Lavagrab - Rana Wenzel - E-Book

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Rana Wenzel

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Beschreibung

Urlaub auf Lanzarote. Was sich zunächst nach Erholung, Strand und Meer anhört, erweist sich für Victoria Stein bald schon als lebensgefährlich, als sie bei der Suche nach einer verschwundenen Frau hilft. Ohne es zu ahnen, kommt Victoria dabei skrupellosen Verbrechern in die Quere. Zum Glück erscheint Privatdetektiv Jarne de Zand unverhofft auf der Kanareninsel, denn die Lage wird immer bedrohlicher … Der zweite Kriminalfall mit Rechtsanwältin Victoria Stein

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ähnliche


 

 

 

 

 

 

Rana Wenzel

 

Lavagrab

Ein Victoria Stein Krimi

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Über das Buch

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

Impressum

Über das Buch

Urlaub auf Lanzarote. Was sich zunächst nach Erholung, Strand und Meer anhört, erweist sich für Victoria Stein bald schon als lebensgefährlich, als sie bei der Suche nach einer verschwundenen Frau hilft. Ohne es zu ahnen, kommt Victoria dabei skrupellosen Verbrechern in die Quere. Zum Glück erscheint Privatdetektiv Jarne de Zand unverhofft auf der Kanareninsel, denn die Lage wird immer bedrohlicher …

 

Der zweite Kriminalfall mit Rechtsanwältin Victoria Stein

 

 

Über die Autorin

Rana Wenzel ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Mit ihrem Mann lebt sie zwischen Ruhrgebiet und Sauerland – sofern sie sich nicht gerade für einige Wochen an einen Ort mit Meerblick zurückzieht, um dort zu schreiben. Auch auf Lanzarote hat sie schon einige Monate gelebt. Ihre Liebe zu der Vulkaninsel begann bereits in der Kindheit, so verwundert es nicht, dass mit "Lavagrab" schon der zweite Roman von Rana Wenzel dort spielt.

Prolog

 

Der Spanier zündete sich eine Zigarette an und blickte auf das Meer. Dunst waberte über dem spiegelglatten Wasser im Hafenbecken und der Geruch nach Diesel schwängerte die Luft. Der Mond spähte durch ein Loch in der Wolkendecke. Aufgeschreckt huschte eine Ratte in den langen Schatten des Ladekrans. Um ihn herum war es totenstill. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und lauschte.

Über das Wasser hinweg erklangen vereinzelte Stimmen, dort wo es am Abend noch von Touristen gewimmelt hatte. Das glamouröse Kreuzfahrtterminal lag jedoch nicht nur in einem anderen Teil des Hafens, es lag in einer anderen Welt. In seine Ecke – diese ärmliche, in der rostige Container und harte Arbeit den Ton angaben – verirrte sich nachts niemand. Auch heute schien keiner zu stören. Er nickte zufrieden. Ein reibungsloses Verladen minimierte das Risiko der Entdeckung und die Ware erreichte schneller ihr Ziel. Das war wichtig, denn für seine Fracht waren mehrere Tage im Container eine Belastung. Er war kein Mann großen Mitleids, aber kranke Frauen bedeuteten Probleme, die er nicht gebrauchen konnte.

Manchmal fragte er sich, ob er sich wieder mehr auf den Drogenhandel besinnen sollte. Damit hatte er angefangen, aber der Markt war umkämpft. Hingegen boomte das Geschäft mit den Menschen.

Ein Motorengeräusch durchbrach die Stille. Nach einem letzten Zug warf er die halb gerauchte Zigarette auf den Boden, trat sie aus und verschwand mit raschen Schritten in der Lagerhalle neben ihm.

Ein Transporter rollte durch das geöffnete Tor.

»Der Container ist bereit«, empfing er den Fahrer, sobald dieser ausgestiegen war. »Er steht am üblichen Ort. Beeil dich mit dem Verladen der Ware!«

Er musste hier niemanden beaufsichtigen, Achmed und Iván waren ein eingespieltes Team, aber es gefiel ihm, zuzuschauen. Seine Männer hielten Schlagstöcke und Taser bereit, die sie jedoch nur selten benötigten. Meist waren die Frauen zwei oder drei Tage in Achmeds Obhut, und das und sein Gürtel reichten aus, um auch die Widerspenstigste von ihnen zu zähmen. Erwartungsgemäß kletterten sie auch heute folgsam aus dem Transporter und trotteten wie eine Herde Schafe durch die Halle, viele von ihnen wahrscheinlich noch immer mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa im Herzen.

Der Spanier spuckte aus. Nicht sein Problem. Sobald die Ware verladen worden war, kümmerten sich andere um den Rest. Für ihn war es dann an der Zeit, Nachschub von Afrikas Küste herbeizuschaffen.

1.

 

»Los, zuziehen!«, kommandierte Jo und wies mit einem Kopfnicken auf den Reißverschluss, während sie das störrische Kofferoberteil mit ihrem gesamten Gewicht nach unten drückte.

