Lebendmasse - Thomas Kapielski - E-Book

Lebendmasse E-Book

Thomas Kapielski

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Beschreibung

Die literarische Autobiografie des genialischen Literaten

Dieses Buch handelt von: Verkanntentreffen, Katapulten, verpasster Friedhofsgärtnerei; vom Merve Verlag, Maas Verlag, Müll; vom Mann meines Alters, Zille-Zwiebeln, Lotto-Hoffnung, SO36; von Trümmergrau, Polen, Baudrillard, Virilio, Tangerine Dream; von Stammtischen, Gottesbeweisen, Post, Frieder Butzmann; frischen Hemden, Kohlenberta und Lichtgeschwindigkeit; von DJ Erwin, Foucault, Hartfaser und Klogriffen, von der Galerie Petersen und der Galerie Frei, vom Museum of Modern Art; von Daphne, Pferdeschwanz, Raumung, Sünde und Buße, von Gesamtluftwerk und Ehrengrab.

In acht abendfüllenden Sitzungen hat Thomas Kapielski darüber erzählt und seine schiere Lebendmasse als Autobiografie in Gesprächsform auf die zeitgeschichtliche Waage gewuchtet.

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Seitenzahl: 449

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Cover

Titel

Thomas Kapielski

Lebendmasse

Acht längere Unterredungen

Suhrkamp

Lebendmasse

Impressum

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Fotos: Thomas Kapielski

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2805.

edition suhrkamp 2805Erste Auflage 2023© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023OriginalausgabeAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

Signet: Thomas Kapielski

eISBN 978-3-518-77657-5

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

1. Verkanntentreffen, Katapult, Ehrengrab

2. Maas, Merve, Müll

1.

2.

3.

3. Mann meines Alters, Zille-Zwiebel, Goethe-Institut

1.

2.

3.

4. Ahnungslos, Grau, Polen

1.

2.

3.

5. Stämme, Gottesbeweise, Post

1.

2.

6. Frische Hemden, Kohlenberta, Lichtgeschwindigkeit

1.

2.

7.

DJ

Erwin, Hartfaser, Klogriff

1.

2.

8. Daphne, Pferdeschwanz, Raumung

1.

2.

3.

Informationen zum Buch

LebendmasseLebendmasse

1. Verkanntentreffen, Katapult, Ehrengrab

Irgendwo habe ich gelesen, daß Sie schon vormittags im Blauen Affen am Hermannplatz sitzen und Bier trinken.

Au ja! Da trägt man sein Mal auf der Stirn, sein Kreuz schleppt man mit sich rum. Dabei wohne ich schon seit Jahrzehnten nicht mehr in Neukölln, und im schönen Blauen Affen stehen auch schon seit Jahrzehnten Geldautomaten drin. Sie haben eine Bankfiliale draus gemacht, und was jetzt da akut ist, weiß ich nicht. Im ehemaligen Hammer gegenüber verkauften sie Matratzen, als die Kneipe säkularisiert wurde. Es war schön im Affen, mit Bernd Kramer habe ich mich dort oft getroffen. War so eine großraumige Rentner- und Arbeiterkneipe, wie es sie oft in Berlin gab. Die sind weg. Und mein lieber Freund ist nun auch schon zehn Jahre tot. Mit den Nasenflöten sind wir da paar Mal aufgetreten, waren immer heroische Abende. Und nun ist er weg.

Hat sich verfestigt, diese Legende? Sowas hängt einem an?

Wird man nicht los, also hätschelt man das Gerücht und sagt: »Ja, ja, so ist das.«

Ja, dann frage ich Sie doch mal direkt: Trinken Sie beim Schreiben? Das erledigen Sie ja wohl vormittags?

Nee, beim Schreiben saufe ich nicht! Das kann ich nur stocknüchtern, also kühl, kalt und luzide. Auch banaler Büroquatsch, Steuer, eigentlich das meiste muß klar und kühl erledigt werden. Danach meinetwegen was Kühles anderer Art. Wobei Kunstbasteln wiederum leicht verstört meistens besser geht. Da braucht es einen übermütigen Schwung, eine gewisse Hemmungslosigkeit. So klappt das besser mit Meister Zhuangzis Messerpinsel. Andererseits gilt: Eine nüchterne Lösung, die besoffen nicht standhält, kann erfahrungsgemäß in den Mülleimer. Und umgekehrt, eine besoppene Bastelarbeit muß der Nüchternheit standhalten. Mein vorläufiges Fazit lautet: Nüchtern bin ich besser, besser zu mir und beim Schreiben; besoppen geht’s uns besser, klappt das Werkeln besser, und die Welt verhält sich freundlicher zu mir. Als Weltschmerzensmann brauche ich diesen Trosttrunk. Für mich ist das so eine Art von eingeflößter Gnade, gratia infusa nennen das die Theologen. Also, ich deute dieses Sakrament natürlich sehr eigenwillig. Aber das haut schon hin, gnadenreiche Infusion, die braucht so ein trübsinniger Tropf wie ich.

Und wenn Sie abstinent leben?

Fühlt man sich blitzblank und träumt schön. Aber dann kommt schleichend Elend über mich in Form von trostloser Fadheit und öder Klarheit. Man wird doof und langweilig und merkt: Alkohol ist ein heilkräftiges Kontrastmittel. Bei Leerlauf versuche man es mit heilkräftigem Vollauf! Der liebe Gott hat uns Wein und Bier und andere Sachen zur Verfügung gestellt.

Da sind Sie sich sicher?

Das weiß ich, denn mein verstorbener Freund Plummy Gärtner war Theologe und Altsprachler, konnte perfekt Griechisch, Latein, Hebräisch, Mandäisch und halb Aramäisch. Das hat er nun alles mit ins Grab genommen.

Das ist immer erschütternd.

Ich könnte heulen, wenn ich daran denke, und frage mich: Was ist das wieder für eine völlig irrsinnige Welteinrichtung? Die Theodizee tut doch eher weh, auch wenn Gott es wieder gut eingerichtet hat, daß sich das reimt.

Manche Denkschulen halten Wein und Bier für Schöpfungen des Teufels.

Nein, das kommt von Gott. Plummy hat sich da auf Thomas von Aquin berufen, obwohl er Evangele war und alles Katholische geschnitten und geächtet hat; er hat oft aus der Summa theologica zitiert, wo steht, daß einer, der sich mit Absicht des Weins enthält, dadurch die Natur betrübt und so nicht frei von Schuld zu sprechen ist. Und zu viel Fasten und asketische Selbstquälerei sei auch Sünde, weil es nämlich die Geschlechts- und die gesunde Zürnkraft schwächt, welche beide göttliche Einrichtungen sind. Der Aquinate Thomas hatte einen guten Draht direkt nach oben, und Plummy auch, also halte ich mich dran und saufe gern und gottgemäß, meist aber Bier. Das ist bei mir so eine Jammertalsperre; sie kann natürlich leicht überlaufen. Jedenfalls ohne taktisch gesetzte Räusche würde ich dieses Leben nicht ertragen, denn das Sein verstimmt leider das Bewußtsein und erschwert das Dasein ohnehin.

Nehmen Sie dafür ein ungesundes Leben in Kauf?

Nein, aber das sind Opfer, die dargebracht werden müssen. Nur Sorge um die Gesundheit, überzogene Hygiene, das ist tödlich, das macht ja auch krank, also erst mal geistig mit Angst, Waschzwang oder sowas. Keimfrei gehaltene Kinder kränkeln bekanntlich stark und werden empfindlich wie Seifenblasen. Man muß auch mal Dreck fressen.

Alle Welt erstrebt ein langes, schmerzfreies Leben …

Ganz schmerzfrei und ohne gewisse Strapazen, ohne Anstrengungen geht gar nichts; ich bezweifle das unbelastete Leben. Mängel und Krankheiten gehören dazu. Und fest steht: Ich will keine neunzig werden, achtzig höchstens, das würde reichen. Meinen Eltern hat das auch genügt und am Ende hat’s ihnen sogar gereicht; beide sind pünktlich mit achtzig davon, und das gilt ja als Richtwert für die Nachkommen, wie alt sie werden.

Sie sind jetzt siebzig.

