Leander und der Lummensprung - Thomas Breuer - E-Book

Leander und der Lummensprung E-Book

Thomas Breuer

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Beschreibung

Seehundjäger Tamme Boysen ist beunruhigt. Irgendetwas geht auf Helgoland vor sich, das er nicht einordnen kann: nächtliche Geheimtreffen auf dem Oberland, Gerüchte über neue Pläne zur Inselerweiterung, ein Einbruch ins Hotel Laguna, ein Verräter in den Reihen der Bürgerinitiative, ein geheimnisvoller Informant, der geschickt im Internet seine Spuren verwischt. Und dann fällt Tamme Boysen auch noch ein Toter vor die Füße. Spätestens jetzt benötigt er professionelle Hilfe. Ein Fall für Henning Leander und gleichzeitig eine gute Chance für ihn, sich bei den Helgoländer Lummentagen der Vogelwartin Eiken Jörgensen wieder anzunähern. Alles sieht nach einem einfachen Job und erholsamen Tagen auf der Düne und dem Vogelfelsen aus. Doch dann geschieht etwas, das Leander persönlich nimmt und das den Einsatz seines Lebens von ihm fordert.

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Thomas Breuer

Leander und der Lummensprung

INSELKRIMI

Zum Autor

Thomas Breuer, geboren 1962 in Hamm/Westf., hat in Münster Germanistik und Sozialwissenschaften studiert und arbeitet seit 1993 als Lehrer für Deutsch, Sozialwissenschaften und Zeitgeschichte an einem privaten Gymnasium im Kreis Paderborn. Seit 1994 lebt er mit seiner Frau Susanne, seinen Kindern Patrick und Sina, Streifenhörnchen Fridolin und Katze Lisa im ostwestfälischen Büren. Er liebt die Fotografie, die Nordseeinseln und den Darß. Seine zweite Heimat ist Föhr, wo er regelmäßig im Auftrag seiner Hauptfigur Henning Leander neue Kriminalfälle recherchiert, in denen dieser dann ermitteln darf.

Mit »Leander und der tiefe Frieden« legte er 2012 seinen Debüt-Roman im Leda-Verlag vor, 2013 folgte »Leander und die Stille der Koje«, 2014 »Leander und die alten Meister«, 2015 »Leander und der Lummensprung« sowie 2016 »Leander und der lange Schatten«. 2018 erschien der Kriminalroman »Der letzte Prozess«.Weitere Projekte sind in Arbeit und in Planung. www.Breuer-Krimi.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

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© 2020 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

(Originalausgabe erschienen 2015 im Leda-Verlag)

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Lux/stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6454-6

Widmung

Für meinen Bruder Andreas.

Zitate

»Der Kapitalismus basiert auf der merkwürdigen Überzeugung, dass widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden.«

John Maynard Keynes (englischer Nationalökonom): Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes

*

»Nach der Selbstzerstörung des kommunistischen Systems laufen wir nun Gefahr, dass der Kapitalismus zwar sich nicht selbst zerstört, dafür aber die moralischen Grundlagen unserer menschlichen Existenz.«

Klaus Schwab (Schweizer Wirtschaftswissenschaftler)

Eine wichtige Erklärung vorab

Die Handlung dieses Romans ist reine Fiktion.

Auch wenn die Hintergründe wie die verschiedenen Pläne zur Inselerweiterung und die auf Helgoland und in Hamburg ansässigen Institutionen der Realität entnommen sind, wurden sie frei nach der Fantasie des Autors neu verknüpft und ausgestaltet.

Die handelnden Figuren sind zum Teil real existierenden Personen auf Helgoland nachempfunden, da die Insel reich an originellen Persönlichkeiten ist, deren Schilderung die Atmosphäre und Authentizität des Romans bereichern soll. Romanfiguren und Inselpersönlichkeiten sind aber ausdrücklich nicht identisch. Gernot Reymers, Oma Klüsing und Tamme Boysen existieren ebenso wenig wie das Hotel Laguna und die fiktiv in Hamburg und auf Helgoland ansässigen Firmen HES und OLS.

Weitere Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig, so sehr dem Autor auch an Realitätsnähe gelegen ist.

Die Figuren dieses Romans

Henning Leande

ehemaliger KHK des LKA Kiel, Leiter Abteilung OK, jetzt im vorgezogenen Ruhestand

Pia Leander

Hennings Tochter, Meeresbiologin

Lena Gesthuysen

Kriminalhauptkommissarin beim LKA Kiel, Kollegin und langjährige Lebensgefährtin Leanders

Eiken Jörgensen

Leiterin der Helgoländer Lummentage, Freundin Leanders

Tom Brodersen

Skatbruder und Freund Leanders, Lehrer am Gymnasium in Wyk; Mitglied der Stadtvertretung für die Grünen

Mephisto

Skatbruder und Freund Leanders; eigentlich Dirk Wittkamp, ehemaliger katholischer Pastor, jetzt Gastwirt im Kleinen Versteck und Inhaber eines Bauerncafés in Oevenum

Götz Hindelang

Skatbruder und Freund Leanders, Kunstmaler auf Föhr

Tamme Boysen

ehemaliger Leiter der Wasserschutzpolizei auf Helgoland; jetzt ›Seehundjäger‹

Polizei:

Kriminaldirektor Tölle

Leiter der Polizeiinspektion Itzehoe

KHK Diederich Frantzen

Mordkommission der Kripo Itzehoe

Ferdinand Groote

Leiter der KTU

POK Niels Duve

Leiter der Wasserschutzpolizei Helgoland; gemütlich, groß gewachsen, stämmig

POM Knut Kedelsen

Wasserschutzpolizei Helgoland

PM Tim Baring

Klaus ›Lemmy‹ Lehmann

IT-Fachmann beim LKA Kiel, Freund Leanders

Kriminaldirektor Ahrenstorff

LKA-Chef in Kiel

KHK Hansen

Mordkommission Hamburg

KOK Brandt

Mordkommission Hamburg

Bürgerinitiative:

Malte Cohrs

Fischer auf Helgoland mit abenteuerlicher Biografie; Anführer der BI gegen die Inselerweiterung

Oma Klüsing (Gertrud)

Helgoländer Original, Witwe des ehemaligen Postinspektors Tede Klüsing

Jesko Keden

Gastwirt im Hapot Wai (Zum Roten Kliff)

Ursula ›Uschi‹ Keden

Jeskos Ehefrau

Heiko Tönnies

Inhaber diverser Zigaretten- und Fuselläden

Meret Tönnies

Heikos Ehefrau

Oluf Heikens

Fischer

Mechthild Lornsen

Pensionswirtin

Ove Lornsen

Mechthilds Ehemann

Gegenspieler der BI:

Gernot Reymers

Hamburger Reeder mit Hotel Laguna auf Helgoland

Marianne Reymers

Ehefrau Gernots, führt das Hotel

Herwig Olsen

technischer Leiter der Hamburger Firma HES

Holger Welling

rechte Hand von Olsen bei der HES und Geschäftsführer des Tochterunternehmens OLS auf Helgoland

Cornelius ›Conny‹ Lange

Finanzchef der HES

Solveig Lange

Cornelius Exfrau, stellv. Geschäftsführerin und Repräsentantin der OLS auf Helgoland

Jens Krause

Sicherheitschef der HES

Fotografen und Teilnehmer der Helgoländer Lummentage:

Heinrich Seyfried

Handelsvertreter aus Bremen

Kalle Bluhm

Speditionskaufmann aus Dortmund

Alfred ›Fredi‹ Wessel

Kraftfahrer aus Kamen

Konrad Knoblich

Bankkaufmann aus Stuttgart

Dieter Kessler

Rechtsanwalt aus Hamburg

Nebenfiguren:

Hans Werner Jacobsen

Fluglotse in Wyk, genannt Hansman

Dr. Ulf Wiklund

Chefarzt im Helgoländer Krankenhaus

Jarrelt Thoms

Bürgermeister, Gemeinde Helgoland

Olaf Henningsen

Pressereferent der Gemeinde Helgoland

Lasse Thorgren

Mitarbeiter in der Hummeraufzuchtstation des Alfred-Wegener-Instituts auf Helgoland

Dieter Herbst

Mitarbeiter im Katasteramt der Gemeinde Helgoland

Berit

Rezeptionistin im Laguna

Jasmin Ventura Tavares

Inhaberin der BuntenKuh, sieht friesisch aus, blond

Antje

Mitinhaberin der Mocca-Stuben

Gitane

streunende Katze, die Leander zugelaufen ist

1

Die Fenster der Paracelsus Nordseeklinik warfen blasse Lichtstreifen in die heraufziehende Dunkelheit. Unterstadt und Südhafen im Rücken folgte Tamme Boysen im Bogen dem schmalen sandigen Invasorenpfad. Schnaufend erreichte er das Oberland und blieb einen Moment lang stehen. Während er sich zwang, tief und gleichmäßig einzuatmen, glitt sein Blick über das links unter ihm liegende Mittelland, das 67 000 Tonnen Sprengstoff nach dem Krieg aus dem Felsen gesprengt hatten. Die Engländer hatten damals ganz Helgoland im Meer versenken wollen.

Boysen war nicht mehr der Jüngste und so brauchte er einen Moment, bis sich sein Puls wieder beruhigt hatte. Dann setzte er seinen Weg über den Klippenrandweg fort, der gleich hinter dem gewaltigen rot-weißen Funkmast auf die steil abfallende Sandsteinkante stieß und von hier aus im großen Bogen um das Oberland herum führte. Blasses Mondlicht streifte den viereckigen Leuchtturm. Ein gleichmäßiger Seewind strich sanft über die hügelige, mit dünnem Gras bewachsene Fläche. Der Leuchtturm tastete mit seinen drei Lichtfingern die Felseninsel und weit darüber hinaus das Meer ab.

