Leander und der Blanke Hans - Thomas Breuer - E-Book

Leander und der Blanke Hans E-Book

Thomas Breuer

0,0

Beschreibung

Heftige Stürme ziehen über die Nordfriesischen Inseln hinweg. Die Küstenschutzmaßnahmen laufen auf Hochtouren. Plötzlich verschwindet der investigative Schriftsteller Kai-Uwe Groothues. Henning Leander wird mit der Suche beauftragt. Seine Ermittlungen auf Föhr, ein Leichenfund im Watt, Sabotageanschläge auf den Großbaustellen und Groothues´ Recherchen über die Sandmafia führen Leander nach Sylt. Dort macht er eine grauenvolle Entdeckung und gerät selbst ins Visier der Mörder.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 497

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thomas Breuer

Leander und der Blanke Hans

Inselkrimi

Zum Buch

Stürmische Zeiten Während heftige Stürme über die Nordfriesischen Inseln und Halligen hinwegziehen, laufen die Küstenschutzmaßnahmen auf Hochtouren. Plötzlich verschwindet der investigative Schriftsteller Kai-Uwe Groothues. Henning Leander wird mit der Suche beauftragt. Seine Ermittlungen auf Föhr, ein Leichenfund im Watt, Sabotageanschläge auf den Großbaustellen, ein anonymer Brief, Groothues’ Recherchen über die Sandmafia und nicht zuletzt der Wunsch seiner Freundin Franziska, sie zu Freunden nach Sylt zu begleiten, führen ihn auf die »Königin der Nordsee«. Eine grauenvolle Entdeckung am Strand und die darauffolgende Erkenntnis, einem mächtigen Gegner gegenüberzustehen, lässt Leander seine Freunde Mephisto und Tom zu Hilfe rufen. Gemeinsam folgen sie der Spur der Mörder und stoßen auf ein Netzwerk aus örtlichen Bauunternehmern und dänischen Küstenschützern. Und dann ist da noch die Spur, die zurück nach Föhr führt. Bei einem nächtlichen Treffen mit einem Whistleblower kommt es schließlich zu einem Kampf auf Leben und Tod.

Thomas Breuer wurde 1962 in Hamm/Westfalen geboren und hat in Münster Germanistik und Sozialwissenschaften studiert. Seit 1994 lebt er mit seiner Familie im ostwestfälischen Büren, wo er an einem Gymnasium als Lehrer für Deutsch, Sozialwissenschaften und Zeitgeschichte arbeitet. Er liebt die Literatur und die Fotografie, die Nordseeinseln und den Darß. Seine zweite Heimat ist die Insel Föhr, auf der er regelmäßig im Auftrag seiner Hauptfigur neue Kriminalfälle recherchiert. »Leander und der tiefe Frieden« ist der erste Band der Erfolgsreihe um seinen Ermittler Henning Leander, die er kontinuierlich fortsetzt. Thomas Breuer ist Mitglied der Autorenvereinigung Syndikat und schreibt neben seinen Kriminalromanen auch Kurzkrimis für Anthologien.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2022 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Cora Müller / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7114-8

Vorbemerkung

Das Sturmtief Friederike, das mit schweren Orkanböen am 18. Januar 2018 über Europa hinweggefegt ist, hat zehn Menschen das Leben gekostet und einen Versicherungsschaden von insgesamt einer Milliarde Euro angerichtet.

Kyrill am 18./19. Januar 2007 hat zehn Milliarden US-Dollar Schaden angerichtet, davon allein in Deutschland fünf Komma fünf Milliarden. 46 Menschen starben, mehr als eine Million Menschen waren zeitweilig ohne Strom. Kyrill hat Spitzengeschwindigkeiten von 225 Kilometern pro Stunde erreicht.

Der Orkan Lothar am 26. Dezember 1999 mit bis zu 272 Kilometern pro Stunde hat 110 Menschen das Leben gekostet, darunter allein 88 in Frankreich, 14 in der Schweiz und 13 in Baden-Württemberg. Bei den Aufräumarbeiten verunglückten in der Schweiz weitere 15 Menschen tödlich. Der Versicherungsschaden betrug über sechs Milliarden US-Dollar.

Und das ist erst der Anfang!

Dieser Roman ist all denen gewidmet, die den Kampf gegen den Klimawandel als Jahrhundertaufgabe begreifen und jeweils in ihrem Bereich einen Beitrag für eine CO2-neutrale Zukunft leisten.

Figuren

Henning Leander: ehemaliger Kriminalhauptkommissar beim LKA Schleswig-Holstein; lebt dank des Erbes seines Großvaters als Frühpensionär in Wyk auf Föhr und betätigt sich als Hobbyermittler

Franziska Tadsen: Lebensgefährtin Leanders; betreibt auf Amrum einige Ferienwohnungen

Tom Brodersen: Lehrer für Deutsch und Geschichte am Gymnasium in Wyk, hat als »Heimatforscher« ständig neue, zum Teil größenwahnsinnige Projekte; Skatbruder Leanders

Elke Brodersen: Toms Ehefrau, die souverän mit seinen Spinnereien umgeht

»Mephisto«: bürgerlicher Name: Dirk Wittkamp; ehemaliger katholischer Priester, jetzt Gastwirt; betreibt die Seefahrerkneipe Kleines Versteck in Wyk und ein Bauerncafé mit Biergarten in Oevenum

Diana: Mephistos Lebensgefährtin mit undurchsichtiger Vergangenheit, die ihm »zugelaufen« ist; arbeitet unter anderem als Heilerin

Götz Hindelang: Kunstmaler mit DDR-Vergangenheit, Skatbruder Leanders

Johanna Husen: Leanders alte Nachbarin, die ihre eigenen Vorstellungen davon hat, was er seinem verstorbenen Großvater für immer schuldig ist

Jürgen Huss: »Bu-Bu«, genannt nach seiner gleichnamigen Buchhandlung am Sandwall; unterstützt Leander bei seinen Recherchen

Jens Olufs: verdankt Leander den Abschuss seines früheren Vorgesetzten und somit seinen Posten als Polizeichef auf Föhr

Dieter Bennings: Kriminalhauptkommissar in Kiel, zuständig für Kapitalverbrechen auf den Nordfriesischen Inseln

Sven Carstensen: Polizeichef auf Amrum

Ole Peters: Polizeichef auf Sylt

Birte Frerich: Franziskas Cousine auf Sylt, betreibt ein Geschäft für exklusive Brautmoden und organisiert Traumhochzeiten

Thoralf Frerich: Birtes Mann, Unternehmensberater

Marei Frerich: dreijährige Tochter von Birte und Thoralf

Kai-Uwe Groothues: investigativer Krimiautor aus Witsum, recherchiert sehr gründlich explosive Themen und macht sich dabei zahlreiche Feinde

Susanne Bremer: Groothues’ Tochter, lebt in Flensburg

Enno Paulsen: Bauunternehmer auf Föhr

Christian Randers: Bauunternehmer in Tinnum auf Sylt

Liv Randers: Christian Randers’ Frau

Cindy Ketelsen: Randers’ Sekretärin

Nommen Hinrichsen: Baukönig auf Sylt

Bengt Röde: Vertreter der dänischen Küstenschutzfirma Rasmussen auf Sylt

Heiko Klaassen: Inselreporter auf Sylt

Arft Petersen: Geophysiker und Beamter des Landesbetriebs für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz LKN, verantwortlich für die Küstenschutzmaßnahmen auf Sylt

Doktor Eberhard Korthals: Geologe auf Sylt, Anführer der Bürgerinitiative gegen die Sandvorspülungen

Trutz, Blanke Hans!

Heut’ bin ich über Rungholt gefahren,

die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.

Noch schlagen die Wellen da wild und empört

wie damals, als sie die Marschen zerstört.

Die Maschine des Dampfers schütterte, stöhnte,

aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:

Trutz, Blanke Hans!

Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,

liegen die Friesischen Inseln im Frieden.

Und Zeugen weltenvernichtender Wut,

taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.

Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten,

der Seehund sonnt sich auf sandigen Platten.

Trutz, Blanke Hans!

Mitten im Ozean schläft bis zur Stunde

ein Ungeheuer tief auf dem Grunde.

Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,

die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand.

Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen

und treibt ihn, sechs Stunden, wieder von hinnen.

Trutz, Blanke Hans!

Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen

die Kiemen gewaltige Wassermassen.

Dann holt das Untier tiefer Atem ein

und peitscht die Wellen und schläft wieder ein.

Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken,

viel reiche Länder und Städte versinken.

Trutz, Blanke Hans!«

Detlev von Liliencron (1882/83)

01

»Das sieht nicht gut aus.« Franziska blickte auf die Spuren der Verwüstung, die der Sturm in der letzten Nacht in Leanders Garten angerichtet hatte.

Der stand einfach nur daneben und ließ das Drama auf sich wirken, das durch die über ihn hinweg treibenden dunklen, dichten Wolken noch unterstützt wurde.

Den Apfelbaum hatte es zwei große und mehrere kleine Äste gekostet, die verstreut auf dem Rasen lagen. An den Stellen, an denen sie aus dem Stamm gerissen worden waren, klafften zwei große offene Wunden. Tisch und Stühle waren wild herumgewirbelt worden, schienen aber dem ersten Anschein nach nicht allzu sehr in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Eine Gartenliege ragte wie ein vor der Gewalt der Elemente warnender Zeigefinger aus der Ligusterhecke zu Johanna Husens Grundstück. Leander hoffte inständig, dass sie keine Schneise geschlagen hatte und sich die Lücke wieder schließen würde, weil seine Nachbarin sonst einen direkten Zugang zu seinem Garten hätte.

