Lebendige Seelsorge 3/2022 -  - E-Book

Lebendige Seelsorge 3/2022 E-Book

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Beschreibung

Das Verb 'etwas oder jemanden wertschätzen' gehört ganz selbstverständlich zum Vokabular der Pastoral. Einen pastoralen Vorgang oder jemanden in pastoraler Aktion 'evaluieren' hingegen nicht. Das Wort 'Evaluation' scheint aus der Welt der Ökonomie zu kommen und seine Bedeutung driftet in Regionen, die manche so gar nicht mit Pastoral verbunden sehen möchten: Überprüfung, Effektivität, Controlling. Dabei sagt 'evaluieren' wenig anderes als 'wertschätzen', nur eben auf Latein. Wird jemand evaluiert, dann wird seinem oder ihrem Handeln Bedeutung zugemessen. Dann wird unterstellt, dass pastorales Handeln wertvoll sein will und sein kann. Neben die sprachliche Verwandtschaft tritt ein sachlicher Bezug: Wer sich heute in die Hände eines Krankenhauses begibt, erwartet selbstverständlich, dass Personal und Prozesse unter Qualitätsgesichtspunkten evaluiert wurden, und das permanent. Schließlich geht es um die eigene Gesundheit. Analoges gilt zum Beispiel für die Erwartung an Reiseanbieter oder an die Autoreparatur. Auch hier wird selbstverständlich geprüfte Qualität vorausgesetzt. Wenn das aber so ist, soll denn dann für die Pastoral anderes gelten als für die Gesundheit, den Urlaub oder das Auto? Welchen Grund kann es geben, nicht auch in der Pastoral zu erwarten, dass Personal, Prozesse und Programme evaluiert werden? Manche von Ihnen werden nun spontan zustimmen oder aber ein Störgefühl entwickeln. Das Thema 'Pastorale Evaluation' ist kontrovers. Sehr gut, denn so entsteht die Möglichkeit, etwas Neues zu lernen. Dieses Heft der Lebendigen Seelsorge bietet Ihnen das Material für die eigene Urteilsbildung: Argumente, Debatten, Beispiele, O-Töne, Methoden – und Bilder! Katharina Gebauer aus dem Gestaltungsteam von wunderlichundweigand ist für uns ins Atelier gegangen und kam mit einigen Cartoons wieder heraus: amüsante, ironische, zupackende, fragende. Viel Spaß auch damit! Matthias Sellmann Dr. theol., Professor für Pastoraltheologie an der Ruhruniversität Bochum

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INHALT

THEMA

Mess-Intentionen?

Das Anliegen pastoraler Evaluation in gnadentheologischer Reflexion

Von Johanna Rahner

Kirchenentwicklung gestalten mit Evaluation

Eine Theorie des Wandels

Von Miriam Zimmer

Entgrenzung

Die Replik von Johanna Rahner auf Miriam Zimmer

Zur Notwendigkeit theologischer Kriterien für pastorale Evaluation

Die Replik von Miriam Zimmer auf Johanna Rahner

Pastorale Evaluation

Eine praktisch-theologische Perspektive

Von Judith Könemann

PROJEKT

Segensreich: Pastoral mit Qualität

Ein Werkstattbericht aus dem Bistum Speyer

Von Thomas Kiefer und Björn Szymanowski

INTERVIEW

„Man hat in der Tiefe Angst, die Dinge anzusehen, wie sie sind.“

Ein Gespräch mit Michael Fischer über den Zusammenhang von pastoraler Evaluation und pastoraler Qualität

PRAXIS

Wir wollen besser werden!

Evaluation, Messung der Zielerreichung und Wirkung in der Pastoral – Beispiele aus der Praxis

Von Stefanie Orth und Helena Rimmele

Transparenz und Rechenschaft

Über die Notwendigkeit der Evaluation in der weltkirchlichen Projektförderung und kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit

Von Klaus Vellguth

Das Kompetenzzentrum Pastorale Evaluation und sein Konzept kirchlicher Vitalität

Von Veronika Eufinger

Das Buch Numeri als frühe Religionsstatistik?