Hier an der Kliffkante begann Tamme Boysens selbst­auferlegter Dienst: Er kontrollierte jeden Abend die Sicherungszäune, die dafür sorgen sollten, dass keiner der vielen tausend Touristen, die sich hier täglich tummelten, um Helgolands berühmte Vogelfelsen zu besuchen, die tödlichen sechzig Meter in die Tiefe stürzte. So hatte er es die letzten fünfzig Jahre gehalten, seit er seinen Dienst bei der Wasserschutzpolizei angetreten hatte, und so hielt er es auch weiterhin, obwohl er schon seit Jahren in Pension war. Er hatte sein Pflichtgefühl schließlich nicht mit der Dienstmütze abgegeben und seine Verantwortung schon gar nicht. Außerdem war das eine seiner wenigen Möglichkeiten, seine Kollegen im aktiven Dienst zu entlasten und sich im Ruhestand nützlich zu machen.

Die Zäune am Klippenrandweg bestanden aus fünf dünnen, waagerecht verlaufenden Drähten, die mit Kunststoffklammern an einbetonierten Eisenpfosten befestigt waren. Einzelne dieser Pfosten waren zusätzlich durch schräge Stützrohre im Felsboden verankert. Tamme Boysen rüttelte hier und da am Zaun und vergewisserte sich, dass der dem Ansturm des nächsten Tages gewachsen war. Rechterhand erstreckte sich die Siedlung, die sich in den letzten zwanzig Jahren immer mehr ausgedehnt hatte, weil auf dem Unterland seit Langem kein Platz mehr zur Verfügung stand.

Nun wurde die karge Grasfläche des Oberlandes breiter und die ersten Bombenkrater kamen in Sichtweite. Gleich dahinter lag die Kartoffelallee, die von der Kleingartenanlage hier herüber führte. Tamme Boyen folgte dem schmalen Weg aus rotem Backstein und genoss im Mondlicht die Aussicht über steil abfallende Buntsandsteinfelsen hinweg bis zur LangenAnna. Er passierte den Vogelfelsen, blieb einen Moment stehen, um dem Geschrei der Möwen, Lummen und Basstölpel zu lauschen, und steuerte dann das Plateau vor der LangenAnna an. Der Horizont zeigte noch 6einen dünnen, orangefarbenen Streifen, der vom Sonnenuntergang übrig geblieben war. Die Felsnadel im Vordergrund wirkte zerbrechlich und dürr. An dieser Stelle und am Lummenfelsen drängten sich tagsüber bis zum Sonnenuntergang die meisten Menschen auf engem Raum, und so wunderte es Tamme Boysen nicht, dass der Zaun zur Kliffkante hin leicht eingedrückt war. Naturfotografen versuchten halt immer wieder, noch einen Tick näher an die nistenden Vögel heranzukommen und möglichst weit über die Kante zu schauen.

Boysen zog einen kleinen Spiralblock aus der Hemdtasche und notierte sich den Schaden, um ihn gleich morgen früh der Stadtverwaltung zu melden. Dann wandte er sich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen nach rechts und schlenderte auf den Nordstrand zu. Der Weg fiel nun etwas ab bis zu einem Aussichtspunkt, der einen Überblick über Strand, Jugendherberge und die Reede bis hinüber zur Düne bot. Drüben waren nur noch die Bungalows und das Flugplatzgebäude erleuchtet, der Strand war längst im Dunkel verschwunden. Tamme Boysen sog die frische Meeresluft, die würzig nach Tang und Salz roch, tief ein und drehte sich um. Der Mond warf ein fahles Licht auf das Hochplateau, die drei Lichtfinger des Leuchtturms strichen kreisend durch die Luft. Um diese Zeit wusste sich Tamme Boysen allein hier oben, und er genoss die Stille und den Frieden, den der rote Sandsteinfelsen mitten in der Hochsee ausstrahlte. Auch die Kleingartenanlage links von ihm ruhte im Dunkel ihrer Hecken. Die Besitzer der Parzellen waren längst zu Hause, nur an den Wochenenden wurde hier abends länger gegrillt. Dann hielt Tamme Boysen gerne Einkehr bei einem der Kliffgärtner, bekam eine Bratwurst oder ein Stück Fisch und eine Flasche Bier und erzählte aus seinem langen Polizistenleben, als sei Helgoland zu seiner Zeit eine Hochburg des Verbrechens gewesen.

Boysen passierte die ersten Parzellen, hielt sich am Dickhorn rechts, stieß auf die Straße An der Sapskuhle und hatte nun die Wahl, direkt weiter durch die Siedlung zum Unterland zu gehen oder noch eine kleine Runde zurück zu seinem Ausgangspunkt zu machen. Die Luft war angenehm frisch nach der Hitze des Tages, der Seewind ungewohnt sanft, und so bog Tamme Boysen nach rechts in die Leuchtturmstraße und umrundete die James-Krüss-Schule. Kurz bevor er den Leuchtturm erreicht hatte, glomm ein Lichtschein direkt an dem viereckigen Koloss aus Backstein auf, erleuchtete kurz ein Gesicht von unten und erlosch dann wieder. Da stand jemand in der Dunkelheit und hatte sich eine Zigarette angesteckt. Tamme Boysen verharrte einen Moment und lauschte in die Nacht. Als aber alles ruhig blieb, beschleunigte er seine Schritte, um nachzusehen, wer außer ihm so spät noch hier oben unterwegs war. Er folgte dem Holzzaun, der das Grundstück des Leuchtturmes umgab, nach rechts, weil er wusste, dass sich an dessen Ende vor dem kleinen Hügel mit dem Bunkerrest eine Lücke befand. Hier konnte er im Schutz der Dunkelheit das Gelände betreten und unbemerkt bis dicht an die Backsteinmauer gelangen. Er drückte sich an die warmen roten Ziegel und schob sich vorsichtig in Richtung Eingang. An der Turmecke blieb er stehen und lauschte in die Nacht. Zunächst hörte er nur das Kreischen einer Möwe irgendwo auf dem Oberland, doch dann vernahm er Stimmen, die erregt klangen.

»Verarsch mich nicht, Reymers!« Das war der Bass des Fischers Malte Cohrs. Tamme Boysen erkannte ihn sofort. »Ich weiß genau, dass du einen neuen Anlauf planst.«

»Das ist doch Unsinn«, entgegnete ein anderer Mann in einem Tonfall, als verzweifle er an der Starrköpfigkeit seines Gegenübers. Gernot Reymers, dachte Boysen und hatte sofort ein mulmiges Gefühl, weil er wusste, dass der Reeder Reymers und Malte Cohrs sich spinnefeind waren.

»Die Abstimmung ist gegen mich gelaufen, verdammt noch mal«, fuhr Reymers fort. »Das muss ich akzeptieren, auch wenn ich es sehr bedauere. Aber mit dir und den anderen Dumpfköppen war ja nicht zu reden. Dabei hättet ihr alle etwas von dem neuen Land gehabt. Und von dem Gezeitenkraftwerk sowieso. Das hätte Helgoland unabhängig gemacht. Aber du und deine Genossen, ihr habt die Inselerweiterung ohne Sinn und Verstand verhindert.«

»Genossen!«, erhitzte sich Cohrs. »Das ist doch …«

»Dagegen kann ich nichts mehr machen«, fiel Reymers ihm ins Wort, »auch wenn wir gerade jetzt den Platz für ein paar Hotels verdammt gut gebrauchen könnten. Der Felsen platzt aus allen Nähten, seit die Arbeiter der Offshore-Windparks hier leben. Und du weißt so gut wie ich, dass für Touristen kaum noch Zimmer zur Verfügung stehen.«

»Na bitte! Da ist die Katze aus dem Sack!« Malte Cohrs’ Bass dröhnte immer lauter. »Du witterst das große Geld. Tu doch nicht so scheinheilig! Das hast du von Anfang an so geplant: Erst willst du die Insel erweitern, und als das nicht klappt, sorgst du mit der Vermietung deines Hotels an die Stromkonzerne für einen Engpass bei den Gästebetten. Klar, wenn dann der Tourismus leidet, kann man gar nicht mehr anders, als die Insel doch noch zu erweitern und neue Hotels zu bauen. Aber diese Rechnung hast du ohne mich gemacht, Reymers! Verlass dich drauf!«

»Ich habe dir einen Kompromiss vorgeschlagen, Cohrs: Bahnhofsmodell gegen Bürgerwindpark. Damit könnten wir alle gut leben.«

»Von wegen Bahnhofsmodell! Du willst uns über den Tisch ziehen. Wenn wir den Köder schlucken und unseren Widerstand aufgeben, dann kommst du durch die Hintertür mit der Landverbindung.«

»Du spinnst doch völlig, Cohrs! Weißt du, was dein Problem ist? Du leidest unter Verfolgungswahn.«

»Von wegen Verfolgungswahn! Ich passe nur auf, dass du uns nicht verarschst. Was sagt denn eigentlich der Bürgermeister dazu? Ist der auch schon wieder mit im Boot? Oder ziehst du das jetzt mit deinen Kumpels von der HES alleine durch?«

»Du bist doch bescheuert, Cohrs. Ich weiß gar nicht, wovon du da faselst. Noch einmal zum Mitschreiben: Die Landverbindung zwischen Felsen und Düne ist für mich kein Thema mehr. Und wenn du es ganz genau wissen willst, ich habe längst andere Pläne, und die haben mit der HES überhaupt nichts zu tun. Wie kommst du überhaupt auf so einen Blödsinn?«

»So! Andere Pläne hast du! Was sollen denn das für Pläne sein? Heraus damit, Reymers, was für eine Schweinerei planst du diesmal?«

»Schweinerei …! Mensch, Cohrs! Du solltest mal deine verquere Weltsicht überprüfen. Ich habe noch nie etwas nur für mich geplant. Und auch diesmal sollt ihr alle profitieren. Aber ich mache nicht noch mal den Fehler, meine Ideen heraus­zuposaunen, bevor die Sache wirklich spruchreif ist. Ich habe die Schnauze voll von dem ständigen Störfeuer. Von euch Sturköppen habe ich mich einmal ausbremsen lassen, das passiert mir nicht noch mal.«

»Na bitte, Reymers. Ich sage doch, dass du wieder etwas gegen uns planst. Jetzt ist es raus!«

Gernot Reymers schwieg. Tamme Boysen konnte sich vorstellen, wie er resigniert den Kopf schüttelte und tief durchatmete.

