehrer musterte seinen Schüler eindringlich. »Du bist jetzt der Einziische aus eurer Familie, der siisch noch auf unserer Erde befindet. Mariüs, dein Vater, wird seit Langem in der Dunklen Festung gefangen ge’alten, und Laura muss die Zeit bis zum nächsten Sonnenfest ebenfalls auf Aventerra verbringen und kann diisch da’er niischt beschützen.«

»Das braucht sie auch nicht«, entgegnete Lukas in beleidigtem Ton. »Ich bin schließlich alt genug, um auf mich selbst aufzupassen.«

»Natürlich, Lukas, das wissen wir doch«, entgegnete Aurelius Morgenstern und legte dem Jungen besänftigend die Hand auf den Arm. »Aber dennoch …«

»Ja?« Lukas blickte den Direktor aus schmalen Augen an.

»Unseren Feinden ist es wohlbekannt, dass deine Schwester dich über die Maßen liebt …«

Der Junge sah aus, als habe er in eine Zitrone gebissen, konnte jedoch nicht verhindern, dass seine Wangen sich rot färbten.

»… auch wenn du ihr manchmal ganz gewaltig auf die Nerven gehst.«

Lukas kicherte leise.

»Was iisch, nebenbei bemerkt, durschaus nachvollzie’en kann«, mischte der Sportlehrer sich ein.

Aurelius tat, als habe er die Bemerkung überhört. »Und dennoch, Lukas: Wenn dir etwas zustoßen sollte, würde Laura das selbst auf Aventerra nicht verborgen bleiben.«

Verwundert kniff Lukas die Augen zusammen. »Wie soll das denn gehen?«

»Ganz einfach.« Die Stimme des Professors klang beinahe feierlich. »Ihr beide seid nicht nur durch Blutsbande miteinander verbunden, sondern auch durch starke Gefühle füreinander. Lauras Schmerz wäre riesengroß, wenn dir ein Leid zustoßen würde.«

Die Miene des Jungen verdüsterte sich. »Ich verstehe. Sie glauben, dass die Dunklen mir schaden wollen, um Laura abzulenken.«

»Genau. Schließlich muss es einen Grund dafür geben, dass Dr. Schwartz mich gleich nach Mittsommernacht gebeten hat, das Amt des Direktors wieder selbst zu übernehmen. Vermutlich muss er sich um Dinge kümmern, die nach Lauras Ritt durch die magische Pforte viel wichtiger geworden sind als die Leitung des Internats.«

»Sie meinen doch nicht etwa – um mich?«

»Leider doch.« Aurelius Morgenstern lächelte gequält. »Unseren Feinden traue ich alles zu, jede erdenkliche Teufelei. Sie wollen mit allen Mitteln verhindern, dass Laura ihre Aufgabe erfüllt. Deshalb werden Borboron und seine Vasallen ihr das Leben auf Aventerra so schwer wie möglich machen und auch nicht davor zurückschrecken, dir hier auf der Erde etwas anzutun.«

»Aber …« Lukas fühlte, wie sich Beklemmung in ihm breitmachte. »Ich dachte, so was dürfen sie nicht tun. Genauso wenig, wie sie gegen einen Wächter vorgehen dürfen, der noch nicht im Vollbesitz seiner Fähigkeiten ist …«

»Es ist ihnen tatsächlich verboten, sich an Eleven oder an Unbeteiligten zu vergreifen. Aber …« Morgenstern schnaubte grimmig. »… dieses Verbot hat sie bisher auch nicht davon abgehalten, Laura nach dem Leben zu trachten.«

Der Professor hatte leider recht!

»Zudem darfst du nicht vergessen, dass dieses uralte Gebot nur für die Dunklen selbst gilt«, fuhr Aurelius Morgenstern fort. »Für Dr. Schwartz, Rebekka Taxus und wer sonst noch zu ihnen gehören mag. Ihre Geschöpfe und Helfer jedoch sind nicht daran gebunden. Und von diesen Kreaturen gibt es mehr, als uns lieb ist – und ständig kommen neue dazu!«

Percy Valiant erhob sich, stellte sich neben den Direktor und musterte Lukas mit eindringlicher Miene. »Womit wir wieder am Ausgangspunkt unserer Unter’altung angelangt wären! Diese überaus mysteriösen Vorgänge, die siisch in der Mittsommernacht in der großen ’alle zugetragen ’aben, machen doch me’r als deutliisch, dass die Gefa’r, die von dieser Syrin ausgeht, mitniischten gebannt ist.«

»Hä?« Lukas verdrehte die Augen. »Tut mir leid, aber ich verstehe nicht so ganz …«

»Ah, non?« Percy war sichtlich überrascht. »Dabei ist es doch très simple: Ganz offensiischtliisch ist diese Syrin noch am Leben.«

»Das ist völlig unmöglich!«, widersprach Lukas vehement. »Kein Mensch kann so ein schweres Gewicht überleben.«

»Schon möglich, Lukas.« Der Professor sah ihn mit unergründlichem Blick an. »Aber du vergisst offenbar, dass es sich bei der Gestaltwandlerin eben nicht um ein Wesen aus Fleisch und Blut handelt! Außerdem …«

