Lebenschancen - Steffen Mau - E-Book

Lebenschancen E-Book

Steffen Mau

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Beschreibung

»Wie kann eine Gesellschaft, die immer mehr von Ungleichheit und Wettbewerb bestimmt ist, dem individuellen Anspruch auf Lebenschancen noch gerecht werden? Und wie kann die breite Mittelschicht für ein solches Unterfangen gewonnen werden?« Die Mittelschicht? Das sind eigentlich (noch) die meisten von uns – doch diese Gruppe steht immer stärker unter Druck. Sie schrumpft, ist mit wachsenden Ungleichheiten konfrontiert und erlebt eine Vermarktlichung vieler Lebensbereiche. Das Vertrauen in den kollektiven Aufstieg ist passé, die Statusangst wächst. Steffen Mau bündelt pointiert Befunde und Perspektiven zur Transformation der Mitte. Und er präsentiert eine Alternative zur Ungleichverteilung von Chancen und zur allgegenwärtigen Unsicherheit: den Lebenschancenkredit, ein Polster, das wir nutzen könnten, um uns weiterzubilden, soziale Risiken abzufedern oder Zeit für Pflege und Erziehung zu gewinnen.

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Inhalt

Vorwort

1. Mittelschicht: Leben in der Komfortzone

2. Erschütterungen der Mitte

3. Statuspanik: Reale Gefahr oder falscher Alarm?

4. Die Mühen der Selbstbehauptung

5. Neue Kälte in der Mitte?

6. Für eine Politik der Lebenschancen

Vorwort

Die Mittelschicht ist bis heute ein soziologisch weitgehend unerforschtes Terrain. Mittelschichtkundler finden sich vor allem unter den Literaten, die sich für die Brüche und Abgründe hinter den glänzenden Fassaden interessieren, weniger unter den Sozialforschern. Diese empfinden die saturierte Mitte oft als wenig aufregend. Die Mitte gilt als unbestimmt, wenn nicht gar undefinierbar. Auch die ideologischen Überhöhungen der Mitte stimmen viele Soziologen skeptisch. In der öffentlichen Debatte wird die Mittelschicht nämlich oft verhätschelt: Ihre Belange sollen im Zentrum politischer Bemühungen stehen, sie wird vor Wahlen umgarnt, Marktwirtschaftler sorgen sich um allerlei Lasten, die sie zu tragen hat, Familienpolitiker bemühen sich immer stärker um ihre »Qualitätskinder«, und Moralwächter beschwören ihre vermeintlichen Tugenden. Dabei ist die Mitte Objekt vieler Interessen und Zuschreibungen: Leistungsträger, besserverdienend, ausgleichendes Zentrum und Ruhepol, Stabilitätsanker und Wohlstandszone, Steuerzahler, Max und Erika Mustermann, gute Gesellschaft, Hort der bürgerlichen Werte, mediokre Masse, Träger des Gemeinwesens, Quell wirtschaftlicher Prosperität, Otto Normalverbraucher.

In der Soziologie ist das Thema »Mitte« erst mit neuen Gefährdungen derselben aktuell geworden. Nachrichten zur sozialen und mentalen Lage der Mitte gelten dabei oft als wichtige Wasserstandsmeldungen für die Lage der Gesellschaft insgesamt. Die Bundesrepublik verstand sich lange Zeit als mittelschichtfreundliches Wohlstandsland, geprägt von hohem Lebensstandard und einem dicht geknüpften Sicherheitsnetz. Aus dem Rückspiegel betrachtet, war sie, so könnte man sagen, trotz Massenarbeitslosigkeit ein soziales Idyll. Unter materiellem Mangel, Abstiegserfahrungen und sozialer Exklusion schienen nur wenige zu leiden, die Mittelschicht jedenfalls nicht. Die Mehrheit konnte sich in der Gewissheit wiegen, dass sie ihren Teil des Kuchens abbekommen würde. Zugang zu Lebenschancen, kollektiver Aufstieg und Wohlstand waren fester Bestandteil des Projekts eines gelingenden Lebens und nordeten bei vielen den inneren Kompass ein.