»Nun lass uns doch endlich einmal vernünftig miteinander reden«, kam es dann in beschwichtigendem Tonfall von dem Reeder. »Das bringt doch nichts, wenn wir hier auf dem Felsen nicht zusammenhalten. Davon hat am Ende keiner was. Ich schwöre dir, dass ich nichts vorschlagen werde, das Helgolands Natur in irgendeiner Weise schadet. Im Gegenteil! Wir werden hier alle gemeinsam Geschichte schreiben. Und ihr von der Bürgerinitiative bekommt meine Pläne als Erste zu sehen, das verspreche ich dir. Aber zuerst muss ich noch ein paar Tests durchführen lassen. Wenn die erfolgreich verlaufen, werde ich euch alle an der Sache beteiligen.«

»Na klar, du informierst uns diesmal erst, wenn es zu spät ist. Wenn du alles in trockenen Tüchern hast und wir dir nicht mehr dazwischenfunken können.« Nun senkte auch Malte Cohrs seine Stimme, so dass Boysen Mühe hatte, das Folgende deutlich zu hören. »Aber ich verspreche dir auch etwas, Reymers: Mich führst du nicht hinters Licht. Ich passe auf dich auf. Und wenn du versuchen solltest, uns zu verarschen, dann gnade dir Gott. Dann drehe ich dir eigenhändig den Hals um und werfe dich den Möwen zum Fraß vor.«

»Sei doch vernünftig, Cohrs. – Cohrs, verdammt noch mal, jetzt warte doch und lass mit dir reden.«

»Mit mir nicht, Reymers«, ertönte Cohrs’ Stimme jetzt von weiter weg. »Nicht mit mir! Du wirst mich noch kennen­lernen!«

»Scheiße, so ein Sturkopp. Mann!«

Ein scharrendes Geräusch ertönte, als trete Reymers seine Zigarette auf dem sandigen Backsteinweg aus. Dann hörte Tamme Boysen das dumpfe Klopfen einer Faust auf Metall und gleich darauf, wie sich die schwere Tür des Leuchtturms quietschend öffnete.

»Du hast alles gehört?«, fragte Reymers.

»Ihr wart ja laut genug«, antwortete eine Stimme, die Tamme Boysen nicht zuordnen konnte. »Der Kerl ist verflucht hartnäckig, da steht uns eine Menge Arbeit bevor. Was wirst du jetzt machen?«

»Wenn ich das wüsste! Er glaubt mir einfach nicht, so verbohrt, wie er ist. Der Idiot scheucht mir noch die Helgoländer auf, bevor ich eine Chance habe, sie vernünftig zu informieren. Ich sage dir, wenn der mir wieder einen Strich durch die Rechnung macht …«

»Hast du mal ’ne Kippe für mich?«

Das Klicken eines Feuerzeuges erklang zweimal hintereinander, dann wurde die Leuchtturmtür hart ins Schloss gezogen. Als sich Schritte über den Pflasterweg entfernten, lugte Tamme Boysen vorsichtig um die Ecke. Er erhaschte gerade noch den Schattenriss zweier Männer und zwei rot glimmende Punkte in Hüfthöhe, bevor sie hinter dem Leuchtturmwärterhaus verschwanden.

Tamme Boysen verharrte noch einen Moment in der Deckung­ des Turmes und fuhr sich mit den Händen langsam von einem Ohr zum anderen durch seinen imposanten Backen-­ und Kinnbart. Dann folgte er den beiden Männern, die weit vor ihm vom BopStak in die Süderstraße abbogen. In den schmalen Gassen der Siedlung warfen Straßenlaternen ein matt gelbliches Licht auf das Pflaster, aber die beiden waren schon zu weit entfernt – hätte er am Leuchtturm nicht Gernot Reymers’ Stimme gehört, hätte er nicht erkennen können, wer da hinten ging. Am Falm trennten sie sich. Reymers bog nach links ab in Richtung Fahrstuhl, der andere Mann, der deutlich größer war, nach rechts in Richtung Wobautreppe. Tamme Boysen überlegte kurz, dann folgte er dem Fremden. Reymers Weg war vorgezeichnet: mit dem Fahrstuhl oder über die Treppe zum Unterland, dann durch den LungWai oder die Treppenstraße zu seinem Hotel, dem Laguna an der Mole. Sinnvoller war es, dem Unbekannten zu folgen und herauszufinden, wer das war.

Als der Schattenmann die Wobautreppe erreicht hatte, warf er seine Zigarette seitlich ins kurze Gras und huschte dann die Stufen hinab. Tamme Boysen trat im Vorbeigehen den glimmenden Rest sorgfältig aus, bevor er ebenfalls die Treppe hinabeilte. Am Haus Patria stieß er auf die Straße OmWass. Hier blieb er stehen und schaute nach links und rechts. Mist, der Kerl hatte ihn abgehängt. Ob der bemerkt hatte, dass ihm jemand auf den Fersen war? Wütend stampfte der ehemalige Polizist auf und wandte sich dann in Richtung Hafen. Aber auch hier unten an der Hafenstraße konnte er den Fremden nicht wiederfinden.

Tamme Boysen schlug den Weg nach Hause ein. In dieser Nacht würde er nicht weiterkommen. Verflucht noch mal, was ging hier eigentlich vor sich? Er hatte geglaubt, der Streit über die Inselerweiterung, der seine Helgoländer in zwei unversöhnliche Seiten gespalten hatte, sei mit der Volksabstimmung erledigt. Aber offensichtlich war weder Gernot Reymers bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen, noch Malte Cohrs mit seiner Bürgerinitiative. Da brodelte etwas im Untergrund und er, Tamme Boysen, hatte bis heute Abend nichts davon bemerkt. Es machte ihn rasend, wenn er nicht genau über alles informiert war, was auf seiner Insel passierte. Tamme Boysen beschloss, nicht eher zu ruhen, als bis er es herausgefunden hatte.

2

Schmatzend kaute Gitane tief über die Schüssel gebeugt ihr Nassfutter und schielte dabei mit ihrem einzigen noch verbliebenen Auge immer wieder vorsichtig zu Leander hin­über, der mit dem aufgeschlagenen Inselboten in der Hand an seinem Gartentisch saß. Dabei hielt er, die Ellenbogen aufgestützt, die große Doppelseite leicht schräg vor sich und beobachtete das Tier unauffällig über das Flatterpapier hinweg. Die schwarze Katze mit der weißen Brust und den weißen Tatzen war zum ersten Mal im letzten Winter hier aufgetaucht und hatte einen Topf Pellkartoffeln, den Leander zum Abkühlen nach draußen gestellt hatte, halb leergefressen. Damit hatte sie klargestellt, dass ab sofort alles geteilt wurde. Entsprechend hatte sie von nun an regelmäßig in sicherem Abstand in der Nähe des Gartenschuppens gehockt, wenn Leander morgens am Frühstückstisch vor dem Küchenfenster seinen Kaffee geschlürft hatte, die Gartentür beobachtet und auf leichte Beute gelauert. Ihrem eingekerbten Gesicht nach zu urteilen, war sie nicht nur einmal in einen schweren Kampf verwickelt gewesen. Und wie eine Siegerin sah das verwilderte Tier mit den Narben und dem fehlenden rechten Auge auch nicht aus.

Seit dem Vorfall mit den Pellkartoffeln war Leander im Supermarkt regelmäßiger Käufer von Katzenfutter, da er gar nicht einsah, immer die Hälfte seines eigenen Essens abzutreten. Das fehlte gerade noch, dass er für Gitane mitkochte! Regelmäßig am späten Nachmittag stellte er stattdessen ein Schüsselchen Nassfutter aus der Dose neben die Tür des Garten­schuppens, eine Schüssel mit Trockenfutter bot dauerhaft Nahrung. Morgens und abends kam Gitane seitdem zum Fressen in den Garten. Dazwischen streunte sie vermutlich durch das ganze Stadtgebiet mitsamt seinen Grünstreifen und machte Jagd auf Mäuse und Vögel.

Diese ungebundene Lebensweise hatte Leander veranlasst, ihr den Namen Gitane zu geben – Zigeunerin, ungeachtet der Tatsache, dass manch ein Zeitgenosse das politisch unkorrekt finden könnte. Aber wer seiner Nachbarn sprach schon Französisch? Das offensichtlich verwilderte und anfangs sehr scheue Tier und der Kriminalhauptkommissar im vorge­zogenen Ruhestand waren im Laufe der Zeit eine regelrechte Symbiose eingegangen, eine Schicksalsgemeinschaft auf Distanz: Die Katze brauchte sich um ihr Futter keine Gedanken mehr zu machen, und Leander hatte Gesellschaft, was er vor allem seit der Abreise seiner Freundin Lena Gesthuisen nach Neujahr sehr zu schätzen wusste.