»Ja?«

»Seit Syrin das Rad der Zeit trägt, das sie Lauras Vater entwendet hat, ist sie nahezu unverwundbar. Es wurde aus dem gleichen Gold wie der Kelch der Erleuchtung geschmiedet und verleiht seinem jeweiligen Träger ungeheure Kräfte.«

Lukas wurde bleich. Wie hatte er das nur vergessen können? Laura hatte ihn doch schon vor längerer Zeit in das Mysterium des goldenen Amuletts eingeweiht, das über Generationen im Kreise der Wächter weitergereicht wurde, bis es durch einen unglücklichen Umstand der Gestaltwandlerin in die Hände gefallen war. Klaromaro!, durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Geschützt durch das Rad der Zeit, könnte sie tatsächlich überlebt haben!

»Unsere Feinde scheinen einen teufliischen Plan ausge’eckt zu ’aben«, sagte Percy. »Sonst ’ätten sie siisch doch niischt die Mü’e machen müssen, sorgfältiisch alle Spuren zu tilgen, die auf i’re Anwesen’eit in der ’alle ’indeuteten. Dass i’r, Miss Mary und du, in der Nacht ebenfalls dort gewesen seid und alles mit eigenen Augen gese’en ’abt, konnten sie ja niischt wissen, hein?«

»Stimmt.« Lukas musterte den Lehrer abwartend.

»Gleischzeitig ’aben sie auch jeden ’inweis auf die gewalttätiische Auseinandersetzung zwischen Laura und dieser Syrin zuniischte gemacht – und was meinst du wo’l, was sie damit bezwecken?«

»Nun …« Erneut kerbte sich eine Falte in Lukas’ Stirn, während sein Superhirn auf Hochtouren ratterte. »Vielleicht sollen wir denken, dass Laura ohne den geringsten Widerstand von ihrer Seite nach Aventerra gelangt ist?«

»Genauso ver’ält es siisch, certainement!« Aufgeregt stieß Percy den Zeigefinger in Lukas’ Brust. »Diese ’inter’ältiischen Kreaturen wollen uns in Sischer’eit wiegen. Wir sollen uns niischt beunru’igen wegen Laura – genau das steckt da’inter!«

Lukas nickte zustimmend. »Damit könnten Sie recht haben.«

»Ich fürchte sogar noch Schlimmeres«, mischte sich Professor Morgenstern ein. »Ich bin sicher, dass Syrin nach Aventerra zurückgekehrt ist, um dort weiterhin Jagd auf Laura zu machen!«

»Aber …« Der Junge wurde ganz bleich. »Das wäre ja furchtbar. Laura ist sicher fest davon überzeugt, dass die Gestaltwandlerin tot ist. Schließlich haben wir das ja auch geglaubt.«

»Genau das bereitet mir große Sorgen, zumal wir keinerlei Möglichkeiten haben, Laura zu warnen«, erklärte Aurelius Morgenstern. »Deine Schwester schwebt in allergrößter Gefahr, ohne es auch nur zu ahnen!«

*

»Lauraa!«, rief die Stimme erneut. »Hier bin ich, Laura!«

Erneut richtete das Mädchen den Blick auf den See. Tatsächlich – die Stimme schien aus der Mitte des Nebels zu kommen, der über dem Wasser stand. Laura kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt in den Dunst, als sie Augen mit faltigen Lidern zu erkennen glaubte, die wie ein Spuk darin aufschimmerten. »Ähm«, rief sie heiser. »Meint Ihr … vielleicht mich?«

»Wen denn sonst?« Die Stimme kicherte belustigt.

»Wer … wer seid Ihr?«

»Ich bin die, die immer war und immer sein wird, Laura.«

Laura?

Woher wusste die Stimme ihren Namen?

Verwundert schüttelte das Mädchen den Kopf. »Und … wie heißt Ihr?«

»Ach.« Ein Seufzer kam aus dem Nebel. »Manche nennen mich die Stimme, die die Geschichten durch die Zeiten trägt. Für andere bin ich der Geist, der über dem Wasser schwebt. Wichtig ist nur, dass mein Name Anfang und Ende zugleich ist, obwohl ich weder das eine noch das andere bin.«

Laura war unfähig zu antworten.

»Ich habe auf dich gewartet, Laura«, fuhr die Stimme fort. »Ich wusste, dass du kommen wirst.«

Die Augen des Mädchens wurden groß. »Ihr wusstet, dass ich … Aber woher denn?«

»Ach.« Wieder klang ein Seufzen aus dem Nebel. »Es ist ein Jammer mit euch Menschenkindern. Ihr braucht so lange, bis ihr hinter die Oberfläche der Dinge zu sehen vermögt und sie versteht – dabei ist alles so einfach!«

»Das … Das behauptet Ihr. Aber …«

»Wie du weißt, ist das Schwert des Lichts in drei Teile zerbrochen, weil ein Mensch es zu einer frevelhaften Tat missbraucht hat. Deshalb kann auch nur ein Menschenkind die Schuld tilgen, die auf Hellenglanz lastet. Das ist doch einsichtig – oder nicht, Laura?« Die Stimme klang plötzlich herrisch.

