Lebensalter - Christian Grethlein - E-Book

Lebensalter E-Book

Christian Grethlein

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Beschreibung

Menschen leben in verschiedenem Alter. Welchen Sinn hat das? Historisch zeigt sich, dass die Lebensalter immer wieder neu verstanden werden. Teilweise verdanken sie sich – wie "Kindheit", "Jugend" oder "Drittes Alter" – bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen. Biblisch eröffnet das Kinder-Evangelium (Mk 10,13-16) eine neue Perspektive. Nicht die leistungsfähigen Erwachsenen, sondern die auf Zuwendung angewiesenen Kinder erscheinen als beispielhaft für menschliches Leben. Ähnliches gilt wohl für pflegebedürftige Alte. Von daher gewinnt eine schöpfungstheologisch begründete Sicht auf die Lebensalter eine eminent gesellschaftskritische Ausrichtung. Sie weist auf eine Lebensform hin, die nicht Welt verbraucht, sondern sich empfangend zur Schöpfung und damit zu Gott verhält. Stages of Life. A Theological Theory People live at different stages of life. What is the meaning of this? Historically it has been shown that the stages of life are always understood anew. The view on some of them – such as "childhood", "youth" or "third age" – depends on certain social constellations. Biblically the children's gospel (Mk 10,13-16) opens a new perspective. Not the capable adults, but the children, dependent on caring, appear as exemplary for human life. The same applies to old people in need of care. For this reason, a view on the stages of life based on a theology of creation gains an eminently socio-critical orientation. It points to a way of life that does not consume the world, but that behaves in a receiving way towards creation and thus towards God.

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Christian Grethlein

Lebensalter

Eine theologische Theorie

Christian Grethlein, Dr. theol., Jahrgang 1954, lehrte in Berlin, Halle und jetzt Münster Praktische Theologie mit einem Schwerpunkt in Religionspädagogik. Von 2006 bis 2009 war er Vorsitzender des Evangelisch- Theologischen Fakultätentags, von 2010-2012 Opus-magnum-Stipendiat der VolkswagenStiftung.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH • Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: makena plangrafik, Leipzig

Satz: 3W+P, Rimpar

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

ISBN 978-3-374-06013-9

www.eva-leipzig.de

INHALT

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Vorwort

Einführung: Leben in den Zeiten

IHauptteil – Kontextuelle und theologische Grundlagen

1.Kapitel: Kontext

1.1Veränderungen der Zeit

1.2Veränderungen der Gemeinschaft

1.3Digitalisierung der Kommunikation

1.4Zusammenfassung

2.Kapitel: Theologische Einsichten

2.1Veränderungen der Zeit

2.2Veränderungen der Gemeinschaft

2.3Christsein als Lebensform

2.4Zusammenfassung

IIHauptteil – Lebensalter

3.Kapitel: Strukturierungen des Lebens

3.1Periodisierungen des Lebenszyklus

3.2Abfolge der Generationen

3.3Differenzierungen nach Milieus

3.4Theologische Perspektive

4.Kapitel: Kindheiten

4.1Historische Perspektive

4.2Medizinische Perspektive

4.3Institutionelle Perspektive

4.4Sozialpädagogische Perspektive

4.5Theologische Perspektive

4.6Zusammenfassung

5.Kapitel: Jugend

5.1Historische Perspektive

5.2Medizinische Perspektive

5.3Institutionelle Perspektive

5.4Sozialpädagogische Perspektive

5.5Theologische Perspektive

5.6Zusammenfassung

6.Kapitel: Erwachsen-Sein

6.1Historische Perspektive

6.2Medizinische Perspektive

6.3Institutionelle Perspektive

6.4Sozialpädagogische Perspektive

6.5Theologische Perspektive

6.6Zusammenfassung

7.Kapitel: Alt-Sein

7.1Historische Perspektive

7.2Medizinische Perspektive

7.3Institutionelle Perspektive

7.4Sozialpädagogische Dimension

7.5Theologische Perspektive

7.6Zusammenfassung

8.Kapitel: Zusammenfassung und Ausblick

8.1Präferenzen der Lebensalter im Kontext

8.2Grundspannungen der Lebensalter

8.3Theologische Perspektive

IIIHauptteil – Abweichungen im Lebenslauf

9.Kapitel: Irritationen

9.1Tod im Umfeld der Geburt

9.2Früher Tod durch Krankheit

9.3Behinderungserfahrungen

9.4Zusammenfassung

Ausblick: Leben jenseits des Todes

Weitere Bücher

Endnoten

VORWORT

»Amen, ich sage euch, der, der die Königsherrschaft Gottes nicht aufnimmt wie ein Kind, kommt nicht in sie hinein.« (Mk 10,15)

Nicht die leistungsfähigen und aktiven Erwachsenen – wie sonst in den meisten Konzeptionen zu den Lebensaltern –, sondern die schwachen, pflegebedürftigen Kinder haben nach Jesu Einsicht besondere Bedeutung. Sie stehen in einzigartiger Nähe zur Gottesherrschaft. Nicht der scheinbar so attraktive »Homo oeconomicus« bzw. »Homo faber« setzt den Maßstab, sondern Menschen, die offenkundig auf Hilfe und Pflege angewiesen sind und sie annehmen. Was bedeutet dies für unsere heutige Gesellschaft mit ihrer wachstumsfixierten Ökonomie, zunehmenden Beschleunigung und ressourcenverbrauchenden Technisierung? Welchen Sinn tragen die verschiedenen Lebensalter in sich? Warum werden wir so hilflos geboren und scheiden ähnlich wieder aus dem Leben?