Kriterien für pastorale Evaluation in bibeltheologischer Perspektive

Von Katharina Pyschny

SEELSORGE UND DIASPORA: BONIFATIUSWERK

Performance messen und Vitalität steigern

Am Beispiel des Projektes lastenRad

Von Björn Hirsch

FORUM

Pastorale Herzdruckmassage

Einordnungen zum Wort der deutschen Bischöfe zur Seelsorge

Von Elmar Honemann

POPKULTURBEUTEL

Ackern, aber richtig

Von Bernhard Spielberg

NACHLESE

Re:Lecture

Von Ansgar Wucherpfennig SJ

Buchbesprechungen

Impressum

Die Lebendige Seelsorge ist eine Kooperation zwischen Echter Verlag und Bonifatiuswerk.

EDITORIAL

Matthias Sellmann Herausgeber

Liebe Leserinnen und Leser,

das Verb ‚etwas oder jemanden wertschätzen‘ gehört ganz selbstverständlich zum Vokabular der Pastoral. Einen pastoralen Vorgang oder jemanden in pastoraler Aktion ‚evaluieren‘ hingegen nicht. Das Wort ‚Evaluation‘ scheint aus der Welt der Ökonomie zu kommen und seine Bedeutung driftet in Regionen, die manche so gar nicht mit Pastoral verbunden sehen möchten: Überprüfung, Effektivität, Controlling. Dabei sagt ‚evaluieren‘ wenig anderes als ‚wertschätzen‘, nur eben auf Latein. Wird jemand evaluiert, dann wird seinem oder ihrem Handeln Bedeutung zugemessen. Dann wird unterstellt, dass pastorales Handeln wertvoll sein will und sein kann.

Neben die sprachliche Verwandtschaft tritt ein sachlicher Bezug: Wer sich heute in die Hände eines Krankenhauses begibt, erwartet selbstverständlich, dass Personal und Prozesse unter Qualitätsgesichtspunkten evaluiert wurden, und das permanent. Schließlich geht es um die eigene Gesundheit. Analoges gilt zum Beispiel für die Erwartung an Reiseanbieter oder an die Autoreparatur. Auch hier wird selbstverständlich geprüfte Qualität vorausgesetzt. Wenn das aber so ist, soll denn dann für die Pastoral anderes gelten als für die Gesundheit, den Urlaub oder das Auto? Welchen Grund kann es geben, nicht auch in der Pastoral zu erwarten, dass Personal, Prozesse und Programme evaluiert werden?

Manche von Ihnen werden nun spontan zustimmen oder aber ein Störgefühl entwickeln. Das Thema ‚Pastorale Evaluation‘ ist kontrovers. Sehr gut, denn so entsteht die Möglichkeit, etwas Neues zu lernen. Dieses Heft der Lebendigen Seelsorge bietet Ihnen das Material für die eigene Urteilsbildung: Argumente, Debatten, Beispiele, O-Töne, Methoden – und Bilder! Katharina Gebauer aus dem Gestaltungsteam von wunderlichundweigand ist für uns ins Atelier gegangen und kam mit einigen Cartoons wieder heraus: amüsante, ironische, zupackende, fragende. Viel Spaß auch damit!

Ihr

Prof. Dr. Matthias Sellmann

THEMA

Mess-Intentionen?

Das Anliegen pastoraler Evaluation in gnadentheologischer Reflexion

Gnade und Erfolg haben etwas Grundsätzliches gemeinsam: Es sind beides höchst komplexe und ausdifferenzierte Begriffe. Der Blick auf das Gnadensystem der (Neu-)Scholastik zeigt, dass der theologische Grundbegriff für die grundlegende Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch je nach Perspektive, Voraussetzungen und Rahmenbedingungen durchaus komplex sein kann. Und glaubt man dem Artikel zu ‚Erfolg‘ auf Wikipedia, gibt ist nicht nur eine Vorstellung von Erfolg, sondern viele und durchaus unterschiedliche. Weil ‚Erfolg‘ als „Fähigkeit […] gesetzte Ziele zu erreichen“ (Wikipedia), natürlich davon abhängt, welche Ziele angestrebt und wie diese definiert werden, stellt sich die Frage, ob beide Begriffe – Gnade und Erfolg – in systematisch-theologischer Perspektive überhaupt in Beziehung gesetzt werden können. Johanna Rahner

Unter den Bedingungen einer ökonomisierten und globalisierten Spätmoderne entwickelt sich ein neuer Typos des Christentums, vielleicht sogar eine neue Art von Religiosität, die religiöse Erfahrung, Emotionalität, Heilungsprozesse und Bekehrungserlebnisse in den Mittelpunkt stellt und sie zugleich auf vielfältige Weise ‚medial‘ inszeniert – also alle spätmodernen Kriterien für ‚Erfolg‘ in Sachen Religion erfüllt (vgl. Pollack/Rosta, 406f.).

WO GNADE NOCH ERFOLG HAT

Der Erfolg der charismatisch-pentekostalen Variante des Christentums besteht in der engen Verbindung von Sichtbarkeit und Greifbarkeit religiöser Erfahrung, also der realen Erfahrung von Gnade und Begnadigung durch Gott: „Das Heilige wird erfahrbar und konkret, und zwar in einer körperlich berührenden Art und Weise: durch mitreißende Musik, durch Wunderheilungen, durch asketische Lebensregeln – alles soll irgendwie dokumentieren, direkten Zugang zum Heiligen zu haben und damit in den existentiellen Belangen des Lebens auf der richtigen Seite zu stehen – nämlich der Seite Gottes“ (Schüßler 2018, 236). Spektakuläre und affektiv erfahrbare Glaubenserlebnisse bzw. Gnadenerfahrungen sorgen für Attraktivität (vgl. ebd., 232) und sichern „religiöse Legitimität und Glaubwürdigkeit“ (ebd., 248). Der primäre Ereignis- und Erfahrungsort des Göttlichen und damit der Gnade hat sich – im Blick auf die Theologiegeschichte bis heute – vom Kosmos über die Institution (Kirche) zum eigenen Körper verschoben (vgl. Schüßler 2019): „Es ist der eigene Körper und die eigene Biographie, es ist das ‚Leben‘ selbst, das zur letzten und einzigen Gelegenheit eines gelungenen, heilen und guten Lebens geworden ist“ (ebd., 285). Die Nähe zur mittelalterlichen Mystik ist unverkennbar und zugleich zeigt sich darin der Pentekostalismus unverkennbar als Kind der späten Moderne: Denn der Körper ist „die unverwechselbare Oberfläche der eigenen Selbstdarstellung […]. Und er ist ein Ort der Erfahrung des Heiligen. Der Körper und das an ihm direkt Wahrnehmbare wird zur ultimativen Letztinstanz dessen, an was wir uns noch halten können, wenn vieles andere verschwimmt, also Offenbarungsfundamentalismus affektiver Erfahrung“ (Schüßler 2018, 240). Es wird letztlich durch ein individualisiertes, „offenbarungstheologisches und soteriologisches Präsenz- und Wirksamkeitsversprechen“ (ebd., 237) überzeugt – gratia efficax in ihrer spätmodernen, subjektivierten Variante.

Johanna Rahner

Dr. theol. habil., Prof.in für Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

In systematisch-theologischer Perspektive muss das auf grundlegende Vorbehalte treffen: Denn die „praxeologischen Überzeugungen und formulierten Wahrheiten“ pentekostaler Gemeinschaften speisen sich aus einem „strengen Dualismus zwischen Gott und dem Bösen, der durch die Allgegenwart des Bösen ausgedrückt wird“ (Werner, 126). Die Gnadenerfahrung hat also eine dunkle Rückseite, nämlich die der Gnadenlosigkeit; und beide Seiten bedingen sich gegenseitig, ja konturieren in die konkrete Gnadenerfahrung selbst: „Den biographischen Sitz im Leben haben pentekostal-charismatische Bewegungen deswegen konsequent bei Lebenskrisen, die bei der Bekehrung zu bewältigen sind. Die Notwendigkeit einer sichtbaren Anwesenheit des Geistes ergibt sich konsequent und wird in sinnenhaften, erfahrungsbasierten Zeichen und Zeichenhandlungen real gesetzt“ (ebd., 127). Auf dem Hintergrund des dualistischen Konzepts von Begnadung und Nicht-Begnadung wird dabei jener religionsgeschichtlich tief verwurzelte, aber häufig auch lokal vertraute und existentiell plausible, rituelle Rahmen, bestehend aus Exorzismen, Beschwörungsformeln und Zeichenhandlungen, bereitgestellt, „der auf die Ängste der Menschen vor Zauberei wie ihr Bedürfnis nach Schutz reagieren kann“ (Böntert, 202). Traditionelle Deutungsmuster und spätmoderne Inszenierung, Medialisierung, ja Ökonomisierung von ‚Gnadenerfahrungen‘ verbinden sich.

So leben ihre Glaubensvorstellungen geradezu von dem, was die akademische Theologie im ‚aufgeklärten Europa‘ mit guten Gründen kritisiert (vgl. Schüßler 2018, 232). Bei näherem Hinsehen wird darüber hinaus ein subtiler, ‚kulturell hegemonialer Kapitalismus‘ im Sinne einer Ökonomisierung des Religiösen bzw. eines Gnadenkapitalismus als implizite Leitkultur sichtbar, der „sich der Menschen auf einer viel wirksameren Ebene bemächtigt, jener, die sie zu dem macht, was sie sind: Er bemächtigt sich ihrer Sehnsüchte und Hoffnungen, ihrer Ängste und Nöte. Er formt bereits Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute und dann befriedigt er sie, er gibt all dem Sprachen, Bilder und – Erfüllung: konkret und fassbar“ (Bucher, 2). So scheint keine „andere Frömmigkeitsform […] so gut an die Marktförmigkeit der Existenz angepasst zu sein, wie das charismatische und pentekostale Christentum“ (Schüßler 2018, 258). Was dann zu jenem theologiegeschichtlichen Treppenwitz der Gnadenlehre führt, dass im 21. Jahrhundert wohl gerade der Typos eines weichgespülten Calvinismus zu einer forcierten Ökonomisierung des Religiösen quasi als postmoderne ‚Form‘ des Ablassdenkens (samt seinen Schlagseiten) führt: Gnade durch Erfolg – ein fragliches Konzept!

WIE RELIGIONSSOZIOLOGISCHE DRIFTEN DIE TOPOLOGIE VON GNADE UND ERFOLG VERÄNDERN

Zunächst zwei Beobachtungen. Zum einen: Die Institution ‚Kirche‘ ist in Sachen Gnaden- und Heilsvermittlung als primärer Bezugsort von Gnade/Gnadenerfahrung – wie es ja die traditionelle Rede von der ‚Gnadenanstalt‘ insinuiert – heute desavouiert bzw. bleibend auf die hinteren Plätze verwiesen. Sie wird nie mehr jener primäre Bezugspunkt der Gnaden- bzw. Heilsgewissheit in dieser Welt sein, den sie im mittelalterlichen Ordnungsgefüge noch unhinterfragt innehatte. Zum anderen: Die in der Folge stattfindenden, neuen Ortsbestimmungen von Gnadenvermittlung und Gnadenerfahrung erweisen sich nicht nur in ekklesialer Perspektive als durch und durch ambivalent. Welche Konsequenzen folgen daraus für die Evaluationsmöglichkeiten pastoralen Handelns?

Zur ersten Beobachtung: Wenn wir, wie Charles Taylor zu Recht behauptet, im ‚Zeitalter der Authentizität‘ (vgl. Taylor, 788–842) leben, stehen individuelle Glaubensvollzüge und individuelle Glaubensverantwortung samt der Notwendigkeit einer persönlichen Aneignung, Verantwortung und Praxis des Glaubens am Ausgangspunkt und im Zentrum jeder religiösen Identität. Nicht eine bestimmte religiöse oder gar konfessionelle Bindung gibt mir meine Lebensform vor, sondern mein Lebensstil sucht sich die dazu passende Spiritualitätsform (vgl. ebd., 211). Ausschlaggebend ist: „Ich muss meinen Weg zur Ganzheit und zur spirituellen Tiefe finden. Die jeweilige Spiritualität muss dem Erleben entsprechen.“ Kein Wunder, dass die „Grundform des spirituellen Lebens […] die Suche“ (ebd., 847) ist. Diese ‚Suche‘ sperrt sich häufig sogar gegen eine ‚institutionalisierte Religion‘, also auch gegen die Kirchen, ihre Autoritätsansprüche und Identitätsmarker. Denn die „sehen es ja als ihre Aufgabe an, die Suche zu verhindern oder innerhalb der festgelegten Regeln zu halten und vor allem einen bestimmten Verhaltenskodex vorzuschreiben“ (ebd.). Spätmoderne religiöse Identität ist daher gekennzeichnet durch „einen Verlust an einer bestimmten Form authentischer Kirchenerfahrung, nicht zuletzt an kirchlicher Verortung. Was Kirche überhaupt bedeutet, wird […] zunehmend undeutlicher“ (Hoff, 135). Zudem verfügt die Bindekraft einer Gemeinschaft nicht mehr über die Normen und Reichweite, um eine wirklich lebensumfassende Zusage der Individuen zu erhalten. Bilden sich Gemeinschaften, sind sie häufig ethisch (geteilte Werte), kulturell (geteilte Nation oder Ethnie) oder emotional (geteiltes Wir-Gefühl) motiviert. Wir haben es mit einem individualisierten und fragmentierten Christentum zu tun: einem affektiven, patrimonialen, humanitären, politischen, humanistischen, ästhetischen, … Christentum.

Zur zweiten Beobachtung: Die französische Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger spricht mit Blick auf die daraus folgenden neuen Ortsbestimmungen des Glaubens anschaulich von Pilgern und Konvertiten als den grundlegenden Dynamiken einer spätmodernen, nun fluiden Ver-Ortung (vgl. Hervieu-Léger). ‚Pilger‘ bedeutet (vgl. ebd., 78ff.): Religiosität ist prinzipiell unterwegs. Religiöse Identität ist kein ‚Erbe‘ mehr, sondern eine Wanderungsbewegung. Die Vergemeinschaftungsform ist also so etwas wie eine religiöse Pilgergemeinschaft oder eine Gemeinschaft aus religiösen Pilgern (Beispiel: Taizé), die geprägt ist durch Freiwilligkeit und Offenheit der Zugehörigkeit (fluide Gemeinschaften [‚für alle offen‘] ohne vorherige Sozialisation und ohne zukünftige Integration). Religiöse Praktiken sind eher am Außergewöhnlichen als an der Wiederholung orientiert (z. B. emotional aufgeladene Versammlungen wie Weltjugendtage als „Katholizismusausstellung“ (ebd., 78), die nicht Einheit [oder gar Einheitlichkeit], sondern [durchaus differente] Pluralität sichtbar macht; mit einem emotional gestärkten Wir-Gefühl um ein Gravitationszentrum: den [gleichfalls pilgernden] Papst).

Unter der Metapher des ‚Konvertiten‘ (vgl. ebd., 81ff.) verbirgt sich die Erkenntnis: Religiös zu sein, ist eine persönliche Entscheidung. Sie wird als ‚passend‘ zur eigenen Selbstkonstruktion und der damit verbundenen Definition des Selbstwertes empfunden; sie ist ‚authentisch‘ und hat so eine starke Wirkung auf die eigene Selbstkonstruktion. Wichtig ist die neue Gemeinschaftszugehörigkeit, die als exklusiv-elitär, am besten eben ‚anders‘ (bis hin zur Utopie, sowohl als gesellschaftliches, als auch [viel häufiger] als persönliches Projekt) erfahren wird. Daher ist damit auch eine grundlegenden Neu-organisation (= Reorganisation) der eigenen Lebenswelt (bis hin zu einer ‚Radikalisierung‘) verbunden. Damit geht die Orientierung am Eindeutigen, Unterscheidenden und Entschiedenen überein – Kriterien, die die neue Gemeinschaft, dann auch ‚bedient‘, gerade weil die Konversion noch die einzige Möglichkeit ihrer eigenen Bewahrheitung ist. Sie ist der Weg, durch den das Heilige in eine entzauberte Welt einbricht (vgl. ebd., 100). Der neue Gnadenort ist gekennzeichnet durch eine spirituelle Aufwertung der affektiven Nähe des Göttlichen, die den Rückzug Gottes aus einer endgültig säkularisierten Welt theologisch rechtfertigt (vgl. ebd., 121). Daher werden ‚Konvertiten‘ häufig von den religiösen Gemeinschaften auch als das ‚Ideal‘ des Glaubenden angesehen (‚überzeugte Katholik*innen‘ statt ‚laue Taufscheinchrist*innen‘; exklusionsbetonte ‚Sichtbarkeit‘ nach außen, die aber letztlich die Identität ‚ad intra‘ stärken soll). Das Ideal der kleinen Herde der ‚Wahren‘, der ‚Echten‘, der ‚Überzeugten‘, ist hier der sich nahelegende, ekklesiale Vergemeinschaftungsentwurf.

Der berühmte Satz Karl Rahners – „Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein“ (Rahner, 39) – erweist sich in ekklesiologischer Perspektive als durch und durch ambivalent, weil der personalisierte Erfahrungsbezug von Gnade zu sehr unterschiedlichen Verortungen führen kann. Angesichts dieser unterschiedlichen Driften – also zwischen ‚Pilgern‘ und ‚Konvertiten‘ – wäre, wenn überhaupt, ‚pastoraler Erfolg‘ doch nur sehr schwer festzumachen.

ERFOLGLOS AUS PRINZIP: EIN HERUNTERGEKOMMENER GOTT

Die Rede von der Inkarnation, vom ‚eingefleischten‘ Gott (vgl. Frettlöh) bedeutet zunächst einmal: Abgründigkeit. Denn diese Fleischwerdung reicht bis in die Abgründe der ausgelieferten, durch die menschliche Gewalt zerstörten Nacktheit des gekreuzigten Körpers Christi, des fleischgewordenen Wortes, hinein. Nichts rettet außer diesem geschundenen Leib des Erlösers; nirgendwo anders ist die Erlösung zu finden, als in der körperlichen Qual dieses der Gewalt der Vernichtung ausgelieferten Leibes: „Christus wird Körper, um das Fleisch des Menschen zu einer heilsfähigen Substanz zu machen“ (Marek, 11). Erst nach „vollendeter Erniedrigung schlägt die Todesverfallenheit in Erlösung um“ (Sorgo, 23). Ein anderes Medium der Gnade kennt das Christentum nicht. Daher stehen alle adäquaten wirkungsgeschichtlichen Bezugnahmen, alle angemessenen ‚Erfolgskriterien‘ unter der Signatur des Kreuzes, dem Zeichen der Ohnmacht und des Sich-Zerbrechen-Lassens, des Ikonoklasmus. Schon das biblische Bilderverbot entzieht die Gottesrede bekanntlich allen allzu menschlichen Instrumentalisierungen oder der Reduktion des Transzendenzbezugs auf Nützlichkeit. Gott ist kein innerweltlicher Gebrauchsgegenstand: In der späten Moderne ist daher nachdrücklich einzufordern, dass Sinn und Bedeutung der Gottesrede nur dann plausibel zu machen sind, „wenn die Logik der Brauchbarkeit und Nützlichkeit aufgegeben wird. Dies ist nicht nur um der Vernunft, sondern auch und vor allem um Gottes willen geboten“ (Höhn, 99). Ein entscheidendes inhaltliches Kriterium spätmoderner Gnadentheologie dazu beschreibt Tomáš Halík: „Einem Glauben, einer Kirche, einem Christus ohne Wunden kann ich keinen Glauben schenken. Alles, was uns auf dem religiösen Markt heute angeboten wird, sollten wir einer Echtheitsprobe unterziehen: Tragen die Angebote in irgendeiner Form Wunden an sich? Haben sie die Elemente des Tragischen, des Schmerzes, der Unsicherheit nicht ausgeschaltet? Sind sie nicht bloß […] glänzende Angebote eines schnellen Weges zu Glück, Erfolg, Zufriedenheit? Christus zeigt uns seine Wunden, damit auch wir Mut haben mögen, unsere Verwundungen und Narben einzugestehen und sie nicht zu verhüllen“ (Halík, 223). Das Verhältnis von Gnade und Erfolg bleibt im Christentum daher ein unaufhebbar dialektisches.

OBDACHLOSE METAPHYSIK

Das Narrativ von der ‚Einwohnung‘ Gottes in die kreatürliche Leiblichkeit drängt zu neuen ethischen Konkretionen (vgl. Frettlöh, 199–201): die Heilige Familie als Migrantenfamilie, der Stall der Herberge auf den Müllhalden dieser Welt bis hin zum Bild des ertrunkenen Flüchtlingskindes am Strand – nackt und bloß. Es wird nach je neuen Ausdrucksformen für den provozierenden Gehalt des Bekenntnisses zur Menschwerdung Gottes gesucht, indem die Abgründigkeit und die Endlichkeit menschlicher Existenz, die Fragen nach Sünde, Schuld, Ungerechtigkeit, Leid und Tod in den Blick kommen. Diese Suchbewegungen werden als Orte identifiziert, an denen der Mensch heute noch die Sehnsucht nach Heil, nach Gnade spürt, weil er die eigene Heil- und Gnadenlosigkeit wie die Geschundenheit der Welt als eine Herausforderung erfährt, auf die er allein keine Antwort weiß bzw. sie sich nicht (mehr) zutraut. Signifikante Erfahrungsorte göttlicher Gnade sind daher die Orte, „an denen jeweils messianische Heilung beschädigten Lebens erwartet wird“ (Theobald, 82). Die Rede von der Gnade wird wie die Rede von Gott ‚im Fleisch‘ in den Wunden der Welt verortet (vgl. Bergoglio). Wenn daher Papst Franziskus von einer ‚verbeulten‘ Kirche und einer ‚Theologie auf der Straße‘ (vgl. Evangelii gaudium