Gitane saß nun neben der Schüssel, schleckte sich ausgiebig das Maul und putzte dann gründlich mit Hilfe der linken Pfote nach. Dabei ließ sie Leander nicht aus dem Blick. Wäre er jetzt aufgestanden und hätte auch nur einen Schritt auf sie zu gemacht, wäre sie blitzschnell durch die Ligusterhecke hinüber in Johanna Husens Garten verschwunden. Es war Leander im letzten halben Jahr nicht ein einziges Mal gelungen, sich ihr auf weniger als zehn Meter anzunähern. Die Katze war eine Einzelgängerin und suchte nur ab und zu aus rein pragmatischen Gründen den Kontakt zu ihm. Er respektierte das, zumal es ihn über die Futterspende hinaus zu nichts verpflichtete.

Leander beobachtete seit einiger Zeit mit gemischten Gefühlen, dass er sich diesen Lebensstil immer mehr zum Vorbild nahm. Er hatte schon immer dazu geneigt, sich zurückzuziehen, aber sein Beruf hatte ihn unter Menschen gezwungen und verhindert, dass er ein Eigenbrötler wurde. Seit er sich auf Föhr zur Ruhe gesetzt hatte und erst recht seit Lenas Abreise im Januar drohte die alte Gefahr Herr über sein Leben zu werden. Dessen war er sich bewusst, und er hatte einen ersten Anlauf unternommen, um sich dem entgegenzustellen: Im Frühjahr hatte er sich eine digitale Fotokamera gekauft und unter Anleitung des Naturfotografen Peter Hering Streifzüge über die Insel unternommen. Für den Anfang hatte er sich für eine Bridgekamera mit Zeiss-Objektiv und einem gigantischen Zoombereich entschieden, weil er den Umstand mit Wechselobjektiven an einer Spiegelreflexkamera scheute. Wenn er jedoch Peter Herings Ergebnisse mit seinen eigenen Bildern verglich, war das alles andere als ermutigend. Und das lag nicht nur an der Profiausrüstung des Naturfotografen. Leander fühlte sich zu alt, um die Kunst der Fotografie noch von der Pike auf zu erlernen, und so schlummerte die neue Kamera seit einigen Wochen unbenutzt in ihrer Fototasche.

Gitane stolzierte nun gemütlich am Gartenschuppen vorbei auf die Hecke zu und verschwand so wendig zwischen den Pflanzen, als sei dort eigens für sie ein Durchgang freigelassen worden. Auch dass sie offensichtlich hochträchtig war, schien sie dabei nicht zu behindern. Leander faltete die Zeitung zusammen und legte sie vor sich auf den Tisch. Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen lehnte er sich in seinem Gartenstuhl zurück und blinzelte durch die Äste des Apfelbaumes in den blauen Sommerhimmel, an dem weit und breit kein Wölkchen zu entdecken war. So lässt es sich leben, dachte er und schloss die Augen.

Dass er sich momentan so wohlfühlte, lag einzig und allein daran, dass seine Freundin Lena ihren Besuch angekündigt hatte. Sie hatten sich seit ihrer Abreise Anfang Januar nicht mehr gesehen und nur noch unregelmäßig miteinander telefoniert. Lena hatte eine längere Auszeit auf Föhr genommen, nachdem sie trotz ihres großen Erfolges im Fall einer internationalen Kunstschieberbande im letzten Sommer im Beförderungskarussel des LKA ausgebootet worden war. Danach war sie halbwegs rekonvalesziert in den Dienst zurückgekehrt und hatte sich Hals über Kopf in die Arbeit gestürzt.

Für Leander war das zunächst wie ein Befreiungsschlag gewesen, weil er endlich wieder Zeit für sich gehabt hatte. Wenn Lena da war, fühlte er sich eingeengt, sobald sie wieder weg war, sehnte er sich nach ihr. Und dann dauerte es nicht lange und schon begann die große Langeweile. Im Frühjahr hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, eine Detektei zu eröffnen. Aber dann war er davon wieder abgewichen, weil es ihn zu sehr in die Nähe seines alten Berufes gebracht hätte. Und Lenas Gesicht durfte er sich gar nicht erst vorstellen, wenn er ihr mitteilte, dass er zwar nicht mehr im Polizeidienst arbeiten wollte, aber stattdessen nun als Detektiv untreuen Ehemännern und -frauen auf einer Nordfriesischen Insel nachspionierte. Leander als Philipp Marlowe von Föhr. Lena würde ihn auslachen.

Während er den Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht nachspürte und über sein Dilemma im Zusammenleben mit Lena nachdachte, meldete sich Element of Crime in seinem Kopf und Sven Regener sang in einer Endlosschleife: »Ein geselliges Tier ist das Schwein, Und das Stachelschwein lieber allein. Ohne dich will ich nicht, mit dir kann ich nicht sein.«

Was sollte das denn jetzt? Wo kam Sven Regener auf einmal her? Es gibt keine Zufälle, hörte Leander seinen Freund Mephisto sagen und ein erhobener Zeigefinger schob sich vor seinem inneren Auge vor dessen dickes Grinsegesicht.

Es klopfte laut an der Haustür. Leander erwog kurz, gar nicht darauf zu reagieren, raffte sich dann aber seufzend auf und durchquerte das Haus. Die Postbotin lächelte ihn keck an, als sie einen Brief vor seinen Augen durch die Luft wedelte – dabei hätte sie ihn auch einfach durch den Briefschlitz werfen können. Leander hatte seit geraumer Zeit den Eindruck, dass sie jede Chance auf einen Kontakt mit ihm nutzte, aber keine Ahnung, wie er zu dieser zweifelhaften Ehre kam.

»Ein Brief aus Kiel«, teilte die Frau in der kurzärmeligen Postbluse mit, als warte er schon sehnsüchtig auf eine wichtige Nachricht, und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Von Frau Gesthuisen.«

»Aha, und was steht drin?«

»Das weiß ich doch nicht! Also, lesen müssen Sie Ihre Briefe schon selber.« Die Postangestellte war ehrlich entrüstet.

»Da bin ich aber beruhigt.« Leander fing den hin und her wedelnden Brief auf. »Schönen Tag dann noch.« Er nahm gerade noch die Enttäuschung im Gesicht der Frau wahr, als er die Tür wieder schloss, ohne noch ein Pläuschchen mit ihr zu halten.

Schon auf dem Weg zurück in den Garten hatte er sie jedoch wieder vergessen, denn er wunderte sich, dass Lena ihm noch zwei Tage, bevor sie für drei Wochen zu ihm auf die Insel kommen wollte, einen Brief schickte. Hoffentlich war da nicht schon wieder ein aktueller Fall dazwischengekommen! Ungeduldig riss er den Umschlag auf und ließ sich wieder in seinen Gartenstuhl sinken, während er das Blatt entfaltete.

Lieber Henning,

ich weiß, du rechnest an diesem Wochenende mit meiner Ankunft und nicht mit einem Brief. Deshalb schreibe ich es gleich vorweg: Ich werde nicht kommen.

 

Du wirst mir vorhalten, dass es nicht fair ist, dir zu schreiben, anstatt mit dir direkt zu reden. Natürlich hast du recht. Aber ich habe Angst, dass ich gegen meine Überzeugung handele, wenn du vor mir stehst. Mir ist inzwischen klar geworden, dass mir deine Insel zu eng ist, und nicht nur deine Insel, auch dein Haus und unsere Beziehung.

Leander hatte das Gefühl, als ziehe ihm jemand den Stuhl unter dem Hintern weg. Er wischte sich mit zitternden Fingern über die Stirn, auf der sich schlagartig Schweiß gebildet hatte, und las dann mit klopfendem Herzen weiter.

Als ich im letzten Jahr fast vier Monate bei dir gewohnt habe, hast du doch selber auch gespürt, dass es zwischen uns nicht mehr so war wie früher. Ich habe immer häufiger an meinen Beruf gedacht, und mir ist klar geworden, dass die Karriere für mich an erster Stelle steht. Sonst hätte mich die Enttäuschung über Ahrenstorffs Personalentscheidungen nicht so getroffen.

 

Und du warst in Gedanken auch nicht wirklich bei mir. Sei ehrlich, wärst du heute nicht längst mit Eiken zusammen, wenn ich nicht so unvermittelt an deiner Tür gekratzt hätte? Im Nachhinein tut es mir für dich leid, dass ich euch dazwischen­gefunkt habe.

Und da ist noch etwas anderes: Ich selbst habe inzwischen auch jemanden kennengelernt (tut mir leid, eine bessere Formulierung fällt mir nicht ein). Er heißt Ralf Häger und ist Journalist beim Kieler Tageblatt. Wir haben uns bei meinem letzten Fall kennengelernt und besser zusammengearbeitet, als das zwischen Polizei und Presse sonst möglich ist. Ralf hat noch so etwas wie Ethos. Lach nicht, ich meine das absolut ernst. Er ist keine von diesen Hyänen, die für eine gute Story jede Schweinerei machen und selbst alte Freunde über die Klinge springen lassen. Und er respektiert mich und meinen Beruf und fordert nichts von mir, das ich ihm nicht geben kann. Natürlich weiß ich nicht, ob es mit uns auf Dauer etwas wird, aber im Moment tut er mir gut. Und er ist da!

 

Halte mich bitte nicht für undankbar. Ich weiß, dass ich heute nicht wieder auf dem Posten wäre, wenn du mir nicht zur Seite gestanden hättest. Aber Dankbarkeit ist nun einmal keine Basis für eine Beziehung.

Entschuldige, Henning, dass du es so erfährst. Ich kann nicht anders. Du wirst nun sicher verstehen, dass ich meinen Besuch unter diesen Umstränden absagen muss.

 

Grüß Mephisto, Diana, Tom, Elke und Götz von mir. Und natürlich Eiken! Ich hoffe, dass sie dir eine bessere Freundin ist, als ich es war.

Leb wohl!