»Ähm«, räusperte sich das Mädchen. »Ja … ja, schon. Aber woher wusstet Ihr, dass ausgerechnet mich dieses schwere Los treffen würde?«

»Tztztz! Du begreifst immer noch nicht! Namen sind Schall und Rauch, Laura, und nicht weiter von Bedeutung. Das Einzige, was zählt, ist die Aufgabe, die dir aufgetragen wurde, und deshalb bin ich auch mehr als verwundert.«

»Verwundert? Warum denn?«

»Weil du so lange zögerst, mir die Frage zu stellen, die dir auf den Lippen liegt. Dabei bist du doch mit diesem Ziel zu mir gekommen, oder nicht?«

»Ähm … na… natürlich!«

»Worauf wartest du dann noch? Nur den wenigsten wird das große Glück zuteil, mit mir sprechen zu können. Aber es hat ganz den Anschein, als wolltest du diese einmalige Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen.«

»Nein, nein!«, entgegnete Laura rasch. »Natürlich nicht! Ich bin gekommen …«

»Ja?«, klang es ungeduldig aus dem Nebel.

»… um Euch zu fragen …«

»Jetzt mach schon, Laura!«

»… wie das Schwert wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt werden kann.«

»Na, endlich!« Wieder war ein Seufzer zu vernehmen. »Wurde ja auch Zeit!« Wie zu sich selbst fuhr die Stimme fort: »Es ist so schrecklich mit diesen Menschenkindern. Es dauert ewig, bis sie endlich zum Kern der Dinge durchdringen – falls es ihnen überhaupt gelingt.« Ein ärgerliches Brummen war zu hören, bevor die Stimme verstummte.

»Ich … Ich will Euch ja nicht drängen, aber …« Laura legte den Kopf schief und blickte abwartend in den Dunst. »… wolltet Ihr nicht meine Frage beantworten?«

»Jetzt hör sich mal einer dieses Gör an!« Die Stimme klang mehr als vorwurfsvoll. »Erst dauert es endlos lange, bis es mit seinem Anliegen herausrückt – und dann hat es nicht ein Quäntchen Geduld!«

»Aber …«, wollte Laura schon protestieren, unterließ es dann aber doch lieber. Was immer dieses launische Wesen sein mochte, es war wohl klüger, es nicht zu verärgern. Sonst würde es ihre Frage am Ende noch unbeantwortet lassen, womit jede Aussicht, ihre Aufgabe zu erfüllen, zunichte sein würde. Deshalb wartete sie geduldig, bis die Stimme wieder zu sprechen anhob.

»Nur die Dunkelalben, die in den Feuerbergen beheimatet sind, wissen das Schwert wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen.«

»Die Dunkelalben?«, fragte Laura verwundert. »Ich dachte, die stehen auf der Seite von Borbor…«

»Wirst du wohl still sein und mich nicht dauernd unterbrechen!« Die Stimme klang nun ernsthaft erzürnt.

Laura schluckte betroffen und schwieg.

»Es waren die Dunkelalben, die Hellenglanz vor undenklichen Zeiten gefertigt haben – und zwar aus dem gleichen Material wie das Schwert Pestilenz. Und so ist die eine Waffe sowohl das Spiegelbild wie auch das genaue Gegenteil der anderen. Sie gehören untrennbar zusammen – wie das Licht und die Dunkelheit, das Gute und das Böse –, aber das solltest du ja inzwischen gelernt haben, nicht wahr, Laura?«

»Na… Natürlich«, beeilte sich das Mädchen zu versichern. »Und wie Plus und Minus oder wie das Leben und der Tod.«

»Was du nicht sagst!«, spottete die Stimme, um dann besänftigt fortzufahren. »Wenigstens ist die Mühe, die man sich mit dir gemacht hat, nicht gänzlich vergebens gewesen. Dann wirst du sicherlich auch wissen, aus welchem Metall die Dunkelalben die beiden Schwerter geschmiedet haben.«

»Aus welchem Metall?«

»Ja, natürlich. Oder hast du vielleicht angenommen, sie wären aus Holz geschnitzt?«

»Ähm.« Laura machte ein ratloses Gesicht. »Ich … Ähm … Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

»Dachte ich’s mir doch«, seufzte die Stimme gequält. »Dann will ich es dir verraten, Laura. Als die Dunkelalben in der Morgenröte unserer Zeiten die Schwerter Hellenglanz und Pestilenz geschmiedet haben, verwendeten sie dazu das edelste und zugleich seltenste Metall, das unter der Sonne zu finden ist: Sterneneisen!«

»Sterneneisen? Nie gehört. Was soll das denn sein – Sterneneisen?«

»Das wirst du schon herausfinden, wenn du danach suchst«, antwortete die Stimme.