Das war jedoch alles halb so wild. Heftiger hatte es den alten Geräteschuppen getroffen.

»Den hat’s zerbröselt«, kommentierte Leander fatalistisch. »Ich fürchte, da hilft nur noch die Abrissbirne.«

Franziska nickte bedauernd, wandte aber ein: »Die wirst du nicht mal brauchen.«

Das Reetdach der Holzhütte war größtenteils weggefetzt, vermooste Halme bedeckten den Rasen hinter dem Schuppen. Die Wände auf der dem Haus zugewandten Seite hingen nach innen gedrückt und größtenteils zersplittert in der Luft. Die Tür hatte der Sturm aus den Angeln gerissen und regelrecht zerborsten. Insgesamt sah das eher nach einem aufgeschichteten Biikehaufen aus als nach einem Gartenhäuschen. Hier war nur noch Brennholz zu gewinnen. Die beiden Katzen Bella und Poirot störte das weit weniger als Leander. Sie tigerten neugierig vor dem Holzhaufen auf und ab und sogen die aus den Ritzen quellenden Mäusedüfte auf.

»Hoffentlich haben die Geräte nichts abgekriegt.« Leander zog zweifelnd die Augenbrauen hoch, empfand aber auch keinen Anreiz, das zu überprüfen, denn dazu hätte er den Bretterhaufen zuerst abtragen müssen.

»Das kannst du nur feststellen, wenn du aufräumst.« Franziska hatte offenbar seine Gedanken gelesen und wollte ihn damit nicht durchkommen lassen. Entsprechend hatte sie dies als Aufforderung formuliert und machte auch gleich den Anfang, indem sie die Stühle aufhob und an ihren alten Platz stellte. »Fass mal mit an.«

Sie deutete auf den Tisch, den sie nun mit vereinten Kräften hochwuchteten und umdrehten. Hier war augenscheinlich nichts beschädigt, wie Leander erleichtert feststellte. Nur als er die Gartenliege aus der Hecke zerrte, bogen sich die Äste nicht wieder zurück. Eine der Jahrzehnte alten Ligusterpflanzen war direkt über dem Boden abgebrochen und hinterließ nun eine breite Lücke.

»Das wird Johanna gefallen!« Franziska lächelte hämisch. »Ein Loch in der Hecke verschafft ihr die lange ersehnten Einblicke in dein Lotterleben.« Offenbar freute sie sich schon auf die anstehenden Scharmützel zwischen Leander und seiner alten Nachbarin.

»Ist bei euch auch alles heil geblieben?«, kam es postwendend aus dem Nachbargarten über die Hecke herüber. Johanna Husen hatte ihre eigene Art, auf sich aufmerksam zu machen und vorwurfsvoll mitzuteilen, dass sie das eben Gesagte sehr wohl gehört hatte.

Während Franziska mit einem Wedeln der rechten Hand und nach oben gezogenen Augenbrauen andeutete, dass sie da wohl wieder in ein Fettnäpfchen getreten war, grinste Leander nun schadenfroh und antwortete: »Die Reste des Gartenschuppens kann ich nur noch abreißen, aber sonst sind wir glimpflich davongekommen. Und wie sieht es bei dir aus?«

»Alles heil geblieben«, verkündete Johanna Husen triumphierend und ergänzte in einem vorwurfsvollen Tonfall: »Der Orkan war ja auch angesagt. Da habe ich natürlich rechtzeitig alles in Sicherheit gebracht und festgezurrt.«

Leander grinste in Franziskas Richtung und wollte schon fragen, wie man ein Gartenhäuschen denn in Sicherheit bringen oder festzurren sollte. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass er nur wieder eine Belehrung erhalten würde, die den Erhaltungszustand des Leander’schen Anwesens und die Faulheit seines Besitzers zum Gegenstand gehabt hätte.

Als das Schweigen ihr offenbar zu lang wurde, ergänzte die alte Nachbarin: »Die Stürme werden aber auch von Jahr zu Jahr heftiger. Früher hatten wir nur im Herbst und Winter Orkane, jetzt zieht sich das bis weit ins Frühjahr. Das Goting-Kliff soll diesmal sogar drei Meter eingebüßt haben. Wenn das so weitergeht, können die den Spielplatz hinter das Café verlegen.«

Vor Leanders inneren Augen tauchte das Bild der lehmigen Steilküste bei Nieblum auf, an deren Rand ein großer Kinderspielplatz angelegt war. Hier nagten die Sturmfluten jedes Jahr an der Kleikante und rissen ganze Brocken heraus, die dann grau und klebrig auf dem Sand liegen blieben.

»Schlimmer getroffen hat es aber diesmal die Ostfriesischen Inseln«, fuhr Johanna Husen fort. »Auf Wangerooge ist schon wieder der komplette Badestrand vor dem Café Pudding weggerissen worden. Die Bilder im Morgenmagazin waren fürchterlich. Das kann man sich ja gar nicht vorstellen. Wie metertief ausgebaggert sieht das aus.« Nun hatte sich die alte Nachbarin in Rage geredet und kümmerte sich gar nicht darum, dass von Leander keine Antwort kam. »Und vor Langeoog hat sich ein Ölfrachter auf einer Sandbank festgefahren. Wenn der ausein­anderbricht, ist die Katastrophe aber perfekt.«

»Das ist der Klimawandel«, kommentierte Leander lapidar, weil er glaubte, auch endlich etwas sagen zu müssen.

»Quatsch, Klimawandel«, kam es postwendend zurück. »Du glaubst ja wohl nicht auch an diesen Blödsinn, den die Greta-Sekte und die Spinner von den Grünen da von sich geben.«

»Das sind keine Spinnereien«, belehrte Leander seine alte Nachbarin, »dafür gibt es wissenschaftliche Belege. Und du hast ja eben auch selbst gesagt, dass die Stürme immer heftiger werden.«

»Papperlapapp! In der Geschichte der Inseln hat es immer mal wieder schwere Stürme gegeben. Das ist Wetter und hat mit dem Klima gar nichts zu tun.«

Leander beschloss, diese Diskussion nicht weiterzuführen. Wenn Johanna von etwas überzeugt war, konnte sie störrisch wie ein alter Esel sein, und die inneren Widersprüche ihrer Aussagen waren ihr dann völlig egal. Zu derart fruchtlosen Disputen fehlte ihm heute Morgen schlicht die Lust.

»Ich rufe mal zu Hause an, ob da alles in Ordnung ist.« Franziska kniff ein Auge zu, als wollte sie sagen: »Du hast ja Gesellschaft«, und entfernte sich in Richtung seines Fischerhäuschens, während er die letzten Stühle aufhob und unter den Apfelbaum stellte.

»Henning?«, kam es nun doch ungehalten aus dem Nachbargarten. »Bist du noch da?«

»Natürlich, Johanna. Ich stehe hier und lausche deinem Bericht.« Das war gelogen, denn Leander hatte sich inzwischen auf einem der Stühle niedergelassen, um das Elend seines alten Schuppens zunächst einmal auf sich wirken zu lassen, bevor er die von Franziska begonnenen Aufräumarbeiten darauf ausweiten würde. Der Scheiterhaufen war geradezu ein Sinnbild der Naturgewalt, die in dieser Nacht über die Nordsee hinweggezogen war, und somit wert, gebührend gewürdigt zu werden.

Nun tauchte der weit vorgereckte Warankopf der alten Nachbarin in der Heckenlücke auf, gefolgt vom Rest des dürren Körpers. »Großer Gott! Das sieht ja fürchterlich aus.« Johanna schlug bestürzt eine Hand vor den Mund. »Wenn das der arme Hinnerk noch erleben müsste!«

Leanders Großvater Heinrich, von dem er das Friesenhaus geerbt hatte, hatte immer alles gut in Schuss gehalten, und Johanna Husen ließ keine Gelegenheit verstreichen, den Enkel an die ihrer Ansicht nach aus dem Erbe erwachsenen Verpflichtungen zu erinnern.

Entsprechend vorwurfsvoll ergänzte sie nun: »Da hätte man aber auch mal eher was dran machen müssen. Jetzt ist es zu spät.« Dabei schüttelte sie missbilligend ihr greises Haupt und zog den faltigen Hals derart in die Länge, dass Leander schon fürchtete, der Kopf müsse ihr gleich abfallen. »Weißt du was?«, sagte sie schließlich mit wild entschlossenem Tonfall. »Ich komme nachher rüber, und dann räumen wir zusammen erst einmal gründlich auf.«

»Danke für das Angebot«, beeilte sich Leander zu sagen, »aber das schaffen Franziska und ich schon alleine. Außerdem muss ich erst einmal überlegen, was ich mit dem alten Schuppen vorhabe.«

»Na, wieder aufbauen!«, kam es resolut zurück, als sei alles andere eine Art Frevel. »Für Hinnerk wäre das gar keine Frage gewesen!«

Bevor Leander antworten konnte, dass er aber nicht Hinnerk sei und ein Recht auf eine eigene Vorstellung habe, kam Franziska aus dem Haus zurück und ließ sich auf dem Stuhl neben Leander nieder. »Ich fürchte, ich muss zurück nach Amrum«, sagte sie bedauernd. »Bei mir ist ein Reetdach beschädigt. Nichts Schlimmes, aber es muss repariert werden. Ich habe schon bei Andreesen angerufen. Der hat natürlich nach dem Sturm alle Hände voll zu tun, aber er schickt so bald wie möglich zwei Leute rüber.«

Franziska betrieb in Norddorf auf Amrum drei Häuser mit Ferienwohnungen, die die Familie ihres verstorbenen Mannes gebaut hatte. In einem davon wohnte sie auch selber. Leander und sie wechselten mehr oder weniger regelmäßig zwischen Amrum und Föhr hin und her, um so viel Zeit wie möglich gemeinsam zu verbringen.