Lena

Leander ließ den Brief auf den Tisch sinken und blickte in seinen Garten, ohne etwas von der Außenwelt wahrzunehmen. Nur den Knoten spürte er, der ihm die Kehle zuschnürte. Nicht, dass er sich diese Situation nicht schon mehrfach vorgestellt hatte. Nur war er jedes Mal derjenige gewesen, der die Beziehung beendete und Lena gestand, dass er sich für Eiken entschieden hatte. Das war eine deutlich leichtere Vorstellung gewesen als die Situation, in der er sich jetzt befand.

Er nahm den Brief mit zitternden Fingern wieder auf und las ihn erneut. Hatte Lena es also auch gespürt, dass Leander während ihrer Anwesenheit in seinem Haus immer häufiger an Eiken gedacht hatte. Sie hatten im letzten Sommer kurz vor einer ernsthaften Beziehung gestanden, und dann hatte er die Vogelwartin gründlich verprellt, als Lena tief gekränkt vor seiner Tür gestanden hatte. Eiken war direkt danach nach Helgoland übergesiedelt, um dort eine neue Stelle anzunehmen, und seitdem hatte Leander von ihr nichts mehr gehört.

Wie war es nur so weit gekommen, dass Lena und er sich derart voneinander entfernen konnten? Leander dachte an die Ermittlungen im letzten Sommer, als er sich gezwungen gesehen hatte, sich gegen seine Freundin zu stellen. Und Eiken hatte an seiner Seite gestanden und das getan, was er von Lena erwartet hatte: ihm vertraut, ihn unterstützt.

Lena hatte offenbar deutlicher als er gespürt, dass er sich in der Folge gegen sie und für die Vogelwartin entschieden hatte. »Die Energie folgt immer den Gedanken«, hörte er Dianas Stimme in seinem Kopf.

Diana war die Partnerin seines Freundes Mephisto. Sie hatte in dem Haus des ehemaligen Priesters in Oevenum eine Heilerinnen-Praxis eröffnet, was für eine Menge Hohn und Spott auf der Insel sorgte: Der Teufel und die Hexe wurden die beiden hinter vorgehaltener Hand genannt. Aber warum fiel ihm gerade Dianas Standardspruch in dieser Situation ein? Weil er passte! Wie soll man eine Beziehung mit Energie versorgen, wenn man ständig an jemand anderen denkt?

Unsinn, schalt sich Leander und schüttelte den Kopf. Andererseits: Wenn seine Gedanken bei Eiken auf Helgoland waren, hieß das dann nicht, dass er ihre Verbindung damit aufrecht erhielt? Der Hoffnungsfunke, der nun in ihm aufglomm, war stärker als die Enttäuschung beim Lesen des Briefes. Als ihm das bewusst wurde, bekam er gleich wieder ein schlechtes Gewissen Lena gegenüber. Aber das war ja nun eigentlich nicht mehr nötig. Lena hatte Schluss gemacht. Und Leander stellte erstaunt fest, dass es nicht wirklich schmerzte, sondern fast so etwas wie ein Gefühl der Erleichterung auslöste, eine Andeutung von Freiheit.

Er sprang auf und lief ins Haus, um das Telefon zu holen. Jetzt konnte sich erweisen, ob an Dianas GeistigenGesetzen, wie sie sie nannte, wirklich etwas war.

Wieder im Garten, wählte er die Nummer der Auskunft und ließ sich direkt mit der Vogelwarte auf Helgoland verbinden. Dort arbeitete Eiken seit einem Jahr als Vogelwartin, nachdem sie wegen seiner Wankelmütigkeit ihre Position als Leiterin der SchutzstationWattenmeer auf Föhr aufgegeben hatte.

»Jörgensen, Vogelwarte Helgoland, guten Tag.«

Leander war überrascht, sie direkt am Telefon zu haben, und zögerte.

»Hallo?« Ihre Stimme klang ungeduldig.

»Ich bin’s. Henning.«

Nun schwieg Eiken.

»Wie geht es dir?«

»Gut, danke. Was willst du?«

»Nichts. Deine Stimme hören. Ich …«

»Tut mir leid, Henning, ich habe keine Zeit. Ich stecke mitten in den Vorbereitungen für die Lummentage. Morgen Mittag kommt eine neue Gruppe, für die ich zuständig bin.«

»Deshalb rufe ich eigentlich an«, log Leander, um zu verhindern, dass sie auflegte. »Ich möchte so ein Arrangement buchen.«

Eiken schwieg einen Moment, dann kam es ungehalten zurück: »Seit wann interessierst du dich denn für Lummen? Ehrlich, Henning, lass den Quatsch.«

»Nein, wirklich. Peter Hering hat mir die Vogelfotografie beigebracht und gesagt, ich müsse unbedingt mal zum Vogelfelsen auf Helgoland. Deshalb buche ich die Lummentage. Ihr bietet da doch Pauschal-Arrangements an. Mit Unterkunft und Vorträgen und so.«

»So ein Blödsinn! Aber selbst wenn du es ernst meintest: Wir sind ausgebucht. Du wirst auf ganz Helgoland kein Bett mehr finden, zumal hier alles von den Arbeitern der Offshore-Windanlagen belegt ist.«

Nun war vielleicht doch Ehrlichkeit angebracht, sonst würde das nichts mit dem Besuch auf dem Felsen. »Ich möchte dich sehen, Eiken.«

»Ich dich aber nicht. – Und jetzt lass mich bitte weiter­arbeiten.«

»Nicht auflegen, Eiken! Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe. Ich war unfair dir gegenüber, und das tut mir leid. Lass uns wenigstens in Ruhe reden. Du hast bestimmt noch irgendeine unbequeme Couch oder ein Feldbett aus der Vogelwarte für mich. Eine Abstellkammer in deiner Wohnung würde mir reichen. Ich verspreche dir auch, dass ich sofort wieder abreise, wenn du es verlangst.«

Diesmal dauerte das Schweigen länger. Leander hörte Eiken am anderen Ende atmen und spürte, wie sich der Knoten in dem Strick, den Lena ihm um den Hals geschlungen hatte, nun immer mehr zuzog.

»Ich rufe dich in den nächsten Tagen an«, sagte Eiken. »Du überfällst mich hier einfach … Da muss ich erst mal in Ruhe drüber nachdenken.«

»Versprochen? Du meldest dich?«

»Mach’s gut, Henning.« Sie legte auf.

Verflucht! Was trieb er hier eigentlich? Hatte er es nötig, wie ein winselnder Köter an Eikens Tür zu kratzen?

Wütend über sich selbst warf Leander den Hörer auf den Gartentisch. Lenas Brief bewegte sich leicht im Wind, der sanft durch die Apfelbäume strich. Leander stopfte ihn in den Umschlag zurück. Dann ließ er sich in seinen Gartenstuhl fallen und verschränkte die Hände im Nacken. Jetzt nahm er auch wieder das Vogelgezwitscher in den Ästen über sich wahr, während er gegen die Sonnenstrahlen hinaufblinzelte. Und doch konnte es ihn nicht von dem Gefühl ablenken, das sich langsam in seiner Brut ausbreitete und am besten mit dem Begriff Einsamkeit erfasst werden konnte.

3

Tamme Boysens Faust schlug hart gegen Oma Klüsings Friesentür. Das kleine Häuschen mit der tiefblauen Holzverkleidung und den weiß abgesetzten Fensterleibungen lag in der Siedlung im Übergang zum unbebauten Oberland. Die Straße Bi de Boak brütete in der Mittagshitze und Tamme Boysen wischte sich mit einem großen Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn, als sich die obere Häfte der zweigeteilten Tür öffnete. Das resolute Gesicht einer über achtzigjährigen Frau, die das rücksichtslose Bollern als Überfall zu deuten schien, tauchte im Türausschnitt auf.

»Was soll das, Tamme?«, fragte sie mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme. »Ist dir die Hitze zu Kopf gestiegen? Kannst du nicht klingeln oder klopfen wie ein normaler Mensch?«

»Mach auf, Gertrud. Ich weiß, dass ihr heute Mittag tagt, und ich muss mit dir und den anderen sprechen.«

»Du bist nicht Mitglied bei uns. Was solltest du mit uns zu besprechen haben?«

»Das sage ich dir, wenn du mich in deine Küche lässt. Also mach jetzt auf!«

Oma Klüsing sah ihn noch einen Moment grimmig an, dann öffnete sie auch die untere Hälfte der Tür und ließ den großen, breiten Mann an sich vorbeistapfen.

»Na bitte, da sind ja alle wieder auf einem Haufen«, grunzte er und blickte auf die versammelten Mitglieder der Bürgerinitiative hinab, die sich vor Jahren als Widerstandsgruppe gegen die von dem Reeder und Hotelier Gernot Reymers geplante Verbindung von Hauptfelsen und Düne gebildet hatte.

Reymers hatte vorgehabt, Spundwände in den Felssockel zu treiben, der die beiden Inselteile unter Wasser verband, und Sand aufzuschütten. Dadurch sollten nicht nur Haupt­insel und Düne miteinander verbunden werden, sondern Helgoland hätte so viel Land hinzugewonnen, dass mehrere Hotels darauf hätten gebaut werden können. In einer Volksabstimmung hatten sich die Gegner dieser Pläne 2011 knapp durchgesetzt. Dass dennoch alle Mitglieder der Bürger­initiative heute in Oma Klüsings Küche versammelt waren, belegte für Tamme Boysen, was er nach dem mitgehörten Disput gestern Abend am Leuchtturm vermutet hatte: Das Thema war mit der Abstimmung nicht beendet.

Er warf seine Mütze auf den Tisch und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen. Dabei fixierte er nacheinander den Fischer Malte Cohrs, den Kaufmann Heiko Tönnies, den Gastwirt Jesko Keden, die Vogelwartin Eiken Jörgensen und die Pensions­wirtin Mechthild Lornsen.