»Und wenn nicht?«

»Ach, Laura.« Ein tiefer Seufzer klang aus dem Nebel. »Dann wird all dein Streben vergeblich sein, fürchte ich. Du wirst deine Aufgabe nicht lösen können und ohne deinen Vater in deine Welt zurückkehren müssen. Das heißt …«

»Ja?«, fragte Laura und hielt den Atem an.

»Das heißt – falls es diese dann überhaupt noch gibt. Ohne die Hilfe von Hellenglanz werden Elysion und seine Verbündeten das Dunkle Heer des Schwarzen Fürsten wohl nicht mehr lange in Schach halten können. Und sollte das Schwert gar Borboron in die Hände fallen, wird er die Krieger des Lichts besiegen und das Ewige Nichts die Herrschaft antreten. Damit aber wird das Ende von Aventerra besiegelt sein – und das des Menschensterns ebenfalls.«

»Ich weiß«, antwortete Laura gequält. »Also verratet mir doch bitte, wo ich dieses Sterneneisen finden kann. Ihr könnt doch nicht wollen, dass uns alle solch ein schreckliches Schicksal ereilt.«

Aber kein Laut drang mehr aus der Nebelwolke.

»Ich bitte Euch!«, flehte Laura, als sich der Nebel genauso plötzlich wieder aufzulösen begann, wie er gekommen war. Die dunklen Schatten verflüchtigten sich. Das Licht kehrte zurück, und bald war das gesamte Tal wieder von strahlendem Sonnenschein durchflutet. Eine Weile noch herrschte unwirkliche Stille, dann war das Zwitschern der Vögel wieder zu hören, das Summen der Bienen und das Flüstern des Windes.

Plötzlich bemerkte Laura eine Bewegung zu ihren Füßen. Es war der Kokon, der an dem Schilfhalm vor ihr hing. Er platzte auf und heraus schlüpfte eines der wunderlichsten Geschöpfe, die Laura jemals erblickt hatte. Im ersten Moment dachte sie, es sei eine Elfe, denn es war von feingliedriger, fast zerbrechlicher Gestalt und besaß ein anmutiges Puppengesicht, das von langem Blondhaar umspielt wurde. Auf seinem Rücken befanden sich vier Flügel, durchscheinend wie die einer Libelle. Dann allerdings bemerkte das Mädchen, dass das Wesen über ein Paar schmächtige Arme und gleich vier schlanke Beine verfügte.

Laura keinerlei Beachtung schenkend, verharrte das zierliche Geschöpf unschlüssig auf dem Halm, bevor es die silbrigen Flügel ausbreitete. Laura sah ihm verwundert nach, bis es sich mit schwirrenden Schwingen im strahlenden Blau des Äthers verlor.

3. Kapitel:Dunkle Machenschaften

Rebekka Taxus stöhnte. Diese verdammte Hitze! Der Schweiß lief ihr in Strömen den Rücken hinunter, und das pinkfarbene Polokleid klebte wie eine zweite nasse Haut an ihr. Einfach widerlich! Außerdem hatte sie wahnsinnige Kopfschmerzen und der Kreislauf spielte verrückt. Dauernd wurde ihr schwindelig. Flimmernde Sternchen kreisten vor ihren Augen, sodass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ihr Mund war so trocken wie ein staubiger Scheunenboden. Sie brauchte dringend Abkühlung.

Die Lehrerin hastete ins Badezimmer und wollte sich eben über das Waschbecken beugen, als ihr Blick in den Spiegel fiel – und schlagartig war die Erinnerung wieder da. Obwohl die entsetzlichen Ereignisse schon unzählige Stunden zurücklagen, standen sie wieder so deutlich vor ihrem geistigen Auge, als hätten sie sich eben erst abgespielt:

Die Dämmerung hatte eingesetzt. Die Schwärze der Nacht wich einem dunklen Grau, und im breiten Schilfgürtel des Drudensees stimmten die ersten Vögel ein Morgenlied an. Die endlose Lichtsäule der magischen Pforte, die immer noch über der kleinen Insel in der Mitte des Sees stand, verblasste, während Quintus Schwartz, Albin Ellerking und sie die Große Meisterin mit maßlosem Entsetzen anstarrten.

Die bleiche Frau sah einfach schrecklich aus. Als sei sie unter einen Bulldozer oder einen Panzer geraten. Sie blutete aus mehreren Wunden auf Stirn und Kinn, ihre fahlen Wangen waren aufgeschürft. Aus ihrem dunklen Haarschopf sickerten rote Rinnsale hervor. Quer über ihrer Nase klaffte ein breiter Spalt, aus dem Blut floss. Ihr smaragdgrünes Kleid war voller dunkler Flecken, und selbst der goldene Anhänger, den sie an einer Kette um den Hals trug, war mit Blut besprenkelt.