Und was mehr. Die Vorstellungen vom Alter sind poetisch; man wird schwächlich, es fängt an zu pieken, Treppenaufstiege und so. Und dann sieht man doch nie so aus, wie die jugendlich gebliebenen Radwanderer und Vorturner in der Apothekenzeitung, die verdächtig von Reklame gegen Krampfadern, Arthrose und Rückenschmerzen umgeben sind und immer happy Steckdosenfahrräder fahren.

Nur knapp zehn Jahre noch reichen?

Ich fürchte den Tod nicht, weiß Gott, warum? Ich weiß es, ich stand schon auf der Kippe, ich war schon weg. Schmerzgrames Sterben, das kann man befürchten, und daß man von vierundachtzig bis vierundneunzig im Hospiz liegt, aber da läßt sich was machen. In einer Kneipe dahinten ist auf solche Weise kürzlich einer umstandslos mit vierundsechzig weggekippt, den mochte ich sehr, ein wüster, anarchischer Mensch. Der hat mehr erlebt und gelebt als die drei dort übriggebliebenen achtzigjährigen Trottel in ihren drei Leben zusammen. Aber sie sind stolz, davongekommen zu sein, und jammern doch dauernd rum, wehleidig und ausgedient. Sie bemessen den Wert ihres Lebens an seiner Dauer, und das ist krank. Und bloß kein Bier zuviel! Zucker!? Furchtbar. Aber sie wollen es so, es sei ihnen vergönnt.

Haben Sie denn nicht noch einiges zu erledigen? Noch paar Bücher? Enkelkinder betüddeln?

Ach, die sind alle raus! Und ich bin erschöpft, habe ja früher auch viel auf Bühnen gestanden, das strapaziöse Leben des reisenden Krachmusikanten. Und es kann sich kaum einer vorstellen, was ein Roman, ein Buch meiner Bauart für ein geistiger, aber auch nervlicher, sogar körperlicher Kraftakt ist. Und auch Ausstellungsprojekte schlauchen. Also, ich habe mein Grummet im Schober, und was ich vorhatte, ist so gut wie getan. Und dann langweile ich mich jetzt schon viel zu oft.

Was tun Sie gegen Langeweile?

Ich schaffe mich ab bei ganz dumpfen Tätigkeiten, die einen gleichsam außen wie innen ordnen und sortieren und sehr wohlig in nichts auflösen, durch hingebungsvolles Aufräumen und Putzen zum Beispiel, und das muß sowieso gemacht werden.

Da wäre doch ein Garten schön …

Haben wir nicht. Ich bin mal vor Zeiten, als ich noch Saft hatte, etwas naiv beim Gartenbauamt vorstellig geworden, ob sie nicht einen Halbtagsjob für mich haben. So vier, fünf Stunden Friedhofsgärtnerei simpelster Art vor oder nach den Schreibarbeiten, das täte mir gut, habe ich erklärt, und meine Hilfe wird hingebungsvoll sein, habe ich versprochen. Aber die haben mich ganz entgeistert angeguckt und wollten mich nicht. Mir fehlte wohl der Deppenschein oder sowas. Diese Arbeitsteilung scheint bei uns nicht legitim zu sein. Einen Friedhof und womöglich meine Grablege zu harken hätte mich erquickt.

Eine Ihrer Thesen aus dem Sozialmanierismus lautet: »Das meiste wird von Leuten bewirkt, denen es nicht sonderlich gut geht. Man begreift sowieso nichts durch Anstrengung, aber einiges durch Langeweile.«

Ich leide bisweilen unter Zeitdehnungen, aber diese dumpfen Phasen zeitigen reiche Erkenntnis. Im Hirn scheinen sich übereinandergeschichtete Sedimente zu bilden, die dann meine Schreibphasen nähren. Insofern hat das was Gutes.

Sie hatten 2005 im HAU-Theater am Halleschen Ufer mal mehrere Abende lang ein Internationales Verkanntentreffen mit Musikern und Filmleuten veranstaltet. Waren denn das alles Verkannte? Viele dieser Leute sind doch bekannt. Sven Åke Johansson, Blixa Bargeld oder Mike Hentz sind doch nicht verkannt. Oder halten Sie sich selbst für verkannt?

Das Verkannte, oder Semiverkannte – wir wollen nicht angeben! – ist das geregelte Geschick meiner Generation. Sogar Anerkannte können Verkannte sein. Natürlich träume ich gelegentlich davon, im pelzverbrämten Bademantel die Schweinslederbände meiner Werkausgabe zu betrachten, wie Heinrich von Böll es täglich tat. Aber ich will gar keinen Erfolg, mir genügt Ruhm. Bedauerlicherweise kann man heute Ruhm ernten, ohne von Geldsorgen befreit zu sein. Bißchen Bargeld braucht man aber.

Wie kommt man denn dazu, so Abende im Theater zu veranstalten? Haben Sie sich da eingemietet?

Ich miete doch nichts, wovon denn? Nein, sie wollten da mal was Neues, was anderes machen. Da gab es einen Matthias Lilienthal, und der hat mich eingeladen, ob ich mir was vorstellen könnte. »Also Theater mache ich nicht, ich mag kein Theater!« habe ich ihm und seinen Leuten erklärt, und das fanden die schon mal gut. Dann habe ich vorgeschlagen, daß ich sechs Abende mit je zwei Leuten mache, die ich kenne, die ich gut finde, und dann frage ich die, ob sie mitmachen. Gut. Also habe ich so Paarungen gebildet. Und dann waren die Abende. Und ich war nun der Veranstalter, da sitzt du auf Kohlen, fühlst dich für alles verantwortlich. Sowas mache ich nicht noch mal. Ich bin kein Veranstalter, ich werde veranstaltet.

Ist es nicht gut gelaufen?

Also den Auftakt machten Blixa Bargeld und Sven Åke Johansson, zwei Musikwelten, Free Jazz und Neubauten eben, die nie was miteinander gemacht hatten. Das paßte aber, das war gut, und es war natürlich volles Haus. Das ließ dann nach.

Was lief noch?

Klaus Krüger, Schlagzeug, der hatte bei Iggy Pop getrommelt und bei Tangerine Dream, und dazu kam Christoph Hahn, der für Alex Chilton und die Swans Gitarre gespielt hatte. Ein Duo, das war unfaßbar gut. Man hörte da fünf Musiker auf der Bühne, nicht zwei, und man hörte einen sauberen Baßlauf, den es gar nicht gab, den hat Krüger mit dem Fuß aus seiner Baßtrommel geholt. Der Krüger ist Perfektionist, Hahn ist etwas genialisch. Der Ton war perfekt und sauber, der Saal aber nicht mehr so ganz voll, Kenner waren da. Bei der Performance, Mike Hentz und Lindy Annis, war noch weniger los, und Hentz hat sich nicht auf die Annis einlassen wollen, der hatte da so ein egomanes Konkurrenzding laufen und mußte die zarte Annis beißen. Die war ganz blaß, die mußte ich erst seelisch beatmen, bevor sie dann aufgetreten ist. Es kam dann noch elektronische Musik, Frieder Butzmann mit Alex Hacke von den Neubauten.

Mit Butzmann waren Sie doch schon im Duo damals?

Ja, da habe ich natürlich meinen Kumpel untergebracht, weil er gut ist. Ich selbst konnte oder wollte da nicht auftreten, ich habe nur paar einführende Worte gesprochen. Frieder Butzmann war ein früher Förderer vom Hacke, da nannte der sich noch Alexander von Borsig, und dann spielte er Baß bei den Neubauten. Also die zwei waren auch großartig. Dann gab es noch Super-8-Filme von Knut Hoffmeister und Thomas Kiesel. Zuletzt kam dann ein literarischer Abend mit Bert Papenfuß und Norbert Hähnel, dem einzig wahren Heino. Das war auch gut.

Aber es kamen immer weniger?

Die Massen sind doof. Sowas Auserlesenes wird selten geboten, das kann ich mit Fug sagen. Und dann latscht der Pöbel doch wieder zu den Ärzten oder lutscht an Nena rum. Ich war fertig am Ende. Mache ich nie wieder. Du grämst dich über jeden unbesetzten Platz.

Sie schreiben im Sozialmanierismus: »Wer nicht auf Menschen schießen kann, soll es mit der Existenzgründung seinlassen.«

Diesen beeindruckenden Spruch, der nicht von mir ist, hatte mein Buchhändler ins Fenster gehängt, kurz bevor er pleite ging. Woher er den hat, weiß ich nicht. Es wurden nur noch Bücher gekauft, die er nicht verkaufen wollte. Der war so sympathisch grantig. Wenn da mal ein Laufkunde reinkam und fragte: »Haben Sie was über Mallorca?«, hat er den angebrüllt: »Verlassen Sie meine Buchhandlung! Reisen Sie riskant nach Mallorca!« Um den Umsatz zu steigern, schlug ich ihm vor, ein Schild vor dem Laden aufzustellen: »Hier klaut Claudia Schiffer!« Das half auch nicht. Dann verkaufte er noch Wein, weil er wußte, saufen tun die Leute dann doch eher als beim Saufen Bücher lesen. Aber das ist auch gescheitert, denn er hat zuviel von seiner Ware selbst weggeschlürft.

Wie kommen Sie eigentlich finanziell über die Runden?

Frage ich mich auch oft. Bücher meiner Machart bringen, je nachdem, drei- bis viertausend Eumels, Aphorismen zwei, besprochener Roman fünf, kann man drüber nachdenken, aber nicht von leben. Man muß das auch umrechnen: Ich brauche etwa zwei Jahre für einen Schmöker, also verdiene ich bei viertausend Honorar 167 Euro pro Monat. Zeitungsartikel brachten immer was ein und Radiolesungen; die Zeitungen darben aber, und das Radio wird auch immer schlichter, die lesen dann lieber Fontane vor, der kostet sie nichts. Dann sind auch Lesungen einträglich, aber das ist stark abgeflaut während und nach der Viruspest. Und der Staat muß nun auch sparen; der Literaturbetrieb ist ja stark förderungsabhängig.

Ja, wovon leben Sie denn?

Also, da läppert sich dann doch was zusammen. Ich bekomme eine magere Altersrente, eine Künstlersozialkassenrente, aufgebessert durch die Jährchen als Dozent. Meine finanzielle Honigpumpe aber ist die Kunst. Einen mittelgroßen Ölschinken fertige ich in wenigen Tagen und streiche dafür so viel ein wie für ein gut verkauftes Buch, an dem ich Jahre gesessen habe. Das, was Zeit braucht bei meiner Kunst, ist der gute Einfall, die Idee. Die sammle ich in Heften, und wenn es heißt, hier, Ausstellung, dann arbeite ich zügig, schon weil ich nicht die ganze Wohnung voller Bastelarbeiten haben möchte.

Ateliers mögen Sie nicht.

Nein, brauche ich nicht. Blödes Terpentingestinke, und dann hockst du da, die Miete bedrückt dich, und du weißt nicht, was du machen sollst. Ich mache das zu Hause. Ich habe schon länger eine feste Galerie in Zürich, das ist die Galerie Marlene Frei; die macht nun allerdings nicht ständig Ausstellungen mit mir. Das ist ein größerer Stall. Und ich lebe einfach schlicht. Wenn mein Taschengeld alle ist, fresse ich eben Haferflocken und trinke Hausbier, das mir der Durstexpress, der neuerdings Flaschenpost heißt, in den Keller stellt. Kneipe ist schöner, aber teuer.

Sie hatten mal eine Kunstprofessur in Braunschweig für Spiel, Bühne und Performance. Hört sich so nach Spielwarenladen an. Ist das Ihr Spezialfach?

Nein! Ich spiele höchstens mal Lotto und finde das Wort Performance fürchterlich, weil meist Fürchterliches geboten wird, und ein Theaterfredi bin ich schon gar nicht; aber aus Gründen einer unklaren oder gar nicht vorhandenen Stellenbeschreibung, wo steht, was genau zu tun ist, konnte ich da so nischenhaft machen, was ich wollte. Oder anders: die Stelle hieß nun mal amtlich so und das fanden die an der Kunstschule selbst mißlich, aber sie gaben sie mir, und ich konnte machen, was ich will. Eine sehr angenehme Unklarheit.

Was haben Sie denn da gemacht?

Die meisten studieren ja nach der Richtlinie: Der Schein bestimmt das Bewußtsein. Zu mir kamen dagegen jene, die weniger auf einen Schein spekuliert haben. So waren um mich herum stets die Besten unter den Außenseitern und Genies versammelt, auch die Bekloppten. Das waren prima Leute! Die saßen einfach beim Onkel Professor Kabolski rum, wurden von mir gratis mit Bier verköstigt, und wir unterhielten uns prächtig und fruchtbar über Kunst, Literatur, Musik, Kinderkriegen, sonstwas. Bierschmarotzer wurden abgewimmelt. Alle haben einen Schein mit guter Note von mir bekommen, und aus allen ist was Ordentliches geworden.

Woher wissen Sie das?

Ich sehe oder treffe noch etliche, die kommen zu Lesungen, oder sie wohnen in Berlin, und die schwärmen dann immer von früher und können sich besser an meine farbfrohen Vorträge erinnern als ich. Einige sind erfolgreiche Filmleute oder PC-Fummler geworden, bloß keine Künstler, und selbst die Gescheiterten unter ihnen dürfen sich als gelungen bezeichnen; das sind dann so Existenzakrobaten und Alles-mögliche-Macher, aber ohne Ambitionen. Und eine ist in die Politik gegangen und verdient da als Abgeordnete sehr beeindruckend. Sie hat ein ganz würdevolles, staatsbesorgtes Gesicht bekommen, ich habe sie neulich im Fernsehen gesehen. Die war nett, aber natürlich nicht die Hellste.

Wieso natürlich?

Adverse Selektion!

Was ist das denn?

Abgeordnete verdienen wesentlich besser als normale Menschen. Also bestreben viele arme Schlucker und trübe Funzeln mit Sendungsbewußtsein über ihre Parteien so einen Posten zu erringen und machen da nicht viel Ausbildung, sondern kümmern sich um ihren politischen Aufstieg. Es sitzen also ungebildete Leute, Studienabbrecher, Dissertationsschummler, trübe Tassen im Parlament. Die Klugen und Tüchtigen studieren Chemie, promovieren ohne Schummel und verdienen wesentlich mehr als ein Abgeordneter. Warum sollten die in die riskante Politik gehen? Das ist eine Selektionsmaschine: die Nulpen ins Parlament, die Könner und Wisser in die Wirtschaft. Und die anderen Pfeifen, so welche wie ich, die werden Professor. Da hat man auch ein üppiges Staatsgehalt und lebt vom Staat, also im Grunde auf anderer Leute Kosten, von Steuern.

Hm. Was haben Sie da gemacht an der Hochschule?

Ich habe da richtige Vorlesungen gehalten, gut was vorbereitet mit Bildern, und Musik habe ich mitgebracht; Vorlesungen gibt’s sonst gar nicht an Kunstakademien, nur die Kunsthistoriker machen das. Dann haben wir da so Schnapsideen verwirklicht. Also mein Büro lag neben den Handwerkern für Modellbau, neben der Tischlerei, Druckwerkstatt und so. Mit denen kam ich gut klar. Zur Begrüßung und Einführung habe ich denen gleich mal eine Pulle Obstbrand auf den Tisch gestellt, den wir dann zusammen ausgesoffen haben. Die haben dann einiges für mich gemacht. Wir wollten mit den Studenten ein großes Katapult bauen und damit einigen besonders geschwollenen und humorlosen Leuten an der Akademie irgendwelches Zeug ins offene Fenster schleudern. Das haben wir zusammen mit den Handwerkern gebaut und ausprobiert, das war eine spaßige Sache.

Wie sind Sie denn auf diese Idee gekommen?

Die Studenten saßen wie oft bei mir rum, und dann wurde wieder mal begrübelt, wie man jetzt seine Mappen und seine Musterkataloge und seine Abbildungen von Kunstwerken am besten den gelangweilten Galeristen überreicht und wie man Prüfungsarbeiten vorstellt, ob in Ringordnern oder laminiert und so Blödkram. Das war mir zu blöd und zu eng und bestrebt, und da habe ich, um der Sache eine andere Richtung zu geben, aus Jux gesagt: »Das könnt ihr doch alles mit einem Katapult da schön hinschießen, das wäre doch mal was anderes als eure dumpfen Präsentkörbe und Ringordner.« Und da wurden die wach, bei sowas werden die wach. Gut, und dann habe ich ihnen erzählt, daß es das auch schon gab und daß der große Fluxus-Galerist Knud Pedersen …

Der Däne, der Kampf gegen die Bürgermusik geschrieben hat?

Der, ja. Das Buch gibt es auf deutsch, das hat Ludwig Gosewitz, der kein Dänisch konnte, übersetzt mit ihm zusammen, der kaum drei Worte Deutsch sprach; da haben die sich auf Englisch verständigt und Gosewitz hat das dann mit einem Dänisch-Deutsch-Wörterbuch der einfachsten Art ins Deutsche übertragen, und so ist das 73 bei Michael Werner in Köln erschienen in einer neunhunderter Auflage, die sind heute ein Vermögen wert! Der Pedersen hat mich mal in Berlin besucht, weil er meinen Springbrunnen in Kopenhagen bauen wollte. Für Schnapsideen war der zu haben.

Was für ein Springbrunnen?

So eine hohe, senkrechte Fontäne in einem runden Becken, ganz gewöhnlich, die Idee war aber, daß der Strahl ab und zu umkippt und ins Publikum spritzt; das wollte der mitten in die Stadt bauen, und da war ich dann in Kopenhagen und wir haben das auf einem Feuerwehrübungsgelände ausprobiert. Das wurde dann aber nichts.

Aber das mit dem Katapult wurde was?

Beide wurden was. Also Pedersen hat in den Sechzigern eine Pioniereinheit der dänischen Streitkräfte überredet, ein riesengroßes römisches Schleuderkatapult, so ein baumhohes Ding mit Gegengewicht zu bauen. Blide heißen die, und damit haben sie dann an der schmalsten Stelle zwischen Dänemark und Schweden Schnapsflaschen von Kopenhagen nach Malmö rübergeschleudert, weil der Alkohol in Schweden damals viel teurer war als in Dänemark. An der Stelle gibt es jetzt eine Brücke. In Dänemark standen die Kunstfreunde am Ufer und haben zugesehen, wie die Schnapsflaschen abgeflogen sind, und in Schweden standen Kunstfreunde am Ufer und haben die Flaschen erwartet, die sind aber vorher ins Meer gefallen, sieben Kilometer schaffen die Schleudern nicht. Das war eine Kunstaktion, und sowas wollten die Studenten nun auch machen. Also haben wir so ein komisches Ding mit den Handwerkern gebaut, so mit Gummizügen für den Kraftsport und groß wie ein Webstuhl, und dann haben die Studenten ihre Skulpturen oder Bilder damit durch die Gegend geschossen. Im zweiten Stock, wo eine Prüfungskommission tagte und die Fenster offenstanden, hat einer seine Prüfungsarbeiten reingeschossen.

Hört sich gut an, da hat er wahrscheinlich bestanden.

Es ließ sich schlecht zielen, hat aber funktioniert. Dann habe ich einen Chor gegründet, mit dem habe ich eine Mini-CD gemacht und Auftritte gehabt; wir haben kitschige Schlager im Chor gesungen mit schwungvoller Akkordeonbegleitung. Unser bester Mann am Akkordeon war sowas wie der Finanzminister an der Hochschule, er ist später wegen Unterschlagung fristlos gefeuert worden. Der war lustig und sehr angenehm, ich hätte ihn ins Ministerium befördert, damit der denen zeigt, wie sowas geht. Also solche Leute waren da um mich. Allerdings war ich ein gefürchteter Prüfer. Ich habe mal eine Vier gegeben, und das war dann ein Riesenskandal! Da mußte ich zum Chef, denn die waren böse, weil ich den makellosen Notendurchschnitt der Schule gedrückt hatte mit meiner Vier, die eigentlich eine Fünf für Dummheit und Frechheit hätte sein müssen. Aber dadurch haben alle Angst vor mir gehabt, und ich hatte Ruhe mit Prüfungen und konnte mich auf Lehre, Forschung und Katapultbau konzentrieren.

Mir fällt auf, daß Sie unbekümmert von Studenten sprechen, man sagt heute Studenten und Studentinnen oder Studierende.

Das sind grammatische Irrlehren. Das Partizip Präsens benutze ich nur, wenn jetzt einer tatsächlich gerade studiert, aber das tun Studenten selten, und es sind trotzdem Studenten, auch wenn sie schlafen oder feiern. Und das generische Maskulinum bleibt bei mir der neutrale Oberbegriff. Tischler sind Tischler, darunter können Frauen und Männer und sonstwas für sexuelle Bekenntnisse Platz finden, Zwitter, sonstwas, die sind bei mir alle Tischler und Studenten, ein einzig Volk ohn’ Zwietracht.

Welche Zensuren sind denn für studierende Studenten so üblich?

Einser und Zweien, da gibt es nur zwei Stempel. Damit glänzt und funkelt der Laden, Exzellenzuniversität heißt das. Bei Kunst richtet das keinen Schaden an. Ich hoffe, die Bauingenieure und Mediziner bekommen nicht auch lauter Gefälligkeitseinsen gestempelt.

Trinken Bildende Künstler mehr als andere?

Also ja, entweder trinken sie fruchtbar oder furchtbar, oder gar nicht. Also unter den richtig guten Professoren ist die Neigung zum Trunke allgemein doch ziemlich verbreitet.

Bei den schlechten nicht?

Doch, auch, und noch schlimmer! Bei den Studenten der Künste wird sowieso viel geballert. Die sind noch in der Lernphase, also haben sie einen allgemeinbildnerischen Hang zum Multitoxischen. Die kiffen fast alle, nehmen bunte Hirnfresserpillen, fressen Pilze und saufen auch ganz gut. Ein ausgeprägter Gemischtwarenbetrieb. »Für Euch«, predigte ich denen immer, »müßte völlige Nüchternheit die absolute Sensation sein. Also wagt es!« Diese verheerende Psychopharmapolitik am Bregen gehört aber wohl leider in die Lehrjahre. Heute schon an Grundschulen. Während meiner Lehrjahre haben wir nur gesoffen, nur Bier.

Sie beklagen Dünkel wider die gegenständlichen, gekonnten Künste. Sollten Kunststudenten gut zeichnen und naturalistisch malen können?

Unbedingt. Wenn die Mutti sagt: »Gut, du darfst Kunst studieren!«, dann kann sie doch erwarten, daß der Sproß sie irgendwann so malt, daß sie sich wiedererkennt und nicht so aussieht wie ein Mädel von Avignon. Wenn die Kunstschüler später dann als Könner und gute Maler und Zeichner doch rumschmieren, will ich’s unter Umständen gelten lassen. Also so, wie Walter Stoerer oder Dieter Krieg im Grunde Könner waren, die rumschmierten und einen auf Informel geht schnell! machten. Das hat ja durchaus was. Stoerer und Krieg gefallen mir. Für den Krieg sollte ich mal Poetisches neben seine Abbildungen in einen Katalog setzen; ich war geneigt, aber wir haben es lieber seinlassen.

Warum sind Sie nur sechs Jahre Professor gewesen? Verbeamtung heißt doch lebenslänglich.

Diese Professur war auf sechs Jahre ausgeschrieben. Nach sechs Jahren und einem Tag Verbeamtung werden sie einen nie mehr los. Das terminieren sie jetzt so, um zu sparen und damit die Onkels da nicht faul werden und kaum noch kommen. Das ist so ein schleichendes Dozentengebrechen. Das übertreiben einige, und die kommen dann gar nicht mehr; dann sind’s aber Beamte, und die kann man nicht einfach rausschmeißen. Und weil es so viele gibt, die das mit der Faulheit übertreiben, denkt sich die andere Seite, das Kultur- und Finanzministerium, Schikanen aus, und schlucken müssen es alle. Die Berühmtheiten, die sich jede Kunstschule als Ziervögel hält, kommen trotzdem kaum, aber das wird akzeptiert.

War das der Fall bei Ihnen?

Was? Berühmtheit?

Na ja, ich frage eher nach Faulheit.

Im Gegenteil. Ich habe eher die Preise versaut, denn Kunstprofs fahren dort nur alle zwei Wochen nieder und ich war jede da und habe tagelang ziemlichen Wirbel veranstaltet. Man hat am Ende wohl abgestimmt, ob ich bleibe und in die Verlängerung gehe. Und ich habe mir da nicht nur Freunde gemacht mit meiner Klartextklappe. Also, sie haben mich nicht weiter beschäftigt, und ich war auch froh, denn wer weiß, was aus mir geworden wäre. Man hat schon die Neigung, träge zu werden, wenn sie dir jeden Monat viertausend rüberschieben. Darum haben die Onkels und Tanten da alle so teure Hobbys, Weingut, Oldtimer, Segeljacht, Bauernhaus in Graubünden ausbauen und so Blödsinn, und da sind die vollauf damit beschäftigt und mit Kunst immer weniger. Ich war dann auch frohgemut, als ich da raus war, und habe gleich mehrere Bücher in einem Jahr geschrieben; du mußt ja wieder selbst Geld verdienen. Immerhin bleiben mir anstatt zweihundert Künstlersozialrente heute siebenhundert, dank dieser kurzen Verbeamtung.

Sie schufen Werke wie Der Ölschinken, Die mostrichte Senfte, Askäsehäppchen und Drei Künstler, die besser sind als ich, also Sie sind nicht nur Autor, sondern sind selbst auch Bildender Künstler. Wieso haben Sie die Mühen einer weiteren, anderen Profession auf sich genommen?

Das macht doch keine Mühe, das ist Abwechslung und sogar Entlastung; ich kann bei Schreibverdruß die Sparte wechseln, und wenn Kunstpause ist, schreibe ich. Ansonsten hat sich das von selbst ergeben. Jeder klamme Versager versuchte es Anfang der Achtziger mal als Künstler, und so auch ich. Je mehr Pfusch und wilde Geste man reinlegte, um so mehr mochten es die Kunstkenner. Man konnte nicht viel falsch machen, es war die hohe Zeit der Selbstlerner und Selbstmacher. Wir latschten in jenen Jahren wie die Besessenen durch die Ausstellungseröffnungen der Rivalen und knallten in die Anwesenheitsalben unseren Dett-könn’-wa-och!-Stempel rein. Dies traf so die allgemeine Stimmung bei uns, die wir nie in Kunstschulen gehockt und Vasen schattiert hatten. Die Ernsthaften und Studierten gab es natürlich auch.

Sammeln Sie Kunst?

Nein, nur von Kollegen geschenkte, da hatte ich sogar mal einen Kippenberger, den ich aus Geldnot und mit Kippis Erlaubnis verscheuern mußte, und natürlich die von den Kindern. Glasierter Knubbel aus Ton mit Fingerloch vom Letztgeborenen, eins meiner Lieblingsstücke. Ich verstehe bis heute kaum, wieso man Kunst kauft, wo es doch nie einfacher war, nichts falsch zu machen, wenn man sich das alles selber machen möchte.

In Aqua botulus habe ich gelesen, daß Sie mal Zeuge einer sonderbaren Hardcore-Performance wurden. War das wirklich so?

Es ist immer Dichtung und Wahrheit, halbe Dichtung, ganze Klarheit. Aber das war schon so. Ich kannte da einen Kneipenanarchisten, einen Maurer und Automechaniker, der ein wunderbarer Naturperformer war. Der hat völlig verrückte Dinge gemacht, ein U-Boot für den Wannsee gebaut und sowas. Dem schlugen wir mal vor, er soll doch auch mal eine Aktion in so einem Kunstverein machen, irgendwas, was er will; wir hatten da ein Angebot, das Programm zu gestalten. Er hat dann für alle Besucher Unmengen Nudeln mit Tomatensoße gekocht, und während nun alle Nudeln fraßen und dachten, das ist aber eine einfallslose, blöde Aktion, stieg der auf den Tisch und brüllte: »Kunst heißt, etwas von sich geben, sich verausgaben, und deshalb habe ich vorhin in der Küche dreimal hintereinander in die Tomatensoße gewichst!« Da wußten dann alle nicht, sollen wir jubeln oder kotzen? Das war schon drastisch.

Wie kommen Sie zu Ihrer These in Aqua botulus, es bestehe eine Verbindung »zwischen Buchliebhaberei und einer geradezu narrischen Arschgeilheit«?

Tja, wie kommt man auf sowas? Also, da treiben wir mal etwas Psychoanalyse: Wenn Sie ein Buch aufschlagen, ist in der Mitte die Naht, und je nach Dicke und Güte der Bindung wölben sich rechts und links zwei Pobacken. Ein aufgeschlagenes Buch ist also gleichsam der abwesende Arsch, mit dem der geneigte Leser und wohl auch eine Leserin, beziehungsweise sein oder ihr Unbewußtes, sich sogleich und lieber befassen möchten. Da kommt die Konzentrationsschwäche oder Ablenkung beim Lesen her. Wobei noch anzumerken ist, daß Freud da nicht selbst draufgekommen ist, obwohl es nahegelegen hätte, aber als Büchermensch waren Bücher sein blinder Fleck. Die aufgeschlagene Traumdeutung ist selbst ein solcher Fall von akuter Arschwölbung. Und wenn man umgekehrt einen Po betrachtet und infolgedessen ständig an aufgeschlagene Bücher denkt, liegt wohl eine noch abnormere Unkonzentriertheit vor, eine Verdrängung, die beim Lesen störend wiederkehrt.

Sie haben einen Komikpreis für Literatur bekommen.

Zwei, bitte sehr! Möchten Sie jetzt vom 2011er hören? Vom Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor der Stiftung Brückner-Kühner, bei dem ich nicht wußte, wer Brückner und Kühner sind oder waren?

Weiß ich auch nicht, aber wenn sie mir den Preis geben, sehe ich nach, wer die sind. Und der andere Preis?

Das ist der 2016er, der Bernd-Pfarr-Sondermann-Preis für Komische Kunst, mit dem ich in Frankfurt gekrönt wurde; der hängt an der Titanic-Zeitschrift dran. Da wurde mir der erste Preis aufs Haupt gehoben. Und den Trostpreis, den letzten beziehungsweise zweiten Preis, den hat der ohnehin gut dotierte Fernsehmann Böhmermann geschnappt. Das hat ihn vielleicht gewurmt, er ist ehrgeizig, er will immer erster werden, schätze ich. Was ihn damals aber noch mehr geärgert hat – wir hockten da in so einem Kabuff hinter der Bühne beisammen, und er hat geredet, und wir haben auf die Siegerehrung gewartet – das war, daß die Amerikaner nicht auf ihn und das deutsche Fernsehen gehört und soeben den falschen Präsidenten gewählt hatten. Außerdem mußte er sich damals noch vor Erdogan in Acht nehmen; den hatte er gerade stark insultiert, kraft eines vulgären und völlig hirnrissigen Gedichtes.

Sowas würden Sie nicht machen?

Nee. Poetisch grauenhaft, und außerdem war diese Schmähung billig und völlig risikolos, weil es eine ferne Herrschaft betraf, die einem hier nicht an die Gurgel kann. Satire sollte Fechtkunst sein, Florett und ehrenwerter Nahkampf, nicht nett, aber auch nicht Fäkalpumpe über vier Staatsgrenzen hinweg. Es ist gut für ihn ausgegangen. Türkeireisen gehen natürlich erst mal nicht. Solange sich ein öffentlich-rechtlicher Artist geschickt und wendig in seinen gut uniformierten Kreisen tummelt, kann er unbesorgt bleiben und rumrumpeln. Meinen Segen hat er; das übrige schaltet und waltet der Zuschauer mit der Fernbedienung. Es gibt genug, die Böhmermann mögen, die aber ich meist nicht mag.

Was ließ Sie komisch werden?

Was soll ich sagen? Die Bürde meiner Kopfform? Taktik wider den täglichen Verdruß, streckenweise ziemliche Armut und schwere Lebenserlebnisse? Die Berliner Luftbrücke? Was weiß ich? Jedenfalls bin ich im Alter unkomischer geworden.

Wieso das?

Ja, eben allgemein: Schluß mit lustig! Ganz einfach. Der Spaß, im Sinne von Esprit und Gewitztheit, ist vorbei! Versteht sowieso keiner mehr. Man kann keine Witze mehr machen, keinen Klartext, keine frohe Frechheit mehr verkünden, ohne daß sich einer schwerstens beleidigt fühlt und klagt. Die ganzen widerwärtigen Moralzeigefinger und Unrechtsleider, die sich nicht um die kranke Mutti kümmern, weil es mindestens schon Dritte Welt sein muß, diese Tugendwächter und Berufsgekränkten, die haben doch hier die Stimmung verdorben. Diese humorlosen Leute deutscher Bauart. Und diese deutsche Humorlosigkeit hat Tradition, einen wie Lawrence Sterne gibt es in Deutschland nicht, na ja, immerhin Jean Paul, Wezel, Heine, Lichtenberg. Aber die nimmt man nicht ganz so ernst; nur die Hochernsten, die Mahner und Warner, die nimmt Deutschland ernst. Die Geschwollenen und Wichtigtuer. Und wenn sie was Komisches erleben wollen, müssen sie eine Rede vom Bundesuhu anhören, so weit ist das gekommen.

Jetzt werden Sie aber auch schon ganz unlustig und verbiestert …

Leider, leider.

Wer ist denn Wezel?

Johann Carl Wezel. Der ist etwas früher als Jean Paul geboren und mindestens so komisch, und auch der führt eine großartige Sprache. Aber er ist auch ein Künder der menschlichen Gemeinheiten, der Niedertracht, des Neids, und ich nehme an, darum ist er abgelehnt worden, sowas will keiner andauernd lesen. Die Leute haben Angst vor ihm bekommen, und er wurde auch etwas verrückt. Also bloß schnell vergessen, und Jean Paul kennt nun jeder. Die Literaturgeschichte ist, wie jede, bisweilen ungerecht und gemein. Und diese menschliche Boshaftigkeit war eben Wezels Thema, der hat sich den Galgen selbst gemalt. Arno Schmidt hat vor Jahrzehnten seinen Belphegor bekannt gemacht und geschwärmt. Hermann und Ulrike ist ein ganz köstlicher Roman, amüsant, und nach jedem Satz dachte ich: Wer kann so noch schreiben? Er war kurz berühmt, Wieland hat ihn geliebt, Gellert, dann ist er blitzschnell vergessen worden, völlig verarmt, Psychokrüppel, Wrack. Und Schluß und weg. So wird mir das auch gehen!

Wie kommen Sie denn darauf?

Ja, wer liest mich denn? In Deutschland, Österreich, Schweiz vielleicht dreitausend Leute. Und wer liest denn bald überhaupt noch? Und kann noch lesen? Vielleicht werden mal ein paar chinesische Germanisten an mir rumlutschen, bis sie da auch nicht mehr lesen wollen, sondern lieber daddeln und beten wie hier.

Beten?

Ja, was zum Anbeten, Teilung der Welt in Gut und Böse, und dann gib ihm Saures! Gnosis. Ist schön einfach. Kann der Digitalgott sein, der Islam, was Klassisches, Nationalherrlichkeit oder die Ökoreligion oder der Sozialismus, Hauptsache schön manichäisch und dumpf. Na, ich will jetzt nicht theologisch werden, ist ohnehin eine verstiegene Marotte von mir, da wird’s immer etwas zu außerirdisch. Man kann auch metaphysisch sagen oder transzendent, klingt aber hochgeschraubter als außerirdisch.

Was lesen Sie gerade?

Verschiedenes immer gleichzeitig. Die Aphorismen von Karl Kraus habe ich zum ersten Mal jetzt allesamt gelesen.

Gut, oder?

Das finde ich gar nicht. Der hat so einen apodiktischen Gestus, so was Rechthaberisches, das ist schon mal abstoßend. Drei Sprüche in dem Buch waren richtig gut. Sonst ist es fad, überholt, zu zeitverhaftet. Aphorismen sind hohe Kunst.

Wer kann es?

Cioran, Gomez Davila? Der erste ist allerdings Berufsweltschmerzler und der zweite hat es arg mit den Katholiken. Da muß man durch, dann geht es und ist schön.

Nietzsche?

Der hat gute Ideen und extemporiert sie auf ein bis zwei Seiten. Ein guter Aphorismus umfaßt zwei Sätze, und er spricht damit die halbe oder die anderthalbe Wahrheit aus. Das ist übrigens einer der guten Sprüche von Kraus.

Ein paar gute Sprüche haben Sie auch kreiert.

Es sind drei, wenn ich recht zähle: Gute Kunst setzt sich durch, weil man gut nennt, was sich durchsetzt. Wenn Sport der Bruder der Arbeit ist, dann ist Kunst die Cousine der Arbeitslosigkeit. Und dann noch: Kunst ist schlimmer als Heimweh. Der fällt schon ab.

Es gibt noch welche, aber die wollen mir jetzt nicht einfallen.

Dann sind sie nicht gut.

Was lesen Sie noch? Können Sie auch was empfehlen?

Die Memoiren der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth.

Sowas lesen Sie?

Das ist das Frechste und Intelligenteste, was ich seit langem gelesen habe! Sie war Tochter des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm, und Friedrich der Große war ihr kleiner Lieblingsbruder. Eine freche, humorvolle Person. Was die so über die Zustände am Hof berichtet, paßt weder den antifeudalen Revolutionären noch den Monarchisten ins Bild. Als ihre Aufzeichnungen lange nach ihrem Tod veröffentlicht wurden, wollte es keiner glauben. Sie schildert Intrigen, Mißgunst, Launen, ist von brutalen Erzieherinnen umgeben und hungert und friert oft, der Soldatenkönig war geizig und furchtbar launisch, brutal bisweilen. Und die Kutschfahrten, ständig fallen die um, im Winter kalte, endlose Reisen. Feine Sprache. Eine großartige Frau.

Lesen Sie gerade einen Roman?

Gogol habe ich wieder gelesen, aktuelle Belletristik lasse ich aus. Ich gucke mir zehn Seiten von Kollegen an. Das war’s dann meist. Ich lese Theorie, Theologie, Biographien. So viele Bücher im Leben schafft man nicht.

Da muß man eine Auswahl treffen.

Man muß sie nicht alle lesen, es reicht, einige zu haben.

Die stehen dann als Schaustücke in Ihrer Bibliothek rum?

Ja. Meine Denkschule vertritt nämlich die Ansicht, daß auch ungelesene oder herumgetragene oder um einen Menschen herumstehende Bücher ihren Gehalt sehr wohl abstrahlen. Da wirken interaktive und passive Kräfte.

Ernsthaft?! Ist das auch theologisch fundiert?

Die gewissenhafte Literaturtheorie geht nicht ganz ohne Grund davon aus, daß ein Text nur als vollständig gelesener im Leser lebendig werden kann und den Leser belebt, wie auch immer. Das stimmt, aber da habe ich höhere, gewissermaßen überirdische Erfahrungen. Ich empfehle, nie ohne Buch herumzulaufen, nie ohne Buch zu reisen, auch wenn man sie dann nicht liest, und man soll üppige Bibliotheken besuchen, auch wenn man dort nur breit grinsend rumsitzt, und man halte sich auch eine stattliche Buchsammlung zu Hause. Es müssen gute Bücher sein, eine schlechte Bibliothek verdirbt, eine gute befördert, lektürisch wie atmosphärisch. Da walten aktiv interpassive Strahlkräfte.

Hm. Sie behaupten, über Ihrer Sippe läge ein seelischer Fluch, der en masse manisch-depressive, durchgeknallte Menschen produziere.

Erwähnen Sie das jetzt, weil ich was von interpassiven Buchstrahlungen habe verlauten lassen?

Nee, weil ich das in Ihren Gottesbeweisen gelesen habe.

Na ja, diese etwas überzogenen Äußerungen meine Familie betreffend konnte ich mir nicht verkneifen, als ich Vollwaise wurde. Von dem Moment an dachte ich: Das waren prima Leute, aber du mußt ihnen literarisch noch mal einen ordentlichen Arschtritt verpassen, weil man sich das vorher immer verkneifen mußte. Meine Mutter saß doch im Alter immer in der ersten Reihe und untersuchte meine Bücher psychoanalytisch, woran ich selbst schuld bin, weil ich ihr Freud nahebrachte. Ich bereue diesen Schmäh aber, sowas macht man nicht. Es reicht, wenn ich mir den eigenen Irrsinn vom Hals schreibe. Die Ahnen soll man lassen ruhen und gebührend liebhaben, denn das haben meine unterm Strich allemal verdient.

Was steht denn bei Ihren Eltern auf dem Grab?

Nur Kapielski. Meine Mutter dachte da praktisch: Wer weiß, wer von uns allen da noch ins Loch passen muß? Jetzt ist dieser Friedhof aber vor kurzem als Bauland ausgewiesen worden, und wir mußten das Feld räumen. Das läuft ganz schnöde ab, du bekommst vom Friedhofsamt einen Brief: entweder Umbettung und dort dann Liegerecht für weitere zwanzig Jahre und sechstausend Umzugskosten – wollte meine Schwester nicht, meine Nichte nicht, wollte keiner –, oder wir, das Amt, räumen das kostenlos, wenn Sie uns den Stein überlassen und einfach verschwinden. Da versteht man doch gleich, was die Friedhofsherrschaft wünscht. Da haben wir zugestimmt, und den Stein wollte ich wenig später klauen, aber wie? Der wiegt fast dreihundert Kilo, und wohin damit? Alles sehr schnöde. Die Toten sind Abfall. Etwas Gehabe noch und dann weg. Die meisten schleichen sich sowieso davon, anonym wollen sie beerdigt werden.

Und Sie?

Ich arbeite dran, daß ich ein Ehrengrab des Berliner Senats bekomme, die harken das dann auf ihre Kosten, und meine Nachfahren sind fein raus.

Und welche Inschrift soll auf Ihrem Grabstein stehen?

Ich neige derzeit zu: Macht bloß so weiter!

2. Maas, Merve, Müll

1.

Wie war Ihr erster Verleger Erich Maas? Er ist so früh gestorben; ich hatte nie Gelegenheit, ihn kennenzulernen.

Vor Erich Maas, der Verleger meines ersten, na, sozusagen echt literarischen Werkes Aqua botulus war, was auch nicht ganz stimmt, denn es ist ja fast auch ein Fotobuch, also vor Erich Maas kannte ich einen Verleger, den ich schon geschätzt habe, bevor ich ihn, oder besser sie beide dann kennenlernte.

Sie meinen Peter Gente und Heidi Paris vom Merve Verlag?

Ja. Aber ich fange mal kurz und etwas umwegig damit an: Ich war von später Kindheit an von tiefster philosophischer Wißbegierde beseelt, wenn man das mal so schwulstig und eitel sagen darf, was aber auch schwierige Seiten hatte, weil ich meine Lehrer und meine Eltern natürlich und sonst welche Bibliotheksleute und Onkels mit Fragen und Einwänden irre machte, und der beste Gesprächspartner war da neben einem Freund mein Großvater, ein schlesischer Förster, der die ganzen vier Jahre Ersten Weltkrieg im Schützengraben verbracht und überlebt hat, sonst gäbe es meine Mutter gar nicht und mich auch nicht! Der Mann trug immer seine Forstuniform und hatte vom Wald und vom Krieg her so eine unglaubliche Ruhe und Bedachtsamkeit, das war ein Waldstoiker, ein praktischer wie theoretischer, und er war ein alter Krieger im besten Sinne noch, ein wohl- und gut selbsterzogener Mann, vertraut mit Tod und Angst und Weltübel, und er war ein gottesfürchtiger Agnostiker, wenn es sowas überhaupt geben kann, aber bei ihm gab es das; den liebte ich sehr, und dann sprachen wir so über den Sinn des Lebens und Gott, daß sich alle nur wunderten.

Erzählen Sie mal, Großväter interessieren mich, weil ich einen hatte, den ich auch sehr mochte.

Das war so ein Mann, dem sich mal eben im Wald ein Vogel zutraulich auf den Hut setzte, und dann sprach er etwas mit ihm und man trennte sich einvernehmlich. Heute sind die Menschen zu nervös für sowas, aber er hatte eine ganz besondere Ruhe. »Warum soll man den Tod fürchten?« fragte er mich. »Ich fürchte ihn nicht!« erwiderte ich. »Du bist noch jung, die meisten fürchten sich später.« »Ist er denn so schlimm, der Tod?« fragte ich. »Ach was, man löst sich auf im Weltall und ist dann ohne Schmerz und Nöte, ohne Zeit und Raum.« »Aber das Weltall ist doch ein Raum, der in der Zeit ist.« Sowas sagte ich. Und er sagte: »Davon weiß das Weltall aber nüscht, das denken sich die Menschen hinzu, und die krallen sich an den Mühen des Lebens fest, weil sie wissen, daß sie sterben werden und Angst davor haben.« Sowas sagte er, blieb dabei stehen und blickte dann so hinauf in die Bäume, ob sie ihm zustimmen, und dann stimmten tatsächlich die Vögel zu und wahrscheinlich auch das Weltall. So, dann war ich wieder dran: »Ich schätze, einer Qualle oder so einem Käfer da geht es besser.« »Mag sein. Dieser Fichte hier geht es sogar sehr gut!« meinte er und klopfte mit seinem Stock dran. »Woher weißt du das, Opa?« »Das sehe und höre ich.« So gingen wir immer im Wald spazieren, aber meistens schwiegen wir einträchtig. Und was den Tod betrifft, empfinde ich heute noch ebenso wie er. Was ich stark erinnere, ist, daß er so angenehm, so wohlig gerochen hat.

Das erinnere ich auch stark. Meine Großeltern waren einfache Bauern, da roch es immer so gut. Die Küche, wo man wohnte, da roch es nach eingewecktem Obst, nach Brot, nach dem Herd, der mit Holz geheizt wurde. Auch milchig und nach Dörrobst hat es gerochen und mittags nach gebratenem Speck. Im Sommer kamen Düfte von draußen rein, und es herrschte eine milde Kühle. Und mein Opa selbst hatte einen unglaublich angenehmen Körpergeruch, dabei wuschen sie sich damals nicht so viel wie heute.

Leute, die sich ständig duschen und waschen, fangen an zu riechen, und dann kleistern sie sich Parfüm drüber und es ist ganz aus mit dem natürlichen Körperduft.

Wenn mein Opa verschwitzt und dreckig vom Feld kam, hat ihn die Oma mit einem Schlauch mit kaltem Wasser abgespritzt. Und dann hat er sich höchstens mit Kernseife gewaschen. Er stand da in der nassen Unterhose, die Scham mußte immer bedeckt sein, und wir Kinder durften zugucken und wurden im Sommer auch naßgespritzt. Meine Oma hat ihre intimen Wäschen immer allein erledigt, da durfte keiner zusehen. Im Winter wurde warmes Wasser vom Herd in eine kleine Wanne geschüttet. Beide Großeltern rochen unterschiedlich und einfach gut, so menschlich und behaglich. Beide sind längst tot; der ganze Lebensstil ist tot.

Die um 1900 Geborenen haben zwei ungeheuerliche Brüche mitmachen müssen: Nach langem, gleichbleibendem Frieden den Ersten Weltkrieg, und da war dann die Monarchie weg, und es wurde eng und turbulent in den Städten und es wurde industrieller …

Was man auf dem Land nicht so mitbekam, da schien noch alles so wie immer zu sein, und auch zu bleiben.

Mein Großvater war ein schlesischer, kaisertreuer Preuße, vier Jahre war er im Krieg, und dann Revolution. Da hat er sich dann in Schlesien im Wald verkrochen und die Familie gegründet. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg war auch noch Schlesien weg, und dann kamen die Landmaschinen, die Mähmaschinen, Düngemittel und der Fortschritt.

Meine Großeltern hatten auf dem Bauernhof im Grunde alles selbst gemacht, und dann wurde plötzlich viel eingekauft. Da gab es dann Persil statt Kernseife und Soda, und die Seifen waren parfümiert.

Man hat mir erzählt, daß mein Großvater in Schlesien nie daheim auf das stinkige Plumpsklo hinten im Garten ging, man wunderte sich schon, wie der das macht. Aber er war als Förster täglich im Wald und gab das Seinige dort zurück in die natürlichen Kreisläufe. Er schickte das schon mal ins Weltall voraus oder einstweilen in den Limbus, bis am Jüngsten Tag die Endlagerung im Himmel oder in der Hölle entschieden wird.

Hat er das geglaubt und Ihnen erzählt?

Nein, das habe ich kürzlich gelesen; das hat der Benediktiner Honorius von Autun im 12. Jahrhundert eingehend erörtert in einem Elucidarium, einer Erleuchterschrift also. Ich bitte um Nachsicht, das ist so ein Spezialgebiet von mir, theologische Spinnereien, die muß ich dann irgendwo anbringen …

Warum nicht, wenn sie unterhaltsam sind?!

Also Förster Nickel war Preuße im besten Sinne, von altfritzischer, echter und gelebter Toleranz beseelt, keiner laschen Toleranz, sondern einer, die sich zu bewahren und wehren weiß; er war sehr diszipliniert, sehr tugendvoll, höflich und genügsam. Da wurde kein altes Brot weggeworfen, aus der Weihnachtsbaumspitze hat er einen Holzquirl geschnitzt und die Reste verheizt. Wobei auch sparsam geheizt wurde. Das warme Bad gab es einmal die Woche, im Sommer stieg man in die Oder. Da macht man sich heute lustig über diese ollen Tugenden, aber wenn Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und die Mühe, Gutes zu tun, futsch sind, dann gucken alle blöd in die Röhre und stehen an der Bushaltestelle und warten.

Wie hat denn ihr Vater das gefunden, der war doch wohl eher links?

Mein Vater war Proletarier und Großstädter und ehedem Kommunist, und meiner Mutter Vater, also sein Schwiegervater, der Waldmensch, das waren beträchtliche Gegensätze, aber sie erkannten diesen jeweils guten Kern beim anderen und schätzten sich. Mein Vater war als Kommunist bei den Nationalsozialisten in Haft gewesen und wurde enorm schikaniert; mein Großvater war als Patriot und Honoratior des Dorfes in die NS-Partei eingetreten. Mein Vater hat es dann irgendwie nachvollziehen können und ihm nachgesehen, und meinen Großvater hat es gereut, das hat sein ausgeprägtes Gewissen sehr belastet; er hätte preußisch-kaisertreu bleiben wollen und sollen, das hat er sich zum Vorwurf gemacht. Aber mein Vater sagte: »Der Mensch macht Fehler und kann sich irren, im Herzen ist er ein guter Mensch, der gelernt hat und büßt.«

Das ist hochherzig.

Waren beide. Im Zweiten Weltkrieg war mein Großvater dann nicht mehr Soldat. Als die Russen anrollten, hat er seine Frau und die jüngere Tochter nach Westen gebracht, meine Mutter war schon Krankenschwester in Berlin, und er ist gleich zurück und hat versucht, sein Haus und den Garten zu retten, und hat seinen Wald beschützt bis zuletzt. Als klar war, was passieren wird, hat er das Haus in der Hoffnung auf Rückkehr etwas gesichert und vernagelt und ist zur Familie nach Westen marschiert, täglich fünfzig Kilometer bei wenig Nahrung, ein Soldat eben, und schneller rollten auch die Panzer nicht hinter ihm her. Dann wohnten die Großeltern bei Torgau, gingen später dann in ein Dorf bei Uslar, wo ich oft in den Ferien war. Den Verlust seiner Heimat hat er nie verwunden, das kann ein Städter und Globalnomade nicht nachvollziehen, aber eine Revanche wünschte er nicht, und auch von den Vereinen der Heimatvertriebenen hat er sich ferngehalten und gemeint: »Wir haben den Krieg verloren, das müssen wir würdevoll und demütig und mit Haltung ertragen.«

Das haben meine Großeltern ähnlich gesehen, aber sie haben ihren Hof nicht verloren.

Mein Vater gehörte letztlich zu den Siegern, hatte recht behalten, hat aber davon gar nichts gehabt und auch kein Aufheben davon gemacht, obwohl er sehr beschädigt wurde. Später bekam er mal etwas Geld, einen Lastenausgleich, eine Wiedergutmachung, so hieß das in den sechziger Jahren. Weniges läßt sich mit Geld wiedergutmachen oder zurückkaufen. Die schönen Jahre zwischen dreißig und vierzig waren hin und futsch für ihn.

Und Ihre Großeltern wohnten dann wieder auf dem Dorf bei Uslar?

Da hatten sie eine kleine Mietwohnung am Dorfrand von Dellihausen. Er war immer Privatförster bei Adligen gewesen und nun im Ruhestand, aber er trug immer noch die Forstuniform. Er hatte da in der Wohnung einen tragbaren Schallplattenspieler, in den Deckel war der kleine Lautsprecher eingebaut, und er besaß drei Platten mit Marschmusik und eine Matthäuspassion. Die Märsche hörte er gern, und wenn ich, als Kind noch, zu Besuch war, gab er mir einen Besen über die Schulter und exerzierte mit mir. Ich liebte das, und es war das mein intensivstes und euphorischstes Körper- und Musikerleben vor der Beatmusik, die mich dann mit fünfzehn durch und durch packte und aufflammen ließ, wobei da noch die Erotik hinzukam.

Was hat denn Ihr Vater zur Marschmusik gesagt?

Meinen Vater hat’s irre gemacht, dieses Marschieren, aber er hat es akzeptiert; er hatte im Grunde auch so eine preußische Toleranz, das hatten gerade auch Arbeiter. Auch dieses preußische Dienst- und Pflichtethos, das ich auch stark habe und wozu ich stehe. Spielzeugpanzer gab’s nicht bei ihm, auch Pistolen nicht, aber: »Soll der Junge doch bißchen exerzieren und sich bewegen lernen!« Später schaffte mein Vater auch einen Plattenspieler an, und er hatte auch drei Platten, von James Last, darunter eine mit Weihnachtsmotiven. Die hörten wir immer unfreiwillig an – na, was wohl? – Weihnachten und schon im Advent.

Beide Richtungen nehmen sich im Grunde nicht viel, jeweils Körperbewegung mit Zeitgefühl oder Zeitgeist vermengt.

Tja, wat ist nu besser? Wobei James Last später bei der Jugend noch mal groß in Mode kam. Da war mein alter Herr aber schon tot. Und auf diesem Plattenspieler liefen dann auch meine und meiner Schwester ersten Singles: No Milk Today hörte Schwesterchen und ich so Sachen wie Wild Thing von den Troggs. Das war dann schon 1965, 66, da waren wir dreizehn und vierzehn Jahre alt.

Sie haben von den Eltern der Mutter erzählt, was waren denn die Eltern Ihres Vaters für welche?

Das weiß keiner, das wußte nicht mal meine Mutter; er war unehelich geboren, hat vom Vater nichts gewußt und von seiner Mutter nichts wissen und nichts erzählen wollen. Er kam aus dem Nichts, ein Mann ohne Herkunft, nur der Name ist auf uns gekommen und geblieben: Kapielski. Mit mir stirbt er womöglich aus.

Hatte Ihre Mutter auch so ein beseeltes Gemüt wie Ihr Großvater?

Das habe ich noch nie so betrachtet, aber wenn Sie das so sagen, ja, dann war sie auch so ein niedergefahrener Engel, herabgeschickt, um den entsetzlichen Weltzustand damals etwas zu heilen und auch meinen Vater zu trösten, der stark beschädigt war durch die Weltumstände, durch Haft und Angst.

Wollen wir jetzt auf Erich Maas und Merve zu sprechen kommen?

Ja, ich war, wie gesagt, ein ziemlich vergrübelter Bursche, der unter der Bettdecke nicht aufhören konnte zu lesen und sich so die Augen verdorben hat. Da stehen wir so an der Bushaltestelle: »Mutti, ich sehe um die Lichter so schiefe Kreise und es ist unscharf.« »Na, da müssen wir mal zum Augenarzt, Thomasow!« So wurde ich geschlechtsreif und bekam eine Brille. Eine schwierige Kombination damals, aus der uns John Lennon rettete, weil der dann offen die Nickelbrille trug und das in Mode brachte. Nur die Optiker hatten Schwierigkeiten: »Mein Gott, diese Fahrradgestelle, die gibt’s doch seit dem Krieg nicht mehr, wir haben jetzt modische Gestelle!« Ich wollte aber keine modischen Gestelle, und Sechzigerjahre und modisch, du liebe Güte! Ich war immer schon Ästhet und recht stilsicher, bis auf pubertäre Ausrutscher, aber auch eigensinnig. Modisch war, vor allem damals, grauenvoll. Also: »Eine runde Brille, sonst jakeene!« Da hat mir der Opticus dann was besorgt, und ich war schick. Der Brillenträger war nicht mehr der doofe Heini bei den Frolleins, die auch mehr und mehr Brillen brauchten.

Ich weiß, was Sie meinen, obwohl in meinem Jahrgang dann schon über die Hälfte, auch der Mädchen, eine Brille tragen mußte. Damit konnte man keinen mehr aufziehen.

Es paßte dann schon. Als junger Mann habe ich immer schon mehr Philosophen, Theologen und Historiker als reine Dichtung und Romane gelesen, und mit sechzehn schon Hegel, den ich damals besser verstanden und leichter gelesen habe als heute. Und Marx natürlich, wobei Engels der bessere Stilist ist, der bessere Dichter.

Eine jetzt naheliegende Frage: Haben Sie Karl May gelesen? Die Jahrgänge vor uns haben wie besessen Karl May gelesen.