Oma Klüsing stellte sich mit vor der Brust verschränkten Armen mitten in den Türrahmen und blickte auf den ehemaligen Inselpolizisten hinab. »Also, raus mit der Sprache, Tamme: Was willst du?«

Tamme Boysen zog sich ein Glas heran und schenkte sich aus einer Karaffe Wasser ein. Dann trank er es in einem Zug aus und setzte es hart auf den Tisch. »Ich war gestern Nacht auf dem Oberland«, begann er seinen Bericht, bohrte seine Augen in die des Fischers Malte Cohrs und versuchte, irgendeine Regung wahrzunehmen. Aber Cohrs ließ sich nichts anmerken. »Und du warst auch da, zusammen mit Gernot Reymers.«

Cohrs hielt dem Blick stand, während die übrigen Mitglieder der Bürgerinitiative nun ihre Augen auf ihren Anführer richteten.

»Ich habe gehört, was ihr geredet habt. Und ich bin hier, um euch zu sagen, dass ich nicht zusehen werde, wenn ihr den alten Streit wieder aufnehmt.«

»Was bildest du dir eigentlich ein, Boysen?«, kam es gefährlich leise von Malte Cohrs zurück. »Du bist kein Bulle mehr. Sei froh, dass du noch für die Robben auf der Düne zuständig sein darfst. Aber hier auf dem Felsen hast du nichts mehr zu melden.«

Tamme Boysen beugte sich weit vor. Auch seine Stimme unterstützte die Drohgebärde. »Das werden wir ja sehen, Cohrs. Reiß dein Maul besser nicht zu weit auf, sonst nehmen meine Kollegen deine Fangquote mal etwas genauer unter die Lupe.«

»Schluss jetzt!«, donnerte Oma Klüsings raue Stimme dazwischen. »In meiner Küche benehmt ihr euch gefälligst alle beide, sonst werfe ich euch achtkantig raus.« Sie trat aus dem Türrahmen und zog sich den letzten freien Stuhl heran. »Als du gekommen bist, Tamme, wollte Malte uns gerade von seinem Treffen mit Reymers berichten. Da du letzte Nacht ohnehin alles mitangehört hast, schlage ich vor, dass du dabeibleibst. Jemand dagegen?«

»Ich«, antwortete Malte Cohrs bestimmt.

»Sonst noch jemand?« Da niemand mehr etwas sagte, nickte Oma Klüsing dem Fischer zu. »Also, Malte, du bist überstimmt. Erzähl schon, was war da gestern Nacht los?«

Murrend blickte Cohrs in die Runde. »Wie ihr wollt. Ihr müsst ja wissen, wem ihr vertraut. Also, wie ich schon sagte, hat Reymers mich zum Leuchtturm bestellt – angeblich um mir einen Vorschlag zu machen. Ich habe ihm auf den Kopf zu gesagt, dass er immer noch eine Inselerweiterung plant. Das hat er zwar zuerst bestritten, aber dann hat er mir einen Kompromiss vorgeschlagen: Er verzichtet auf einen neuen Anlauf in Sachen Landverbindung, wenn wir der kleinen Lösung zustimmen, der am Hauptbahnhof. Dafür würde er statt des Strömungskraftwerks einen Bürgerwindpark bauen, an dem alle Helgoländer beteiligt würden.«

»Das hört sich doch vernünftig an«, warf Mechthild Lornsen ein. »Wir brauchen doch wirklich dringend neue Gäste-Kapazitäten.«

»So habe ich mir das vorgestellt!«, brauste Malte Cohrs auf. »Genau das habe ich befürchtet. Der Reymers hält euch einen Köder vor die Nase und ihr springt voll drauf an. Merkt ihr denn gar nicht, was der vorhat? Der bringt uns dazu, ihm bei der kleinen Lösung zuzustimmen, und ehe wir es uns versehen, rechnet der uns vor, dass das doch nicht reicht. Wenn wir da erst mal ja gesagt haben, ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Landverbindung.«

»So’n Quatsch!« Mechthild Lornsen schüttelte den Kopf.

»Quatsch, ja? Reymers hat sich gestern Abend selbst verraten. Er hat zugegeben, dass er was ganz anderes geplant hat. Aber er will nicht raus mit der Sprache. Das wär noch nicht spruchreif, sagt er. Da müssten noch irgendwelche Tests gemacht werden. Und dann würde er uns alle beteiligen. Ich glaube dem kein Wort. Der verarscht uns, sage ich euch. In Wahrheit will der Hotels bauen. Und zwar auf eigene Rechnung!«

»Hast du Beweise für deine Behauptung?«, hakte Tamme Boysen nach.

Malte Cohrs lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und stierte auf die Tischplatte. In diesem Moment wirkte er wie ein großer trotziger Junge.

»Du musst zugeben, Tamme, dass wir in einer verzwickten Lage sind«, sagte Oma Klüsing. »Die Vermieter profitieren von den Windanlagen-Arbeitern, aber sie haben keine Kapazitäten mehr für Urlaubsgäste. Da kippt schnell die Stimmung, wenn Reymers einen neuen Anlauf in Sachen Inselerweiterung unternimmt. Das Abstimmungsergebnis war ohnehin schon knapp genug. Beim nächsten Mal könnte er eine Mehrheit bekommen. Ein Kompromiss wäre da vielleicht wirklich vernünftiger.«

»Nicht mit uns!«, ließ sich nun Jesko Keden vernehmen. »Der baut dann Hotels und Bars auf seinem neuen Land und zieht uns hier auf dem Felsen die Urlauber völlig ab. Und wir haben dann nur noch die Arbeiter an den Wochenenden, die ein paar Gläser bei uns trinken.«

»Und wenn die demnächst weg sind, weil die Offshore-Anlagen fertiggestellt sind, bleiben wir auf unseren Betten sitzen«, schwenkte Mechthild Lornsen nun um. »Das ist doch nur eine Frage der Zeit. Wenn die Urlauber erst mal die neuen Hotels mit ihrem Luxus gewohnt sind, will keiner mehr in unsere alten Pensionen.«

»So, Tamme, jetzt weißt du Bescheid.« Malte Cohrs richtete seine Augen angriffslustig auf den Kontrahenten. »Und jetzt sagst du uns, wo du in der Sache stehst. Bist du auf unserer Seite? Wenn nicht, dann mach, dass du rauskommst.«

Tamme Boysen kratzte sich geräuschvoll über die Glatze. Dann hob er erneut den Wasserkrug und schenkte sich nach, bevor er antwortete: »Wenn du mir beweisen kannst, was du da behauptest, dann bin ich auf eurer Seite. Aber ich halte Reymers für keinen schlechten Kerl und schon gar nicht für einen, der für ein gutes Geschäft über Leichen geht. Beweis mir das Gegenteil, Cohrs, dann werde ich euch unterstützen. Andernfalls …« Boysen machte eine vage Geste mit der rechten Hand.

Der Fischer schnaufte unwillig auf, aber Oma Klüsing hob beruhigend ihre runzelige Pranke. »Abgemacht, Tamme«, sagte sie.

»Und noch eins.« Tamme Boysen fixierte Malte Cohrs mit finsterem Blick. »Ich dulde keinen Krieg auf Helgoland. Aktiver Dienst hin oder her, wenn hier irgendjemand Zwietracht sät und den Zusammenhalt zerstören will, kriegt er es mit mir zu tun. Du hast zwar recht, Malte: Ich bin kein Polizist mehr. Aber unterschätzen solltest du mich trotzdem nicht.«

Boysen erhob sich, trank im Stehen sein Wasserglas leer und stellte es wieder auf dem Tisch ab. Er fixierte noch einmal jeden der Anwesenden einzeln, dann wandte er sich der Tür zu, verharrte aber im Rahmen und drehte sich wieder um. »Übrigens, Cohrs, wenn du dich das nächste Mal nachts in dunklen Ecken rumdrückst, solltest du deine Augen überall haben. Ich war nämlich nicht der Einzige, der bei eurem Gespräch dabei war und den du nicht bemerkt hast. Reymers war nicht alleine da. Als du schon weg warst, kam so ein Kerl aus dem Leuchtturm und hat mit ihm geredet. Hast du eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?«

Malte Cohrs blickte ihn entgeistert an, zog dann die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. Tamme Boysen setzte seine Mütze auf, deutete mit Zeige- und Mittelfinger einen offiziellen Gruß am Mützenrand an und stapfte durch den Flur zur Haustür. Im Hinausgehen hörte er noch den Tumult, den seine letzten Worte ausgelöst hatten.

»Das ist doch der Beweis: Dem Reymers kann man nicht trauen. Da muss man doch was machen«, hörte er Jesko Keden dröhnen, bevor die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel.

Als Malte Cohrs, Heiko Tönnies und Jesko Keden nach etwa einer halben Stunde ebenfalls Oma Klüsings Haus verließen, stand Tamme Boysen gegenüber versteckt hinter dem Eckhaus zur Karkhiar Spichal Goat, in der sich die kleine katholische Kirche befand. Er ließ den Männern, die zügig die Kieler Straße hinabliefen, einen kleinen Vorsprung, wählte parallel zu ihnen die R.-C.-Rickmers-Straße und folgte ihnen dann in sicherem Abstand durch die kleinen Gassen und die Treppenstraße ins Unterland.

Im Lung Wai verschwanden die drei schließlich in Heiko Tönnies’ Schnaps- und Zigarettenladen. Durch das Fenster konnte Tamme Boysen sehen, wie sie hinter der Theke an Tönnies’ Frau vorbei in das Hinterzimmer gingen und die Tür hinter sich schlossen. Nachdenklich kratzte er sich seinen Backenbart. Gerne hätte er gehört, was die Männer da drin jetzt wieder ausheckten, aber sie würden sich bestimmt nicht noch einmal von ihm überrumpeln lassen. Hier war jetzt nichts mehr zu tun. Da konnte er genauso gut seinen übrigen Verpflichtungen nachgehen. Schließlich durfte er nicht wegen dieser paar Idioten seinen Dienst vernachlässigen. Mit einem letzten Blick in den Laden drehte er sich um und schob sich zwischen den mit Plastiktüten bepackten Tagestouristen hindurch in Richtung Mole.