Rebekka fragte sich, wer der Großen Meisterin diese Verletzungen zugefügt haben konnte. Ob das wohl Lauras Werk war? Die bleiche Frau mit den gelb glühenden Reptilienaugen verlor nicht ein Wort darüber, sondern zischte nur: »Anstatt mich anzuglotzen, als wäre ich ein siebenschwänziger Höllenhund, hättet ihr vorhin lieber die Augen offen halten sollen! Dann wäre dieses Balg bestimmt nicht durch die Pforte entwischt.«

»Wir haben getan, was wir konnten, Herrin.« Quintus Schwartz senkte den Blick auf die feuchten Planken des schmalen Bootssteges, auf dem sich die kleine Gruppe versammelt hatte, und verneigte sich vor der wütenden Frau. »Aber Ihr wisst so gut wie wir, dass Lauras Schimmel kein gewöhnliches Pferd ist – deshalb war es uns einfach unmöglich, die beiden aufzuhalten.«

»Was du nicht sagst«, entgegnete die Große Meisterin und grinste den Mann mit dem Cäsarengesicht maliziös an. »Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen.«

»I… I… Ich … ähm … verstehe nicht«, stotterte der Dunkle überrascht und tauschte einen schnellen Blick mit seiner Kollegin und Ellerking, die ebenso verblüfft waren wie er. »Wir hätten Laura nicht aufhalten müssen?«

»Nein, es hätte gereicht, ihr die Bruchstücke des Schwertes zu entreißen«, entgegnete die Große Meisterin mit vorwurfsvoller Miene. »Das war doch die Aufgabe, die Borboron euch übertragen hatte – habe ich recht?«

Quintus und Rebekka schwiegen betreten, während Albin Ellerking so tat, als gehe ihn das nichts an. Er machte sich an den Ruderbooten zu schaffen, die am Steg vertäut waren.

»Ob ich recht habe, will ich wissen?« Das blutüberströmte Gesicht der Frau verzerrte sich vor Wut, sodass es einer dämonischen Fratze glich.

»Na… Na… Natürlich, Herrin«, beeilte sich Dr. Schwartz zu antworten. »Natürlich habt Ihr recht. Wir sollten das Schwert in unseren Besitz bringen, weil es die Macht des Schwarzen Fürsten ungeheuer stärken würde. Elysion und die anderen Kreaturen des Lichts hätten ihm dann nur noch wenig entgegenzusetzen.«

»Genauso ist es!« Die Reptilienaugen der Gestaltwandlerin glühten wie giftgelbe Lichtzeichen des Bösen durch die scheidende Nacht. »Wenn Hellenglanz wieder in seinen alten Zustand geschmiedet wird und seine magischen Kräfte sich mit denen von Pestilenz vereinen, kann niemand mehr uns daran hindern, dem Ewigen Nichts zur Herrschaft zu verhelfen! Aber leider …« Ein theatralischer Seufzer quälte sich aus der Tiefe ihrer Kehle. »… habt ihr auch diesmal versagt.« Sie machte einen raschen Schritt auf die beiden zu, die unwillkürlich zurückschreckten. »Ihr lasst immer mehr nach in eurem Bemühen, sodass ich fast den Eindruck gewinnen muss, dass euch unsere gemeinsame Sache nicht mehr am Herzen liegt.«

»Aber, Herrin! Nichtss wäre falscher alss dass!« Rebekka verzischte die S-Laute so stark, dass sie wie eine lispelnde Schlange klang. »Ihr wissst ganz genau, dasss wir alless in unsserer Macht Sstehende getan haben, um Laura und den anderen Wächtern dass Leben zur Hölle zu ma…«

»Ach, tatsächlich?«, fiel die Große Meisterin ihr barsch ins Wort. »Und was haben eure Bemühungen gebracht? Nichts, rein gar nichts! Weder konntet ihr verhindern, dass dieses Balg den Kelch der Erleuchtung gefunden hat, noch wart ihr in der Lage, ihn Laura wieder abzujagen.«

»Das ist richtig, Herrin.« Quintus Schwartz verzog gequält das Gesicht. »Aber daran waren nur unglückliche Umstände schuld …«

»Schluss mit dem elenden Geschwätz!«, fuhr die Gestaltwandlerin nun auch den hochgewachsenen Mann an. »Ihr habt euch noch jedes Mal von diesem Gör übertölpeln lassen und nicht eine der euch übertragenen Aufgaben erfüllt.«

Quintus Schwartz schluckte und blickte erneut betreten zu Boden.

Auch Rebekka Taxus schwieg. In ihrem Inneren begann es zu gären. Aber es war bestimmt besser, die Vorgesetzte nicht noch mehr in Rage zu versetzen. In ihrem Zorn war sie nämlich zu allem fähig.

»Und was ist mit meinem besonderen Schützling?«, meldete sich die aufgebrachte Frau schon wieder zu Wort. »Habt ihr auch wirklich dafür Sorge getragen, dass …«

»Natürlich, Herrin«, unterbrach Dr. Schwartz sie beflissen und verbeugte sich. »Er ist bestimmt wohlbehalten an sein Ziel gelangt – auch ohne Eure Begleitung!«

»Das will ich hoffen.« Die Stimme der Großen Meisterin glich der einer Viper. »Sollte ich allerdings feststellen müssen, dass ihr auch in dieser so ungemein wichtigen Sache versagt habt, dann …«

Rebekka Taxus schloss die Augen. Sie wagte nicht daran zu denken, was in diesem Falle geschehen würde. Sie war nur noch von einem einzigen Gedanken beseelt: Wenn die Große Meisterin doch endlich verschwinden und nach Aventerra zurückkehren würde! Dann hätten wir für die nächsten drei Monate wenigstens Ruhe vor ihr! Und so schielte sie voller Hoffnung zum Horizont.