Diese Fragen beschäftigen mich seit langem, nicht zuletzt als Vater und Großvater. Dazu treten Gespräche mit alten Menschen, seit langem mit meinen beiden Eltern. Neue Horizonte eröffnet mir auch Beate Hannig-Grethlein, die seit Jahrzehnten in vorbildlicher Weise Menschen mit Behinderungserfahrung begleitet. Schließlich prägte mich als kleines Kind meine im Familienhaushalt lebende, »alte« Großmutter. Sie ging täglich mit mir aus und sah – ruhig auf einer Bank sitzend – wohlwollend zu, wie ich die Welt im Spiel zu verstehen suchte. Ihr, Lisbeth Johanna Katharina Grethlein (1897–1984), meiner »Mumama«, sei dieses Bändchen in bleibender Verbundenheit gewidmet. Ich verdanke ihr viel.

Dazu danke ich PD Dr. Anna-Katharina Lienau, Claudia Rüdiger M.A. und Dr. Erhard Holze für die freundliche Lektüre des Manuskripts vorab sowie Verbesserungen und Hinweise, die ich gern aufgenommen habe. Es ist für mich ein großes Glück, mit ihnen arbeiten zu dürfen.

Formal sei darauf hingewiesen, dass ich Literatur beim ersten Vorkommen in jedem Kapitel vollständig nenne, im Weiteren nur noch abgekürzt (Familienname des Verfassers, erstes Substantiv des Titels). Bei Abkürzungen folge ich den Vorschlägen der 4RGG.

Weihnachten, Geburtsfest des Kindes in der Krippe 2018

Christian Grethlein

EINFÜHRUNG

LEBEN IN DEN ZEITEN

Spätestens seit dem Bericht des Club of Rome zu den »Grenzen des Wachstums« 19721 ist grundsätzlich klar: Die seit Jahrzehnten verfolgte, auf numerisches Wachstum und Beschleunigung angelegte Entwicklung der heutigen technischen Zivilisation kann nicht auf Dauer weitergehen. Inzwischen mehren sich auch in den westlichen Ländern Veränderungen vor allem im klimatischen Bereich, die das theoretisch Vorhergesagte lebensweltlich spürbar machen. Bruno Latour formulierte das dahinter stehende Grundproblem der Zerstörung von Lebensgrundlagen der Erde in der anschaulichen und zugleich bedrohlichen Metapher des Kriegs gegen Gaia:

»Keine Polemologie bereitet uns auf dermaßen asymmetrische Kriege vor, daß wir gleichzeitig hilflos vor Gaia stehen, die sich hilflos vor uns befindet, aber die immerhin, sagt man, sich von uns, den Erdenbewohnern, befreien kann. Merkwürdiger Krieg, den wir nur verlieren können: Wenn wir gewinnen, verlieren wir; wenn wir verlieren, verlieren wir ebenfalls […]«2

Zugleich ist zu beobachten, dass seit langem Menschen im jüngeren bis mittleren Erwachsenenalter, also die physisch leistungsfähigsten, Gesellschaft dominieren. Bereits Romano Guardini bezeichnete im Kontext des Wiederaufbaus nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs dieses Lebensalter als »Norm«.3 Kinder und Alte treten demgegenüber zurück:

»Das Altwerden wird zurückgeschraubt, und es entsteht das Idealbild des Menschen, der immer zwanzig Jahre hat, bei Männern wie bei Frauen – ein ebenso törichtes wie feiges Geschöpf. Auf der anderen Seite geht das Kind verloren, und an seine Stelle tritt der kleine Erwachsene, ein Geschöpf, in welchem die inneren Quellen zum Versiegen gebracht werden. Beides aber bedeutet eine Verarmung des Lebens.«4

Über sechzig Jahre später bestätigt der Kultursoziologe Andreas Reckwitz unter dem Stichwort »juvenilisierte Spätmoderne« diese Diagnose:

»[…] Jugendlichkeit als kulturelles Muster wird für alle Altersstufen attraktiv und dominant. Dabei enthält der singularistische Lebensstil der neuen Mittelklasse nachgerade eine innere Affinität zur Jugendlichkeit. Ein kulturelles Muster von (moderater) Jugendlichkeit prägt ihren aktivistischen Lebensstil, der einen Anspruch auf Selbstverwirklichung und ›Offenheit‹ erhebt, in Freizeit und Beruf nach neuen Erfahrungen strebt, der urban ist und sich durch erheblichen körperlichen Bewegungsdrang auszeichnet. In der juvenilisierten Spätmoderne ist das Gegenteil von Jugendlichkeit nicht mehr die erwachsene Reife, sondern Ältlichkeit.«5

Demnach erscheint Alt-Werden als etwas zu Bekämpfendes, wie die sog. »Anti-Aging«-Produkte der Kosmetikindustrie suggerieren. Die Unerwünschtheit vieler Kinder geht aus den offiziellen Abtreibungszahlen hervor, in Deutschland 2017 101.200, also jede siebte Schwangerschaft, weltweit etwa 56 Millionen.6 Dazu finden sich Kinder und Alte zunehmend an besonderen Orten segregiert, an denen sie die Geschäftigkeit der »im Leben Stehenden« nicht stören können: in Kindertagesstätten (Kitas), Ganztagsschulen, Pflegeheimen oder Krankenhäusern.

