Leben mit der Krise -  - E-Book

Leben mit der Krise E-Book

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Beschreibung

Die Ausbreitung des Corona-Virus macht auch an den Schwellen von Theologie und Kirche keinen Halt. Wenngleich es schwierig ist, aus der aktuell gegebenen Situation heraus über die Krise, in der wir leben, zu reflektieren, so darf diesem Anspruch doch nicht aus dem Weg gegangen werden. Heft 3/2021 widmet sich dem Leben mit der Krise.

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Inhaltsverzeichnis

ThPQ 169 (2021), Heft 3

Schwerpunktthema:

Leben mit der Krise

Christian Spieß

Liebe Leserin, lieber Leser!

Klaus Kießling

Zwischen rotierenden Teufelskreisen und weltbewegender Solidarität. Die Corona-Pandemie als (pastoral-)psychologische Provokation

1 Krisen

2 Verhaltensimmunsysteme und Verschwörungstheorien

3 Rotierende Teufelskreise

4 Krisenbegleitung

5 Psychologische (Aus-)Wege

Gerhard Kruip

Die Corona-Krise – Wird die Chance zum Lernen genutzt?

1 Krise als Lernchance

2 Corona-Krise als „Brennglas“

3 Und die Erderwärmung?

4 Werdet vernünftig!

Steffen Patzold

Bedrohte Ordnung. Ein Essay zur Covid-19-Pandemie aus geschichtswissenschaftlicher Sicht

János Vik

Eine Analyse auf Existenz hin – gerade auch in der Corona-Krise. Theologische Reflexionen im Kontext der Gedankenwelt von Viktor E. Frankl

1 Der Krisenbegriff der Existenzanalyse und Logotherapie

2 Im Fokus: Das Wie des Leidens

3 Die Sinn-Sorge als bleibende Herausforderung

Franz Gruber

Ist die Sars-Covid-19-Pandemie eine religionsrelevante Krise?Eine Analyse aus systematisch-theologischer Perspektive

1 Die Corona-Krise und ihr transformatives Potenzial

2 Krisen als Motor theologischer Reflexion

3 Zur Wirkungsgeschichte dieser vier Modelle

4 Funktion und Entfunktionalisierung von Religion in Zeiten von Corona

Benedikt Kranemann

Die „neue Normalität“ der Liturgie nach der Corona-Pandemie. Versuch einer liturgiewissenschaftlichen Einordnung

1 Dynamik in der liturgischen Praxis als Reaktion auf die Pandemie

2 Diskussionen um die Partizipation im Gottesdienst

3 Neue Sensibilität für zentrale Vollzüge in der Liturgie

4 Liturgie nach Corona – Hypothesen

Uta Schmidt

Jesaja 24 und das Ende aller Freude. Ein Beispiel für Krisenerfahrung und -bewältigung im Alten Testament

1 Was ist eine Krise?

2 „Krise“ im Alten Testament

3 Krisenerfahrung und -bewältigung in Jesaja 24

4 Krise heute

Abhandlungen

Isabella Guanzini

Das Künstlerische im Geist. Über ein mögliches Verhältnis von Theologie und Ästhetik

1 Ikonen und Avantgarde

2 Malewitsch und das Schwarze Quadrat: jenseits einer Welt der Objekte

3 Eine königliche Pforte zum Absoluten

4 Das letzte Wort vor dem Verstummen

5 Sakrament als Dekonstruktion der Zeichen

Thomas Franz

Die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils – oder das unausgeschöpfte Potenzial lehramtlicher Theologie

1 Biografische Ouvertüre

2 Der Stellenwert des pastoralen Prinzips

3 Die Bedeutung des Glaubenssinns der Gläubigen

4 Offener Ausklang

Literatur

Das aktuelle theologische Buch

Besprechungen

Eingesandte Schriften

Aus dem Inhalt des nächsten Heftes

Redaktion

Kontakt

Anschriften der Mitarbeiter

Impressum

Liebe Leserin, lieber Leser!

„Not lehrt beten!“ Das Sprichwort spielt auf die Tendenz an, dass Menschen und Kollektive in besonderen existenziellen Herausforderungen verstärkt dazu neigen, Religion und Religiosität, Glauben und Spiritualität wiederzuentdecken. Für die Religionssoziologie sind solche Formen der Kontingenzbewältigung selbstverständliche Funktionen der Religion. Die Corona-Pandemie mit all ihren Folgen ist gewiss eine solche existenzielle Herausforderung. Wäre es also erwartbar gewesen, dass sich während der Corona-Pandemie die Menschen auch in den säkularisierten oder postsäkularen Gesellschaften Mitteleuropas wieder dem Glauben und der religiösen Praxis zuwenden? Zumindest auf den ersten Blick scheint das nicht geschehen zu sein. Bedingt durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens wurde ein Teil der kirchlichen Angebote, insbesondere Gottesdienste und Seelsorge, weitgehend eingestellt. Ein anderer Teil, viele diakonische Angebote und soziale Dienste der Caritas, wurde dagegen weitergeführt und auch stark in Anspruch genommen. Und nicht wenige Seelsorgerinnen und Seelsorger betonen, dass sie während der Pandemie stärker denn je angefragt gewesen seien. Dennoch wurde bald die Klage laut, dass die Kirche in der Krise aus der Öffentlichkeit verschwunden sei, dass keine theologischen Deutungen der Krise und ihrer Bewältigung angeboten würden. Kritisiert wurde beispielsweise die monatelange Einstellung der Kinder- und Jugendarbeit sowie nicht zuletzt der Rückzug aus der Seelsorge mit Kranken und Sterbenden. Bis heute ist umstritten, ob der von manchen wahrgenommene und jedenfalls beklagte Rückzug der Kirche eine zutreffende Analyse der Situation darstellt. Jene, die diese Wahrnehmung nicht teilen, verweisen auf ein rasch entstehendes reichhaltiges Angebot im Bereich der traditionellen und neuen sozialen Medien, auf Fernseh- und Online-Gottesdienste, auf eine Art hybride Verknüpfung der „Hauskirchen“ mit virtuellen kirchlichen Feierangeboten sowie auf die kontinuierlich weitergeführte individuelle Seelsorge und auf die stets für das persönliche Gebet geöffneten Kirchen. Wenn etwas dran ist an dem geläufigen Wort, dass Corona „wie ein Brennglas“ wirke, dann müsste dies auch für die ambivalenten Phänomene der Säkularisierung gelten. Was aber zeigt sich im viel zitierten Brennglas? Erleben wir einen coronainduzierten Säkularisierungsschub? Oder ist es den Religionsgemeinschaften umgekehrt sogar gelungen, durch neue mediale Angebote ganz neue Personenkreise anzusprechen? Haben gläubige Menschen unter dem Fehlen von Liturgie und Seelsorge gelitten? Oder haben bislang praktizierende Christinnen und Christen festgestellt, dass ihnen ohne ihre regelmäßige gemeinsame religiöse Praxis gar nichts fehlt? Und wie verändert die außergewöhnliche Situation der Pandemie die Routinen der kirchlichen und individuellen religiösen Praxis? Wird bald wieder alles beim Alten sein oder wird es eine digitale Transformation von Liturgie und Seelsorge geben? Etabliert sich eine Hauskirchenkultur als Merkmal einer fortschreitenden Privatisierung der Religion? Wird dabei die Stimme von Theologie und Kirche noch gebraucht? Werden überhaupt theologische Deutungsangebote für die überstandene Pandemie formuliert und gegebenenfalls gehört werden?

Die bereits vorliegenden empirischen Daten geben noch keine eindeutigen Antworten auf all diese Fragen. Deshalb sind wir den Autoren und der Autorin dieses Heftes ganz besonders dankbar, dass sie sich auf das Wagnis eingelassen haben, erste Analysen und Interpretationen der „Corona-Krise“ zu skizzieren. Gleich zu Beginn betont Klaus Kießling (Frankfurt am Main) in einem pastoralpsychologischen Zugang, dass wir während der Pandemie gerade nicht alle im selben Boot sitzen, sondern sich gewaltige Unterschiede zwischen Luxusyacht und Schlauchboot zeigen, die wir mit einer „weltbewegenden Solidarität“ überwinden müssten. Gerhard Kruip (Mainz) geht aus der Perspektive der Sozialethik den vorhandenen oder vermissten Solidaritäten nach. Seine Analyse mündet in einen Appell an die diskursive Vernunft und an eine „intellektuelle Kooperation“ zur Überwindung der (Folgen der) Krise. Die Beschreibung der Pandemie als „Krise“ stellt dagegen Steffen Patzold (Tübingen) aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive in Frage – mit Hilfe seines Analysemodells „bedrohter Ordnungen“. Auf die Gedankenwelt von Viktor E. Frankl und den Krisenbegriff der Existenzanalyse greift János Vik (Cluj/Rumänien) in seiner Rekonstruktion der Bejahungswürdigkeit des Lebens zurück – in der Absicht, die Komfortzone der Glaubenswahrheiten zu verlassen, sich zum leidenden Menschen hinzubewegen und ihn in seiner Sinnfindung zu begleiten. Als Fortschritt in der christlichen Verkündigung beschreibt Franz Gruber (Linz), dass die Theologisierung der Krise – etwa mit Modellen der Strafe, der Vergeltung oder der Apokalypse – weitgehend vermieden worden sei. Gruber selbst stellt die Begriffe des Leides und des Mit-Leidens ins Zentrum seiner Überlegungen. Die Zeit der Pandemie mache in besonderer Weise sichtbar, was immer der Fall sei: dass wir vor das Leid gestellt sind und es bleiben. Mit der Rolle der Liturgie befasst sich Benedikt Kranemann (Erfurt). Dem Eindruck einer „Schockstarre“ während der Pandemie widerspricht er und skizziert einige Szenarien für die Zukunft der Liturgie „nach Corona“. Den Abschluss des thematischen Teils des Heftes bildet die Darstellung eines Beispiels für die Krisenerfahrung und -bewältigung im Alten Testament von Uta Schmidt (Heidelberg): Jesaia 24 und das „Ende aller Freude“.

Beiträge von Isabella Guanzini (Linz) über das Verhältnis von Theologie und Ästhetik sowie von Thomas Franz (Würzburg) über das unausgeschöpfte Potenzial lehramtlicher Theologie (mit Blick auf die Offenbarungskonstitution Dei Verbum) und die Rezensionen schließen das Heft ab.

Liebe Leserinnen und Leser,

wir befinden uns in einer Situation, deren Folgen für Theologie und Kirche, für unsere Gesellschaften und unser humanes Selbstverständnis noch nicht absehbar sind. Mit diesem Heft möchten wir einen ersten, wenn auch sehr vorläufigen Beitrag zur Reflexion über die Corona-Pandemie leisten. Die künftige Gestaltung der Liturgie und neue Herausforderungen in der Religionspädagogik, die sozioökonomischen Verwerfungen und pastorale Veränderungen, nicht zuletzt das unmittelbare Leid durch Krankheit und Tod infolge von CoViD-19 werden uns weiter beschäftigen. Wir hoffen, Ihnen mit diesem Heft einige Anregungen und Impulse für diese Zeit mit auf den Weg geben zu können.

Ihr

Christian Spieß

(für die Redaktion)

Klaus Kießling

Zwischen rotierenden Teufelskreisen und weltbewegender Solidarität

Die Corona-Pandemie als (pastoral-)psychologische Provokation

♦ Auf emotionale Verletzlichkeiten und den Umgang mit ihnen fokussiert dieser Beitrag und skizziert Strategien der Krisenbewältigung bzw. Krisenbegleitung zwischen Verschwörungstheorien und Verhaltensimmunsystem, zwischen Blunting und Monitoring. Mit der Rückkehr zu alten Verhaltensmustern bei gleichzeitiger narzisstischer Abwehr der eigenen Fragilität, mit einem resignativen Rückzug und dem Ruf nach einer starken Führungsperson sowie mit einer gesellschaftlichen Veränderung auf Basis einer weltbewegenden Solidarität zeigt der Autor drei psychologische (Aus-)Wege aus der Krise auf. Dabei betont er, dass wir eben nicht alle im selben Boot sitzen, sondern dass sich die Ungleichheiten zwischen Schlauchboot und Luxusyacht weiter verschärfen. Aber die totenerweckende Botschaft lässt – vorsichtig und demütig – hoffen: Schließlich hat sich der Gekreuzigte und von den Toten Auferstandene sogar an seinen Wundmalen erkennen lassen.

1 Krisen

Belastende, zeitweilige, in ihrem Verlauf und in ihren Folgen offene Veränderungsprozesse gelten mit Recht als Krisen. Psychologisch markieren sie eine Unterbrechung der bis dahin gegebenen Kontinuität menschlichen Erlebens und Handelns: Denn die Mittel, die Betroffenen zur Verfügung stehen, um jene Herausforderungen und jenen Stress zu bewältigen, mit denen sie konfrontiert sind, reichen dafür nicht mehr aus. Krisen gehen mit emotionaler Destabilisierung ebenso einher wie mit mehr oder minder stark desintegrierter Handlungsorganisation: Betroffene stehen gleichsam mit leeren Händen da – in Angst, in des-aströser Lage, fernab von jedem guten Stern (lat. astrum). Denn die Bedrohung bleibt unsichtbar: Coronaviren haben einen Durchmesser von etwa 100 Nanometern, also einem Zehntausendstel Millimeter. Ihren Namen verdanken sie keulenartigen Fortsätzen, die im elektronenmikroskopischen Bild den Eindruck eines Kranzes (lat. corona) um das Virus hervorrufen. Dabei vermehren sich Viren nicht selbst, vielmehr handelt es sich um Baupläne, die einen Wirt, ein Lebewesen brauchen, um einen Effekt zu bewirken: Tiere und Menschen generieren oder bauen neue Viren.1

1.1 Angst und andere Stressreaktionen in Krisen

Menschen unterscheiden sich darin, wie sie auf psychischen Stress reagieren: mit Angst, mit Gleichgültigkeit, mit Fatalismus. Angst und Furcht stehen auf der einen Seite des Spektrums, das offene Leugnen von Gefahren auf der anderen. Ein mäßiger Grad von Angst – nicht so klein, dass sie noch ignoriert werden könnte, aber auch nicht so groß, dass sie lähmend wirkte – mag zur Krisenbewältigung motivieren.2

Ängste können hilfreich sein, sofern sie nicht nur plagen, sondern auch mahnen. In einer Pandemie gehören dazu Infektions- und andere Krankheitsängste; Verlustängste, wenn die Vergänglichkeit, die eigene wie die der Nächsten, allgegenwärtig ist; wirtschaftliche und soziale Ängste, auch davor, dass Sterbende nicht von ihren Angehörigen begleitet werden können; Versorgungsängste, die in Hamsterkäufe münden; politische Ängste und Sorgen, etwa angesichts der Tendenzen zu Autokratien in mehreren Ländern.

Die psychoneuroimmunologische Forschung weist darauf hin, dass pandemiebedingte Stressfaktoren Menschen, die besonders starke Ängste und besonders negative Emotionen zeigen, auch für Infektionen außergewöhnlich anfällig machen.3 Psychologische Faktoren spielen bei Infektionskrankheiten also eine große Rolle: Stress steigert nicht nur die Anfälligkeit dafür, vielmehr kann er auch die Wirksamkeit von Impfstoffen beeinträchtigen, denn schließlich braucht es ein funktionierendes Immunsystem, das Antikörper gegen die viralen Antigene produziert.

Manche Menschen erholen sich, sobald die Gefahr gebannt ist, andere leiden langfristig unter posttraumatischen Belastungen. Dazu gehören insbesondere Anpassungsstörungen mit einer breit variierenden Symptomatik, die meist innerhalb eines Monats nach einem belastenden Lebensereignis auftritt: Ängste und depressive Reaktionen, auch Wut und Ärger; Misstrauen und Unverständnis für getroffene Maßnahmen, insbesondere unter Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und demenziellen Symptomen; Störungen des Sozialverhaltens, Suchterkrankungen und Suizidalität.

Pandemiebedingte Kontaktbeschränkungen treffen verschiedene Gruppen besonders hart: Alleinstehende, für die der stresspuffernde Effekt sozialer Nähe wegfällt; Alleinerziehende, die der Doppelbelastung von Kinderbetreuung und Berufstätigkeit, von Homeschooling und Homeoffice begegnen müssen; Wohnungslose und Menschen in Flüchtlingsunterkünften, die allenfalls sehr begrenzt auf soziale Strukturen zurückgreifen können; Menschen, welche am Existenzminimum und nun mehr denn je in Existenzangst leben.

Prosoziale Verhaltensweisen treten in Pandemien offenbar häufiger auf als gesellschaftlich destabilisierende Verhaltensweisen, etwa Ausschreitungen.4 In diesem Sinne geht es um physical distancing, keinesfalls um social distancing. Denn Menschen zeigen sich motiviert, einander beizustehen, ohne beieinanderzustehen. Dabei ist die Vereinsamung durch Quarantäne – nicht das Alleinsein als solches – eine ernst zu nehmende Gefahr, ein massiver Stressfaktor, der das Immunsystem und die Widerstandskraft schwächt. Einsamkeit schmerzt, sie tut weh und kann tödlich wirken.

Der Lockdown soll vor Krankheit bewahren, reduziert aber zugleich den natürlichen Schutz vor einer Erkrankung – also den Lockdown lockern? Mit dieser Frage sollen Virologie und Psychologie nicht gegeneinander ausgespielt werden. Virologie bleibt wichtig, Psychologie aber auch, denn die Coronakrise und ihr Verlauf werden durch das Erleben und Verhalten von Menschen massiv geprägt. Dabei fordert das Präventionsparadoxon auf eigene Weise heraus: Je stärker die Maßnahmen wirken, desto größer die Zweifel an ihrer Notwendigkeit.5 Prävention kann zum Opfer ihres Erfolgs werden.

1.2 Monitoring oder Blunting? Zum Umgang mit emotionaler Verletzlichkeit in Krisen

Persönlichkeitseigenschaften erweisen sich als Faktoren emotionaler Verletzlichkeit: Eine stark ausgeprägte negative Emotionalität begünstigt aversive Reaktionen auf Stressreize und führt zu Angst und Niedergeschlagenheit. Anfällig macht auch Intoleranz gegenüber Unsicherheit: Sie geht mit dem Bedürfnis nach Vorhersagbarkeit einher, Verunsicherung wirkt dann leicht lähmend. Wer Ungewissheit nicht aushalten kann oder will, erlebt in Zeiten einer Pandemie mit hoher Wahrscheinlichkeit beträchtlichen psychischen Leidensdruck.

Menschen unterscheiden sich auch darin, ob und wie sie für Informationen über potenzielle Gesundheitsbedrohungen sorgen oder diesen ausweichen: Sammeln sie wichtige Hinweise im Stil des Monitoring – oder lenken sie sich im Stil des Blunting ab? Blunting (abstumpfen, dämpfen) provoziert weniger Sorgen und Leid, macht aber auch unvorsichtig. Neigung zu unrealistischem Optimismus lässt daran glauben, dass negative Ereignisse eher anderen zustoßen als der eigenen Person, die sich für resistent, gleichsam für unverletzlich hält, darum womöglich Hygiene- und andere Vorsorgeempfehlungen missachtet und so das Virus verbreitet.6

In diesen Kontext passt der sogenannte Truthahn-Fehlschluss7: Solange wir von einer Pandemie verschont bleiben und damit keine Erfahrungen haben sammeln müssen, können wir uns – auch als Wissenschaftler*innen und Politiker*innen – schwer vorstellen oder gar nicht glauben (argument from incredulity), dass uns in Europa ereilt, was in Wuhan passiert. Ein Truthahn, der bis zur Schlachtreife gemästet wird, bekommt täglich frisches Heu und Futter – und geht mit dieser allemal bekräftigten Erfahrung davon aus, dass es dabei bleibt. Der eigene Erfahrungshorizont lässt auch in der Vorstellung – sei es beim Truthahn, sei es bei uns – kaum anderes zu, sodass auch wir dem Truthahn-Fehlschluss unterliegen.

Dagegen konfrontiert die Strategie des Monitoring (beobachten, überprüfen) mit Krankheitsangst, also mit der Neigung, durch pandemiebedingte Reize alarmiert zu werden und die Gefahr eher zu überschätzen. Psychohygienisch kommt es darauf an, den Medienkonsum zur Informationsgewinnung auf abgegrenzte Zeiten zu konzentrieren, sich also nicht ununterbrochen und unstrukturiert bedrohlichen Nachrichten auszusetzen und dadurch zermürben zu lassen.

2 Verhaltensimmunsysteme und Verschwörungstheorien

Als psychologisches Konzept kommt in Zeiten einer Pandemie ein Verhaltensimmunsystem zum Einsatz: Vorurteile8, Stigmatisierung und Hass auf Fremde steigen an, wenn diese zu Infektionsquellen erklärt werden und das Coronavirus beispielsweise als Chinavirus bezeichnet wird: So soll die entstandene Verunsicherung reduziert und die entglittene Kontrolle wiederhergestellt werden. So ist auch ein Schuldiger gefunden, der Feind identifiziert und die Frontlinie klar gezogen – oft unter kriegerischem Wortgetöse – und das Problem scheinbar umgrenzt und damit handhabbar. Schon die Spanische Grippe ermöglichte mit ihrem Namen, dass Herrschende ihre Verbreitung im je eigenen Land eine Zeit lang vertuschen konnten. Denn Pandemien wirken gerade deshalb so bedrohlich, weil sie sich von allen Seiten nähern, keine Ländergrenzen kennen und sich durch exponentielles Wachstum auszeichnen, Menschen sie sich also weder räumlich noch zeitlich vom Leib halten können, wie es für die globale Erwärmung noch gelten mag, solange der Sommer immer schöner wird.

Verschwörungstheorien sind Versuche, die Ursachen bedeutsamer Ereignisse dadurch zu erklären, dass sie auf geheime Pläne mächtiger Akteure zurückgehen. Offenbar sind sie in allen Kulturen stark verbreitet. So hält mehr als ein Drittel der US-Amerikaner den Klimawandel für eine Täuschung, die durch Gruppen mit finanziellen Eigeninteressen forciert werde.9 Die Gruppe, die den Klimawandel leugnet, und jene, welche die Gefährlichkeit des Coronavirus bestreitet, überlappen sich.10 Solche Erklärungsmuster erweisen sich insofern gegen Falsifikationen als immun, als sie unterstellen, dass die Verschwörer zur Verschleierung ihres Handelns Desinformationen nutzen. Auf diese Weise werden Menschen, die sie zu widerlegen versuchen, konsequenterweise selbst dem Verdacht ausgesetzt, zu den Verschwörern zu gehören, und damit optimal in konspirative Theorien eingefügt.

Die Neigung, sich Verschwörungstheorien anzuschließen, geht mit verschiedenen Motiven einher: Menschen wollen ihre eigene Umgebung verstehen, darüber die Kontrolle behalten und das positive Bild ihrer selbst und ihrer Eigengruppe vor Bedrohungen bewahren. Diese Neigung korreliert mit misstrauischen Einstellungen und narzisstischen Neigungen, die durch den Glauben genährt werden, über besonderes Wissen zu verfügen. Darauf ist angewiesen, wer Unsicherheiten und Uneindeutigkeiten nicht anzunehmen vermag.

Der Glaube an Verschwörungstheorien geht mit der Ablehnung von Impfungen und mit stark ausgeprägter psychologischer Reaktanz einher, also mit einer motivationalen Reaktion auf Regeln oder Regulierungen, die als Bedrohung der eigenen Selbstbestimmung wahrgenommen werden.11

Im Umgang damit empfehlen sich kurze Interventionen und eine ermunternde Gesprächsführung, die nicht Gefahr läuft, die Reaktanz zu zementieren, sondern im Sinne von nudging (anstoßen, anstupsen) Anreize setzt, etwa indem sie auf die Bedeutung von Impfungen für die Herdenimmunität hinweist.

Wissenschaftskommunikation12, klare Informationen über solide durchgeführte Studien und deren leichte Zugänglichkeit sind ebenfalls hilfreich, auch die Demaskierung rhetorischer Techniken (diese Masken entstammen keiner Haltung der Sorge und müssen abgenommen werden!) und die Aufdeckung anderer Irreführungen, etwa wenn sich Koryphäen mit ihren akademischen Titeln zu Wort melden, die sie in ganz anderen Gebieten erworben haben. Auch braucht es Angebote zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen von Expert*innen, die miteinander streiten und nicht wie scheinbar alternative Fakten neben- oder gegeneinanderstehen, sondern die Chance bieten, dass Menschen sich ein eigenes Urteil bilden können und dabei die nötige Ambiguitätstoleranz entwickeln, die sie Uneindeutigem und Widersprüchlichem standhalten lässt. Urteilskraft und Ambiguitätstoleranz schützen davor, den Verlockungen von Verschwörungsansätzen zu erliegen.

3 Rotierende Teufelskreise

Menschen erleiden pandemiebedingt massive emotionale Notlagen: durch den Verlust geliebter Personen; durch andere traumatische Ereignisse, in besonderem Ausmaß beispielsweise dann, wenn vorgeschriebene Einschränkungen auf Menschen triggernd wirken, weil sie als Kinder häufig eingesperrt wurden; durch depressive Erkrankungen und Angststörungen, die durch die aktuelle Krisenlage ausgelöst oder verstärkt werden; überhaupt durch den Verlust alltäglicher Gewohnheiten und Kontakte sowie einer Tagesstruktur, die Halt gibt und Ängsten Einhalt gebietet, welche dann frei flottieren, wenn nichts mehr hält. Diese Menschen brauchen professionelle Unterstützung. Sie brauchen die Einsicht, dass nicht ihre Reaktionen verrückt sind, sondern das Ereignis verrückt ist und verrückt macht.

Ohnehin rotierende Teufelskreise beschleunigen sich: Kindesmisshandlungen und häusliche Gewalt nehmen zu, gesell­schaftliche Schutzmechanismen sind durch Kontaktbeschränkungen außer Kraft gesetzt. Medienabhängigkeiten werden begünstigt, wenn Verhaltenssüchte schleichend entstehen und nicht mehr durch Mitmenschen, andere Aufgaben und termingebundene Verpflichtungen begrenzt werden.

Ohnehin gegebene Klüfte vertiefen sich: (Teil-)Schließungen von Kindertagesstätten und Schulen verstärken Bildungsungerechtigkeiten. Kinder brauchen andere Kinder, stattdessen erfahren sie von der Gefährlichkeit zwischenmenschlicher Kontakte. Die aus dem Lockdown hervorgehenden grown-ups sind also spezifischem Leidensdruck ausgesetzt. Den Erwachsenen drohen Kurzarbeit, der Verlust des Arbeitsplatzes, Armut, Ausfall von Gemeinschaft, von Kunst und Kultur, die wir nun als Lebensmittel vermissen.

4 Krisenbegleitung

4.1 Digitalisierung, Coping und Resilienz

Es braucht die Digitalisierung schulischer und universitärer sowie psychologischer Angebote, auch wenn Erstgespräche dadurch schwerfallen und Menschen die Augen anderer zwar sehen, einander aber nicht direkt in die Augen schauen, sondern den Ausdruck der Augen eines Gegenübers nur indirekt verstehen können. Dabei fehlt es oft an allen Enden der Leitung an Erfahrung, ob und wie sich Menschen digital erreichen und begleiten lassen, auch an digitaler Infrastruktur, gerade bei den ohnehin Benachteiligten. Es braucht gemeinsame Foren, welche die Verbundenheit untereinander sichern. Zwar ist in Krisenzeiten mit Abstand weniger Präsenz als sonst möglich, manchmal entsteht aber auch mehr Präsenz, wenn Videokonferenzen Einblicke in die eigenen vier Wände gewähren oder wenn eine Kollegin, nicht wissend, dass ihre Kamera und ihr Ton eingeschaltet sind, die anderen Mitglieder eines Zoom-Meetings ungewollt zu Zeug*innen ihres Umgangs mit ihrem Mann und ihrem Kind macht, bevor diese sie darauf hinweisen können!

Verlässliche Alltagsroutinen und klare Tagesstrukturierung bleiben wichtig, regelmäßige Telefonkontakte signalisieren zwischenmenschliche Treue auch in schweren Zeiten und schenken Trost.

Dem Stressabbau dienen auch sportliche Aktivitäten und klare Hinweise, wie auch Kinder eine Ansteckungsgefahr vermindern können, um drohendem Kontrollverlust entgegenzuwirken und ihre Selbstwirksamkeit zu stärken. Um die Förderung von Selbstwirksamkeit geht es auch bei Erwachsenen, die sich ebenfalls motivieren lassen, wenn sie durch ihr eigenes Handeln ihnen wichtige Ziele erreichen können.13

Solche Begleitung, solche Bewältigungs- oder Coping-Strategien zielen darauf, Krisen so unbeschadet wie möglich zu überstehen.14 Darüber hinaus verbindet sich mit Resilienz die anspruchsvolle Frage nach möglichem Gedeihen trotz widriger Umstände, nach Ressourcenaktivierung auch im Glauben.15 Resilienz korrespondiert psychologisch mit Verletzlichkeit.

4.2 Sorge und Seelsorge

Die Pandemie wirkt auch deswegen beklemmend, weil sie Menschen mit ihrer Verletzlichkeit konfrontiert. Dieser entspringt die Sorge für Mitmenschen16: eine Sorge, die sich nicht als fürsorgliche Belagerung und nicht als Gegenmodell zu menschlicher Selbstbestimmung versteht, sondern als ihre Grundlage, sofern Sorge darauf zielt, einen Mitmenschen von seiner Sorge her zu verstehen. Diese Sorge, dieses Anliegen wird so zu einem geteilten, es stiftet Beziehung. Sorge antwortet auf die Not, die Verletzlichkeit, die Endlichkeit, die Sterblichkeit eines Gegenübers. Sie drückt ein Ja zum Gegenüber aus, und die Wertschätzung, die diesem Mitmenschen gilt, ist gleichsam der Humus dieser Sorge. Diese bejahende Haltung ruft dazu auf, zu schätzen und zu schützen, wer oder was in seiner Unversehrtheit angetastet zu werden droht. Solche Sorge lebt in Leib- und Seelsorge, solche Sorge wirkt heilsam – auch in ihrem schöpferischen Gehalt, sodass dieses Ja das Gegenüber vor sich selbst neu schafft.

Freilich kursieren auch in religiös geprägten Welten Verschwörungstheorien, sodass Religion allemal nicht nur als Ressource, sondern auch als Risiko wirkt. Diese Ambivalenzen verdienen Aufmerksamkeit, in psychologischer Beratung ebenso wie in verschiedenen Settings der Seelsorge. Dazu gehört in Zeiten der Pandemie auch Teleseelsorge, die aus den Erfahrungen traditionsreicher Telefonseelsorge schöpft und – etwa mittels Zoom – die Kommunikation nicht auf das Hörbare beschränkt.17 Dazu gehört auch eine Klinikseelsorge, die sich auf Corona-Stationen konzentriert und auch Angehörige von an Covid-19 erkrankten und verstorbenen Menschen begleitet, die einen schmerzlichen Verlust hinnehmen müssen und zudem darunter leiden, dass sie ihre Nächsten nicht besuchen und sich von ihnen nicht verabschieden können, oft nicht einmal am Bett des oder der Toten.18 Wie kann Humanität vor dem Lebensende enden, wo sie doch selbst darauf verweist (lat. humare: mit Erde bedecken, beerdigen, bestatten)?

Eine pandemisch verwundete Welt birgt (pastoral-)psychologische Provokationen. Sie ruft nach versierten Seelsorger*innen einer Kirche, die sich selbst verwundbar zeigt – auch angesichts der Wunden, die sie selbst anderen geschlagen hat. Eine Kirche, die ihrem Selbstschutz Priorität einräumt und keine Wundmale kennen will, verwundet Dritte. Ihre Vulneranz, ihre Verletzungsmacht macht sie blind für die Vulnerabilität, für die eigene ebenso wie für diejenige derer, zu denen sie gerufen ist.

4.3 Dienst von Pfleger*innen und Angehörigen

Es braucht auch Hilfe für die Helfenden, vorrangig für die Pflegenden: bei erhöhtem Infektions- und Sterberisiko; bei Überarbeitung und Erschöpfung; bei Konfrontation mit dem Tod Dritter und der Unfähigkeit, sie zu retten; bei Angriffen durch Menschen, die ohnehin knappe (pflegerische) Ressourcen aggressiv einfordern; bei Isolierung gegen ihr Umfeld während der Maßnahmen gegen die Pandemie und in der Sorge, ihrerseits zu Überträger*innen zu werden. Für sie braucht es präventive Schulungen zum Umgang mit psychischen Notlagen während einer Pandemie und das inter- und postventive Angebot langfristiger Unterstützung über die Zeit einer Pandemie hinaus.

Den größten Pflegedienst bilden wohl die pflegenden Angehörigen19, meist Frauen. Die aktuelle Krise verdichtet auch die Problematik, dass diese familiären Leistungen kaum wahrgenommen oder gar gewürdigt werden und nunmehr zusätzlichen Belastungen ausgesetzt sind, wenn in der Pandemie beispielsweise die Tagespflege für ein an Demenz erkranktes Familienmitglied entfällt. Dabei bedeutet Pflegen in der Familie ohnehin, dass die gemeinsame Geschichte mit ihren Kränkungen, Verletzungen und allem Ungeklärten neue Aktualität gewinnt, und unter den gegenwärtigen Bedingungen darüber hinaus, dass die räumliche, physische und emotionale Nähe und Enge zwischen Pflegebedürftigen und Pflegenden bei gleichzeitiger Distanz zu allen anderen sozialen Kontakten Abhängigkeiten und Erwartungshaltungen, Angst, Überforderung, Frustration und Verzweiflung auf die Spitze treibt und Gewalt provoziert. Im Englischen sind emergencies verräterisch: Notlagen emergieren, lassen sich nicht mehr unterdrücken, kommen ans Licht, zeigen sich deutlicher als je zuvor.

Dass Gesundheit keine Selbstverständ­lichkeit bedeutet, fällt uns erst auf, wenn sie fehlt.20 „Bleib gesund!“ wird plötzlich zu einem vorrangigen Wunsch, freilich mit ausschließender und niederschmetternder Wirkung auf jene, die bereits erkrankt sind. Und „Bleib zu Hause!“ läuft dort ins Leere, wo niemand ein Dach über dem Kopf hat, oder in die Katastrophe, wenn das Zuhause oder die gute Kinderstube zum Tatort wird.

5 Psychologische (Aus-)Wege

Drei psychologische Wege oder Auswege aus der Krise deuten sich an:

Der erste zielt auf die Rückkehr zu alten Mustern, wehrt die eigene Fragilität weiterhin narzisstisch ab und verweigert sich auch retrospektiv der Einsicht, dass die Vorzeit der Pandemie nicht als normal, sondern als letal gelten muss.21 Schließlich hat die gute alte Zeit in die Pandemie geführt, sodass der alte Faden gar nicht mehr aufgenommen werden darf. Die Pandemie markiert also nicht die Unterbrechung (inter-ruptio) einer wiederzugewinnenden Normalität, sondern einen Abbruch (dis-ruptio22).

Der zweite Weg steht für eine resignative Reaktion, die einer Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit und den damit verbundenen existenziellen Ängsten ebenfalls nicht standhält. Stattdessen erschallt in passiver Haltung und totalitärer Neigung der Ruf nach einer starken Führungsperson, die vor dem Schrecken des Todes bewahren möge.23

Drittens bleibt eine gesellschaftliche Veränderung,24 die auf weltbewegende Solidarität zielt. Es braucht eine Solidarität, die nicht nur aus Angst zustande kommt, schließlich drängt letztere auch zu Hamsterkäufen, also gerade zum Ausverkauf von Solidarität.25 Solidarität wächst aus der Einsicht, dass Menschen durch dieselbe Fragilität miteinander verbunden sind und insofern alle im selben Boot sitzen. Es braucht diesen dritten Weg, der nicht nur auf gemeinsames Menschsein setzt, sondern zu einer Schöpfungssolidarität inspiriert.

5.1 Alle im selben Boot?

Und doch sitzen wir ganz und gar nicht im selben Boot: manche im überfüllten Schlauchboot, andere in einer Luxusyacht. Viren kommen zwar überall hin, aber mit unterschiedlicher Auswirkung, Ungleichheiten werden verschärft. Die Gleichheit vor dem Virus erscheint als sozialromantische Regung, denn ressourcenbedingte Ungleichheiten lassen gesellschaftliche Bruchlinien schon jetzt sichtbarer werden, als sie es bereits vor der Krise gewesen sind.

Exemplarisch nenne ich Perú, eines der Länder, die weltweit am stärksten von der Pandemie getroffen sind. Seit Jahrzehnten schwelende Konflikte spitzen sich zu einer sozialen Katastrophe zu: massive gesellschaftliche und wirtschaftliche Ungerechtigkeit; vielfältige Formen von Diskriminierung, die ein Leben in Würde vereiteln; fehlender Zugang zu Gesundheitsdiensten, Bildung, Trinkwasser, Kanalisation, Strom und Internet. Menschen in Armut können keine Hygieneregeln einhalten, wenn der Lastwagen, der Wasser bringt, sie nicht erreicht, die Wohn- und Sanitärbedingungen dagegenstehen und die tägliche Präsenz auf dem Straßenmarkt zwingend bleibt, wenn die eigene Familie nicht verhungern soll. Schließlich sind in Perú etwa 70 % der Bevölkerung im informellen Sektor tätig. Die Pandemie fordert unter den Menschen, die in Armut leben, die meisten Todesopfer, und die wachsende Zerstörung des amazonischen Regenwaldes setzt die Menschheit über das Coronavirus hinaus weiteren Gefahren aus.26

5.2 Angst und Hoffnung

Für uns Menschen sind heute Fledermäuse, Schleichkatzen, Schlangen, Schuppen- und andere Tiere gefährlich, wenn Krankheitserreger, die ihnen selbst nicht schaden, auf uns überspringen. Dabei bedrängen jedoch nicht diese uns, sondern wir sie, indem wir durch Abholzung der Wälder und Urbanisierung vieler Regionen den Lebensraum vieler Tiere einengen, deren Nähe zu uns und damit auch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass es zu zoonotischen Übertragungen zwischen Tier und Mensch kommt. Dabei lassen Fleischproduktion und Fleischkonsum in globalisiertem Ausmaß zu, dass Krankheitserreger binnen Stunden an jeden Ort der Welt gelangen, und die Massentierhaltung erzeugt ebenfalls immensen Stress, der das Immunsystem der betroffenen Tiere schwächt und das Risiko viraler Übertragungen erhöht. Zudem schafft der Klimawandel Bedingungen, welche die Ausbreitung bestimmter Erreger verbessern.27

Die Kombination von Fledermäusen, Waldzerstörung und Massentierhaltung erweist sich als tickende Zeitbombe, als katastrophal. Eine Katastrophe verlangt, wie der griechische Begriff verrät, nach einer Wendung, nach Umkehr. Am Ende eines Dramas steht sie für all das, was Menschen angerichtet haben. Auch die aktuelle Katastrophe ist mit allen Wunden, die sie reißt, menschengemacht.

Der Gekreuzigte und von den Toten Auferstandene zeigt sich nicht unverwundet, er lässt sich sogar an seinen Wundmalen erkennen. Diese Botschaft verlangt Demut, Mut zu einer Demut, die sich nicht von lähmender Angst in die Enge treiben, sondern von einer Sorge, einer Liebe bewegen lässt, die weit macht. Diese Botschaft lässt hoffen, lässt in und trotz Bedrängnis offenbleiben für das, was kommen mag, und auf die Kräfte des Himmels vertrauen. Wer hofft, stellt sich der Angst. Und wo uns angst und bange wird, dort liegt unsere Aufgabe. Die totenerweckende Botschaft schürt und nährt eigenes Hoffen auch bei denen, die ihre hoffnungslose Lage allenfalls dann überleben, wenn einstweilen andere stellvertretend für sie jene Hoffnung hochhalten, die leben lässt. Hoffentlich!

Der Autor:Klaus Kießling, 1962, Prof. Dr. phil., Dr. theol. habil., Dr. h.c., Dipl. Psych., Lehrsupervisor (DGfP), leitet das Institut für Pastoralpsychologie und Spiritualität sowie das Seminar für Religionspädagogik, Katechetik und Didaktik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Zugleich wirkt er als Ständiger Diakon. Veröffentlichungen: Seelsorge bei Seelenfinsternis. Depressive Anfechtung als Provokation diakonischer Mystagogie, Freiburg i. Br.–Basel–Wien 2002; Zur eigenen Stimme finden. Religiöses Lernen an berufsbildenden Schulen, Ostfildern 2004; Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch in der katholischen Kirche, Würzburg 2021; GND 129655627.

Weiterführende Literatur:

Bücher mit psychologischem Grundwissen zu Pandemien:

– Charles Benoy (Hg.), COVID-19. Ein Virus nimmt Einfluss auf unsere Psyche. Einschätzungen und Maßnahmen aus psychologischer Perspektive, Stuttgart 2020.

– Manfred Spitzer, Pandemie. Was die Krise aus uns macht und was wir aus ihr machen, München 42020.

– Steven Taylor, Die Pandemie als psychologische Herausforderung. Ansätze für ein psychosoziales Krisenmanagement, Gießen 2020.

Zeitschriften mit (pastoral-)psychologischen Beiträgen zur aktuellen Pandemie:

– Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 51 (2020) und 52 (2021).

– Report Psychologie 45 (2020) und 46 (2021).

– Wege zum Menschen 72 (2020) und 73 (2021).

1 Vgl. dazu und zum Folgenden Manfred Spitzer, Pandemie. Was die Krise mit uns macht und was wir aus ihr machen, München 42020, hier: 30–60 und 105–116.

2 Vgl. dazu und zum Folgenden Steven Taylor, Die Pandemie als psychologische Herausforderung. Ansätze für ein psychosoziales Krisenmanagement, Gießen 2020, hier: 50, sowie die Beiträge in Charles Benoy (Hg.), COVID-19. Ein Virus nimmt Einfluss auf unsere Psyche. Einschätzungen und Maßnahmen aus psychologischer Perspektive, Stuttgart 2020.

3 Vgl. Steven Taylor, Die Pandemie als psychologische Herausforderung (s. Anm. 2), 65.

4 Vgl. ebd., 66.

5 Vgl. Manfred Spitzer, Pandemie (s. Anm. 1), 192–197.

6 Vgl. Steven Taylor, Die Pandemie als psychologische Herausforderung (s. Anm. 2), 67–78.

7 Vgl. Nikil Mukerji / Adriano Mannino, Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit, Stuttgart 32020, 42–44.

8 Vgl. Petia Genkova / Henrik Schreiber, Vorurteile und Solidarität in der Corona-Krise. Eine empirische Untersuchung zur Entstehung von Einstellungen zu kultureller Vielfalt in Krisensituationen, in: Report Psychologie 46 (1/2021), 12–19.

9 Vgl. Steven Taylor, Die Pandemie als psychologische Herausforderung (s. Anm. 2), 95–101.

10 Vgl. Manfred Spitzer, Pandemie (s. Anm. 1), 86–91.

11 Vgl. Steven Taylor, Die Pandemie als psychologische Herausforderung (s. Anm. 2), 128 f.

12 Vgl. Forschungsinstitut für Philosophie, Corona. Antworten auf eine kulturelle Herausforderung, Hannover 2020.

13 Vgl. Cornelia Betsch, COSMO – Covid-19 Snapshot Monitoring (23./24.02.2021), https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/web [Abruf: 28.02.2021].

14 Vgl. Anke Lengning / Katrin Rakoczy / Elisabeth Jenisch / Mareile Opwis / Jennifer Schmidt, Psychische Gesundheit und Wohlbefinden in Zeiten von Corona. Erste Befunde aus der #stayhealthy-Studie, in: Report Psychologie 45 (7+8/2020), 14–22.

15 Vgl. Elias D. Stangl, Resilienz durch Glauben? Die Entwicklung psychischer Widerstandskraft bei Erwachsenen, Ostfildern 22017.

16 Vgl. Giovanni Maio, Den kranken Menschen verstehen. Für eine Medizin der Zuwendung, Überarbeitete Neuausgabe, Freiburg i. Br.–Basel–Wien 2020.

17 Vgl. Isabelle Noth, „Teleseelsorge“ – Fernseelsorge ganz nah, in: Wege zum Menschen 72 (2020), 271–275.

18 Vgl. Jens Terjung, Erfahrungsbericht – Klinikseelsorge in Zeiten von Corona, in: Wege zum Menschen 72 (2020), 557–562.

19 Vgl. Gabriele Tammen-Parr / Frank Schumann, COVID-19 bringt Pflegende und Angehörige in Not, in: Charles Benoy (Hg.), COVID-19 (s. Anm. 2), 61–71.

20 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt am Main 41996.

21 Vgl. Markus Gabriel, Wir brauchen eine metaphysische Pandemie (20.03.2020), https://www.uni-bonn.de/neues/201ewir-brauchen-eine-metaphysische-pandemie201c [Abruf: 28.02.2021].

22 Vgl. Clemens Sedmak, hoffentlich. Gespräche in der Krise, Innsbruck 2020, 76.

23 Davor warnt Giorgio Agamben, Wir sollten uns weniger sorgen und mehr denken (07.04.2020), https://www.nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-zur-coronakrise-wir-sollten-uns-weniger-sorgen-und-mehr-nachdenken-ld.1550672 [Abruf: 28.02.2021].

24 Vgl. Slavoj Žižek, Wir Verdrängungskünstler: wie das Coronavirus uns verändert (04.03.2020), https://www.nzz.ch/feuilleton/slavoj-zizek-wie-uns-das-corona-virus-veraendert-ld.1542809?reduced=true [Abruf: 28.02.2021), und Daniel Sollberger