Zum Glück konnte es nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufgehen würde. Die Herrin musste sich beeilen, wenn sie die magische Pforte noch durchschreiten wollte.

Als habe die Frau mit den Reptilienaugen diese Gedanken erraten, blickte sie nun ebenfalls zum Himmel. Ein hintergründiges Lächeln spielte um ihre schmalen Lippen, als sie sich wieder an ihre Helfer wandte. »Denkt bloß nicht, dass ihr während der nächsten drei Monde untätig sein könnt, nur weil Laura sich in unserer Welt aufhält.«

»Nein, nein, natürlich nicht«, versicherte Quintus Schwartz unterwürfig.

»Ihr wisst, was ihr zu tun habt!« Der Zeigefinger der Großen Meisterin schoss auf die beiden Dunklen zu. Er erinnerte Rebekka an die dürre Kralle einer riesigen Krähe, sodass sie unwillkürlich den Kopf einzog. »Ihr habt dafür zu sorgen, dass dieses Internat hier endlich geschlossen wird. Es ist uns schon lange ein Dorn im Auge. Seit seiner Gründung benutzen unsere Feinde es dazu, ihren Nachwuchs zu schulen, daher wird es höchste Zeit, dass wir diesem widerlichen Treiben ein Ende setzen, verstanden?«

»Aber natürlich, Herrin, selbstverständlich.« Dr. Schwartz dienerte so eifrig wie ein Wackeldackel auf der Hutablage eines Autos. »Ihr könnt Euch ganz auf uns verlassen. Nicht mehr lange, und Ravenstein wird nur noch Geschichte sein. Wir werden alles daransetzen, dass der Schulbehörde nichts anderes übrig bleibt, als das Internat ein für alle Male zu schließen!«

»Das will ich hoffen!« Die Gestaltwandlerin quälte sich ein Lächeln ab, das sie nur noch unheimlicher aussehen ließ. »Solltet ihr allerdings ein weiteres Mal versagen, wird Borboron mit seiner Geduld am Ende sein …« Ein böses Lachen geisterte über ihr blutverschmiertes Antlitz. »… und dann möchte ich wirklich nicht in eurer Haut stecken.«

Rebekka Taxus konnte kaum noch an sich halten. In ihr brodelte es gewaltig. Was bildete diese aufgeblasene Kreatur sich eigentlich ein! Was hatte die alte Hexe denn gegen Laura ausrichten können?

Nichts. Absolut nichts!

Dabei verfügte sie über weit größere Kräfte als alle Helfershelfer Borborons – und war dem Mädchen dennoch unterlegen. Schon wollte sie zu einer bissigen Antwort ansetzen, als sie sich anders besann und sich rasch auf die Lippen biss, um jede unbedachte Bemerkung zu unterdrücken. Doch zu spät!

Verdammt!

Rebekka wurde so siedend heiß, als koche das Blut in ihren Adern. Wie hatte sie nur vergessen können, dass die Große Meisterin sich ebenfalls aufs Gedankenlesen verstand – sogar weit besser als sie selbst! Deshalb wusste sie, was ihr, Rebekka, durch den Kopf gegangen war.

Mit der Schnelligkeit einer Viper schoss die Frau im smaragdgrünen Gewand auf ihr Gegenüber zu und funkelte sie aus Schlangenpupillen an. »Du bist doch eine glühende Verfechterin unserer Sache?«, fragte sie lauernd. »Oder sollte ich mich da täuschen?«

»Äh …« Rebekka verstand nicht, worauf die Gestaltwandlerin hinaus wollte. »Nein, Herrin, natürlich nicht.«

»Dann bist du sicherlich auch bereit, das jederzeit unter Beweis zu stellen?«

»Wenn Ihr ess befehlt«, antwortete die Gefragte gedehnt. Noch immer begriff sie nicht, was die Große Meisterin im Schilde führte.

»Wie großherzig von dir!«, lobte die Frau mit der blutigen Fratze. »Das ist mehr, als ich erwarten konnte. Nicht jeder würde meine schrecklichen Wunden auf sich nehmen, damit ich unversehrt in meine Welt zurückkehren kann. Danke, vielen Dank.«

Rebekka wurde bleich wie ein Totenschädel.

Oh, nein! Nicht schon wieder!

Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien. Die Wunde auf ihrer Stirn, die die Große Meisterin erst vor einigen Wochen auf sie übertragen hatte, war noch nicht richtig verheilt – und da sollte sie noch viel schlimmere Verletzungen auf sich nehmen?

Das war ungerecht! Verdammt ungerecht sogar!

Hilfesuchend wandte sie sich an Quintus Schwartz. Doch der Komplize senkte nur betreten den Blick, was auch der Großen Meisterin nicht verborgen blieb.