Nachdem auch Mechthild Lornsen gegangen war, wandte sich Oma Klüsing Eiken Jörgensen zu. Die alte Dame hatte der Vogelwartin unbemerkt von den anderen ein Zeichen gegeben, dass sie noch bleiben sollte.

»Die Sache gefällt mir nicht.« Oma Klüsing setzte sich Eiken gegenüber an den Tisch. »Ich habe das Gefühl, dass sich hier etwas zusammenbraut. Tamme ist ein guter Kerl, aber für den geht der Inselfrieden über alles. Wenn offen über eine Sache diskutiert wird, hat er das Gefühl, dass etwas mit dem Zusammenhalt nicht stimmt. Und Malte ist ein Hitzkopf. Wer weiß, wozu der in der Lage ist. Am meisten Sorgen machen mir aber Heiko und Jesko. Die kennen keine Grenzen, denen traue ich alles zu. Und ich bin eine alte Frau. Auf mich hört doch keiner, wenn es ernst wird.« Als sie merkte, dass Eiken ihr kaum zugehört hatte, ergriff sie ihre Hände. »Kummer, Mädchen?«

»Hm? Oh, entschuldige. Was meinst du?«

»Was ist los mit dir, min Deern? Die ganze Zeit über bist du mit den Gedanken nicht so recht hier. Hast du Heimweh? Gefällt es dir etwa nicht bei uns?«

Eiken schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Es geht um etwas Privates.«

»Dachte ich mir’s doch«, sagte Oma Klüsing nickend, erhob sich und holte eine Kömflasche und zwei Pinnchen aus einem Schrank. Sie schenkte ein und schob Eiken eines hinüber. »Private Dinge muss man hochprozentig besprechen. Prost, Deern.«

Eiken schüttelte den Kopf und blickte auf die Tischplatte.

»Du trinkst das jetzt, und dann erzählst du mir, was los ist.« Oma Klüsings Ton machte deutlich, dass sie keinen Widerspruch duldete.

»Ja, Mama.« Eiken grinste, nippte an dem Köm und verzog das Gesicht.

»Ex, Mädchen, sonst wirkt der nich.« Oma Klüsing kippte ihren in einem Schluck und goss nach, als Eiken ihrem Beispiel gefolgt war. »Und jetzt raus mit der Sprache.«

Eiken erzählte von dem Telefonat mit Leander und ergänzte, als Oma Klüsing nicht locker ließ, die ganze Vorgeschichte, angefangen bei ihrer ersten Begegnung über die gemeinsamen Ermittlungen im letzten Sommer bis zu Lenas Rückkehr in das kleine Fischerhaus. Die alte Dame steckte sich eine Zigarette an, inhalierte tief und hörte aufmerksam zu. Zwischendurch nickte sie, als passe das alles genau zu ihrer Lebenserfahrung.

»Männer!«, kommentierte sie schließlich mit einer Betonung, als seien damit alle Abgründe dieser Welt erfasst. Dann drückte sie Eiken das volle Schnapspinnchen in die Hand und prostete ihr auffordernd zu. Diesmal leistete Eiken keinen Widerstand und beide kippten den Köm auf Ex. »Jetzt hör mir mal gut zu, min Deern. Ich bin eine alte Frau, aber das war ich nicht immer. Und wenn ich vor über fünfzig Jahren nicht auf Helgoland, sondern auf Neu-Guinea gestrandet wäre, würde ich allein meines Alters wegen als weise verehrt. Deshalb gebe ich dir jetzt einen guten Rat …«

4

Das Kleine Versteck in der Mühlenstraße war eine Seefahrer­kneipe, die skurrilerweise in einer ehemaligen Kirche untergebracht war. Ihr Inhaber, Leanders Freund und Skatbruder Dirk Wittkamp, war Priester gewesen und hatte vor Jahren höchstpersönlich durch seine ketzerischen Predigten dafür gesorgt, dass die katholische Kirche auf Föhr ihren Kampf gegen die Schwindsucht aufgegeben hatte und das Gebäude für eine neue Verwendung frei geworden war. Das hatte ihm auf der Insel den Spitznamen Mephisto eingetragen. Aber auch die Skandale innerhalb der katholischen Kirche in den letzten Jahren hatten ihren Beitrag zu einer dramatischen Verkleinerung der Gemeinde geleistet. Der Bischof hatte also die Chance ergriffen, nicht nur Pastor Wittkamp disziplinarisch zu maßregeln, sondern auch das unrentable Gebäude auszusegnen und zu veräußern. Mephisto hatte jedoch kurzerhand die Kündigung eingereicht, statt sich strafversetzen zu lassen, über einen Strohmann seine ehemalige Kirche erworben und darin besagte Kneipe eröffnet, was selbst dem Bischof sicherlich den einen oder anderen Fluch entlockt haben dürfte.

Vor ein paar Jahren hatte der kleine umtriebige Mephisto zusätzlich in dem Bauerndörfchen Oevenum einen ehemaligen Friesenhof erstanden und aus dem Bauerngarten und den dazu gehörenden Nebengelassen inzwischen einen ansehnlichen gastronomischen Betrieb aufgebaut. Der geradezu legendäre Ruf von Mephisto’s Biergarten war dabei nicht nur seinem kauzigen Inhaber zu verdanken, sondern vor allem den dort gereichten Spezialitäten: Neben traditionellem Bauernkuchen vom Blech am Nachmittag gab es abends rustikales Holzofenbrot aus dem eigenen Backhaus, in dem ein großer Steinofen für täglichen Nachschub sorgte. Die Schinken-, Wurst- und Käseplatten und das frisch gezapfte Landbier sorgten jeden Abend für vollständig besetzte Tische, und da sich Mephisto im Sommer keinen Ruhetag leisten wollte, fand der Skatabend inzwischen wieder fernab des Trubels im Kleinen Versteck statt.

Als Leander die schwere Eichentür aufzog, wankten ihm zwei Männer entgegen, die merkwürdig bleich aussahen, wie Gespenster, und mehr aus der Kneipe stolperten, als dass sie gingen. Die konnten doch so früh am Abend noch nicht besoffen sein. Oder sollte die Vogelgrippe Föhr erreicht haben? H5N1, dachte Leander, mutiert und auf den Menschen übergesprungen. Er schob den schweren, dunkelgrünen Vorhang zur Seite, der gleich hinter der massiven Kirchentür als Windfang diente.

Der Schankraum war nur mäßig besucht, und auf allem lastete eine tiefe Schwermut. Die wenigen Gäste schienen gänzlich von einer ominösen Seuche befallen zu sein und blass ihrem unausweichlichen Ende entgegenzusiechen. Selbst Linda, die junge und eigentlich äußerst lebenslustige Bedienung, saß hinter dem Tresen und stützte schwer ihren Kopf in die Hände, anstatt sich um das Wohl der sonst so trinkfreudigen Insulaner zu kümmern. Anscheinend war heute niemandem nach Trinken zumute. Das war nur mit einem dramatischen Trauerfall zu erklären. Sollte etwa Mephisto etwas zugestoßen sein?

Leander sah sich um und erblickte rechts in einer Nische drei Gestalten, von denen zwei schweigend vor ihren Bierkrügen saßen: Der Maler Götz Hindelang und der Lehrer Tom Brodersen brüteten schwer an ihrer Depression, während Mephisto heftig gestikulierend auf sie einredete. Erleichtert stellte Leander fest, dass es seinem schwergewichtigen Freund offensichtlich gut ging. Allerdings wunderte er sich über die finstere Stimmung seiner übrigen Skatbrüder. Normalerweise reichten diese wenigen Männer aus, um für ordentlichen Schwung zu sorgen. Heute aber saßen sie da und starrten in ihr Bier, als stehe mindestens der Untergang der Insel bevor. Leander trat an den Tisch und klopfte zur Begrüßung auf die Holzplatte, erntete aber nur ein müdes Nicken von Tom Brodersen und ein mattes Winken Götz Hindelangs, während sich Mephistos Gesicht geradezu erleichtert aufhellte.

»Henning, Freund und Bruder, endlich ein Lichtblick in dieser trüben Runde. Setz dich in unseren erlauchten Kreis. Ich hole dir gleich etwas zu trinken.« Der kleine Mann eilte in Richtung Theke davon.

»Was ist los?«, erkundigte sich Leander bei seinen finster dreinblickenden Freunden.

Götz Hindelang öffnete den Mund und formte mit den Lippen ein paar Worte, aber es kam kein Ton heraus, so dass Leander auf eine schwere Stimmbandentzündung tippte.

»Ist jemand gestorben?«, hakte er nach.

»Noch nicht«, bekam er von Tom Brodersen krächzend zur Antwort, als habe auch der sich mit dem ominösen Stimmbandvirus angesteckt. »Aber es ist minütlich damit zu rechnen.«

»Was soll das heißen? Ist jemand krank?« Leander blickte von einem zum anderen. »Ist etwas mit Elke? Oder mit den Kindern?«

Elke war Tom Brodersens Ehefrau, und Toms Gesicht nach zu urteilen, musste Leander mit dem Schlimmsten rechnen.