»Das geht einfach nicht!«, beschwerte sich Victoria und fluchte, weil sie bei dem Versuch abrutschte, das widerspenstige Gepäckstück doch noch zu schließen. Missmutig betrachtete sie ihren Fingernagel. »Mist, eingerissen.«

Jo zuckte mit den Schultern. »Wolltest du nicht im Urlaub einen Kletterkurs belegen? Dafür sind lange Nägel ohnehin nicht geeignet.«

Victoria warf ihrer besten Freundin einen bösen Blick zu. »Ich glaube viel eher, die Götter sagen mir so, ich sollte besser zuhause bleiben. Das ist ein Zeichen!«

»Allenfalls ein Zeichen dafür, dass du zu viele Sachen eingepackt hast. Was ist denn alles da drin?« Kopfschüttelnd klappte Jo den Koffer wieder auf und inspizierte den Inhalt. »Acht Bücher?« Sie hob den Kopf. In ihrer Miene lag ein Ausdruck, als hätte Victoria waffenfähiges Plutonium nach Lanzarote schmuggeln wollen. »Was bitte willst du mit acht Büchern? Ihr seid nur drei Wochen dort!«

»Aber am Arsch der Welt! Hast du vergessen, wohin Valerie mich verschleppt?« Victoria kniff die Augen zusammen. »Wenn ich nicht gezwungen sein will, mich mit Tarotkarten oder dem Auflegen heilender Edelsteine zu befassen, werde ich mich ohne ausreichende Urlaubslektüre zu Tode langweilen.«

Jo zog ungerührt die Bücher aus dem Koffer. »Zwei. Maximal. Eins für den Flug, eins für den Strand. Für den Rest nimmst du den hier.« Sie angelte nach ihrer Handtasche und zog ihren E-Book-Reader heraus. »Hier, der wiegt deutlich weniger und du kannst sogar im Dunkeln lesen, falls eure alternativen Unterkünfte nur mit Kerzen beleuchtet werden.« Sie grinste.

»Hör bloß auf! Ich würde meiner Schwester glatt zutrauen, dass sie uns in einer steinzeitlichen Höhle unterbringt, sofern das der spirituellen Reinigung oder Ähnlichem dient.« Victoria rollte mit den Augen. Dann ergriff sie den E-Book-Reader. »Den willst du mir wirklich leihen?«

»Bevor du noch weiter wegen des Koffers nörgelst, trenne ich mich lieber für ein paar Wochen von meinen E-Books«, feixte Jo und warf den Kofferdeckel abermals zu. »Probier mal, ob er sich jetzt schließen lässt. Und dann sollten wir ins Bett gehen, dein Flieger nach Lanzarote geht morgen verdammt früh.«

Zwölf Stunden später befand sich Victoria neben ihrer Schwester Valerie an Bord eines Airbus A320 rund zehntausend Meter über dem Atlantischen Ozean. Josephine hatte sie früh morgens zum Flughafen chauffiert, wo sie von Valerie in Empfang genommen worden war. Ihre Schwester strahlte, während Victoria mit ihrer Morgenmuffeligkeit kämpfte. Ohnehin war ihre Vorfreude auf diesen Urlaub gedämpft. Ihre Schwester hatte die einsam gelegene Finca als Reiseziel ausgewählt. Der ehemalige Bauernhof war zu einem alternativen Ferienkomplex umgebaut worden und bot alles, was in irgendeiner Form spirituell oder esoterisch war. Es war typisch für Valerie, sich ausgerechnet hier einzubuchen.

Sie wusste aus den Prospekten, dass die Finca außerhalb von Femés lag. Diese kleine Ortschaft thronte oberhalb einer Ebene in dem Ajaches-Massiv, dem ältesten Gebirgszug auf Lanzarote. Sehr abgelegen, sehr einsam.

Übertrieben-enthusiastische Bespaßung durch Animateure mochte sie zwar auch nicht, aber dies hier war ebenso wenig ihr Stil. Valerie und Jo hatten allerdings in puncto Urlaub nicht locker gelassen, und weil Victoria sich nicht kümmerte, hatte Valerie kurzerhand die gesamte Planung übernommen. Dass ihre Schwester seit jeher der Ansicht war, Victoria müsse viel mehr für ihre Gesundheit tun, und deshalb keine Gelegenheit ausließ, ihr das Konzept einer ausgewogenen Lebensweise aufzudrängen, hatte Victoria nicht bedacht. Als sie endlich begriffen hatte, wohin Valerie sie verschleppen wollte, war es schon zu spät gewesen. Ihre Schwester hatte die Buchungsunterlagen für die Finca El Reposo bereits in der Hand gehalten.

Selbst Marcus hatte sich mitleidlos gezeigt, als sie sich bei ihm über ihr hartes Los beschweren wollte. Obwohl ihr Kollege und Sozius die Kanzlei jetzt für drei Wochen allein hüten musste, hatte er einen möglichst erholsamen und ruhigen Urlaub für eine ausgezeichnete Idee gehalten. »Schau dich mal an! Der Sommer hat Spuren hinterlassen. Ein abgeschiedener Ort ist ideal für dich.«

Damit lag er nicht falsch. Ihr letzter großer Fall, eine Strafverteidigung, hatte sie beinahe das Leben gekostet. Ihre Angst in den Stunden, die sie gefesselt in einem alten Keller verbracht hatte, spürte sie immer noch. Kurz darauf waren Jo und sie in die Hände von zwielichtigen Kerlen geraten. Seitdem wachte sie häufig schweißgebadet aus wirren Träumen auf. Sie hatte niemandem davon erzählt, aber wenn sie in den Spiegel blickte, musste sie einräumen, dass man ihr die schlaflosen Nächte ansah.

Zuletzt hatte sich selbst Elena noch eingeschaltet, die gute Seele ihrer Kanzlei. Deren Schwester lebte auf Lanzarote, sodass Elena sofort einige Fotos auf dem Smartphone vorzeigen konnte von bizarren Lavaformationen und mystischen Vulkanlandschaften. Beinahe widerwillig war Victoria fasziniert.