Ein kaltes Lächeln huschte über ihr fahles Gesicht, bevor sie wieder ernst wurde. »Schließe die Augen!«, zischte sie Rebekka an.

Die Lehrerin zögerte, bevor sie allen Widerstand aufgab und gehorchte.

Die Gestaltwandlerin senkte beide Hände auf Rebekkas karmesinrote Rastalocken, warf den Kopf in den Nacken und murmelte beschwörende Worte, die weder die Lehrerin noch Dr. Schwartz verstehen konnten.

Obwohl der Dunkle wusste, was geschehen würde, starrte er wie gebannt in das geschundene Antlitz der unheimlichen Frau. Es ging alles ganz schnell: Die Blutungen versiegten und die schrecklichen Risse und Abschürfungen schlossen sich wie von Geisterhand, bis nicht mehr die kleinste Schramme in Syrins Gesicht zu erkennen war.

Dafür aber war nun Rebekka Taxus von den Wunden gezeichnet, die die Große Meisterin mittels ihrer schwarzmagischen Kräfte auf sie übertragen hatte. Im Nu war das Antlitz der Lehrerin von Blut überströmt, und sie stöhnte vor Schmerzen.

Die Große Meisterin schien das nur zu amüsieren. »Du tust bestimmt gut daran, schnellstmöglich einen Arzt aufzusuchen«, säuselte sie hämisch und tätschelte gönnerhaft die Schulter der Verletzten. »Wenn sich die Wunden entzünden, bleiben mit Sicherheit Narben zurück.« Damit wandte sie sich ab und machte ein paar Schritte auf dem Steg hinaus.

Albin Ellerking, der immer noch neben den Booten kauerte, sprang sofort auf. »Steigt bitte ein, Herrin«, sagte er mit einem fast bodentiefen Bückling. »Ich rudere Euch hinüber zur Insel.«

Die Große Meisterin hatte nur ein Lachen für den Gärtner mit den spitzen Nachtalbenohren übrig. »Als ob ich auf die Hilfe von euch Erdenwichten angewiesen wäre!« Sie trat ans Ende des Steges, reckte beschwörend die Hände zum Himmel – als ihr plötzlich noch etwas einfiel. Blitzschnell drehte sie sich um und wandte sich an Quintus Schwartz, der beflissen einige Schritte auf sie zumachte, während Rebekka Taxus die Zähne zusammenbiss, um die Schmerzen besser zu ertragen. »Beinahe hätte ich etwas vergessen«, sprach Syrin den Dunklen mit barscher Stimme an.

»Ja, Herrin?«

»Behaltet diesen Kerl im Auge – ihren Bruder!«

»Ihr meint …« Dr. Schwartz glotzte wie ein ratloser Ochsenfrosch. »… Lukas?«

»Ihren Bruder, ja, genau! Wen denn sonst?«

»Aber warum? Ver… Ver… Verzeiht die Frage, Herrin – aber Lukas ist weder ein Wächter wie seine Schwester, noch ist er im Zeichen der Dreizehn geboren.«

»Als ob ich das nicht wüsste!« Syrin schien die Verwirrung zu genießen, die ihre Anordnung ausgelöst hatte. »Und dennoch ist Lukas Leander alles andere als ein gewöhnlicher Mensch!«

»Was?« Die Verwunderung des Lehrers steigerte sich noch mehr. »Aber … das habt Ihr uns nie erzählt!«

»Nein?« Noch immer spielte ein überlegenes Lächeln um Syrins Lippen. »Wirklich nicht?«

Wortlos schüttelte Quintus Schwartz den Kopf, während Rebekka Taxus die Frau am Ende des Steges nur mit offenem Mund anstarrte.

»Und warum, meint ihr, haben wir uns damals so viel Umstände mit dieser Anna gemacht?«, fuhr die Gestaltwandlerin da auch schon fort. »Mit der Mutter der beiden Bälger? Ihr erinnert ihr euch doch bestimmt noch an den Tag ihres Unfalls?«

»Na… Na… Natürlich!« Dr. Schwartz nickte und warf der Herrin einen unterwürfigen Blick zu. »Trotzdem weiß ich nicht …«

»Dann solltest du einfach deinen Kopf anstrengen, mein Lieber«, sagte Syrin harsch. »Denk noch mal genau darüber nach, was damals alles geschehen ist – ich bin ganz sicher, dass dir auch ohne meine Hilfe aufgehen wird, weshalb ihr ein besonderes Augenmerk auf diesen Kerl haben sollt!« Damit drehte sie sich um und hob erneut die Hände. Kaum hatte sie eine unverständliche Beschwörung gemurmelt, als ein Ruck durch ihren Körper ging. Von geheimnisvollen Kräften angehoben, lösten sich ihre Füße von den Planken des Steges, und dann schwebte Syrin, wie von einem unsichtbaren Luftkissen getragen, knapp über der Wasseroberfläche auf die Insel und auf die sich darüber erhebende Lichtsäule zu. Kaum hatte die magische Pforte sie verschluckt, löste diese sich auch schon auf. Im selben Augenblick noch erhellte ein rotgoldener Schein den Himmel im Osten: Die Sonne ging auf.