Diese beiden, jetzt nur stichwortartig angedeuteten Perspektiven lassen mich vermuten, dass die suizidale Grundstruktur gegenwärtiger Gesellschaft einen wichtigen Grund u. a. auch darin hat, dass die Pluralität und Pluriformität der Lebensalter radikal reduziert werden. In der Öffentlichkeit kommt dies in haushaltsbezogenen Debatten hinsichtlich der Ausgaben für Pflege und Renten, aber auch von Ausbildungsstätten wie Schulen oder Universitäten zum Ausdruck. Von daher ist eine Reflexion auf die Lebensalter, ihre jeweiligen Besonderheiten, Chancen und Grenzen, heute zugleich ein eminent gesellschaftskritisches Vorhaben.

Konkret geht es mir vor diesem Hintergrund in vorliegendem Buch darum, dem Sinn der verschiedenen Lebensalter auf die Spur zu kommen. Theologisch bewege ich mich dabei – und hier sind die ökologischen und die lebensaltersbezogenen Probleme direkt miteinander verbunden – im Bereich der Schöpfungstheologie. Sie umfasst der Eigenart von Menschen entsprechend zugleich eine Auseinandersetzung mit dem jeweiligen kulturellen und sozialen Kontext: Denn:

»Gott ist als unterschiedene Einheit von Vater, Geist und Sohn dreifach auf seine Schöpfung bezogen: als zeitloser Grund von allem, als vielzeitiger Begleiter von jedem und als zeitlicher Vermittler des Heils in der bestimmten Lebens-Zeit Jesu Christi und aller, die an ihn glauben.«7

Dem entspricht die kontextuell bedingte Unterschiedlichkeit der jeweiligen Konstruktionen von Zeit und damit auch von Lebensalter. Robert Levine zeigt anschaulich in seiner »Geography of Time«, wie verschieden bis heute – bei allen Gemeinsamkeiten der technischen und ökonomischen Entwicklung – der konkrete Umgang mit Zeit in einzelnen Ländern ist.8 Ich beschränke mich – pars pro toto – im Folgenden weitgehend auf den Bereich von Deutschland bzw. den deutschsprachigen Bereich. Damit steht eine Region im Fokus, in der die Beschleunigung im Alltag besonders weit vorangeschritten ist.9

1.LEBEN UND ZEIT

Menschen leben »in den Zeiten«. Unser Leben ist in mehrfacher Hinsicht mit Zeit verknüpft. Zum ersten verändern wir uns im Lauf der Zeit. Unser Leben beginnt im Mutterleib, es folgen heute in der Regel Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter – so eine traditionelle, biologisch orientierte Gliederung menschlichen Lebens in der Zeit. Tatsächlich verändern sich Moleküle, Gene, Chromosomen, Zellen und Organfunktionen10 und damit die Menschen in ihrer Leiblichkeit und Kognition im Lauf des Lebens. Und mit diesen Veränderungen ist biologisch-medizinisch ein Abbauprozess verbunden:

»Per definitionem ist Altern ein dynamischer Prozess, der eine fortschreitende Störung physiologischer Aktivitäten beschreibt, die die Fähigkeit des Organismus verändert, seine eigene Homöostase zu behaupten und dadurch die Empfänglichkeit des Organismus für Krankheit und Tod erhöht.«11

Doch sind mit den eben genannten, umgangssprachlich heute üblichen Begriffen und Periodisierungen zugleich normative Implikationen verbunden, die kontextuell bestimmt sind. Eindrücklich zeigt Achim Landwehr am Beispiel von Kalendern, wie im 17. Jahrhundert Zeit von etwas Vorgegebenem – die Kalender waren voll mit Angaben verschiedenster Art – zu etwas individuell Gestaltbarem wurde – die Kalender enthielten zunehmend Freiräume für eigene Eintragungen.12 Diese tiefgreifende Umstellung im Verhältnis der Menschen zur Zeit hatte Konsequenzen für die Bestimmung von Lebenszeit. Philippe Ariès vermutete erst im 18. Jahrhundert die »Entdeckung der Kindheit«,13 »Jugend« im heute geläufigen Sinn entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts14 und auch »Erwachsensein« und vor allem »Alter«15 haben in den letzten Jahrzehnten erhebliche Veränderungen erfahren.16

So zeigt bereits ein erster Blick auf die Begrifflichkeit: Lebensalter sind nicht nur biologisch, sondern auch kulturell bestimmt. Im Weiteren noch näher auszuführende Veränderungen in der Gegenwart lassen einen weiteren Wandel menschlichen Lebens in der Zeit bzw. angesichts der Ungleichzeitigkeit von Entwicklungen und Situationen – besser: in den Zeiten – erwarten. Grundsätzlich gilt:

»Die modernen Gesellschaften der Länder, die sich früh industrialisiert haben, stehen vor einem Wandel, den es in der Geschichte der Menschheit so noch nicht gegeben hat. Durch die niedrigen Kinderzahlen wachsen die Bevölkerungen kaum noch oder sie schrumpfen bereits […]. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung weiter an. Die Bevölkerung altert somit aus zwei Gründen; weil wenige Menschen nachkommen und viele sehr viel älter werden.«17

2.REFLEXIONEN AUS UNTERSCHIEDLICHEN PERSPEKTIVEN

Schon seit Längerem wird in verschiedenen Perspektiven auf solche Veränderungen im Lebenslauf von Menschen hingewiesen und über deren Sinn nachgedacht:

Religionsphilosophisch legte Romano Guardini 1953 – damals bereits im achten Lebensjahrzehnt stehend – einen kühnen Entwurf zu »Die Lebensalter« vor,18 der in elf Stufen menschliches Leben in seinen Besonderheiten und Gefährdungen skizzierte:

»Das Leben im Mutterschoß, Geburt und Kindheit

Die Krise der Reifung

Der junge Mensch

Die Krise durch Erfahrung

Der mündige Mensch

Die Krise durch die Erfahrung der Grenze

Der ernüchterte Mensch

Die Krise der Loslösung

Der weise Mensch

Der Eintritt ins Greisenalter

Der senile Mensch.«19

Dabei konstruierte der katholische Religionsphilosoph die Lebensalter »in der eigentümlichen Spannung zwischen der Selbigkeit der Person und dem Wandel ihrer näheren Bestimmung«.20 Die sich daraus ergebenden »Lebensgestalten« sind »Wertfiguren«, implizieren also besondere sittliche Aufgaben.21 Eine solche Rekonstruktion eröffnet – wie zitiert – auch kritische Einblicke in den gegenwärtig verbreiteten Umgang mit den Lebensaltern. Insgesamt nimmt das höhere Lebensalter einen besonderen Platz in Guardinis Überlegungen ein. Es hat nicht – wie die vorhergehenden Altersstufen – auch einen Sinn im darauf folgenden Alter, sondern nur in sich selbst:

»Es hängt viel, auch in soziologischer und kultureller Beziehung davon ab, daß verstanden werde, was der alternde Mensch im Zusammenhang des Ganzen bedeutet. Daß der gefährliche Infantilismus überwunden werde, nach welchem nur junges Leben menschlich wertvoll ist. Daß unser Bild vom Dasein die Phase des Alters als Wertelement enthalte und daß damit der Bogen des Lebens voll werde, nicht aber sich in ein Fragment hinein beschränke und den Rest als Abfall ansehe.«22

Statistisch ergeben sich gravierende Veränderungen im Vorkommen der Lebensalter und dem Umgang mit ihnen in den letzten einhundert Jahren (zumindest in unserem Kulturkreis). Dabei liegt auch hier ein Schwergewicht auf dem höheren Lebensalter. Dies zeigt bereits ein kurzer Blick auf die Entwicklung der Lebenserwartung:

Tabelle 1 Veränderung der Lebenserwartung in Deutschland zwischen 1875 und 2013 (in Jahren)23

Jahrgang

Jungen

Mädchen

1875

35,6

38,5

1905

44,8

48,3

1933

59,9

62,8

1950

64,6

68,5

1971

67,4

73,8

1992

72,8

79,0

2013

78,0

82,7

Dazu kommt noch der Rückgang der Geburtenzahlen, die nach dem Zweiten Weltkrieg 1964 in Deutschland am höchsten waren:

Tabelle 2 Geburtenzahlen in Deutschland (1964–2014)

Jahr

Zahl der Geburten (in Tausend)24

1964

1.357

1969

1.142

1974

806

1979

817

1984

812

1989

889

1994

770

1999

771

2004

706

2009

665

2014

715

Daraus ergibt sich eine – gegenüber früheren Zeiten (und anderen Gesellschaften, etwa in Afrika oder Asien) – deutliche Veränderung des Gesamtaufbaus der Bevölkerung:

Tabelle 3 Altersverteilung in Deutschland in Prozenten (2017)25

Lebensjahre

Männer

Frauen

Insgesamt

100+

0,0

0,0

0,0

95–99

0,0

0,1

0,1

90–94

0,2

0,6

0,8

85–89

0,6

1,2

1,8

80–84

1,4

2,0

3,4

75–79

2,3

2,8

5,1

70–74

2,3

2,6

4,9

65–69

2,6

2,8

5,4

60–64

3,4

3,4

6,8

55–59

4,0

3,9

7,9

50–54

4,4

4,3

8,7

45–49

3,8

3,7

7,5

40–44

2,9

2,9

5,8

35–39

3,1

3,0

6,1

30–34

3,3

3,2

6,5

25–29

3,1

3,0

6,1

20–24

2,7

2,6

5,3

15–19

2,5

2,4

4,9

10–14

2,2

2,1

4,3

5–9

2,1

2,0

4,1

0–4

2,2

2,1

4,3

Demnach befindet sich in Deutschland über die Hälfte (52,4%) der Bevölkerung in einem Lebensalter jenseits der 45 Jahre. Bei etwa gleich bleibender Entwicklung wird die Zahl älterer und alter Menschen hier in den nächsten Jahren weiter ansteigen. So dürfte 2030 fast jeder dritte Deutsche 65 Jahre oder älter sein. Vielleicht noch eindrücklicher wird der damit gegebene Wandel bei einem Blick auf die Gruppe der noch Älteren. 2009 lebten in Deutschland 1,5 Millionen Menschen, die 85 Jahre oder älter sind; 2050 wird sich diese Zahl voraussichtlich auf 6 Millionen vervierfacht haben.26