»Außerdem kannst du meine Schwester besuchen und ihr die Leviten lesen, weil sie sich nie meldet«, hatte Elena mit einem Augenzwinkern hinzugefügt, das aber nicht ganz die Traurigkeit und den ungewohnten Ernst in ihrem Blick überspielen konnte.

Nach all der geballten Überzeugungskraft hatte Victoria Einsicht gezeigt und der Reise zugestimmt. Und nun saß sie in dieser Blechröhre und brachte die dreitausend Kilometer hinter sich, die zwischen ihrer Heimat und dem Flughafen Arrecife auf den Kanaren lagen.

Als sie mit ihrem Gepäckwagen das Flughafengebäude verließen und ihr Blick auf den Mann fiel, der auf sie wartete, hätte sie am liebsten kehrtgemacht. Ein Mensch gewordenes Klischee mit weißen und lange nicht mehr geschnittenen Haaren trat auf sie zu. Sie unterdrückte ein Stöhnen.

Er lächelte sie herzlich an. »Ihr seid bestimmt die Stein-Schwestern.«

Victoria und Valerie nickten stumm. Valerie, weil sie ohnehin die stillere der beiden war; Victoria, weil sie sprachlos auf die Erscheinung starrte. Der Mann fiel nicht nur aufgrund seiner Haarpracht auf, auch sein Gewand erinnerte an einen Guru vergangener Jahrzehnte. Genau so etwas hatte Victoria befürchtet. Sie sah fragend zu Valerie, aber die schien das Auftreten ihres Gegenübers in keiner Weise merkwürdig zu finden.

»Ich bin Ulf«, grüßte der Mann immer noch strahlend. Er begegnete der Schweigsamkeit der Schwestern ohne erkennbare Auswirkung auf seine Freundlichkeit und dirigierte sie mit einer Armbewegung zu dem Parkdeck auf der gegenüberliegenden Seite des Flughafengebäudes. Zu Victorias Erleichterung standen dort nur gewöhnliche Fahrzeuge, keine Rikscha, kein Eselskarren oder etwas, das ähnlich gut zum Auftreten ihres Abholers gepasst hätte. Stattdessen führte Ulf die Schwestern zu einem erstaunlich neuen und komfortablen Kleinbus, der sogar über eine Klimaanlage verfügte. In Victoria keimte die Hoffnung, die Finca könne doch mit Annehmlichkeiten für einen erträglichen Urlaub ausgestattet sein. Im Lichte dieser Zuversicht wuchs auch ihr Interesse an der Insel. Victoria lehnte sich zurück und sog die Bilder der vorüberziehenden Landschaft in sich auf.

Ihr Guru steuerte den Kleinbus parallel zur Küste über eine Autobahn. Linker Hand glitzerte das Meer, am Horizont erhoben sich die Vulkane Fuerteventuras, davor erahnte man im Dunst einen weißen Streifen: die Dünen von Corralejo. Sie passierten Puerto del Carmen, den großen Touristenort, der sich kilometerlang an der Küste ausdehnte. Das Gelände stieg an, und wenig später erreichten sie einen Kreisverkehr, den sie in Richtung der alten Vulkane des Ajaches-Gebirgszugs verließen.

Die Straße wurde schmaler und die Gegend mit jedem Kilometer einsamer. Rechts und links erschienen vereinzelt einige Häuschen, doch schien der Gedanke an Mondkrater an diesem Ort näherliegend als die dichte Bebauung Puerto del Carmens, die sich doch nur wenige Fahrminuten entfernt an der Küste drängte. Kurz bevor sie das Dorf Femés erreichten – sie konnten es schon am Ende der Straße erkennen – bog Ulf nach links ab und folgte einem holprigen Weg in ein Tal zwischen den alten Berghängen. Nun fühlte sich Victoria wirklich auf den Mond versetzt. Soweit das Auge reichte, war da nichts als graubraune Erde. Keine Pflanzen, weder Sträucher noch Bäume. Nur eine Ziege trottete mutterseelenallein mit gesenktem Kopf durch die Einöde. Victoria konnte sich nicht vorstellen, dass hier draußen irgendjemand wohnen sollte. Doch irgendetwas musste noch kommen. Ulf sah nicht aus wie ein Entführer. Und in diesem Punkt war Victoria im Sommer zur unfreiwilligen Expertin geworden. Kurz darauf passierten sie tatsächlich ein großes Holzschild auf dem in kunstvoll geschmiedeten Buchstaben die Worte ›Finca El Reposo‹ prangten. Sie waren am Ziel, und Victoria überlegte sofort, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sich Ulf als Entführer entpuppt hätte. Denn dann wäre wenigstens die Chance gegeben, nach wenigen Tagen gerettet und aus dieser Ödnis befreit zu werden.

Valerie indes schien mit ihrer Ferienbehausung zufrieden zu sein. »Wahnsinn, diese Stille«, flüsterte sie andächtig, kaum dass Ulfs Kleinbus sie auf einem Hof ausgepuckt hatte.

An drei Seiten standen Gebäude, die in ihrem blendenden Weiß und der länglich flachen Form an überdimensionale Schuhkartons erinnerten. Hinter einer Mauer aus dunklem Lavagestein blitzte ein Autodach hervor. Dort war wohl der - erstaunlich verwaiste – Parkplatz des Anwesens.