Rebekka Taxus schüttelte sich, und wie ein Schleier fiel die Erinnerung von ihr ab. Das verletzte Gesicht starrte ihr blass aus dem Spiegel entgegen. Die Heilung hatte kaum Fortschritte gemacht. Dabei hatte sie sofort einen Arzt aufgesucht. Er hatte die Verletzungen nicht nur gereinigt und desinfiziert, sondern die tieferen Wunden auch geklammert und verpflastert. Doch sobald Rebekka die Pflaster löste, strömte das Blut stets von Neuem. Ein schlimmer Verdacht stieg in der Lehrerin auf: Offensichtlich verfolgte Syrin eine teuflische Absicht damit. Die Verletzungen waren wohl als Menetekel gedacht und sollten sie ständig an ihre Aufgabe erinnern. Wenn diese Vermutung richtig war, dann würde ihr Gesicht erst dann wieder hergestellt sein, wenn ihr Auftrag vollständig erfüllt war.

Rebekka Taxus verharrte reglos vor dem Spiegel und starrte sich aus zusammengekniffenen Augen an – als ihr wie aus dem Nichts eine Idee kam. Die quälende Hitze war schlagartig vergessen, der Schwindel und die Kopfschmerzen waren wie weggeblasen.

Ja, natürlich!

Warum hatte sie nicht eher daran gedacht? Dabei war alles doch so einfach! Ein kleiner Anstoß genügte – und schon würde eine Lawine ins Rollen kommen, die so gewaltige Ausmaße annahm, dass sie diesen alten Zausel von Professor und alle seine Wächterkollegen ein für alle Male aus dem Wege räumen würde!

Für die Dunklen Mächte – und das Ewige Nichts!

Wer hätte gedacht, dass du so clever bist, lobte Rebekka sich im Stillen selbst und lächelte böse. Soll Ravenstein doch vor die Hunde gehen. Ich würde alles tun, um den Untergang des Internats noch zu beschleunigen.

Ihr nächster Gedanke jedoch überraschte sie selbst. »Ssorry, Lukass«, murmelte sie heiser. »Aber schließslich isst ess ja nicht meine Schuld, dasss du nichtss von dem Geheimniss ahnsst, dass du seit der Sstunde deiner Geburt mit dir herumträgsst!«

*

»Los! Los! Los!« Die Sklavenaufseherin ließ die Peitsche über die Rücken der Jungen in den zerlumpten Kleidern tanzen. »Macht, dass ihr nach draußen kommt! Und dann in zwei Reihen aufstellen, aber schnell!«

Alienor biss sich auf die Lippen, während sie hilflos mit ansehen musste, wie unbarmherzig die Frau einen Teil der Insassen aus der Knabenunterkunft hinaus auf den Burghof der Dunklen Festung trieb. Dabei hätte es der Schläge gar nicht bedurft, denn die Sklaven gehorchten widerspruchslos. Folgsam huschte einer nach dem anderen mit stumpfen Blicken ins Freie. Die Ketten an ihren Füßen klirrten auf dem Pflaster, während sie in Zweierreihen im Schlagschatten der hoch aufragenden Burgmauer Aufstellung nahmen und mit gesenkten Köpfen warteten.

Nur wenige Bewohner der düsteren Festung nahmen von dem Vorgang Notiz. Die Mehrzahl der Mägde und Knechte ging teilnahmslos weiter ihrer Arbeit nach. Auch die unzähligen Ritter in den schwarzen Rüstungen, die über den großen Hof verteilt waren, hatten keinen Blick für die Jungen. Sie standen in Gruppen zusammen oder lagerten um die hell lodernden Feuer, die selbst in den Sommermonaten nicht verloschen. Sie wurden gebraucht, um die immerwährende Kälte zu mildern, die die Dunkle Festung wie ein unsichtbares Tuch einhüllte. Andere Recken übten sich an den Waffen oder kümmerten sich um die kaum zu bändigenden Streitrosse der Schwarzen Garde. Wieder andere widmeten sich der Meute der zweiköpfigen Hundebestien, deren Wohlergehen ihnen weit mehr am Herzen lag als das Los der Sklaven. Nur ein paar Küchenmägde, die vor dem Eingang zum Versorgungstrakt mit den Vorbereitungen zum abendlichen Mahl beschäftigt waren, hoben die Köpfe und beobachteten verstohlen die Vorgänge in ihrer Nähe.

Alienor hatte sich in den langen Wochen ihres Aufenthalts in der Trutzburg des Schwarzen Fürsten mit einigen von ihnen angefreundet, und so mischte sich das Mädchen mit den blonden Zöpfen unter sie, um das Geschehen möglichst unauffällig zu verfolgen. Es musste schließlich einen besonderen Grund haben, dass die Sklaventreiberin ausschließlich Jungen in den Hof gescheucht hatte – und zudem nur die größten und kräftigsten von ihnen.