Soziologisch schließen an solche Befunde Generationentheorien27 an. Sie gehen – im Kontext des schnellen gesellschaftlichen Wandels der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten – davon aus, dass Alterskohorten durch bestimmte Erfahrungen geprägt sind und sich so voneinander unterscheiden. Dabei erweisen sich Erfahrungen in der Jugendzeit als besonders prägend. Sie führen zu Generationstypologien wie »Skeptische Generation« (Jahrgänge 1925–1940), »68er-Generation« (Jahrgänge 1940–1955), »Babyboomer« (Jahrgänge 1955–1970), »Generation X« (Jahrgänge 1970–1985) und »Generation Y« (Jahrgänge 1985–2000):28

»Wer in der Nachkriegszeit groß wurde, dem ging es um das materielle Überleben. In den 1960er-Jahren attackierten Jugendliche die Nazi-Vergangenheit ihrer Eltern, Lehrer und Professoren. Die 1970er-Jahre prägten die Ölkrise, der Deutsche Herbst und die Anti-Atomkraft-Bewegung. Die späten 1980er- und die 1990er-Jahre waren von einer gesättigten Null-Bock-Mentalität bestimmt. Neue epochale Ereignisse prägen die heutige junge Generation. Zwischen 1985 und 2000 geboren, erlebt die Generation Y in ihren Jugendjahren, wie Internet, soziale Netzwerke à la Facebook und die Globalisierung die Gesellschaft gründlich neu sortieren.«29

Solche – hier nur stichpunktartig skizzierbaren – Grunderfahrungen prägen das Zeiterleben von Menschen. Es können die Beschäftigung mit Vergangenem, die Verhaftung im Gegenwärtigen bzw. die Ausrichtung auf Zukünftiges dominieren. Dazu verändern sich die Zeitabschnitte bzw. -einteilungen in einer Biografie, wie der Vergleich von Lebensentwürfen der aktuellen jungen Generation, der sog. Generation Y, mit denen ihrer Eltern zeigt:

»Sie (sc. die Angehörigen der Y-Generation, C.G.) sind auch so frei, den für ihre Großeltern und Eltern noch gültigen Drei-Phasen-Rhythmus der Lebensgestaltung für nicht mehr passend zu erklären. 25 bis 30 Jahre Ausbildung zur Vorbereitung auf einen Beruf, der dann 25 bis 30 Jahre ausgeübt wird, um die verbleibenden 25 bis 30 Jahre des Lebens im Ruhestand zu verbringen, das leuchtet ihnen nicht ein. Zur sinnvollen Lebensgestaltung streben sie ein Miteinander von Leben, Lernen, Arbeiten und Familie in jeder Lebensphase an und nicht ein Nacheinander.«30

Dabei macht das Zusammenleben unterschiedlicher Generationen in einer Gesellschaft den Sachverhalt noch komplizierter. Biografisch tritt das immer wieder in gegenseitigem Unverständnis zwischen den Generationen zu Tage. Was für die einen selbstverständlich erscheint, ist für andere abwegig oder zumindest kapriziös o. Ä.

Sozialpädagogisch ergeben sich analog dazu weitere Differenzierungen. Grundlegend ist hier die Beobachtung, dass das – wesentlich im Zuge der Aufklärung wirkmächtig gewordene31 – »Korsett der Arbeit« den Lebenslauf nicht mehr selbstverständlich integriert:32 »Erwerbsarbeit hat sich für viele in ihrer Bedeutung vom planbaren Karrieremodell zum schwer kalkulierbaren aber andauernden biografischen Bewältigungsproblem gewandelt«.33 Dazu kommt:

»Auch im privaten Lebenszusammenhang haben die Diskontinuitäten deutlich zugenommen. Dass mit dem ersten Partner bzw. der ersten Partnerin eine lebenslange Ehe eingegangen wird, ist inzwischen fast schon zum Ausnahmefall geworden. An die Stelle solcher ›Kontinuitätsbiografien‹ sind ›Kettenbiografien‹ […] getreten.«34

Theoretisch reagierte die Sozialpädagogik hierauf mit einem Paradigmenwechsel von linearen Modellen zum Konzept der Lebensbewältigung.35 Die von den Menschen erlebten »Zeiten« verändern sich dementsprechend. Am deutlichsten tritt dies in der Altersphase hervor:

»Die Übergangsalter und das Altern selbst verlaufen nicht eindimensional als allgemeiner Abbau und Rückzug (Disengagement, das heißt sich zurückziehen und aus dem Sozialen herausziehen, um nicht überfordert zu werden), sondern es gibt verschiedene Sozialformen und Praktiken des Alterns, die nebeneinander existieren. Mit dieser Pluralisierung des Alters sind verschiedenartige Altersstile verbunden. In solchen Lebensstilen ist der Anspruch vermittelt, sich im Alter nicht zurückziehen zu müssen, sondern sozial präsent zu sein.«36

Politisch bahnen sich im Zuge der eben genannten, in unterschiedlichen Perspektiven skizzierten Veränderungen neue Probleme an. Im Bereich der Sozialpolitik wird seit Längerem auf die Belastung des sog. Generationenvertrags hingewiesen. Dieser bezeichnet die Grundlage des gegenwärtig in Deutschland gültigen Rentensystems, nach dem die arbeitende Bevölkerung durch ihre Rentenbeiträge die Rentenbezüge der im Ruhestand Befindlichen finanziert. Und hier besteht zunehmend eine Spannung, die große finanzielle Probleme aufwirft: Auf der einen Seite sinkt wegen des Geburtenrückgangs, aber auch längerer Ausbildungszeiten die Zahl der Rentenversicherungspflichtigen, auf der anderen Seite steigt auf Grund früherer höherer Geburtenraten und längerer Lebenserwartung die Zahl der Rentenempfänger. Dahinter steht die Frage nach der sog. Generationengerechtigkeit. Auch bei – in Zukunft noch stärkerer – Unterstützung des Rentensystems aus Steuermitteln bleibt die Herausforderung grundsätzlich bestehen. Denn die Steuerabgaben der Erwerbstätigen sind höher als die von Rentenbeziehern.