»Soll ich mitkommen?«, erkundigte sich Leander.

»Das könnte dir so passen!« Franziska lachte. »Mach du erst einmal hier Ordnung. Außerdem ist heute Mittwoch.«

»Stimmt.« Leander nickte stirnrunzelnd. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«

»Du vergisst deinen Skatabend? Das ist ein Sakrileg, mein Lieber.«

Franziska hatte recht. Der Skatabend war für Leander und seine Freunde heilig, und es musste schon etwas Ernsthaftes passieren, damit einer von ihnen dem wöchentlichen Treffen fernbleiben durfte. Ein sturmgerupftes Dach auf Amrum war jedenfalls kein hinreichender Grund.

»Ich soll also nicht helfen?«, brachte sich Johanna wieder in Erinnerung, die offenbar jedem ihrer Worte aufmerksam gelauscht hatte und nun zu der Erkenntnis gelangt war, dass es da nichts Spannendes mehr zu erfahren gab.

»Danke, Johanna«, antwortete Leander. »Ich melde mich, wenn ich deine Hilfe brauche.«

»So machen wir’s«, stimmte die alte Nachbarin nickend zu und verschwand wieder durch das Loch in der Hecke.

»Puh«, flüsterte Leander handwedelnd, »da habe ich aber gerade nochmal Glück gehabt.«

»Du bist ungerecht«, schalt ihn Franziska. »Sie will einfach nur hilfsbereit sein, und du bist immer so unfreundlich zu ihr.«

Leander winkte ab. »Wann musst du los?«

»Mit der nächsten Fähre.«

»Morgen könnte ich nachkommen«, schlug Leander vor.

»Das lohnt sich nicht. Du weißt doch, dass Birte und Thoralf am Samstag Marei nach Amrum bringen. Sie müssen auf’s Festland, und Marei ist jetzt alt genug, um zwei Nächte bei mir zu übernachten.«

Leander nickte missmutig, was bei Franziska zu einem Stirnrunzeln führte und zu der Ermahnung: »Am Montag bringe ich sie zurück nach Sylt und bleibe ein oder zwei Wochen bei Birte.« Auf Leanders missmutiges Gesicht hin korrigierte sie: »Eher zwei als eine Woche.«

Leander seufzte bei der Aussicht auf zwei Wochen ohne Franziska.

»Du kannst ja mitkommen«, bot die nun an, allerdings hörte Leander deutlich heraus, dass sie genauso gut darauf verzichten konnte.

»Zwei Wochen mit Marei, Thoralf und Birte!«, grunzte er. »Super Vorstellung.«

»Jetzt fang nicht wieder so an!«, kam es warnend zurück. »Ich habe Birte seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Schließlich ist sie meine Cousine und ihre Tochter mein Patenkind. Und Thoralf würde sich auch freuen, dich mal wiederzusehen.«

»Das glaubst du doch selbst nicht.« Leander schnaufte unwillig. »Thoralf ist ein neureiches, arrogantes Arschloch. Und Birte kann mich genauso wenig ausstehen wie ich sie. Hochzeitsplanung und Brautmoden für Schickimickis auf Sylt! Für das Geld, das bei ihr ein Kleid kostet, kaufen sich andere Leute einen Kleinwagen.«

»Du bist ja nur neidisch«, entgegnete Franziska. »Das sind eben Angebot und Nachfrage. Sie wäre mit ihrem Geschäft nicht so erfolgreich, wenn es nicht eine Menge wohlhabender Leute gäbe, die bereit sind, so viel für eine Hochzeit auf Sylt zu bezahlen.«

»Von dieser kleinen Nervensäge, die sie sich da heranziehen, will ich gar nicht erst reden«, fuhr Leander unbeeindruckt fort.

»Marei ist ein nettes, aufgewecktes Kind.« Franziskas Tonfall nahm nun ebenfalls eine unnachgiebige Färbung an. »Aber weißt du was? Wahrscheinlich ist es wirklich besser, wenn ich alleine fahre. Birte gehört zu meiner Familie, und ich möchte sie nicht mit deiner schlechten Laune verprellen. – So, und jetzt muss ich meine Sachen packen, sonst verpasse ich die Fähre.«

Sie stand auf und eilte mit hoch erhobenem Haupt in Richtung Haus davon. Leander blickte seiner Freundin nach und hatte augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Da war er wohl mal wieder zu weit gegangen in seiner Ablehnung gegenüber Franziskas Verwandten auf Sylt.

Er beobachtete noch einen Moment, wie Bella und Poirot sich bei dem Versuch, unter den Holzhaufen zu kriechen, immer wieder gegenseitig wegstupsten. Dann folgte er Franziska seufzend ins Haus, um ihr wenigstens beim Packen zu helfen und sie zur Fähre zu begleiten. Vielleicht gelang es ihm ja, die Wogen wieder einigermaßen zu glätten.

Als die Rungholt zwei Stunden später unter tief hängenden Wolken in Richtung Amrum in See stach, stand Leander am Anleger und winkte Franziska hinterher. Sie lehnte mit versteinertem Gesicht auf dem Oberdeck an der Reling und hob verhalten die Hand. Leander empfand den Abschied als beklemmend und atmete schwer unter dem Druck, der sich auf seine Brust gelegt hatte, da er Franziska nun zwei Wochen lang nicht wiedersehen würde. Die Aussicht auf tägliche Telefonate vermochte da auch nicht, ausreichend beruhigend zu wirken.

Während das Schiff rückwärts aus dem Hafen fuhr und dann im aufwallenden Wasser vorwärts langsam nach rechts in Richtung Amrum walgte, riss mit einem Mal der Himmel auf. In breiten goldenen Strahlen drängte die Sonne durch die Wolkenberge und beleuchtete wie ein Spot die Warften von Langeness. Das Meer lag glatt und spiegelnd da, als hätte es den Orkan in der letzten Nacht nicht gegeben. Nur der trotz der einsetzenden Ebbe immer noch sehr hohe Wasserstand deutete darauf hin, dass die Sturmflutgefahr längst nicht gebannt war.

In den letzten zwei Stunden hatten Leander und Franziska nur wenig miteinander gesprochen. Die Stimmung zwischen ihnen war angespannt gewesen, wenngleich sich beide bemüht hatten, die Situation zu entschärfen. Der Abschied am Anleger war nun zwar sehr verhalten ausgefallen, aber immerhin hatten sie sich nicht im Streit voneinander getrennt. Dennoch wollte sich bei Leander keine Erleichterung einstellen. Dabei war ihm klar, dass er in seiner Beziehung zu Franziska nicht schon wieder alles falsch machen durfte – so wie in seiner Ehe mit Ilka und später auch in seinen Beziehungen mit Lena und Eiken. Am Ende war er immer derjenige gewesen, der schuldbeladen auf der Strecke geblieben war. Zumindest war das seine, wie er sich einigermaßen selbstkritisch eingestand, durchaus von Selbstmitleid einseitig gefärbte Wahrnehmung. Warum machte man sich eigentlich ohne Not selbst das Leben schwer, anstatt seine Zweisamkeit zu genießen?

Als die Fähre seinen Augen entschwand, wandte sich Leander ab. Er schlenderte mit den Händen in den Hosentaschen aus dem Hafenbereich, durch die Flutschutzmauer und am Rathausplatz vorbei in die Stadt zurück. Hier, auf dem Sandwall, drängten sich Massen an Urlaubern und Tagestouristen in für die Jahreszeit ungewöhnlicher Dichte. Es war gerade einmal Mitte Mai, aber der Frühling war in diesem Jahr so ausdauernd warm, mitunter sogar heiß, dass die Saison mit Macht begonnen hatte. Die Meteorologen sagten einen langen und trockenen Sommer voraus. Da würden die Strände von Menschen gestürmt werden. Für die Tourismusindustrie war das ein Segen, für die Inseln an sich aber fast schon eine Überforderung, weil jede Kaffeebohne und jedes Glas Marmelade mit den Fähren hierher gebracht und der Abfall wieder aufs Festland zurücktransportiert werden musste. Zudem fand man als Einheimischer monatelang kein ruhiges Fleckchen mehr und wurde, wie Leander nun in der Mittelstraße feststellte, durch die Fußgängerzone und die Gassen Wyks geschoben wie bei der Windjammerparade am Höhepunkt der Kieler Woche.

Leander hasste Menschenansammlungen und Gedränge und musste immer gleich daran denken, was wohl passierte, wenn nun eine Panik ausbräche. Entsprechend froh war er, als er sein Häuschen in der Wilhelmstraße wieder erreicht und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er nahm eine Flasche Wasser und ein Glas mit in den Garten, setzte sich unter den Apfelbaum, fand aber irgendwie keine innere Ruhe. Die eingestürzte Hütte lag vorwurfsvoll vor ihm und störte die Idylle in der Maisonne mit einem Mal so sehr, dass Leander beschloss, noch heute mit dem Abtragen der Bretter zu beginnen und wenigstens die Gartengeräte darunter freizulegen – Naturgewaltendenkmal hin oder her.

Kaum hatte er sich jedoch wieder erhoben und erste Hand angelegt, als Johanna Husens krächzende Stimme zu ihm über die Hecke drang: »Henning? Bist du da?«

»Ja, ich bin hier, Johanna«, antwortete Leander, um einen nicht allzu gereizten Tonfall bemüht.

»Warum machst du denn dann nicht auf?«, schalt ihn die alte Nachbarin und lugte durch die Heckenschneise. »Da ist jemand für dich. Eine Frau, die dich sprechen möchte. Sie sagt, sie hat mehrfach an deine Haustür geklopft.«

»Dann werde ich das hier draußen im Garten wohl nicht gehört haben«, entgegnete Leander grimmig.