Schien die Mitte bislang gegen größere Erschütterungen abgeschirmt, ja immunisiert zu sein, häufen sich seit einigen Jahren die Indizien dafür, dass der Wind sich gedreht haben könnte. Wohlstandswachstum und Aufstiegsgarantie können immer weniger als Standardprogramm der Mittelschichtexistenz gelten. Zwar ist die Lage der Mitte auch von konjunkturellen Zyklen abhängig, es gibt jedoch eine Reihe langfristiger Trends der gesellschaftlichen Restrukturierung, welche die Mitte als weniger stabil und gesichert erscheinen lassen als bisher. Das gilt für die Bundesrepublik, stellt sich aber noch dramatischer dar, wenn man in die USA, nach Südeuropa oder in einige Länder Westeuropas schaut. In vielen Staaten mit Marktwirtschaft und demokratischer Verfassung kann man durchaus von einer Krise der Mitte sprechen, und auch hierzulande sieht sich die Mittelschicht zunehmend in einer Lage, die von Prekarisierungsrisiken und Aufstiegsblockaden gekennzeichnet ist. Nicht alle diese Veränderungen sind dramatisch (einige schon!), aber für eine sicherheitsverwöhnte und statusorientierte Mitte halten sie grundlegende Irritationen bereit. Die Selbstgewissheit der Mittelklassen nimmt ab, die Wohlstandsfrage kehrt zurück und mit ihr das Thema der Verteilungsgerechtigkeit. Diese Verschiebungen innerhalb der sozialen Ordnung betreffen nicht allein die Mitte, sie scheint allerdings besonders nervös darauf zu reagieren.

All diese Veränderungen vollziehen sich langsam und oft kaum spürbar. Es ist nicht so, dass eine große Welle auf den Strand zuläuft und die Sandburgen der Mittelschicht überflutet. Wir haben es vielmehr mit einer schleichenden Erosion zu tun. Die fast schon zu Mantras verkommenen Großtrends Globalisierung, Individualisierung, Liberalisierung und Privatisierung tragen ebenso zur Verunsicherung der Mitte bei wie das Bröckeln des sozialdemokratischen Grundkonsenses, der Westdeutschland lange Zeit prägte. Mit dem Aufstieg des neoliberalen Projekts, das auch von Teilen der Mittelschicht begrüßt wurde, gerieten zugleich Werte wie Solidarität und die Verpflichtung auf das Gemeinwohl ins Wanken. Die Einkommensschere öffnete sich, die Vermarktlichung sozialer Lagen nahm Fahrt auf, die Gesellschaft verwandelte sich immer mehr in eine Wettbewerbsgesellschaft. Die Mittelschicht war an der Verbreitung marktbasierter und individualisierter Formen des Sozialen nicht ganz unbeteiligt, geriet aber angesichts flexibilisierter Betriebsamkeit und kalter ökonomischer Leidenschaften zunehmend unter Druck. Statuspanik und Anpassungsstress haben zugenommen, dasselbe gilt für die Notwendigkeit, sich im gesellschaftlichen Positionsgefüge zu behaupten. Viele Menschen treibt die Sorge um, durch neue Gefährdungen in Nachteilslagen zu geraten, den gewohnten Wohlstand nicht halten oder den eigenen Kindern keinen Aufstieg ermöglichen zu können.

Die Politik steht in dieser Situation vor einem Trilemma: Erstens muss sie sparen, um die öffentlichen Haushalte zu sanieren und dem Diktat der globalen Finanzmärkte zu entsprechen; zweitens scheut sie höhere Belastungen für die mobilen Wohlhabenden; und drittens sieht sie sich immer häufiger mit unzufriedenen Angehörigen der Mittelschicht konfrontiert, die ihre Bedürfnisse nach Sicherheit und gerechter Beteiligung am Wohlstand artikulieren.