»Elke und den Kindern geht es gut«, krächzte der Lehrer mit schwerem Kopfschütteln. »Wenn man mal davon absieht, dass sie vielleicht morgen schon Witwe und Waisen sein werden.«

»Verdammt noch mal«, wurde Leander jetzt grimmig, »kann mir mal jemand erklären, was hier eigentlich los ist?«

»Sag du es ihm«, forderte Tom Brodersen Götz Hindelang auf. »Mir fehlt noch die Kraft dazu. Außerdem finde ich für diesen Frevel keine Worte.«

Der Maler nahm erneut einen Anlauf und brachte diesmal tatsächlich mühsam ein paar keuchende Worte zustande: »Probier selbst.« Dabei schob er Leander seinen Bierkrug hinüber.

»Was ist da drin?«

»Bier.«

»Aha, und was ist mit diesem Bier?«

»Das kann man nicht erklären«, stöhnte Tom Brodersen. »Das muss man selbst erleben.«

Leander hob entnervt den Krug, nahm einen großen Schluck von dem etwas trüben Getränk und bevor er begriff, was da in seinem Mund passierte, setzte bereits sein Schluckreflex ein. Zu spät, dachte er, jetzt ist alles aus. Von einem heftigen Würgereiz geschüttelt, sprang er von der Bank auf und rannte in Richtung Theke, weil da die Rettung in Gestalt von frischem Wasser aus dem Kran zu finden war. Die Marter, der seine Geschmacksnerven auf den wenigen Metern inzwischen ausgesetzt waren, ließ sich nicht in eindeutige Worte fassen. Ein Gemisch aus Seife, Salzsäure und faulem Obst schien sich ihrer bemächtigt zu haben und unaufhaltsam weiter zu gären, obwohl sich das Gesöff längst in seinem Magen befand und dort sicherlich Furchtbarstes anrichtete. Und so machte Leander hinter der Theke gar nicht erst den Umweg über ein Glas, sondern schob gleich seinen Kopf unter den Wasserkran, drehte ihn voll auf und saugte das rettende Nass in sich hinein.

»Nanana, alter Freund«, tadelte Mephisto, der am Zapfhahn stand und einen Krug mit trübem Gerstensaft volllaufen ließ. »Kannst du es nicht abwarten? Ich bringe dir doch gleich was zu trinken.«

»Teufel auch, was ist das?«, krächzte Leander mit dünner Stimme und tauchte wieder unter dem Wasserkran hervor.

»Mein neuester Geniestreich«, erklärte Mephisto und warf sich stolz in die Brust. »Selbstgebrautes Bier: Mephistos Gerstengenuss!«

»Gottes Willi! Willst du uns vergiften?«

»Wieso? Ich selbst trinke seit Tagen davon und muss dir sagen: So schlimm, wie es zuerst scheint, ist das gar nicht. Man gewöhnt sich daran. Die Stimme ist spätestens am zweiten Tag wieder voll da und geht auch nicht wieder weg. Es fördert sogar die Verdauung. Und dass es absolut ungiftig ist, merkst du ja an mir.«

»Das Einzige, was ich merke, ist, dass dieses Gesöff dir offenbar deine letzten noch verbliebenen Geschmacksnerven weggeätzt hat. Bist du eigentlich bescheuert, uns so ein Zeug vorzusetzen?«

»Undank ist der Welt Lohn«, meckerte Mephisto und zog seine buschigen Brauen unwillig zusammen. »Da habe ich tage- und nächtelang aus selbst angesetzter Maische in einem alten kupfernen Kessel auf offener Flamme dieses edle Getränk gerührt und jetzt das. Wenn euch mein Gerstensaft nicht schmeckt, dann sauft doch weiter die Industrieplörre, von der eine wie die andere schmeckt.«

»Genau das werden wir auch tun.« Leander tauchte keuchend noch einmal unter den Wasserkran, weil der üble Geschmack sich unaufhaltsam zurückkämpfte und seine Kehle zu verätzen drohte.

Grummelnd stieß Mephisto seiner Angestellten in die Seite. »Schließ die Industrieplörre wieder an, Linda«, fauchte er. »Die Welt ist offenbar noch nicht reif für diese Revolution des guten Geschmacks.«

Das Gesicht der jungen Frau hellte sich auf, und auch die wenigen noch verbliebenen Gäste in der Kneipe erwachten zu neuem Leben angesichts der Rettung in Gestalt des alten dunklen Landbieres, das nun wieder aus dem Zapfhahn fließen würde. Mephisto selbst nahm demonstrativ den Krug, den er eben mit seinem Selbstgebrauten gefüllt hatte, und trug ihn vor sich her zum Tisch in der Nische.

Kurz nachdem Leander zu seinen Skatbrüdern zurückgekehrt war, wechselte Linda die Bierkrüge aus und erntete dafür ein dreistimmiges befreites »Aaaah!« Tom und Götz tranken in tiefen Zügen das dunkle Nass, und mit jedem Schluck sah man ihren Gesichtern die Erleichterung mehr an. Erst als die Krüge geleert waren, setzten sie sie auf dem Tisch ab und ließen sich mit seligem Grinsen in ihre Stuhllehnen zurückfallen. Mephisto hockte vor sich hin grummelnd daneben und trank kleine Schlucke von seinem Selbstgebrauten.

»Ich habe dich gewarnt«, erinnerte Linda ihn lachend. »Mit dem Zeug wirst du auch noch deine letzten Freunde verlieren.«

»Du hast doch wohl nicht ernsthaft vor, das deinen Gästen im Biergarten zu servieren«, sagte Leander.

»Natürlich nicht«, entgegnete Mephisto gereizt und starrte in die trübe Brühe in seinem Krug. »Jedenfalls noch nicht in dieser Phase. Das ist ein erster Versuch, und ich habe mit Bedacht das Kleine Versteck dafür ausgesucht.«

»Und uns!«, schimpfte Götz Hindelang.

»Natürlich ist Mephistos Gerstengenuss noch nicht perfekt«, ignorierte Mephisto die Entrüstung des Malers.

»Nicht perfekt, sagt er«, kam es fassungslos von Tom Brodersen, dessen Stimme allmählich wieder Klang und Farbe annahm. »Für das Zeug brauchst du einen Waffenschein. Das gehört in einen Giftschrank weggeschlossen. Für den Export in den Iran fällt das bestimmt unter das Waffen-Embargo.«

»Wenn du das im Auto transportierst, wird deine Karre zum Gefahrguttransporter«, ergänzte Götz Hindelang mit ebenfalls erstarkender Stimme. »Ich bezweifele allerdings ernsthaft, dass man so etwas auf einer Fähre überhaupt befördern dürfte. Aber vielleicht ist es ja geeignet, um meine Pinsel darin auszuwaschen.«

»Sagtest du nicht, es fördere die Verdauung?«, erkundigte sich Leander. »Verkauf es doch an die Pharmaindustrie, als Grundsubstanz für ein neues Abführmittel. Oder vermarkte es selbst: Mephistos Entschlackungskur – der Tod des Darm­egels.«

»Jetzt übertreibt mal nicht«, wurde Mephisto nun laut und ungehalten. »Ich muss eben noch etwas daran weiterfeilen.«

»Lieber Freund, tu dir und deinen Mitmenschen einen Gefallen und unterlass künftig deine alchemistischen Experimente«, riet Tom Brodersen mit Inbrunst. »Ich kann für dich und uns nur hoffen, dass wir keine Langzeitschäden davontragen. Guck dir Henning an, der ist ganz grün geworden. Und seine matten Augen bekommen auch schon dunkle Ränder.«

»Du musst jetzt gaaanz viel trinken, Henning«, riet Götz Hindelang mitfühlend und legte seinem Freund eine Hand auf den Arm. »Das Zeug muss sich in deinem Magen verdünnen, verstehst du? Mindestens eins zu tausend, schätze ich.«

»Genau«, unterstützte Tom Brodersen den Maler. »Die Nordsee hat seinerzeit die Dünnsäureverklappung durch Kronos-Titan ja auch überstanden. Die Regeneration dauert halt ein paar Jahre, aber eine Chance hast du.«

»Ich hole Nachschub«, verkündete Linda lachend und sammelte die leeren Krüge ein, um mit ihnen in Richtung Theke zu verschwinden.

»Und denk an die Schinkenplatten«, brummte Mephisto ihr grimmig nach.

Dass Linda auch ungefragt seinen Krug Gerstengenuss mitgenommen hatte, akzeptierte er widerstandslos. Leander verzichtete auf eine diesbezügliche Bemerkung, weil er den kleinen Mann nicht über Gebühr verärgern wollte.

Götz Hindelang griff nach den Skatkarten auf dem Tisch und begann zu mischen. »Lasst uns anfangen zu spielen. Wer weiß, wie lange wir noch auf unseren Bänken sitzen können, nachdem wir alle einen Schluck von diesem Teufelszeug getrunken haben. Bestimmt ätzt das ganz allmählich nach unten durch. Ich fühle direkt, wie es diese Plörre dahin zurückzieht, wo sie hergekommen ist: in die Hölle.«

»So, Schluss jetzt«, brauste Mephisto auf. »Ich hab’s kapiert. Und du, Götz, gehst am besten gleich aufs Klo und wäschst dir die Hände. Die Karten, die du mir gegeben hast, sind eine absolute Katastrophe.«

»Mein ist die Rache, spricht der Herr«, entgegnete der Maler mit einem zufriedenen Grinsen.

Leander sortierte seine Karten, die sich für ein Pik-Spiel geradezu aufdrängten: sechs Trümpfe mit Kreuz- und Herz-Buben, Karo-Ass und Zehn und Kreuz-Ass und König als Beiblatt.

»Achtzehn«, reizte er an Tom gewandt.

»Ja.«

»Zwanzig.«

»Weg.«

»Mephisto?«

»Weg«, brummte der mit grimmig zusammengekniffenen Augen, aber sein Gesicht hellte sich gleich wieder auf, als Linda die vollen Schinkenplatten vor den Männern verteilte.