»Vielleicht schaffst du dir mal endlich eine Klingel an! So teuer ist das doch nicht. Bei Aldi …«

»Mache ich, Johanna, versprochen«, unterbrach Leander ihren Redefluss, obwohl er ganz bewusst auf eine Klingel verzichtete und auch nicht wirklich vorhatte, das zu ändern.

»Ich schicke die Dame dann zu dir rüber«, drängte Johanna Husen.

»Ist gut. Danke, Johanna.«

Leander ging ins Haus, um seinem Besuch die Tür zu öffnen. Vor ihm stand eine Frau von vielleicht Mitte bis Ende 30 in Jeans und bunter Sommerbluse und lächelte unsicher, fast entschuldigend.

»Nun lass uns schon rein«, drängte Johanna Husen, die direkt dahinter in Leanders Blickfeld auftauchte und die Besucherin an ihm vorbei ins Haus bugsieren wollte.

Der verstellte seiner Nachbarin jedoch den Weg und entgegnete grimmig: »Danke, Johanna. Wir kommen jetzt alleine klar.«

Nachdem sie giftige Blickpfeile in gebührender Anzahl abgefeuert hatte, zog die alte Dame murrend wieder ab, während Leander die Tür schloss.

»Entschuldigung«, sagte er zu der Frau, die unentschlossen in seinem Flur stand. »Johanna ist eine treue Seele, aber mitunter auch sehr aufdringlich. – Was kann ich denn für Sie tun?«

»Mein Name ist Susanne Bremer«, begann sie zögernd. »Ich bin die Tochter von Kai-Uwe Groothues und würde Sie gerne kurz sprechen.«

Leander nickte und deutete auf die Hintertür zum Garten. »Lassen Sie uns rausgehen. Kann ich Ihnen etwas anbieten?«

»Ein Glas Wasser vielleicht.«

Leander bog auf dem Weg nach draußen in die Küche ab und holte ein weiteres Glas aus dem Schrank. Als er in den Garten kam, stand sein Besuch vor dem windschiefen Trümmerhaufen, der einmal sein Geräteschuppen gewesen war.

»Ist das letzte Nacht passiert?«

Leander nickte, winkte aber beiläufig ab. »Das alte Ding hatte es eh schon lange hinter sich. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es zusammenstürzen würde. – Nehmen Sie doch bitte Platz.«

Während Susanne Bremer sich auf einen Gartenstuhl setzte, goss er ihr Wasser ein.

»Schön haben Sie es hier«, meinte sie. »So friedlich.«

»Ja, hier lässt es sich ganz gut leben«, bestätigte Leander. »Was kann ich denn nun für Sie tun?«

Sie zögerte einen Moment mit gesenktem Blick, als sei sie sich nicht sicher, wie sie anfangen sollte. »Ich weiß nicht mehr, an wen ich mich noch wenden könnte«, begann sie schließlich und klang dabei regelrecht entschuldigend. »Sie kennen meinen Vater Kai-Uwe Groothues? Er hat einmal von Ihnen gesprochen. Ich glaube, Sie haben ihn bei Recherchen unterstützt?«

»Das stimmt.« Leander erinnerte sich an den Krimi-Autor, der in den letzten Jahren mehrfach Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, um für Romane zu recherchieren und sich über die Arbeitsweise der Polizei zu informieren. Einmal war es um den Inselkrieg auf Föhr gegangen und zuletzt um einen Feuerteufel, der in den Bauerndörfern mehrere Scheunen in Brand gesteckt hatte. Groothues hatte sich an Leander gewandt, weil der in diesen Fällen ermittelt hatte. »Was ist denn mit Ihrem Vater?«

»Er ist verschwunden.«

Das klang so deprimiert, dass Leander sich erstaunt vorbeugte. »Was heißt: verschwunden?«

»Ich versuche seit über einer Woche, ihn zu erreichen, aber er ist nicht zu Hause. Und ich weiß auch nicht, wo ich ihn suchen soll.«

»Vielleicht ist er einfach nur verreist«, vermutete Leander.

»Dann hätte er mir vorher Bescheid gesagt. Er ist noch nie in Urlaub gefahren, ohne sich bei mir abzumelden.«

»Kann es nicht sein, dass er wieder wegen irgendwelcher Recherchen unterwegs ist? Vielleicht hatte er nicht vor, länger wegzubleiben, und hat sich deshalb nicht bei Ihnen abgemeldet.«

Susanne Bremer schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ihm ist etwas zugestoßen. Als Tochter spürt man so etwas.«

Leander räusperte sich und lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück. »Waren Sie schon bei der Polizei?«

»Die glauben mir nicht. Mein Vater sei schließlich alt genug, um ein oder zwei Wochen weg zu sein, ohne dass man gleich eine Fahndung einleiten müsse.«

»Das stimmt doch auch.«

»Natürlich stimmt das«, wurde die Frau jetzt ungeduldig. »Aber er ist nicht einfach nur verreist. Ich wohne mit meiner Familie in Flensburg, er hier in Witsum. Wir telefonieren regelmäßig miteinander. Und wenn ich ihn so lange nicht erreichen kann und er sich auch nicht bei mir meldet, dann ist etwas passiert.«

»Ich nehme an, Sie waren schon bei ihm zu Hause?«

»Natürlich. Das Haus ist leer, verstehen Sie? Alles dort wirkt, als wäre mein Vater sehr überstürzt aufgebrochen.« Sie sammelte sich einen Moment und fuhr dann in deutlich kontrollierterem Tonfall fort: »Ich habe im Kühlschrank mehrere vergammelte Lebensmittel gefunden. Mein Vater ist ein sehr strukturierter Mensch, überaus ordentlich. Niemals würde er faulende Lebensmittel im Kühlschrank lassen. Deshalb weiß ich, dass er seit mindestens einer Woche nicht mehr zu Hause gewesen und auch nicht einfach nur verreist sein kann.« Sie hob mit fahrigen Fingern das Glas zum Mund und trank einen Schluck Wasser. »Vielleicht ist er entführt worden. Oder ihm ist etwas Schreckliches zugestoßen.« Bei ihren letzten Worten begannen ihre Augen feucht zu glänzen.

»Davon gehen wir jetzt erst einmal nicht aus«, versuchte Leander, sie zu beruhigen. »Ich weiß, dass Ihr Vater für seine Romane auch schon mal undercover recherchiert. Vielleicht musste es diesmal einfach nur sehr schnell gehen.«

Susanne Bremer seufzte resigniert, als gebe sie nun endgültig die Hoffnung auf, dass ihr jemand glauben und helfen werde. Die Frau schien mit ihren Nerven vollkommen am Ende zu sein und tat Leander leid.

»Also gut«, wandte er ein. »Ich helfe Ihnen bei der Suche.« Und um sie etwas aufzuheitern, deutete er auf den Holzhaufen und ergänzte lachend: »Das da muss dann eben noch etwas warten.«

Erleichtert registrierte er, wie sich die Miene der Frau etwas entspannte. Sie schnäuzte sich mit einem Papiertaschentuch und griff dann erneut nach ihrem Wasserglas.

»Wo kann ich Sie denn hier auf Föhr erreichen? Wohnen Sie im Haus Ihres Vaters?«

»Nein, ich muss zurück nach Flensburg. Meine Kinder müssen zur Schule, und mein Mann ist viel beruflich unterwegs und kann sich nicht um sie kümmern.« Sie zog ein Pappkärtchen aus der Tasche und legte es auf den Tisch. »Meine Adresse und meine Telefonnummer. Die Handynummer habe ich hinten draufgeschrieben.«

»Sie scheinen sich ja sehr sicher gewesen zu sein, dass ich Ihnen helfe«, stellte Leander erstaunt fest und füllte ihr Glas wieder auf.

Susanne Bremer zuckte nur leicht mit den Schultern, als wollte sie sagen: »Wer, wenn nicht Sie?«

»Können Sie mir denn einen Anhaltspunkt geben?«, wechselte Leander nun in einen professionelleren Tonfall. »Wissen Sie, woran er zuletzt gearbeitet hat?«

»Wir haben vor gut zwei Wochen zuletzt telefoniert. Da hat er etwas von Klimaschutz-Maßnahmen gesagt, mit denen er sich aktuell beschäftigt.«

»Hier auf Föhr?«

»Das nehme ich an. Mein Vater erzählt nie viel über seine Recherchen. Allerdings ist mein Mann im Küstenschutz tätig, und mein Vater hat angekündigt, dass er uns demnächst besuchen wolle, um sich von ihm über den aktuellen Stand der Technik informieren zu lassen.« Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Tut mir leid, mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Mein Vater hat halt immer Angst davor, dass einer seiner vielschreibenden Kollegen etwas spitzkriegen und ihm das Thema klauen könnte.«

»Gut. Ich würde mir dann gerne das Haus in Witsum ansehen und mir selber ein Bild machen.«

Susanne Bremer nickte und zog einen einzelnen Schlüssel aus der Tasche. »Damit kommen Sie überall rein. Das Haus hat eine Schließanlage.«

»Ich werde morgen Vormittag hingehen«, versprach Leander. »Allerdings brauche ich von Ihnen etwas Schriftliches. Vielleicht ist Ihr Vater ja doch nur verreist und taucht plötzlich auf, während ich sein Arbeitszimmer durchsuche. Ich möchte nicht riskieren, dass er mich für einen Einbrecher hält.« Er lachte leichthin.