Wirksame Therapieansätze, um der wachsenden Verunsicherung zu begegnen, gibt es bislang kaum. Staatlich verordnete Gleichheit hat als Reformperspektive längst ausgedient. Die Antwort auf die Verunsicherung der Mittelschicht kann aber auch nicht darin bestehen, klientelistische Belohnungspolitiken aufzulegen. Wohltaten und Vollkaskoschutz für die Mitte – das wäre ein falsch verstandener Befriedungs- und Beruhigungsansatz, eine schlechte Medizin. Gegenüber sozialtherapeutischen Ansätzen, die Menschen auffordern, ihre »gelernte Hilflosigkeit« (Assar Lindbeck) zu überwinden, ist ebenfalls Skepsis geboten. Durch Appelle allein lässt sich die Freude am Risiko sicher nicht steigern. In dieser Gemengelage wird die Chancenverteilung zum wichtigsten Fixpunkt der Politik und der öffentlichen Debatte. Die entscheidenden Fragen lauten: Wie kann eine Gesellschaft, die immer mehr von Ungleichheit und Wettbewerb geprägt ist, dem individuellen Anspruch auf Lebenschancen noch gerecht werden? Und wie kann man die breite Mittelschicht für ein solches Unterfangen gewinnen?

Den Begriff der Lebenschancen hat Ralf Dahrendorf 1979 in seinem gleichnamigen Buch genauer definiert und ausgearbeitet. Während Dahrendorf mithilfe dieses Konzeptes geschichtsphilosophische Überlegungen mit Fragen nach dem Fortschritt von Gesellschaften verband, nutze ich ihn in zeitdiagnostischer Absicht. Ich frage, wie es um den Zugang zu Lebenschancen bestellt ist und wie er verbessert werden kann. Lebenschancen als Modell der individuellen Entfaltung und Entwicklung verstehe ich als ein Angebot für alle gesellschaftlichen Gruppen – die Mittelschicht, die an den Rand Gedrängten und die oberen Schichten. Wir brauchen Instrumente, um der Tatsache zu begegnen, dass Chancen zunehmend ungleich verteilt sind, und zudem Angebote für die Benachteiligten, Ausgebremsten und Gestrauchelten. Wer in Kontexten sozialer Benachteiligung aufwächst, soll in seinen Entfaltungsmöglichkeiten nicht über die Maßen beschnitten werden; wer abrutscht, braucht alle Unterstützung, um wieder aufzustehen.

Das politische Leitprinzip einer Maximierung von Lebenschancen kann für die Mittelschicht durchaus attraktiv sein. Es passt recht gut zu ihrem Leistungsethos, zur weitverbreiteten Wertschätzung für Anstrengung, Bildung und Qualifikation. Erst wenn Chancengerechtigkeit gewährleistet ist, ergibt es überhaupt einen Sinn, Leistung zum Maßstab vieler (natürlich nicht aller!) Dinge zu machen. Chancengerechtigkeit ist überdies Grundvoraussetzung für individuelle Motivation und Aufstiegswillen, für den Ehrgeiz, aus Talenten und Anlagen das Beste zu machen. Doch weil die Grundlagen für den sozialen Wettbewerb und das individuelle Vorankommen nun mal in Institutionen (Schulen, Arbeitsmärkten, sozialen Sicherungssystemen) gelegt werden, müssen diese so gestaltet sein, dass alle Menschen möglichst die gleichen Startbedingungen haben, dass soziale Härten kompensiert und dauerhafte Benachteiligungen ausgeschlossen werden. Wenn es gelingt, Mobilitätskanäle (wieder) zu öffnen und die politischen Angebote zu verbessern, lässt sich vielleicht auch die beunruhigte Mittelschicht mitnehmen. Solche Offerten schaffen schließlich Spielraum nach oben und sie schließen jene Deprivationsfallen, welche den Menschen drohen, die aus der Mitte herausfallen.

Dieses Buch bedient sich nicht der Form einer strengen wissenschaftlichen Monografie, ich will vielmehr versuchen, Befunde und Überlegungen zur Transformation der Mitte und zur Verbreitung neuer Unsicherheiten pointiert zu bündeln und zuzuspitzen. Es geht mir um einen empirisch informierten und kontrollierten Blick auf die soziale und mentale Lage der Mittelschicht. Wenn man nach gängigen soziologischen Kriterien selbst zur Mittelschicht gehört, ist die Distanz zum Gegenstand nicht immer gegeben. Es gibt da diesen Hang zur Nabelschau, der mich auch beim Schreiben dieses Buches hin und wieder beschäftigt hat. Insgesamt, so hoffe ich, mache ich mich aber weder zum Advokaten der Mittelschicht noch zum soziologischen Kritiker. Vielmehr möchte ich die Veränderungen, die sich in dieser gesellschaftlichen Zwischenschicht abspielen, mit wissenschaftlicher Neugier erkunden. Das Buch entwickelt seine Argumente vor allem durch ein Nebeneinanderlegen unterschiedlicher Mosaiksteine. In einer Zeit hoher wissenschaftlicher Spezialisierung stagniert die Kommunikation zwischen einzelnen Wissensfeldern fast völlig: Diejenigen, die etwas zur Bildung sagen können, kennen sich mit Gerechtigkeitsfragen kaum aus, Familiensoziologen nicht mit dem Arbeitsmarkt. Einem komplexen Beobachtungsobjekt wie der Mittelschicht ist daher kaum beizukommen, wenn man die verschiedenen Befunde nicht zusammenspielt und ordnet. Eine sozusagen panoramische Perspektive ermöglicht es, die Entwicklung wesentlich umfassender darzustellen, als es empirische Einzelstudien je könnten.

1. Mittelschicht: Leben in der Komfortzone

Wer gehört eigentlich zur Mittelschicht? Ein Tatort benötigt nur einen Kameraschwenk, um uns in dieses Milieu zu entführen: Wir sehen ein Reihenhaus mit Vorgarten und Carport, davor ein paar Blumenkübel, Dahlien und Pfingstrosen, eine Fußmatte, auf der »Bitte Füße abtreten« steht – und sind im Bilde. In den Romanen Martin Walsers begegnet uns ein ganzes Mittelschichtkabinett: Susi Gern, Helmut und Sabine Halm, Gottlieb Zürn und die Kahns. Sie alle wandeln durch Wohlstandswelten und suchen dort ihr privates Glück.

Der Begriff der Mitte ist unscharf, ja geradezu schwammig. Die Mitte befindet sich irgendwo zwischen Oben und Unten, ist eher eine sozialstrukturelle Zone denn ein abgeschlossenes Kollektiv. Es handelt sich im Grunde um einen Sammelbegriff, den all jene zur Selbstverortung nutzen, die sich weder der Ober- noch der Unterschicht zuordnen wollen (oder können). Die Mitte, das ist der Komfortbereich, angesiedelt unterhalb des Übermaßes an Privilegien und des ungefährdeten Wohlstands und oberhalb des Segments der begrenzten Lebenschancen. Weder Elitenloge noch Nachteilslage, sondern eben die Mitte: mittlerer Lebensstandard, mittleres Einkommen, Berufe in der Mitte der Gesellschaft – vom Facharbeiter bis zum Studienrat.

Mittelstand und Mittelschicht

Der Begriff der Mitte, wie wir ihn heute verwenden, ist im Prinzip eine recht junge Erfindung. Lange Zeit glich die Gesellschaft eher einer Pyramide, und das Verhältnis zwischen Spitze und Sockel bestimmte die soziale Dynamik. Noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts lebte die überwiegende Mehrheit der Menschen (je nach Schätzung zwischen 75 und 90 Prozent) in länd

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