In der aktuellen Tagespolitik, teils auf kommunaler, teils auch nationaler Ebene, entstehen ebenfalls durch die skizzierte Veränderung der Alterspyramide Spannungen. Aus der Tatsache, dass nicht nur die Mehrzahl der Wähler/innen höheren Alters ist, sondern diese Älteren auch häufiger von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen als die Jüngeren, ergeben sich Probleme. Gravierend kam dies 2016 bei der Abstimmung zum sog. Brexit, also dem plebiszitären Beschluss des Ausscheidens Großbritanniens aus der Europäischen Union, zum Ausdruck. Nach repräsentativen Befragungen präferierten die Jüngeren klar einen Verbleib in der Europäischen Union, wohl nicht zuletzt auf Grund ihrer Auslandserfahrungen. Tatsächlich überwog aber bei den abgegebenen Stimmen die Zahl der Brexit-Befürworter. Denn die – weniger auslandserfahrenen – Älteren hatten sich reger an der Abstimmung beteiligt als die Jüngeren.37

Theologisch waren jüngere Menschen vor allem im Rahmen der Katechetik und dann Religionspädagogik im Blick, lange Zeit jedoch nur im Modus der zu Belehrenden, und dann vor allem im Bereich unterrichtlich organisierter Sozialformen.38 Angeregt durch die in den USA Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts entstandene »Philosophy for Children«39 bildete sich seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum eine Kinder- und mittlerweile auch Jugendtheologie heraus.40 Dabei wird eine alters- bzw. entwicklungsspezifische Differenzierung von Theologie und damit des Zugangs zum christlichen Glauben erarbeitet:

»Kindertheologie steht dem vielfach beklagten Wirklichkeitsverlust von Theologie entgegen, wenn es gelingt, akademische Theologie und lebensweltlich verankerte Alltagstheologien, theologisch-wissenschaftliche und ›laien‹-theologische Konstruktionen aufeinander zu beziehen. Kindertheologische Studien haben mannigfaltig unter Beweis gestellt, dass die Auseinandersetzung von Kindern mit den ›großen‹ Fragen des Lebens zu Ergebnissen führen kann, die Erwachsene nicht nur kaum für möglich gehalten haben, sondern die zugleich deren eigene Deutungen und Interpretationen anregen können. Die ›Theologien der Kinder‹ haben daher einen unersetzbaren Platz in einer lebensweltlich gewendeten Theologie, die sich als ›Anwalt des Subjekts‹ der Alltagswelt von Menschen verpflichtet weiß.«41

Mittlerweile beginnen entsprechende Forschungen hinsichtlich des Denkens und Kommunizierens alter – und auch dementer42 – Menschen. Inhaltlich steht dabei die Integration eigener Endlichkeit und damit des Todes im Vordergrund.

»Wenn Menschen an einer fortgeschrittenen Demenz leiden, dann werden sie, dann werden auch ihre engsten Bezugspersonen immer stärker mit der Ordnung des Todes konfrontiert: Die hohe Verletzlichkeit und die Vergänglichkeit dieser Existenz sind zentrale Merkmale der Ordnung des Todes.«43

Demnach relativieren sich die bisher dogmatisch bestimmten Glaubenslehren, insofern sie von Menschen – meist Männern – eines bestimmten, meist etwas höheren Lebensalters formuliert wurden. An ihre Seite treten jetzt Einsichten von Kindern und Jugendlichen – und zukünftig wohl auch von Alten.

Es gibt also verschiedene Anlässe, um über das »Leben in den Zeiten« nachzudenken. Dabei stehen traditionelle, an einem linearen Lebenslauf orientierte Modelle Ansätzen gegenüber, die von der Entgrenzung der verschiedenen Altersstufen in der reflexiven Moderne ausgehen. Auf jeden Fall tritt die Bedeutung des sozialen und kulturellen Kontextes für ein Nachdenken über Lebensalter zu Tage.

3.AUFBAU DES BUCHS

Deshalb will ich in einem ersten Teil den Kontext des »Lebens in den Zeiten« in drei Perspektiven in den Blick nehmen: Ich beginne mit einigen Beobachtungen zum Umgang mit der Zeit; es folgen Hinweise auf Veränderungen in den Sozialformen des alltäglichen Lebens; schließlich stellt die Digitalisierung der Kommunikation vor neue tiefgreifende Herausforderungen. Komplementär füge ich einige grundlegende theologische Einsichten zu Zeit und Gemeinschaft hinzu, die sich zwischen Kontextualisierung und Kontrakulturation44 bewegen.

Erst auf dieser Grundlage können die Strukturierung des Lebens und die mit ihr gegebenen, je besonderen Herausforderungen (»Bewältigungssituationen«) in der notwendigen kulturgeschichtlichen und theologischen Tiefenschärfe in den Blick genommen werden.

Schließlich ist in einem dritten Teil auf Abweichungen dieses keineswegs für alle Menschen zutreffenden Lebenslaufs hinzuweisen – darunter ein heute als verfrüht erscheinendes Sterben, das freilich noch vor 150 Jahren alltäglich war.