»Mein Vater ist nicht verreist«, stellte Susanne Bremer noch einmal mit eindringlicher Stimme klar. »Ich weiß genau, dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen ist.«

»Entschuldigen Sie«, entgegnete Leander ernst. »Ich wollte Ihre Gefühle nicht infrage stellen.«

Er ging ins Haus und holte einen Schreibblock und einen Stift. Darauf ließ er sich von Susanne Bremer offiziell beauftragen, ihren Vater für sie zu suchen.

Als er ihr zum Abschied die Hand reichte, sah sie so Mitleid erregend aus, dass Leander ihr versprach: »Ich werde so lange suchen, bis ich Ihren Vater gefunden habe.«

Susanne Bremer nickte mit zusammengekniffenen Lippen und wandte sich dann wortlos der Fußgängerzone zu. Leander sah ihr nach, bis sie in der Mittelstraße verschwunden war. Dann ging er zurück in den Garten und setzte sich wieder unter den Apfelbaum.

Die ganze Sache kam ihm sehr übertrieben vor. Er hatte Kai-Uwe Groothues als verbissenen Mann kennengelernt, der immer aktuelle Themen aufgriff und nicht davor zurückschreckte, anderen Menschen auf die Füße zu treten. Zudem war es sicher nicht ungewöhnlich für einen investigativen Krimi-Autor, wenn er bei seinen Recherchen auch einmal länger abtauchen musste. Andererseits war Susanne Bremer so verzweifelt gewesen, dass er ihr einfach helfen musste.

Gleichzeitig begann nun etwas in Leander zu nagen, das ihn wünschen ließ, er hätte sie einfach wieder weggeschickt: sein schlechtes Gewissen Franziska gegenüber. Es war noch nicht so lange her, dass er ihr versprochen hatte, mehr Zeit mit ihr zu verbringen und sich nicht mehr durch die Übernahme kriminalistischer Aufträge in Gefahr zu begeben. Nur unter dieser Bedingung hatte sie zuletzt sogar ihren kleinen Kunstgewerbeladen in Wittdün aufgegeben. Mist! Warum hatte er nur diese unerfreuliche Gabe, sich immer wieder in Zwickmühlen zu begeben? Andererseits bot ihre zweiwöchige Abwesenheit nun die einmalige Chance, wieder einmal kriminalistisch tätig zu werden, ohne dass sie etwas davon erfahren musste.

Und vielleicht war der Auftrag ja auch weit weniger aufwendig, als Leander im ersten Moment befürchtet hatte. Möglicherweise fand er am kommenden Vormittag in Groothues Haus etwas, das dessen Verschwinden erklärte und den aktuellen Aufenthaltsort des Autors verriet. Bestimmt gab es für alles eine ganz einfache Erklärung.

Während Leander sich noch Mut zunickte, tauchte Johanna Husens Kopf erneut in der Heckenschneise auf. »Henning? Bist du da?«

02

Mephistos Biergarten in Oevenum war in diesen warmen Maitagen ein sehr gut frequentiertes Ausflugsziel für Föhr-Urlauber. Vor dem reetgedeckten Haus reihten sich ganze Kohorten von Fahrrädern aneinander. Die zahlreichen Kinderräder verrieten, dass zu dieser Jahreszeit viele junge Familien auf der Insel waren. Aber auch E-Bikes der gehobenen Preisklasse waren in beträchtlicher Anzahl vertreten und deuteten auf gut situierte Rentner hin.

Leander stellte sein Trecking-Rad, das nicht über einen Hilfsantrieb verfügte, daneben und betrat an der Seite des Hauses den Biergarten. Durch das Getümmel entdeckte er seine Freunde und Skatbrüder an einem der Tische direkt vor dem Staketenzaun zum Obstgarten, in dem zwei geborstene Bäume wie im Kampf hingestreckt am Boden lagen. Während er sich den Weg zum Tisch bahnte, kreuzte Mephisto mit großen Bierkrügen in den Händen seine Bahn.

»Du bist mal wieder der Letzte!«, tadelte ihn sein kleiner schwergewichtiger Freund.

»Die Letzten werden die Ersten sein«, entgegnete Leander achselzuckend.

Mephisto blieb so abrupt stehen, dass Bier aus den Krügen schwappte, und wandte sich Leander mit entrüsteter Miene zu. »Erstens überlässt du die Bibelsprüche bitte mir, denn ich weiß, im Gegensatz zu dir, adäquat mit diesem Unsinn umzugehen«, womit er darauf anspielte, dass er bis vor einigen Jahren noch der katholische Pfarrer auf Föhr gewesen war, der wegen seiner ketzerischen Ader in dieser Profession keine Zukunft mehr gehabt hatte, »und zweitens kommst du so viel zu spät, dass du auch in Sachen Gerstensaft nicht mehr der Erste werden kannst, selbst wenn du dich noch so anstrengst. Die beiden notorischen Trinker da drüben«, er deutete auf seine und Leanders Skatbrüder, »haben nämlich schon ihre dritte Runde bestellt.«

»Der Abend ist ja noch jung«, stellte Leander fest. »Du solltest mich nicht unterschätzen, mein Lieber. Außerdem habe ich heute auch den nötigen inneren Antrieb, um derartige Herausforderungen hoffnungsfroh anzunehmen.«

Mephisto kniff die Augen zusammen, beugte sich leicht vor und fixierte seinen Freund von schräg unten, als wolle er ergründen, was damit wohl gemeint sein könnte. Schließlich nickte er verständnisvoll, als habe er den Hintergrund von Leanders Gefasel mit seinem ausgefeilten Denkvermögen erfasst, und richtete sich wieder auf. »Ich liefere das hier jetzt noch ab, dann übergebe ich die Geschäfte vertrauensvoll an Diana«, kündigte er wichtigtuerisch an. »Mischt schon mal die Karten. Ich bringe das Bier mit. – Ach ja, was willst du essen? Käse oder Schinken?«

»Schinken.«

»Bestellung geht raus.« Mephisto nickte ihm wichtigtuerisch zu und wieselte mit seinen Bierkrügen zwischen den Tischen weiter. Dabei legte er eine Wendigkeit an den Tag, die ihm bei seinem korpulenten Erscheinungsbild bestimmt niemand, der ihn nicht kannte, zugetraut hätte.

Am Tisch der Skatbrüder angekommen, klopfte Leander wortlos auf die Holzplatte, was Tom Brodersen und Götz Hindelang gleichermaßen quittierten.

»Spät kommt er, doch er kommt«, erklärte Tom in Götz’ Richtung.

»Woher weißt du das?«, entgegnete der. »Hat dir Franziska das verraten?«

»Blödmann!«, konstatierte Leander und deutete einen Schlag auf den Hinterkopf seines Freundes an, der es allerdings nicht einmal zum Schein für nötig hielt, dem auszuweichen.

»So ist der schon den ganzen Abend drauf«, klagte Tom mit Leidensmiene und deutete mit dem Kopf auf Götz. »Der muss heute einen Clown gefrühstückt haben. Und einen schlechten noch dazu. Wurde Zeit, dass du hier auftauchst und mich gegen die subtile Antikomik unseres Meisters Klecks unterstützt.«

»Eine Runde Mitleid«, konterte Götz, während Leander sich lachend neben den Maler setzte.

Mephisto näherte sich mit fünf Bierkrügen, dicht gefolgt von seiner Lebensgefährtin Diana und einer ihrer jungen Aushilfen, die jeweils zwei Holzplatten mit Schinkenbroten heranschleppten. Nachdem er vier der Krüge vor seinen Freunden abgestellt hatte – zwei vor Leander – ließ sich Mephisto mit seinem Bier ächzend auf der Bank nieder.

»Sag mal, Merkwürden«, meldete sich Tom und deutete auf die beiden Getränke vor Leander, »sind das die ersten Anzeichen von Demenz, dass du offenbar nicht mehr bis vier zählen kannst?«

»Wieso die ersten?«, kommentierte Diana.

»Schweig’, Frau!«, erhob Mephisto Stimme und Zeigefinger. »Und wende dich wieder deiner Bestimmung zu!« Letzteres begleitete er mit einem Wedeln der rechten Hand in Richtung Haus, als wolle er einen lästigen Fliegenschwarm vertreiben.

»Bestimmung?«, erkundigte sich Götz bei Diana. »Meint er jetzt Kinder, Küche, Kirche, oder was?«

»Nein, nur Küche«, entgegnete die beruhigend. »Religiös ist er nicht mehr, und zum Kinderzeugen ist er auch nur noch sehr bedingt in der Lage.« Damit zog sie unter dem Gelächter der Skatbrüder wieder ab.

»Also«, erinnerte Tom Mephisto an seine Frage und deutete auf die beiden Bierkrüge vor Leander. »Seit wann wird hier jemand bevorzugt?«

»Das ist ein reiner Freundschaftsdienst in höchster Not«, erklärte Mephisto. »Eine seelsorgerische Maßnahme sozusagen. Unser Frühpensionär hat nämlich angedeutet, dass er Stress mit Franziska hat und sich heute besaufen möchte.«

»Was habe ich?«

»Schon gut, mein lieber, echauffiere dich nicht.« Mephisto legte Leander beruhigend die Hand auf die Schulter. »Auch wenn ich während meiner besten Jahre unter dem Joch des Zölibats gelitten habe, so ist mir doch nichts Menschliches fremd. Außerdem fühle ich mich meiner Berufung zum Seelsorger nach wie vor verpflichtet. Und wenn ich mir die beiden lachenden Idioten da ansehe«, er deutete auf Tom und Götz, »dann kennen die deine Situation aus eigenen Erfahrungen sicher noch weit besser als ich.«

»Da hört sich ja wohl alles auf«, wurde Tom nun laut. »Götz, sag auch mal was dazu.«

»Ich?« Der Maler hob abwehrend die Hände. »Ich bin nicht grundlos seit langer Zeit ledig.«

»Na dann Prost!«, kommentierte Leander, hob seinen Bierkrug an und zog ihn unter den staunenden Blicken seiner Skatbrüder mit tiefen Schlucken zur Hälfte leer. »Ah«, machte er schließlich und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von der Oberlippe. »Das war jetzt wirklich nötig.«

Während Mephisto mit gönnerhaft geschlossenen Augen altklug nickte, tauschten Tom und Götz besorgte Blicke, sagten aber nun nichts mehr.

»Ist das letzte Nacht beim Orkan passiert?« Leander deutete auf die umgeknickten Obstbäume hinter dem Staketenzaun.

Mephisto nickte und machte dabei ein Gesicht, als sei durch diesen Verlust seine gesamte Existenz gefährdet. »Ausgerechnet meine älteste Apfelsorte«, klagte er. »Das war aber auch ein Sturm! Zwischenzeitlich hatte ich wirklich Angst, dass er mir das Dach abdeckt, so haben die Böen am Reet gezerrt.«

»Ganz übel hat es das Goting-Kliff getroffen«, bestätigte Tom. »Ich war heute Nachmittag draußen und habe mir den Schaden angesehen.« Er machte große Augen, um das Ausmaß gebührend zu unterstreichen.

»Wenn unsere Deiche nicht inzwischen zwölf Meter hoch wären«, dozierte Mephisto, »würden wir irgendwann absaufen. So wie bei der Grooten Mandränke 1634, als das Festland auseinandergerissen wurde und die Inseln und Halligen entstanden.«

»Zum Glück liegt Föhr wenigstens bei Sturmfluten geschützt hinter Sylt und Amrum«, ergänzte Tom. »Aber wenn das so weitergeht mit dem Klimawandel, bricht Sylt demnächst auseinander, und dann säuft auch unsere Insel irgendwann vollständig ab. Ich sage euch«, er hob theatralisch Stimme und Zeigefinger, »es wird nicht mehr lange dauern und der Klimawandel wird die Kipppunkte erreichen, nach denen die tödlichen Folgen unumkehrbar sein werden. Die Natur wird den Parasiten Mensch abschütteln. Nur so wird die Erde sich vor ihm retten können.«

»Quatsch, Klimawandel«, kam es lautstark vom Nebentisch. »Den Unsinn erzählst du unseren Kindern in der Schule auch immer.«

Leander blickte hinüber und erkannte Helge Jacobsen, Gundolf Peters und Hanno Hansen, Bauern aus den umliegenden Dörfern, die unisono nickten und grimmig auf Tom stierten.

»Mein Torben wollte letzten Freitag mit nach Kiel zur Demo gegen die Düngeverordnung«, erzählte Gundolf Peters den anderen. »Der Öko-Spinner da«, sein Finger stach spitz in Toms Richtung, »hat ihn dafür nicht beurlaubt!«

»Das wäre ja auch noch schöner!«, begehrte Tom auf. »Ihr Brunnenvergifter mit eurer Massentierhaltung und Hühner-KZs kippt eure Gülle auf die Felder, als wenn es kein Morgen gäbe, anstatt euch für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen einzusetzen. Kapiert ihr eigentlich gar nicht, dass ein gesunder Boden eure Existenzgrundlage ist? Ihr Idioten sägt den Ast ab, auf dem ihr sitzt! Von dem CO2-Ausstoß eurer Rindviecher ganz zu schweigen. Ihr habt doch in der letzten Nacht gesehen, wohin das führt, wenn wir uns nicht endlich gegen den Klimawandel einsetzen. Ihr seid ja die Ersten, die unter den Dürresommern leiden werden!«

»Stürme hat es immer schon gegeben«, kam es wutschnaubend von Helge Jacobsen zurück. »Und trockene Sommer auch.«

»Eben«, ergänzte Gundolf Peters. »Das steht schon in der Bibel mit den sieben fetten und den sieben mageren Jahren und hat nichts mit Klimawandel und so einem Schwachsinn zu tun.«

»Ach ja? Und steht da etwa auch, dass ihr in den fetten Jahren die Gewinne selber einstreichen und in den mageren Jahren uns Steuerzahler zur Kasse bitten sollt? Wenn euch nämlich auf den Feldern die Ernte verhagelt wird oder das Korn verdorrt, seid ihr doch die Ersten, die nach Ausgleichszahlungen schreien.«

Nun stemmte sich Jacobsen wutschnaubend mit den Fäusten auf der Tischplatte hoch und beugte sich weit vor. »Wir Landwirte sorgen dafür, dass unser Volk nicht verhungert.« Er deutete auf die Schinkenplatten vor den Skatbrüdern. »Was glaubt ihr denn, wo der Schinken und das Korn für euer Brot herkommen? Da fragt ihr nicht nach dem CO2! Ihr Tagediebe wärt doch gar nicht dazu in der Lage, eure Familien zu ernähren, wenn wir uns nicht tagtäglich den Arsch für euch aufreißen würden!«

»Genauso ist das!«, stimmte Hanno Hansen zu und klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte, als müsse er einem bedeutenden Redner Respekt zollen. »Aber der Herr Lehrer kann das ja nicht wissen. Der ruht sich den ganzen Tag auf unsere Kosten aus und setzt unseren Kindern Flausen in den Kopf. Und dann kriegt der auch noch drei Monate Ferien im Jahr, um sich vom anstrengenden Nichtstun und Klugscheißen zu erholen.«

»Parasit, elender!«, giftete Jacobsen, der sich immer noch mit auf den Tisch gestützten Fäusten weit vorbeugte und offenbar kurz davor stand, auf die Platte zu klettern und Tom an den Hals zu springen.

»Lass den grünen Spinner«, knurrte Gundolf Peters und zog ihn auf die Bank zurück. »Der hat doch von Tuten und Blasen keine Ahnung.«

»Dann soll er nicht das Maul aufreißen und unsere Kinder gegen uns aufbringen! Fridays for Future! Wenn ich so einen Scheiß schon höre! Dafür beurlaubt er die Blagen! Wenn die wenigstens noch nachmittags streiken würden oder in den Ferien, aber die machen das doch nur, weil sie die Schule schwänzen wollen – und kriegen dafür auch noch den Segen von diesem linken Anarchisten.« Dabei deutete Jacobsen mit dem Kopf auf Tom.

»In den Ferien streiken!«, entgegnete der hämisch lachend. »So ein Schwachsinn! Streiken deine Landarbeiter auch, wenn sie Urlaub haben? Da würdest du dir doch einen Ast lachen über so viel Doofheit.«

»Meine Arbeiter streiken nicht. Das sind nämlich keine Kommunisten wie du! Aber du wirst dein Fett noch kriegen, verlass dich drauf. Wenn du unsere Kinder weiter so aufstachelst, werde ich mal mit deinem Chef sprechen.«

»Siehst du?«, antwortete Tom mit erhobenem Zeigefinger. »Das ist der Unterschied zwischen einem Beamten wie mir und deinen Sklaven: Ich muss vor keinem Chef kuschen. Mich kann nämlich keiner rausschmeißen.«

Jacobsens Gesichtsfarbe wechselte zu einem tiefen Rot, und er kletterte nun wirklich auf die Tischplatte, um sich auf Tom zu stürzen. Seine Kumpane hielten ihn jedoch mit vereinten Kräften zurück, während die Urlauber an den Nebentischen erschrocken herübersahen.

»Das bringt doch nichts«, insistierte Hanno Hansen und winkte Diana zu, die dem Disput in einiger Entfernung gefolgt war. »Zahlen!«

»Sehr gerne!«, antwortete die mit finsterem Blick. »Auf randalierende Gäste können wir nämlich gut verzichten.«

Während Diana den Tisch der Landwirte abkassierte, wobei sie Hansens Trinkgeld wortlos wieder zu ihm zurückschob, tauchten ein paar junge Männer am Eingang des Biergartens auf und sahen sich suchend um. Diana winkte ihnen zu und deutete auf den Tisch der Bauern. »Hier wird gerade frei.«

Fluchend erhoben sich die Landwirte und verließen den Garten. Die jungen Männer näherten sich lachend und tauschten sich auf Dänisch über die grimmigen Kerle aus, die ihnen gerade Platz gemacht hatten.

»Das sind Arbeiter von der dänischen Firma, die zwischen Utersum und Dunsum den Deich ausbauen«, erklärte Mephisto. »Gute Gäste, die kommen jeden Abend hierher.«

»Wird hier eigentlich heute noch Skat gespielt, oder was?«, meldete sich nun Götz Hindelang grimmig zu Wort und griff auch gleich nach dem Kartenspiel. Der Maler schien bei dem Disput mit den Landwirten seine gute Laune gänzlich eingebüßt zu haben.

Tom hingegen wirkte nun geradezu aufgekratzt.

Während der Maler mischte, wurde Mephisto auf den schweigsamen Leander aufmerksam. »Was ist denn nun wirklich mit dir los, mein Freund? Hast du heute Abend gar nichts zu melden?«

Der hob den Stapel ab, den Götz ihm hinhielt, und antwortete: »Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit Franziska. Sie fährt für zwei Wochen zu Verwandten nach Sylt und erwartet von mir, dass ich sie begleite. Ich habe aber keine Lust dazu.«

»Na?«, tönte Mephisto mit triumphierendem Blick in die Runde und hob den rechten Zeigefinger. »Habe ich es nicht gesagt? Wenn das keine Menschenkenntnis ist, haha!«

Tom ignorierte den selbstgerechten Kerl und erkundigte sich: »Zu Birte und diesem neureichen Spinner, den sie damals geheiratet hat? Dem Unternehmensberater, von dem du uns mal erzählt hast?«

»Thoralf, genau. Wenn ich mir vorstelle, jeden Abend mit diesem selbstherrlichen Idioten verbringen und mir anhören zu müssen, wie erfolgreich er ist und was er mit seinen Verbindungen für seine Partei alles im Westerländer Stadtrat erreicht hat … Da spiele ich doch lieber mit euch kleinen Geistern Skat.« Letzteres versuchte er, mit einem Lächeln zu begleiten, wobei er allerdings selbst merkte, dass es missglückte.

»Apropos kleine Geister«, meldete sich Mephisto zu Wort, »ich hätte dann gleich mal einen Grand Hand, wenn es den Herren recht ist.«

»Das geht ja schon gut los!«, stöhnte Götz, während Tom und Leander noch ihre Karten sortierten.

»Grand Hand also? Ist recht«, sagte Tom schließlich und ergänzte triumphierend: »Mit Kontra!«

Obwohl Leander eigentlich gar nicht der Sinn nach Kartenspielen stand, wurde seine Aufmerksamkeit in den nächsten Minuten in ein Schauspiel hineingezogen, das Mephisto geradezu zur Verzweiflung trieb. Tom überstach gleich mit dem Kreuz Buben den von Mephisto ausgespielten Pik Buben, zog dem Gastwirt mit dem Herz Buben seinen letzten Trumpf direkt auch noch weg und spielte dann seine lange Farbe Herz, sodass Mephisto am Ende nicht einmal aus dem Schneider kam. Leander musste seine Karten immer nur dazuwerfen, sonst ging das Spiel völlig an ihm vorbei.

»Da hättest du ja gleich selbst Grand Hand spielen können«, erregte sich Mephisto, während er die Karten zusammenschob. »Du hattest ein besseres Blatt als ich.«

»Ich habe auch nichts anderes behauptet«, entgegnete Tom unbeeindruckt. »Aber du musstest ja wieder so vorlaut sein. Allerdings hatte auch ich nur zwei Buben und du das Aufspiel. Da du in dem Fall garantiert nicht mit einem Buben gekommen wärst, sondern mit deiner langen Farbe, wäre es mir am Ende so gegangen wie dir jetzt. Außerdem ist es doppelt so schön, einen Grand Hand zu gewinnen, wenn du ihn spielst und so gnadenlos verlierst.« Er lachte hämisch und klatschte mit Götz ab.

»Kennt einer von euch eigentlich Kai-Uwe Groothues?«, erkundigte sich Leander, während er beobachtete, wie sich einige junge Föhringer in Begleitung eines Mannes in Leanders Alter ebenfalls an den Tisch der Dänen drängten, ohne diese zuvor um Erlaubnis gefragt zu haben. Widerwillig rückten die Dänen näher zusammen.

»Den Krimi-Autor?«, fragte Tom zurück und ergänzte mit forderndem Ton in Mephistos Richtung: »Das macht dann 32 Märker, Denkwürden.«

Leander nickte. »Seine Tochter war heute bei mir, weil er verschwunden ist. Ich soll ihn nun suchen.«

»Lass es«, kam es unvermittelt von Götz. »Groothues ist ein Pinscher, der jeden in die Waden beißt, wenn es ihm zu einer guten Story verhilft. Es ist nicht schade, wenn der mal eine Zeit lang nicht auf Föhr sein Unwesen treibt.«

»Unser Künstler hier hat schlechte Erfahrungen mit ihm gemacht«, erklärte Mephisto feixend in Leanders Richtung und schob seinen Skatbrüdern jeweils 32 Cent über die Tischplatte.

»Nämlich?«

»Du erinnerst dich doch an den Einbruch ins Museum Kunst der Westküste«, berichtete Götz. »Darüber hat er einen Krimi geschrieben, und ich sollte ihm die nötigen Hintergrundinfos zum Kunstmarkt liefern. Hinterher ist er mir bei der Kuratorin des Museums übel in den Rücken gefallen, als die seiner Ansicht nach nicht kooperativ genug war. Er hat sie mit Vorwürfen konfrontiert, die angeblich von mir stammten, nur um sie zu provozieren und so etwas über die Sicherheitstechnik des Museums herauszubekommen. Ich habe verdammt lange gebraucht, um das wieder geradezurücken.«

»Bei den Jägern hat er auch keine Freunde mehr, seit er den Roman über Elmeere und den Inselkrieg geschrieben hat«, ergänzte Tom. »Groothues bleibt zwar bei den Fakten, aber er zeichnet seine Charaktere so, dass sie für jeden Insulaner leicht wiederzuerkennen sind. Das schafft böses Blut.«

»Na und?«, zeigte sich Leander verständnislos. »Wer nichts zu verbergen hat, muss vor der Wahrheit doch keine Angst haben. Außerdem ist das künstlerische Freiheit.«

»Deshalb kann ihm ja auch keiner was«, entgegnete Götz grimmig und hob den Kartenstapel ab, den Tom ihm hinhielt. »Auch wenn er meistens verbrannte Erde hinterlässt.«

»Und der ist nun also verschwunden«, meldete sich Mephisto nachdenklich zu Wort, während er mit Argusaugen skeptisch verfolgte, wie Tom die Karten austeilte. »Das stinkt doch geradezu danach, dass er demnächst mit einer Story wieder auftaucht, die auf der Insel für Wirbel sorgen wird.«

»Genau«, sagte Tom feixend und lehnte sich zurück, da er als Geber und vierter Mann nun aussetzen musste. »Eine Story über ehemalige Priester, die mit dem Teufel im Bunde sind, und über ihre Gespielinnen, die sich als Hexen betätigen.« Er nickte vielsagend zu Diana hinüber, die Bierkrüge an den Tisch der Dänen schleppte.

»Diana ist Heilerin und keine Hexe«, korrigierte Mephisto, während er seine Karten sortierte. »Du würdest dich wundern, wie viele Honoratioren der Insel als Patienten ihre Praxis aufsuchen. Es ist sogar ein Arzt darunter.« Dabei zog er mit dem Zeigefinger vielsagend das rechte untere Augenlid herunter. »Was du allerdings über den ehemaligen Priester gesagt hast, der mit dem Teufel im Bunde ist, da kann ich dir nur zustimmen.« Er hielt triumphierend sein Blatt in die Höhe. »Also aufgemerkt nun: Jetzt ist bitterböse Rache angesagt!«

Während der Gastwirt seine Ankündigung mit einem Herz-Spiel teuflisch lachend in die Tat umsetzte und Leander mit seinem schlechten Blatt wieder nur jeden Stich bedienen konnte, wurde es am Nebentisch laut. Zwischen den Dänen und den jungen Insulanern entbrannte ein heftiger Streit. Leander entnahm dem wütenden Wortgefecht, dass die Föhringer den Dänen vorwarfen, ihnen die lukrativen öffentlichen Aufträge im Deichbau wegzunehmen. Der ältere Wortführer schüttelte heftig die Faust gegen die Dänen, während er immer wütender wurde.

»Das ist Enno Paulsen mit seinen Leuten«, raunte Tom Leander zu. »Der hat ein kleines Bauunternehmen im Gewerbegebiet am Hafen und ärgert sich, weil er mit seiner Klitsche keine Ausschreibungen für den Deichbau gewinnen kann. Soll mal wieder kurz vor der Pleite stehen, wie man hört. Von denen weiß im Moment keiner, ob er nächsten Monat noch Arbeit hat.«

Die Dänen hatten offenbar keine Lust auf einen handfesten Streit. Sie warfen ein paar Scheine auf den Tisch und verließen fluchtartig den Biergarten.

»Ja, lauft nur weg«, brüllte Paulsen ihnen nach. »Aber das wird euch nichts nützen. So weit könnt ihr gar nicht rennen, dass wir euch nicht erwischen!«

»Ausländisches Dreckspack«, fluchte einer der jungen Männer, der auf beiden Seiten bis zum Scheitel kahlrasiert war und nur noch einen etwa zehn Zentimeter breiten Haarstreifen oben auf dem Kopf hatte. »Wird Zeit, dass wir endlich etwas unternehmen, sonst stocken die demnächst nicht nur unsere Deiche auf, sondern zocken auch noch die Sandarbeiten ab.«

»Keine Sorge«, donnerte Paulsen. »Da passe ich schon auf. Das ist schließlich unsere einzige Chance, wenigstens ein kleines Stück vom Kuchen abzukriegen. Bevor die Dänen auf Föhr den Sand planieren, jagen wir das Pack ins Watt.«

»Scheiß Ausländer!«, wiederholte der Rasierte.

Mephisto erhob sich schwerfällig von der Bank, walzte zum Tisch der Föhringer hinüber und baute sich in seiner ganzen Körperfülle bedrohlich vor ihnen auf. »Ihr könnt gerne euer Bier bei mir trinken«, verkündete er mit gefährlichem Unterton, »aber ich werde es nicht zulassen, dass ihr mir die anderen Gäste vertreibt.« Die aufflammende Gegenwehr wischte er mit einem resoluten Handstreich weg. »Mir ist jeder hart arbeitende Däne lieber als einheimisches fremdenfeindliches Gesindel. Bei mir gibt es keine AfD-Parolen im Biergarten, und ich will auch kein Pegida-Gesocks hier haben, ist das ein für alle Mal klar?«

Enno Paulsen hielt den Rasierten mit einem Pumpen der rechten Hand von einer wütenden Replik ab und gab Diana ein Zeichen, ihnen noch eine Runde Bier zu bringen.

Mephisto wandte sich wieder seinen Skatbrüdern zu und deutete auf die Karten, als wollte er sagen: »Genug jetzt mit dem Unsinn. Lasst uns spielen.«

»Was ist hier heute Abend eigentlich los?«, wunderte sich Götz, dem offenbar jede Lust auf Scherze vergangen war. »Sind hier heute alle bekloppt geworden?«

»Das ist nicht nur heute so«, erklärte Mephisto. »So geht das schon, seit die Dänen alle öffentlichen Aufträge auf Föhr bekommen und unsere heimischen Firmen dabei leer ausgehen.«

»In der Gemeindevertretung ist auch schon dicke Luft deswegen«, bestätigte Tom. »Wenn das so weitergeht, haben wir demnächst wirklich die AfD da sitzen.«

»Dann wandere ich aus«, verkündete Götz.

»Ach ja?«, entgegnete Tom grinsend. »Und wo willst du hin? Nach Ostdeutschland, wo du hergekommen bist, braucht du nicht zurückzugehen. Da gibt es jede Menge von denen.«

Leander erinnerte sich an Susanne Bremers Worte. »Sag mal, Tom, läuft da eigentlich auf der Insel momentan irgend eine große Sache im Küstenschutz?«

»Naja, der Klimadeich zwischen Utersum und Dunsum, an dem die Dänen gerade arbeiten. Hat ’ne Menge Ärger gegeben, als bei der letzten Strandbegehung mit den Leuten vom Landesamt für Küsten- und Naturschutz klar wurde, dass der Vertrag mal wieder an die geht. Obendrein hat die Gemeinde auch keine Erlaubnis zu eigenen Sandvorspülungen bekommen. Das hätte die Gemüter vielleicht beruhigt.« Tom zog bedauernd die Schultern hoch.

»Freunde!« Götz klopfte mit der Faust auf den Kartenstapel. »Quatschen könnt ihr zu Hause!«

Während Tom in Richtung des Malers grinste, hakte Leander nach: »Hast du vielleicht von Unregelmäßigkeiten bei Ausschreibungen oder so etwas gehört?«

»Du denkst an Groothues?«

»Seine Tochter meint, er könnte in diese Richtung recherchiert haben.«

Tom dachte einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Aber wenn du willst, höre ich mich mal vorsichtig um.«

»Mach das«, antwortete Leander.

»Also, Leute«, rief Götz nun aufgebracht dazwischen und drückte sich mit den Fäusten auf der Tischplatte hoch. »Wenn hier jetzt nicht endlich Skat gespielt wird, stehe ich auch auf und gehe!« Dabei war seiner grimmigen Miene deutlich anzusehen, dass er es ernst meinte.

Mephisto hob in gespielter Verzweiflung beide Hände gen Himmel, als hole er göttlichen Beistand ein. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht wie bei einer dementsprechenden Eingebung und er griff zum Kartenstapel. »Liebe Freunde, als Hausherr verhänge ich für den Rest des Abends ein Redeverbot über alles, das nichts mit unserem Spiel zu tun hat!«

»Redeverbot?«, wiederholte Tom. »Sag mal, geht’s noch? Warum müssen wir nicht gleich ein Schweigegelübde ablegen?«

»Weil ihr dann meine genialen Spielkünste nicht mehr gebührend kommentieren könntet«, erklärte der Gastwirt leichthin und mit absolut ernster Miene.

Tom wollte schon zu einer Replik ausholen, als Götz’ warnender Blick ihn traf, da der Maler offenbar eine weitere ausufernde Debatte auf sich zurollen sah. Also winkte er in Mephistos Richtung nur ab und erntete dafür ein zufriedenes Nicken.

Leander hielt Diana am Arm zurück, nachdem sie den Bauarbeitern ihr Bier gebracht und das Geld der Dänen vom Tisch genommen hatte. »Wir hätten auch gerne noch eine Runde. Und mir bringst du sofort wieder zwei, dann habe ich den Vorsprung der Betschwestern hier aufgeholt.« Als die anderen zu lautstarkem Protest ansetzen wollten, schob er nach: »Heute Abend geht alles an diesem Tisch auf meinen Deckel.« Das beruhigte die Gemüter schlagartig.

03

Als Leander beim Frühstück im Garten mit reichlich Koffein gegen seinen Kater ankämpfte, konnte er dem traurigen Anblick des Bretterhaufens nicht ausweichen, der einmal sein Gartenschuppen gewesen war. Das konfrontierte ihn dumpf dröhnend wieder mit der Zwickmühle, in die er sich selbst manövriert hatte: Einerseits hätte er angesichts der Tatsache, dass Franziska bestimmt von nun an täglich bei ihren Telefonaten nach den Fortschritten fragen würde, direkt mit den Aufräumarbeiten anfangen müssen; andererseits musste er unbedingt zum Haus von Kai-Uwe Groothues fahren und nach Hinweisen auf dessen Aufenthaltsort suchen, ohne Franziska seinen neuen Auftrag auf die Nase zu binden. Ihm wurde klar, dass ihn nur ein baldiger Ermittlungserfolg aus eben dieser Zwickmühle befreien konnte. Er war aber auch zu dämlich, dass er sich mit seinem Helfersyndrom immer wieder selbst in derart ausweglose Situationen brachte!

Unter dem Vorwand, dass Franziska und sein Garten reine Privatsache seien, Arbeit jedoch vorgehe und er zudem Susanne Bremer gegenüber im Wort stehe, beschloss er, eine Radtour zur Godelniederung zu machen und das Haus des Schriftstellers in Witsum näher unter die Lupe zu nehmen. Sein dröhnender Schädel würde ihm die Bewegung an der frischen Luft danken. Dem jämmerlichen Rest des Holzschuppens konnte er sich später ja immer noch widmen und so zumindest seinen guten Willen andeuten.

Hatte Leander jedoch gehofft, sich den Kopf mithilfe eines frischen Fahrtwindes freipusten lassen zu können, wurde er schnell eines Besseren belehrt. Die Sonne brannte schon zu dieser frühen Stunde erbarmungslos vom Himmel, und es war so windstill, als wäre der Orkan in der vorletzten Nacht reine Einbildung gewesen. Leander flüchtete aus der Gluthitze der Straßen und wählte den Weg durch den Grünstreifen. Aber auch das bereute er schnell, da er unzähligen Familien mit kleinen Kindern ausweichen musste, die zu den Spielplätzen im Schatten der Bäume strömten. Als er die letzte der Ansammlungen von Rutschen und Klettergerüsten kurz vor dem Lerchenweg passiert hatte, wurde es ruhiger, und spätestens zwischen Flug- und Golfplatz musste er sich nur noch über ältere Paare ärgern, die mit ihren Pedelecs stur nebeneinander fuhren, ohne dabei die Kraft ihrer Elektromotoren in Geschwindigkeit zu übersetzen, geschweige denn Platz zum Überholen zu machen, wenn sie nicht mit der Klingel beiseitegescheucht wurden. Letzteres begleiteten einige dann auch noch mit giftigen Zurufen. Das alles war wenig dazu angetan, Leander die übliche Leichtigkeit zurückzugeben, die er durch den Streit mit Franziska eingebüßt hatte.

Als er an die Weggabelung kurz vor Nieblum gelangte, ließ er den malerischen Ort rechts liegen und radelte stattdessen nach links in Richtung Osterheide, um sich die Abbrüche am Goting-Kliff näher anzusehen, von denen Johanna und Tom berichtet hatten. Es war tatsächlich genauso, wie die beiden es beschrieben hatten, nur dass es ein Unterschied war, davon zu hören oder es mit eigenen Augen zu sehen: Die Kliffkante war bis zum Spielplatz vorgerückt, und Risse im Boden deuteten an, dass bei nächster Gelegenheit noch mehr wegbrechen würde. Die Rutschenanlage war nun akut bedroht.

Leander stellte sein Fahrrad ab und trat nah an die Abbruchkante heran. Sand rieselte vor seinen Füßen in die Tiefe, sodass er sicherheitshalber wieder einen Schritt zurücktrat. Über dem Strand flimmerte die Luft in der Hitze. Von dieser erhöhten Position aus hatte Leander das ganze Ausmaß der Sturmschäden im Blick. Das Kliff war auf der kompletten Breite in mehrere Meter Tiefe weggerutscht. Die Sturmflut hatte sich der Lehmmassen angenommen, Mergel als graue klebrige Placken überall am Strand verteilt und rundgeschliffene Findlinge aus der letzten Eiszeit, die aus dem Kliff herausgerissen worden waren, zurückgelassen. Das Wasser, das trotz der Ebbe noch kurz vor der Steilküste stand, drohte die nächste Sturmflut bereits an.

Hier am Goting-Kliff konnte man leicht nachvollziehen, wie bedroht die Inseln und Halligen inzwischen waren. Nirgendwo sonst auf Föhr zeigte sich, wie nun in kurzer Zeit alles in Gefahr geriet, das sich über Jahrtausende aufgebaut und in den letzten Jahrhunderten den Elementen erfolgreich widersetzt hatte. Trotz der unnachgiebigen Hitze lief Leander ein kalter Schauer über den Rücken.

Er stieg wieder auf sein Rad und fuhr durch Goting in Richtung Godelniederung. Das kleine Flüsschen, das dem nassen Gebiet seinen Namen gab, transportierte Wasser aus dem Inselinneren an den Strand und bot mit seinen Schilfzonen und den Seggenwiesen zahllosen Wasservögeln einen wertvollen Brut- und Lebensraum. Lachmöwen kreischten irgendwo jenseits der niedrigen Dünen, die das Gebiet vom Meer trennten. Eine Schar Austernfischer zog schreiend über Leanders Kopf hinweg in Richtung Watt, während er sich rechts nach Witsum hielt.