Ein leichter Wind trug den salzigen Duft nach Meer herbei, brachte aber kaum Abkühlung. Die heiße Luft flirrte über dem Vorplatz. Victoria war froh, als sich die Tür des langgestreckten Gebäudes vor ihnen öffnete. Egal wohin – sie wollte nur erst einmal raus aus der Gluthitze.

Eine Frau trat mit strahlender Miene auf sie zu, während der noch immer lächelnde Ulf ihre Koffer hineintrug.

Die Frau konnte einfach nur Ulfs Partnerin sein, so sehr ähnelte sich der Stil der beiden – allerdings war der weibliche Teil des Paares deutlich farbenfroher. Ihr gebatiktes grün-blaues Baumwollkleid hing an dünnen Trägern von ihren Schultern bis hinunter zu den Füßen, die in violetten Gesundheitssandaletten steckten. Die rotblonden Haare hatte sie mit einem grellen Tuch zu einem Zopf gebunden und klimpernde Ohrringe vervollständigten den kunterbunten Auftritt. Was Ulf an Farbe fehlte, glich sie wieder aus.

»Herzlich willkommen«, rief sie enthusiastisch und klatschte vor Freude über das Erscheinen der beiden Schwestern in die Hände.

Victoria lächelte verhalten zurück, während Valerie ihr gesamtes Entzücken über diesen Ort in ihre Miene legte und gutgelaunt verkündete: »Ich bin so glücklich, dass wir hier sind.«

Victoria wunderte sich ein wenig über die Begeisterung. Noch hatten sie nichts gesehen außer einem Hof, vom Staub graubraun wie die Berge um sie herum, sowie die Außenseite eines ehemaligen Stalles – wie Victoria vermutete, denn nach Wohnhaus der Bauersleute sah dieses Gebäude nicht aus. Immerhin wirkte alles gepflegt. Die Wände waren frisch getüncht und die Eingänge wurden von großen Blumenkübeln eingerahmt, in dem sich ihr unbekanntes Grünzeug befand. Es sah allerdings hübsch und einladend aus, das musste sie zugeben.

Ähnlich wie Ulf ließ sich auch die Frau nicht von Victorias zurückhaltender Art beeindrucken. Sie ergriff ihre Hand und schüttelte sie, als wollte sie die Armmuskeln auflockern. »Willkommen, willkommen«, zwitscherte sie dabei mit einer hohen und fröhlichen Stimme. »Mein Name ist Ulla; Abkürzung von Ursula. Meinen Mann Ulf kennt ihr ja schon.«

Victoria rollte verstohlen mit den Augen. Ulla und Ulf. Was kam als nächstes? »Ich bin ja so froh, euch hier empfangen zu dürfen«, setzte die Gurugattin ihre Begrüßungsrede fort. »Kommt mit, ich zeige euch euer Zimmer. Es wird euch sicher gefallen.«

Sie führte die beiden Schwestern durch die große Tür, die Ulf bereits mit ihrem Gepäck durchschritten hatte. Im Inneren empfing sie Dämmerung. Kleine Fenster ließen nur unzureichend Licht in die beiden Flure, die nach rechts und links abgingen. Ulla wählte den rechten und führte Valerie und Victoria an einigen hölzernen Türen vorbei. ›Das sind bestimmt ehemalige Pferdeboxen‹, dachte Victoria bei sich. ›Oder nein, hier lebten eher Esel oder Ziegen.‹ Ihre Laune sank immer tiefer, während sie ihren Herbergseltern durch den düsteren Gang folgte.

Als habe sie die finsteren Gedanken gespürt, drehte Ulla ihren Kopf zu den Schwestern. »Keine Sorge, die Glasfronten in den Zimmern sind größer. Auf dieser Seite hier steht die Mittagssonne. Die kleinen Fenster haben seit jeher verhindert, dass sich die Gebäude im Innern zu stark aufheizen. Ja, ja«, lachte sie, »die Menschen wussten sich früher zu helfen. Lange bevor es Klimaanlagen gab. Wir können eine Menge von unseren Vorfahren lernen, wenn wir uns wieder auf das alte Wissen besinnen.«

Victoria erwiderte nichts, denn die Frau hatte im Grunde recht. Allerdings befürchtete Victoria, man könnte sich an diesem Ort zu sehr auf die alten Werte besinnen und jeglichen Komfort dabei vergessen. Valerie hingegen nickte begeistert. Das passte genau zu ihrer Lebenseinstellung.

Unterdessen waren sie vor einer hölzernen Tür stehen geblieben, die Ulf öffnete. Die kleine Gruppe betrat ein helles, geräumiges Zimmer. Victoria stieß erleichtert den Atem aus, den sie beim Hineingehen angehalten hatte. Es sah weit weniger schlimm aus als befürchtet. Der Boden war mit terracottafarbenen Fliesen ausgelegt, das Mobiliar bestand aus schwerem Holz in spanischem Stil und wirkte gepflegt und gemütlich. Ein Wandschrank befand sich auf der rechten Seite, auf der linken gab es ein kleines Bad, nicht sehr groß aber immerhin mit fließend warmem und kaltem Wasser und sogar einer Dusche ausgestattet. Dem Eingang gegenüber ließ eine Glasfront – wie versprochen – viel Licht in das Zimmer. Dahinter lag eine ebenfalls terracottafarben geflieste Terrasse mit zwei Stühlen und einem kleinen Tisch. Vor der Terrasse verlief ein breiter Weg.

Ulla deutete darauf. »Dies ist der Hauptverbindungsweg«, erläuterte sie. »Ich zeige euch gleich auf dem Plan, wie ihr zum Speisesaal kommt. Außerdem haben wir einen kleinen Pool, wie ihr sicherlich schon aus dem Prospekt wisst. Dahinter befinden sich die Räume für unsere Anwendungen und Kurse.« Sie lächelte mütterlich. »Mein Mann und ich lassen euch jetzt allein, doch wenn ihr Fragen habt, sprecht uns jederzeit an. Ihr wollt euch bestimmt ausruhen nach der langen Reise und auspacken. Wir sehen uns später beim Essen. Hier ist der Plan, auf dem ich euch den Weg eingezeichnet habe.«

Damit drückte sie Valerie ein Faltblatt in die Hand und verließ zusammen mit Ulf das Zimmer.

Mit einem Seufzen ließ Victoria sich aufs Bett fallen. »Ich bin geschafft«, stöhnte sie, »das früher Aufstehen ist wirklich nicht mein Ding. Wollen wir mal nachschauen, ob es hier eine Cafeteria oder eine Poolbar gibt? Ich könnte einen Kaffee gebrauchen.«

Valerie sah sie an, als hätte sie einen schlechten Scherz gemacht. »Einen Kaffee?« Sie konnte ihre Entrüstung kaum verbergen. »Den wirst du hier kaum finden.«

Victoria fuhr hoch. »Wie meinst du das?«

»Auf dieser Finca geht es um unser Wohlbefinden. Ganzheitlich. Es ist doch wohl selbstverständlich, dass wir uns nicht mit so einem Zeug vergiften!« Tadelnd schüttelte Valerie den Kopf.

Victoria verschlug es für einen Moment die Sprache. Das war ein Albtraum. Das musste ein Albtraum sein. Gleich würde sie aufwachen, mit müden Schritten zum Kaffeevollautomaten stapfen und sich eine Tasse dieses wunderbaren Getränks zubereiten. Sie starrte ihre Schwester fassungslos an.

»Na komm, zieh nicht so ein Gesicht« Valerie tätschelte aufmunternd ihre Schulter. »Es gibt auch belebende Kräutertees, du wirst schon sehen. Ein paar Tage ohne Kaffee werden dir guttun. Ich habe manchmal den Eindruck, du bist süchtig nach dem Zeug.«

Victoria zuckte mit den Schultern. Nicht ausgeschlossen, dennoch hatte sie nicht vor, diesen Zustand zu ändern. In Spanien gab es herrlich aromatischen Café solo, auf den würde sie keinesfalls verzichten. Wenigstens aber wollte sie löslichen Kaffee aufs Zimmer schmuggeln. Sie machte sich im Geiste eine Notiz, sich nachher beim Essen nach den Busverbindungen zu erkundigen. Eines stand fest: Wenn Sie hier nicht eingehen wollte, müsste sie gleich am kommenden Tag ein Geschäft auftreiben, in dem es Wasserkocher und Instantkaffee gab.

Beim Abendessen erlebte Victoria die nächste Enttäuschung. Eigentlich gleich mehrere. Im Speiseraum empfing sie munteres Stimmengewirr. Das Hotel schien gut besucht zu sein, und nicht wenige kannten sich offenbar untereinander. Die beiden Neuankömmlinge wurden neugierig beäugt. Man schenkte ihnen das eine oder andere Lächeln, dann widmeten sich die Gäste wieder ihrem Essen, das – soweit Victoria es beurteilen konnte – mit Begeisterung verzehrt wurde. Eine Freude, die Victoria nicht teilte. Denn sie sah bestätigt, was sie schon befürchtet hatte: Die angebotenen Speisen waren gesund – und zwar konsequent. Fleischlos, gemüselastig und frei von allem, was ihr für gewöhnlich das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Sie stöhnte innerlich, riss sich aber Valerie zuliebe zusammen, die entzückt auf die Auswahl auf ihrem Teller reagierte. Ihre Appetitlosigkeit schob sie auf den anstrengenden Anreisetag, als Ulla ihren Blick beim Abräumen lange auf den Resten der Quinoabratlinge ruhen ließ und es schaffte, dabei gleichzeitig betrübt und vorwurfsvoll auszusehen.

Hatte Victoria den Kaffeeentzug sowie die Qualen ihres Gaumens noch mit Fassung ertragen, erreichte ihre Laune nach dem Essen den endgültigen Tiefpunkt, als sie Ulla nach dem Busfahrplan fragte.

»Der fährt dreimal täglich von Femés nach Arrecife«, lautete die pikierte Antwort. »Das empfinden wir als absolut ausreichend. Schließlich geht es bei eurem Aufenthalt darum, der Hektik und dem Trubel zu entkommen.« Ihr Dauerlächeln geriet etwas verkniffen.

Victoria wurde spätestens jetzt klar, dass sie dem Ganzen hier ohne nennenswerte Chance auf ein Entkommen ausgeliefert war. Die Finca lag nicht nur zufällig weit draußen – vielmehr setzte das gesamte Konzept auf Abgeschiedenheit. Das erklärte wohl auch, warum der hoteleigene Parkplatz so auffallend leer gewesen war. Die Gäste suchten und genossen die Einsamkeit.

Victoria wagte es dennoch, sich nach den Abfahrtszeiten der Busse zu erkundigen, und traute bei Ullas Antwort ihren Ohren kaum. Nachdem sie sich bereits im Geiste von Kaffee und der Hoffnung auf Steaks zum Abendessen verabschiedet hatte, landete Sekunden später auch noch die Idee, im Urlaub auszuschlafen, auf der Liste der schmerzlich vermissten Dinge. Sie würde morgen früh um neun Uhr an der Haltestelle stehen. Und vorher einen Zweikilometermarsch von der Finca über die staubige Zufahrt bis zur Hauptstraße absolvieren. Sie fand keine Worte dafür, wie sehr sie den kommenden Tag jetzt schon hasste.

2.

Es war draußen noch nicht einmal richtig hell, als Victoria widerwillig ins Bad schlurfte und sich unter die Dusche stellte.

»Spinnst du?« Valerie erschien in der Badezimmertür. »Es ist mitten in der Nacht!«

»Ich habe doch gesagt, dass ich den ersten Bus erwischen muss. Der nächste fährt erst heute Nachmittag«, erwiderte Victoria ungerührt und rubbelte sich die Haare trocken. Sie hatte die blonden Locken vor dem Urlaub ein gutes Stück kürzen lassen und freute sich nun, dass der Bob sich als so pflegeleicht erwies wie gehofft. Etwas Festiger hineinkneten und schon war sie fertig.

Valerie warf ihr einen giftigen Blick zu. »Ich habe das für einen Scherz gehalten! Du kannst doch unmöglich zu dieser nachtschlafenden Stunde zwei Kilometer durch die Einöde wandern.«

»Darf ich dich daran erinnern, wer dafür verantwortlich ist, dass wir in dieser Einöde gelandet sind?«

»Ja, damit wir ausspannen können! Vor allem du!« Valeries Miene drückte all ihre Missbilligung aus. »Es war nicht geplant, bereits am nächsten Tag fluchtartig das Gelände zu verlassen.«

Victoria hörte hinter Valeries Verärgerung Enttäuschung heraus, und sofort stach ihr Gewissen. Sie wusste, dass Valerie es nur gut meinte. Ihre Schwester war besorgt über Victorias schlechtes Befinden und das nicht zu Unrecht, wie sie einräumen musste. Sie hatte wirklich schon besser ausgesehen.

»Hör zu«, sagte sie deshalb versöhnlich, »ich habe Elena versprochen, nach ihrer Schwester zu sehen. Sobald ich weiß, dass es Levinia gut geht, gelobe ich, mich mit aller Kraft zu entspannen.«

»Elena?« Valerie runzelte die Stirn. »Deine Sekretärin?«

»Rechtsanwaltsfachangestellte«, korrigierte Victoria automatisch. »Genau, um die geht es. Als sie hörte, dass ich nach Lanzarote fliege, bat sie mich, herauszufinden, ob mit ihrer Schwester alles in Ordnung ist. Die meldet sich seit Wochen nicht mehr. Was schon mal vorkommen kann, Levinia scheint kein besonders zuverlässiger Mensch zu sein. Elena konnte mir nicht einmal ihre aktuelle Anschrift geben, und weiß nur, wo sie arbeitet. Ich werde also dort nach Levinia fragen, damit Elena beruhigt ist.«

»Verstehe.« Valerie wirkte besänftigt. »Brauchst du Unterstützung? Soll ich mitkommen?«

»Ich schaffe das schon«, winkte Victoria ab. »Hast du nicht für nachher irgendeine Anwendung gebucht?« Valerie schien wild entschlossen, jedes Angebot der Finca auszuprobieren. Für Victoria klang das nach mehr Stress als Entspannung, aber solange Valerie nicht auf die Idee kam, sie ebenfalls zur Teilnahme zu verpflichten, würde sie ihre Schwester nicht davon abhalten. Während Valerie beschäftigt war, konnte Victoria sich ihrer eigenen Vorstellung eines schönen Urlaubstages widmen, die sich deutlich von der ihrer Schwester unterschied. Statt Meditation und Meridianen spielten bei ihr eher Dinge wie ein gutes Buch am Strand und ein Cocktail am Abend eine Rolle.

Als Victoria die Appartementanlage ›Ola y mar‹ am Rande von Puerto del Carmen betrat, kam es ihr so vor, als sei es nicht fünf Stunden, sondern fünf Tage her, dass sie geduscht hatte. Das Shirt, das sie am Morgen frisch aus dem Schrank genommen hatte, klebte am Rücken und sah aus, als hätte sie darin geschlafen. Zu Victorias Entsetzen gab es keine direkte Busverbindung zwischen Femés und Puerto del Carmen. Kurzerhand war sie also in Tías aus dem Bus gestiegen, nicht zuletzt, weil sie eine kleine Cafeteria am Straßenrand entdeckt hatte. Nach zwei starken Kaffees fühlte sie sich lebendiger und hatte sich ein Taxi nach Puerto del Carmen geleistet. Allerdings ohne zu wissen, dass die Appartementanlage, in der Elenas Schwester arbeitete, am entgegengesetzten Ende des Ortes lag. Wenn sie ihre Reisekasse nicht bereits am ersten Tag überstrapazieren wollte, würde sie für den Rückweg doch die Odyssee des Busfahrens auf sich nehmen müssen. Ein nicht sonderlich verlockender Gedanke, da die Busfahrt mit Umstieg in Arrecife bestimmt zwei Stunden dauern würde. Außerdem setzte sie das unter gehörigen Zeitdruck, denn der Nachmittagsbus nach Femés fuhr bereits um kurz nach vierzehn Uhr.

Schlecht gelaunt näherte sie sich der Rezeption. Ein mindestens ebenso missmutiger Rezeptionist starrte ausdruckslos zurück.

»Hola, buenos días«, grüßte Victoria und wartete vergeblich auf ein höfliches Lächeln ihres Gegenübers. »Ich suche Levinia. Sie arbeitet hier. Wissen Sie, wo ich sie finden kann?«, fragte sie auf Spanisch weiter.

Der Typ verzog keine Miene, wenigstens ließ er sich dazu herab, mit den Schultern zu zucken, und grunzte etwas. Als Victoria sich nicht von der Stelle rührte, wiederholte er deutlicher: »Keine Ahnung, ich kenne keine Levinia.«

»Aber das sind doch die Apartments Ola y mar?«, vergewisserte sich Victoria, woraufhin der Rezeptionist etwas brummte, das zustimmend klang. »Gibt es noch eine andere Apartmentanlage mit diesem oder einem ähnlichen Namen?«

Der Rezeptionist schüttelte stumm den Kopf.

»Dann bin ich hier richtig«, erklärte Victoria. »Sind Sie sicher, dass Sie keine Levinia kennen? Sie muss hier arbeiten. Das hat mir ihre Schwester gesagt.« »Hier arbeitet keine Levinia«, erwiderte der Rezeptionist, immerhin in einem vollständigen Satz.

Victoria runzelte die Stirn. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Levinia. Levinia Rodriguez.« Ihr Gegenüber zog die Augenbrauen hoch; sein Blick sagte ›ich habe ausreichend Auskunft erteilt, nun stör mich nicht weiter‹. Victoria war jedoch nicht bereit, so leicht aufzugeben. Elena wartete auf beruhigende Nachrichten, und die wollte Victoria ihr überbringen können. Und dies war ihre einzige Spur. Also versuchte sie es noch einmal. »Sind Sie ganz sicher?« Sie wühlte in ihrer Handtasche nach dem Zettel. »Da steht es, das hat mir ihre Schwester aufgeschrieben, sehen Sie?« Sie reichte die Notiz über die Theke. »Hier: Levinia Rodriguez-Garcia. Apartementos Ola y mar.«

In diesem Augenblick rollte eine Mitarbeiterin ein Reinigungswägelchen durch die Rezeption. Sie bekam die letzten Worte Victorias mit.

»Zu Levinia wollen Sie?«, rief sie aus. »Da kommen Sie zu spät, die arbeitet schon seit einigen Wochen nicht mehr hier.« Sie warf einen Blick zu dem Rezeptionisten »Levinia kannst du nicht kennen. Du bist für sie hier eingestellt worden, nachdem sie nicht mehr erschienen war.«

Jetzt war Victoria beunruhigt. »Einfach so nicht mehr erschienen?«

Die Hotelangestellte zuckte mit den Schultern. »Die Zuverlässigste war sie nie. Hat keinen gewundert.« Sie begann, über die Tische im Wartebereich zu putzen.

»Haben Sie eine Ahnung, wie ich Levinia erreichen kann? Ihre Schwester ist eine Freundin von mir und macht sich Sorgen.«

Die Hotelmitarbeiterin schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, ich habe keine Ahnung. Wir hatten keinen privaten Kontakt.« Sie legte die Stirn in Falten und dachte einen Augenblick nach. »Aber ich könnte schnell … also wenn Sie hier warten … Moment.« Mit diesen Worten huschte sie hinter die Theke der Rezeption und verschwand in einem kleinen Nebenraum. Das Klappern einer Tastatur drang heraus. Wenige Minuten später stand die Frau wieder vor ihr. Sie reichte Victoria einen Zettel. »Hier, nehmen Sie.«

Victoria warf einen neugierigen Blick auf das Blatt. Eine Adresse. »Levinias Privatanschrift?«

Die Frau nickte. Victoria bedankte sich überschwänglich, konnte es sich nicht verkneifen, dem Rezeptionisten einen kühlen Blick zuzuwerfen, und verließ die Apartmentanlage. Auf der Straße blieb sie stehen und überlegte. Puerto del Carmen war groß. Viel größer als sie erwartet hatte. Die Luft waberte heiß über dem Asphalt. Ihre Suche nach Levinia zu Fuß fortzusetzen, kam genauso wenig infrage wie ein Taxi. Sie wollte schließlich noch etwas von der Insel sehen und nicht ihr Reisebudget mit Taxifahrten am ersten Tag vollständig plündern. Wollte sie nicht in ihrer Finca vor Einsamkeit eingehen, blieb allemal nur eine Lösung: Sie musste sich heute noch ein Fahrzeug ausleihen. Valerie und sie hatten ohnehin geplant, sich die Insel anzusehen – auf eigene Faust, ohne Reiseleiter und Touristenmassen.

Sie hatte Glück. Die Autovermietung konnte ihr kurzfristig einen kleinen Wagen zur Verfügung stellen. Victoria überlas geflissentlich den Passus im Vertrag, der das Befahren unbefestigter Pisten verbot. Die Zufahrt zur Finca galt schließlich als Straße – irgendwie. Vorsichtshalber schloss sie eine Zusatzversicherung für die Reifen ab.

Bevor sie losfuhr, schrieb sie Valerie eine Nachricht, dass sie später als geplant zurückkäme, dann öffnete sie die Navigations-App ihres Smartphones und gab Levinias Anschrift ein. Außerhalb von Puerto del Carmen, aber nicht weit zu fahren.

Kurz darauf klopfte sie an die Tür der angegebenen Adresse. Erst rührte sich nichts. Victoria klopfte erneut, nachdrücklicher diesmal und allmählich sicher, ihr Besuch sei vergeblich gewesen. Dann hörte sie endlich ein Geräusch aus der Wohnung. Ein verschlafener Spanier öffnete. Er sah sie fragend an und fuhr sich durch die strubbeligen Haare. »Lange Nacht«, sagte er anstelle einer Begrüßung.

»Entschuldige die Störung.« Victoria erklärte auf Spanisch ihr Anliegen.

»Levinia wohnt hier nicht mehr«, informierte sie der Spanier und wollte die Tür schließen.

Rasch stellte Victoria einen Fuß dazwischen. Sie war nicht den halben Tag durch Puerto del Carmen gejagt, um sich hier abwimmeln zu lassen. Außerdem breitete sich allmählich ein ungutes Gefühl in ihr aus. Job, Anschrift und Mobilnummer – alles hatte Levinia in den letzten Wochen geändert. Vielleicht sah sie Gespenster, aber das klang nach mehr als bloßer Unzuverlässigkeit. Versuchte Levinia, unterzutauchen?

»Bitte, ihre Schwester macht sich große Sorgen.« Sie legte alles Flehen in ihren Blick, zu dem sie fähig war.

»Keine Ahnung, wo sie jetzt wohnt.« Der Spanier drückte fester gegen die Tür. Als Victoria den Fuß nicht wegnahm, seufzte er. »Versuchs in Tías bei Yago. Ist eine Bar. Da hängt sie oft ab.«

Victoria bedankte sich und trat einen Schritt zurück. Ohne ein weiteres Wort schlug der Spanier die Tür zu. Besonders freundlich begegneten ihr die Menschen nicht. Vielleicht strahlte sie selbst ja gerade etwas so Schlechtgelauntes aus, das Griesgrämigkeit provozierte. Frühes Aufstehen, Hitze und Coffeinentzug trugen nicht unbedingt zur Urlaubsstimmung bei. Victoria sah auf die Uhr. Der Mittag war vorbei. Zeit für den nächsten Kaffee. Vielleicht gab es so etwas bei Yago, und nebenbei könnte sie herausfinden, wo sich Levinia aufhielt.

Obwohl Tías der Hauptort des gleichnamigen Gemeindegebiets war, lag das Städtchen in einer Art Dornröschenschlaf. Irgendwo bellte ein Hund. Die meisten Fensterläden waren zugeklappt, die Geschäfte hatten Mittagspause.

Auf Yagos Bar traf das glücklicherweise nicht zu. Einige Arbeiter, die vor einem Lokal dösten, hatten ihr den Weg zu Yago erklärt, und nun stand sie vor einem einstöckigen Gebäude am Stadtrand. Die schmutzige Fassade wirkte wenig einladend. Das Gebrüll irgendeiner Sportübertragung im Fernsehen schallte bis auf den Gehsteig. Victoria zögerte, überhaupt hineinzugehen, doch Aufgeben war nie ihr Ding gewesen. Sie atmete tief durch und trat in den dämmrigen Raum.

Die Idee, hier einen Kaffee zu trinken, verwarf Victoria sofort. Das war keine Bar, das war eine Spelunke. Sie hielt sich nicht für übertrieben pingelig, aber hier würde sie nicht einmal etwas anfassen wollen – geschweige denn, etwas zu sich nehmen. Die Luft roch abgestanden nach säuerlichem Schweiß, schalem Bier und kaltem Rauch. Der Lärm aus den Lautsprechern war hier drinnen noch ohrenbetäubender. Drei Männer, die in einer Ecke spielten, mussten sich anschreien, um sich zu verständigen.

Hinter der Theke lehnte ein gelangweilt aussehender Spanier, nicht ganz schulterlange Haare, schon etwas licht oberhalb der Stirn, ungleichmäßiger Schnauzbart und stechende Augen. Victoria musste den Fluchtreflex unterdrücken, während sie an den Tresen trat, wo ein weiterer Gast saß, ein Bier vor sich und das Rauchverbot missachtend.

Mit einem angedeuteten Nicken grüßte der Typ hinter der Theke, mit einer entgegengesetzten Bewegung des Kinns fragte er wortlos nach ihrer Bestellung.

Victoria beugte sich in seine Richtung und sagte laut, beinahe schreiend: »Ich suche Levinia Rodriguez!«

Dieses von einem Schulterzucken begleitete Ich-habe-keine-Ahnung-von-wem-du-redest-Gesicht wollte Victoria heute nicht mehr sehen. Sie stützte sich auf dem Tresen ab, um noch näher an den Kerl zu gelangen, und brüllte gegen den Lärm des Fernsehers und der drei Männer an: »Levinia Rodriguez-Garcia. Mir wurde gesagt, ich finde sie hier.«

Das Gesicht des Kerls näherte sich, schlechter Atem schlug Victoria entgegen, die sich beherrschen musste, nicht zurückzuweichen.

»Hab ich ewig nicht gesehen«, sagte er. »Und wenn du nichts trinken willst, verschwinde.« Jäh blitzte etwas Gefährliches in seinen Augen auf, und Victoria machte hastig einen Schritt nach hinten. Beinahe hätte sie dabei das Bier des anderen Gastes umgestoßen.

»Entschuldigung«, sagte sie rasch, weil sie nicht noch mehr Feindseligkeit provozieren wollte.

Der Mann sah sie jedoch unerwartet freundlich an. »Versuchs mal bei Pablo, die Straße weiter hoch, am rostigen Auto links ab. Hab gehört, die wohnt jetzt bei ihm.«

»Halt’s Maul«, fuhr ihm der Wirt über den Mund.

---ENDE DER LESEPROBE---