Den Abschluss bildet eine Reflexion der eingangs geäußerten Vermutung des Zusammenhangs zwischen ökologischen Problemen und den Einsichten zu den Lebensaltern. Deren Ernstnehmen – theologisch gesprochen: als Gabe Gottes – führt zur Kritik des rücksichtslosen Kriegs der juvenilen Erwachsenen gegen Gaia und eröffnet Perspektiven für ein besseres, theologisch formuliert: dem Schöpferwillen angemesseneres, Zusammenleben.

IHAUPTTEIL

KONTEXTUELLE UND THEOLOGISCHE GRUNDLAGEN

Zeit und Raum sind – wie klassisch Kant herausarbeitete – die grundlegenden »reine(n) Formen sinnlicher Anschauungen«.1 Sie sind konstitutiv für menschliches Wahrnehmen und Leben. Zugleich verändern sich aber im Laufe der Geschichte – und je nach Kultur – die Auffassungen von und die Zugänge zu Raum und Zeit, was sich u. a. auch im Verhältnis der Menschen zu ihrem Alter zeigt.

Das sei kurz anhand einiger weniger Beispiele aus der Kulturgeschichte skizziert. Sie weisen auf die Vorläufigkeit des heute Plausiblen hin und eröffnen so Freiräume für auf Zukunft bezogenes kritisches Nachdenken. Heute stellen dabei die Umbrüche, die mit der Digitalisierung von Kommunikation verbunden sind, vor besondere Herausforderungen.

In einem zweiten Zugang rufe ich einige theologische Einsichten zu Zeit und Gemeinschaft in Erinnerung, die zwar mit dem jeweiligen Kontext verbunden sind, zugleich aber auch kontrakulturelle Perspektiven eröffnen. Sie münden in den Prospekt christlicher Lebensform als grundlegend für ein Verständnis der Lebensalter. Dabei treten – entgegen heutiger lebensweltlicher Logik – die Lebensalter Kindheit und auch hohes Alter besonders hervor.

1.KAPITEL

KONTEXT

1.1VERÄNDERUNGEN DER ZEIT

Beim Verständnis von Zeit und dem Umgang mit ihr setzte sich im Laufe der Jahrhunderte eine Formalisierung durch. Dies zeigt sich anschaulich in Veränderungen bei der Zeitmessung:

Grundsätzlich konstruierten frühere Menschen Zeit aus Naturereignissen, in die soziale Ereignisse integriert wurden:

»Von der Steinzeit über die Antike bis zum Auftauchen der ›neuen Zeiten‹, der Uhrzeiten, vollzogen sich die Zeitmessung und die Zeiteinteilung ausschließlich auf der Grundlage von in der Natur und am Himmel vorfindbaren Parametern, denen ein an Ereignissen und Aufgaben orientiertes Zeitverständnis entsprach. Ihre Funktion bestand in erster Linie darin, die Zeitvorgaben der Natur mit den Bedürfnissen einer Agrargesellschaft, zum Beispiel dem Anbau von Feldfrüchten, sowie religiösen und sozialen Riten und Bräuchen in Einklang zu bringen.«1

So nahm man zu archaischer Zeit folgende vier Zeitgeber in Ägypten an:

»Der Lauf der Sonne diente der Einteilung des Tages und des Jahres, die Zyklen des Mondes wurden zur Terminierung bestimmter religiöser Feste herangezogen, die jährliche Überschwemmung durch den Nil markierte den Beginn eines neuen Wirtschaftsjahres und war zugleich der Termin, an dem ein neuer Pharao in sein Amt eingeführt werden konnte. […] Schließlich richteten sich die Ägypter auch nach dem sogenannten heliakischen Aufgang des Sternes Sirius. Dieser Stern im Sternbild des Hundes, die Ägypter nannten ihn Sothis, wird zur Zeit der Sommersonnenwende am Morgenhimmel, d. h. bei seinem heliakischen Aufgang, sichtbar.«2

Periodizität, nicht lineare Veränderung war das grundlegende Kennzeichen dieser Zeitauffassung. Deren Verbindung zur agrikulturellen ländlichen Lebensweise reicht bis heute, wie eindrucksvoll folgende Erinnerungen von Tara Westover (geboren 1986) zeigen, die abgesondert auf einer Farm in Idaho/USA aufwuchs:

»I had been educated in the rhythms of the mountain, rhythms in which change was never fundamental, only cyclical. The same sun appeared each morning, swept over the valley and dropped behind the peak. The snow that fell in winter always melted in the spring. Our lives were a cycle – the cycle of the day, the cycle of the seasons – circles of perpetual change that, when complete, meant nothing had changed at all. I believed my family was a part of this immortal pattern, that we were, in some sense, eternal. But eternity belonged only to the mountain.«3

So bestimmen zyklische Zeiterfahrungen – wie der Wechsel von Tag und Nacht oder die Jahreszeiten – menschliches Leben bis heute, obwohl sie seit der Industrialisierung durch den linearen Zeittakt dominiert werden.4 Auch sonst begegnet bei genauerem Hinsehen »Pluritemporalität«.

»Pluritemporalität bezeichnet die Tatsache, dass soziale Gruppen, Objekte, Ereignisse etc., also alles, was uns in unserem Alltag begegnet, zumindest potentiell dazu in der Lage ist, eigene Zeitformen auszubilden, die sich von anderen Zeitformen teils erheblich unterscheiden können.«5

Entsprechend der Orientierung am naturalen Geschehen herrschte in der Antike und im Mittelalter, und auf dem Land darüber hinaus bis ins 17. Jahrhundert, das System der Temporalstunden: »deren Dauer wurde entsprechend der Jahreszeit auf den lichten Tag berechnet, so daß die einzelne Stunde – modern gesprochen – zwischen 30 und 90 Minuten betragen konnte.«6 Dementsprechend änderte sich z. B. in der christlichen Liturgie je nach Jahreszeit der Abstand zwischen den sog. Horen (Stundengebeten). Auch wurden Zeitabstände im Alltag nach konkreten Handlungen bemessen. So war etwa das Zeitmessen mit Hilfe des Vaterunsers beim Kochen üblich – noch 1837 gab z. B. ein Kochbuch die Zeitdauer bis zum Hartwerden eines Eis mit drei Vaterunsern an.7

Eine grundlegende Veränderung, und zwar eine Formalisierung, begann ab dem 15./16. Jahrhundert durch die Verbreitung der vor allem an Kirchtürmen platzierten sog. Räderuhren, von denen erste bereits Anfang des 14. Jahrhunderts in Betrieb waren.8 Durch den Zahnradantrieb war hier eine gleichmäßige, lineare Zeiteinteilung in 24 Stunden gegeben (sog. Äquinoktialzeit). Dabei gingen theologische Vorstellungen – Gott, der Schöpfer, als der große Uhrmacher sowie Hüter von Zeit und Ordnung – und technische Rubrizierung Hand in Hand.9 Die Funktion genauerer Zeitmessung bildete sich erst im Folgenden langsam heraus.

»Die Uhr war ein akustisches Medium. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung konnte die Uhrzeit nur über die Glockenzeichen erfahren. Entsprechend grobmaschig war auch die in der Kommunikation verwendete Zeitskala. […] An die Stelle inhaltlicher Glockenzeichen trat der Zeitteppich der Uhr. Ihre Zeitzeichen waren zwar relativ unaufdringlich, aufgrund ihrer Gleichmäßigkeit und Allgegenwärtigkeit auf die Dauer aber unausweichlich. Je differenzierter die Abhängigkeitsketten zwischen den Menschen infolge der zunehmenden Urbanisierung und Kommerzialisierung wurden, desto zwingender wurde es für die Menschen, auf die Schläge der Uhr zu achten und eine allgemeine Zeitwachheit zu erlernen.«10

Während der Reformationszeit kam es zu »Bruchstellen zwischen traditioneller, zyklischer Zeitauffassung und der neuen, quantitativ-linearen Konstruktion von Zeit«.11 Letztere wurde von der Obrigkeit zur Disziplinierung eingesetzt, auch in der Kirche, wie etwa aus Auseinandersetzungen um die Länge der Predigt hervorgeht.

»Für die Pfarrer bedeutete die Herrschaft der Uhr nicht nur den Verlust der Zeithoheit; sie mußten lernen, ihre Predigtinhalte in das vorgeschriebene Zeitkorsett einzupassen. […]Welche Schwierigkeiten dieser Lernprozeß den Pfarrern bereitete, läßt sich aus den Quellen nur erahnen.«12

Grundsätzlich zog die Verbreitung von Uhren drei Konsequenzen nach sich:

»– Die Zeit der Uhr hat der Welt eine neue Ordnung gegeben.

– Die Zeit der Uhr hat die Zeit aus ihrer engen Bindung mit der Natur gelöst, sie qualitativ geleert und der Neubewertung als ökonomische Ressource (sprich: der Verrechnung in Geld) geöffnet.

– Die Zeit der Uhr hat der Welt ihr Zeitmuster Takt aufgeprägt und das Arbeiten und das Leben hierdurch immens beschleunigt.«13

Einen neuen Impuls bekam das Zeitverständnis durch die Aufklärungspädagogen (und die Pädagogen des Pietismus). »Der Weg zur Tugend der Arbeitsamkeit und Pünktlichkeit führte für sie über die stereotype Gewöhnung an die Uhr.«14 Das damit verbundene Ideal von Arbeit brachte 1748 Benjamin Franklin auf die sprichwörtlich gewordene Formel: »Time is money«. Die damit implizierte neue Lebenslogik geht anschaulich aus seinen Ausführungen dazu hervor:

»Bedenke, daß Zeit Geld ist; wer täglich zehn Schillinge durch seine Arbeit erwerben könnte und den halben Tag spazieren geht, oder auf seinem Zimmer faulenzt, der darf, auch wenn er nur sechs Pence für sein Vergnügen ausgibt, nicht dies allein berechnen, er hat neben dem noch fünf Schillinge ausgegeben oder vielmehr weggeworfen. […] Wer nutzlos Zeit im Wert von 5 Schillingen vergeudet, verliert 5 Schillinge und könnte ebenso gut 5 Schillinge ins Meer werfen. Wer 5 Schillinge verliert, verliert nicht nur die Summe, sondern alles, was damit bei Verwendung im Gewerbe hätte verdient werden können, – was, wenn ein junger Mann ein höheres Alter erreicht, zu einer ganz bedeutsamen Summe aufläuft.«15

Der Zeitforscher Karlheinz Geißler konstatiert dementsprechend ökonomische Konsequenzen aus der Dominanz formalen Zeitverständnisses: