Triggerpunkte - Steffen Mau - E-Book

Triggerpunkte E-Book

Steffen Mau

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Beschreibung

»Soziale Konflikte sind nie einfach nur da, sie werden auch gesellschaftlich hergestellt: entfacht, angeheizt, getriggert.«

Von einer »Spaltung der Gesellschaft« ist immer häufiger die Rede. Auch in der Alltagswahrnehmung vieler Menschen stehen sich zunehmend unversöhnliche Lager gegenüber. So plausibel sie klingen mögen, werfen entsprechende Diagnosen doch Fragen auf: Wie weit liegen die Meinungen in der Bevölkerung wirklich auseinander? Und ist die Gesellschaft heute wirklich zerstrittener als zur Zeit der Studentenproteste oder in den frühen Neunzigern?
Nicht zuletzt weil man eine Spaltung auch herbeireden kann, tut mehr Klarheit not. Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser kartieren aufwendig die Einstellungen in vier Arenen der Ungleichheit: Armut und Reichtum; Migration; Diversität und Gender; Klimaschutz. Bei vielen großen Fragen, so der überraschende Befund, herrscht einigermaßen Konsens. Werden jedoch bestimmte Triggerpunkte berührt, verschärft sich schlagartig die Debatte: Gleichstellung ja, aber bitte keine »Gendersprache«! Umweltschutz ja, aber wer trägt die Kosten? Eine 360-Grad-Vermessung der Konflikte um alte und neue Ungleichheiten, die eine unverzichtbare Diskussionsgrundlage bietet und viele Mythen entzaubert.

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Seitenzahl: 708

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Cover

Titel

3Steffen Mau/Thomas Lux/Linus Westheuser

Triggerpunkte

Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2023.

edition suhrkampSonderdruckOriginalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

Umschlagabbildungen: © thingamajiggs/Adobe Stock

eISBN 978-3-518-77676-6

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

1. Einleitung

Gesellschaftliche Spaltungsdiagnosen

This is not America

Umkämpfte Ungleichheiten

Vorschau auf zentrale Befunde

Anspruch des Buches

2. Arenen der Ungleichheitskonflikte

Welche Konflikte?

Welche Ungleichheit?

Versuch einer Typologisierung

Oben-Unten-Ungleichheiten

Innen-Außen-Ungleichheiten

Wir-Sie-Ungleichheiten

Heute-Morgen-Ungleichheiten

Analysewerkzeuge

3. Oben-Unten-Ungleichheiten

Märkte und Klassen

Ungleichheitskritik

Die Tücken der Meritokratie

Unverdienter Reichtum

Wohlfahrt als demokratischer Klassenkampf?

Nach unten treten: Moralisierte Anspruchskonkurrenz

Privatisierte Statussicherung

Demobilisierte Klassengesellschaft

Vom Kampf der Klassen zur Konkurrenz der Individuen

4. Innen-Außen-Ungleichheiten

Der Nationalstaat und seine Grenzen

Kampf um Grenzen

Bedingte Inklusionsbereitschaft

Steuerbarkeit und Legitimität

Verteidigung von Anspruchshierarchien

Kulturelle Codierung der Mitgliedschaftsgrenze

Gute Migranten – schlechte Migranten

5. Wir-Sie-Ungleichheiten

Kämpfe um Anerkennung

Wertewandel und Liberalisierung

Erlaubnistoleranz

Respekttoleranz

Quoten und Sprachregelungen

Exklusive Inklusivität?

Öffentliche Umwertung oder stillschweigende Eingemeindung?

6. Heute-Morgen-Ungleichheiten

Climate changes nothing?

Zyklen des Umweltbewusstseins

Klimapolitische Spaltungslinien?

Der ökologische Fußabdruck von Klassen und Nationen

Ungleiche Betroffenheit oder kollektive Risiken?

Transformationslasten: Vom Ende der Welt zum Ende des Monats

Ökologische Distinktion

Angst vor welchem Wandel?

7. Triggerpunkte

Gesellschaft der Empörten?

Ungleichbehandlungen

Normalitätsverstöße

Entgrenzungsbefürchtungen

Verhaltenszumutungen

Eine Taxonomie gesellschaftspolitischer Trigger

8. Der soziale Raum der Ungleichheitskonflikte

Eine Repolitisierung der Sozialstruktur?

Klassenspezifik, nicht Klassenpolarisierung

Alte weiße Männer?

Verschachtelte Ungleichheitsarenen

Konfliktraum und soziale Landkarte

9. Affekt und Struktur

Soziale Sortierung und affektive Polarisierung

Gefühlsthermometer: Sympathie und Antipathie

Alte und neue Medien

Wut und Veränderungserschöpfung

10. Der politische Raum der Ungleichheitskonflikte

Verortung in der Parteienlandschaft

Affektpolitik

Polarisierungsunternehmer

11. Politisierung und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft

Nicht Kamel, sondern Dromedar

Politisierung ohne Polarisierung

Klassenunterschiede

Eine zerklüftete Konfliktlandschaft

Konfliktbefriedung?

Anmerkungen

1. Einleitung

2. Arenen der Ungleichheitskonflikte

3. Oben-Unten-Ungleichheiten

4. Innen-Außen-Ungleichheiten

5. Wir-Sie-Ungleichheiten

6. Heute-Morgen-Ungleichheiten

7. Triggerpunkte

8. Der soziale Raum der Ungleichheitskonflikte

9. Affekt und Struktur

10. Der politische Raum der Ungleichheitskonflikte

11. Politisierung und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft

Literatur

Anhang

Onlineanhang

Abbildungsverzeichnis

Dank

Informationen zum Buch

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71. Einleitung

Spaltungsdiagnosen sind in den letzten Jahren zu einem Masternarrativ geworden, mit dem sich die Gesellschaft ihren Wandel erzählt. Mit Besorgnis registriert man soziale und politische Fliehkräfte, die das Zentrum in entgegengesetzte Richtungen zerren, hin zu den wachsenden Rändern. Wo man sich früher einig war oder Differenzen sachlich austrug und friedlich weiterlebte, so die Wahrnehmung, herrschen heute nur noch Streit und Hysterie, Rechthaberei und Abgrenzung. Der allgegenwärtige Begriff der Polarisierung wird zur Chiffre einer Erosion des Zusammenhalts und einer Bedrohung der Demokratie.

Im Bild der Polarisierung ist die Gesellschaft in zwei Lager gespalten, die mit widerstreitenden Meinungen, Interessen und Werten aufeinanderprallen. Bildlich könnte man auch von einer Kamelgesellschaft sprechen: zwei steil aufragende Höcker, dazwischen ein trennendes Tal unüberbrückbarer Unterschiede. Das Gegenbild wäre die harmonische und wohlintegrierte Dromedargesellschaft, die nur einen Höcker kennt, der sich über den gesamten Rücken spannt.1 Soziale Positionen, Mentalitäten und Einstellungen sind um ein Zentrum herum normalverteilt (Abbildung 1.1).

Abb. 1.1: Kamel oder Dromedar?

Quelle: Freepik

Die Polarisierungsthese behauptet, dass wir uns von einer Dromedar- zu einer Kamelgesellschaft entwickeln. Inwiefern dem so ist, wird sowohl öffentlich als auch wissenschaftlich heiß debattiert. Auf politischen Podien, in Talkshows wie auch in den sozialen Medien verbreiten sich Polarisierungsdiagnosen geradezu inflationär. Auch für den Printjournalismus lässt sich ein sprunghafter Anstieg des Vokabulars von Polarisierung und Spaltung verzeichnen: So kann man anhand des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache ermitteln, wie häufig bestimmte Begriffe in großen deutschsprachigen Tages- und Wochenzeitungen vorkommen. Abbildung 1.2 zeigt den Be8fund: Der Formel »Spaltung der Gesellschaft« sowie Wörtern, die mit »polaris-« beginnen (etwa »polarisiert«, »polarisierend« oder »Polarisierung«), wird im Verlauf der Jahrzehnte immer größere Prominenz zuteil.2 Spaltungsdiagnosen schießen vor allem in den letzten zehn Jahren in die Höhe, die Häufigkeit des Polarisierungsbegriffes nimmt schon seit Längerem stetig zu.

Abb. 1.2: Spaltung und Polarisierung im Zeitungsdiskurs

Daten: Zeitungskorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache.

Doch stimmt das allseitig aufgerufene Bild der Spaltung? Leben wir tatsächlich in einer Kamelgesellschaft, oder bewegen wir uns auf sie zu? Und wenn ja, wer sind die Menschen, die sich auf den Höckern gegenüberstehen? Diese Fragen stellen den Horizont dieses Buches dar, in dem wir eine eigene Analyse gesellschaftlicher Auseinandersetzungen entfalten, die über Pauschalisierungen hinausgehen soll. Wir schlüsseln anhand vielfältiger Daten auf, welche Konfliktthemen und -gruppen unsere Gesellschaft tatsächlich strukturieren. Dabei rücken wir mit soziologischem Blick jene vielfältigen Formen von Ungleichheit in den Vordergrund, an denen sich die Kontroversen der Gegenwart entzünden. Bevor wir einen Überblick über das Kommende geben, wollen wir gängige Polarisierungsthesen kurz skizzieren und auf einen Nennwert bringen.

9Gesellschaftliche Spaltungsdiagnosen

Trotz der jüngsten Prominenz dieser Thesen gehört das Bild eines Auseinanderfallens der Gesellschaft in gegensätzliche Blöcke seit Langem zum Repertoire der Zeitkritik. So erklärte Marx die sozialen Kämpfe seiner Zeit durch die Grundspannung des Kapitalismus.3 Als Kamelhöcker treten hier soziale Klassen auf, die durch ihr Eigentum an Produktionsmitteln und ihre Position in der Produktionssphäre bestimmt sind. Im Spiel der kapitalistischen Kräfte, so prophezeite es das Kommunistische Manifest, würden »Zwischenklassen« nach und nach zerrieben.4 Übrig blieben zwei antagonistische Hauptklassen, verkörpert durch die Gruppen der Besitzenden und der Lohnabhängigen.5 Dieses schismatische Zwei-Klassen-Modell war lange Zeit eine der wirkmächtigsten Polarisierungsdiagnosen in den Sozialwissenschaften. Es regte unter anderem Studien an, die nachverfolgten, ob und wie sich objektive »Klassen an sich« zu »Klassen für sich« mit einem Gemeinschaftsgefühl und einem geteilten Verständnis der Situation formierten bzw. was diesen Übergang verhinderte.6

Ein dezidiert nicht marxistischer, aber ähnlich strukturell ausge10richteter Forschungsansatz entwickelte sich in der Politikwissenschaft ab den späten sechziger Jahren mit der sogenannten Cleavage-Theorie.7 Cleavages – zu Deutsch: Spaltungslinien – bezeichnen historisch relativ stabile Konfliktkonstellationen, die sich aus der Teilung von Bevölkerungsgruppen entlang sozialer Interessen und Identitäten ergeben. Die Cleavage-Forschung versucht zu erklären, warum nationale Parteiensysteme oft durch ähnliche Gegensätze strukturiert sind (etwa den zwischen Sozialdemokraten und Konservativen) und warum sich die Konstellationen zugleich von Land zu Land unterscheiden. Entsprechend ihrer leitenden Metapher zeichnet die Theorie ein Bild der Meinungslandschaft als geprägt durch Kollisionen und Gräben, die sich in langen historischen Prozessen aus »tektonischen« Verwerfungen ergeben. Was in der Geologie das Aufeinanderprallen oder Auseinanderreißen von Kontinentalplatten ist, sind in der Cleavage-Forschung Großprozesse wie die Herausbildung der Nationalstaaten und die industrielle Revolution. Sie schaffen Gewinner und Verlierer, etwa wenn nationalstaatliche Zentralisierung regionale Eliten deklassiert oder die kapitalistische Produktion Menschen die Arbeitsmittel entzieht und ihr Überleben von Marktgeschicken abhängig macht. In kritischen Momenten der Weichenstellung (sogenannten critical junctures) brechen derlei Antagonismen auf und bringen verschiedene Gruppen miteinander in Konflikt. In welchem Kontext dieser ausgefochten wird und wie sich die Antagonisten organisieren, prägt in der Folge dauerhaft die Parteienlandschaft. Denn einmal entstanden, tendieren die entsprechenden politischen Parteien dazu, diese Konfliktstrukturen auf Dauer zu stellen. Sie bleiben »eingefroren« und verschieben sich nur langsam – bis ein neuer Strukturwandel die nächste Eruption provoziert.

Damit man von einem Cleavage sprechen kann, müssen drei Elemente zusammentreten:8 erstens ein struktureller Interessengegensatz zwischen Gruppen, die aufgrund ihrer sozialen Stellung zu Gewinnern oder Verlierern von Transformationsprozessen werden (mit einer typischen Bevölkerungsgliederung nach sozioökonomischen 11oder auch regionalen, religiösen und sonstigen Faktoren); zweitens ein Gruppenbewusstsein in Form eines gesteigerten Zusammengehörigkeitsgefühls und einer geteilten »Kultur« im weiteren Sinne; und drittens eine Form der institutionalisierten politischen Interessenvertretung durch Parteien. Die Kernvorstellung besagt, dass im Parteiensystem Konflikte ihren Ausdruck finden, die auf der tieferen Ebene der Sozialstruktur sowie sozialer Identitäten angelegt sind.

Die Paradigmen der antagonistischen Klassengesellschaft oder einer durch Spaltungslinien geprägten Konfliktlandschaft waren dabei nie unumstritten. Der gewichtigste Einwand gegen die marxistische Spaltungsprognose war der Aufstieg einer Mittelschicht der »Weder-Kapitalisten-noch-Proletarier«, in der die »Interessenkontraste der äussersten Flügel vermittelnden Ausgleich erfahren«, wie es der berühmteste Sozialstrukturforscher der Weimarer Republik, Theodor Geiger, mit Blick etwa auf die wachsenden Angestelltenmilieus beschied.9 Diese empirisch wohlfundierte Kritik am Zwei-Klassen-Modell mutierte in den fünfziger Jahren unter dem Etikett der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« zu einer Selbstbeschreibung der Bundesrepublik, die sich ganz grundsätzlich von jeglicher Konflikthaftigkeit absetzte und ein »Nivellement aller sozialen Schichten durch Entdifferenzierung und Auflösung der alten sozialen Klassen« behauptete.10 Obgleich die empirische Diagnose einer gemütlich ausgeglichenen, auf die mittleren Soziallagen zentrierten und letztlich konsensuellen Gesellschaft viele blinde Flecke aufwies, übte das Bild als Ideal eine starke Anziehungskraft aus.11

Und obwohl sich der Cleavage-Ansatz als empirisch recht ergiebig erwies, galt er manchen insbesondere ab den Achtzigern aus ebenjenen Gründen, die auch gegen die Fortschreibung des Klassenantagonismus sprachen, als veraltet. Spätestens ab diesem Zeitpunkt zeigten Studien, dass es immer schwieriger wurde, das Wahlverhalten auf der Basis struktureller Merkmale zu prognostizieren, während die einstmals bestimmenden »sozialmoralischen Milieus«12 ausfransten. Nicht nur die Verbindung zwischen Klassenzugehörigkeit und 12Parteipräferenz wurde lockerer, Kirchenzugehörigkeit und regionale Identität verloren ebenfalls an Bedeutung, auch wenn es um die Tiefe und genaue Gestalt dieser Veränderung bis heute intensive fachliche Debatten gibt.13 Mit der soziologischen Individualisierungsthese und der angelsächsischen Diskussion über einen vermeintlichen »death of class« trat eine weitere Interpretation hinzu, die das Aufbrechen kollektiver Lebensformen, die »Entstrukturierung der Sozialstruktur« und die »Pluralisierung der Lebensstile« als wesentliche Veränderungen betonte.14 Man befand sich demzufolge nicht nur »jenseits von Stand und Klasse« (Ulrich Beck), sondern auch jenseits wohlgeordneter sozialstruktureller Zuweisungsprozesse und eindeutiger Konfigurationen des Sozialen. Klassenidentitäten seien weggeschmolzen, ständisch geprägte Klassenformationen würden nach und nach enttraditionalisiert, das hierarchische Modell der Klassengesellschaft büße sukzessive an Realitätsgehalt ein.15 Die soziale Welt erschien nun mehr als Wimmelbild denn als sauber strukturierter Antagonismus. Dem entsprach auf der politischen Ebene ein Strauß neuer Themen – Ökologie, Feminismus, die Liberalisierung von Lebensweisen –, deren Basis nicht mehr in sozialstrukturellen Großgruppen, sondern in individuellen Werthaltungen verortet wurde.16

Die neuen Polarisierungsdiagnosen behaupten nun im Grunde, dass dieser Befund der Entstrukturierung seinerseits veraltet ist. Polarisierung als Signatur der Zeit, so die Stoßrichtung, sorgt auch wieder für eindeutigere Konfliktverhältnisse. Zentral ist dabei die These, der Übergang zur postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, der Wertewandel und die Globalisierungsprozesse kämen einer neuerlichen Verschiebung tektonischen Ausmaßes gleich, die auch zu neuen Spaltungslinien und Klassenkonflikten führe.17 Statt einer zunehmenden Diversifizierung und verschwimmender Interessenlagen entstünden neue Großgruppen mit auseinanderklaffenden Interessen und Werten, repräsentiert durch neue politische Parteien.

Die gängigen Begriffspaare zur Beschreibung dieser Gruppen sind vielfältig, doch sie zielen auf ähnliche Phänomene. So ist die Rede von 13»Universalisten« und »Partikularisten«, abgehobenen »Anywheres« und verwurzelten »Somewheres«, »Kosmopoliten« und »Kommunitaristen« oder »Globalisierungsgewinnern« und »Globalisierungsverlierern«.18 Man kann diese Dyaden als Namen für ein neues Paar Kamelhöcker verstehen. Wenn man die Begriffe als Real- und nicht nur als Idealtypen begreift,19 dann wird mit ihnen die Existenz abgegrenzter und empirisch kartierbarer gesellschaftspolitischer Lager unterstellt. Menschen lassen sich demnach (zunehmend) entweder als das Eine oder das Andere klassifizieren und fallen nicht mehrheitlich in die Schubladen der Sowohl-als-auch- oder der Weder-noch-Typen. Dabei sind diese Gruppen und ihre Weltbilder in einem spannungsreichen und emotional aufgeladenen Konflikt aufeinander bezogen und sich wechselseitig nicht einerlei. Die einen wollen das eine, die anderen das genaue Gegenteil. Es existiert eine Frontstellung widerstreitender Grundhaltungen; mehr noch, es wird ein kausaler Nexus zwischen beiden unterstellt: Weil die einen die Öffnung, Modernisierung und Liberalisierung vorantrieben, käme es bei den anderen zu einem kulturellen Backlash und einem umso stärkeren Insistieren auf nationaler Schließung sowie traditionellen und autoritären Positionen.20 Teil dieser Etikettierungen ist so auch eine Syndromannahme, also die Vorstellung, dass charakteristische Einstellungen gemeinsam auftreten. Es geht nicht um Ansichten zu einzelnen Problem- und Politikbereichen, sondern um umfassende Einstellungsbündel, die sich zu entgegengesetzten Weltbildern formieren.

Verbunden wird diese Großgruppendiagnose mit der wichtigen Beobachtung, dass sich auch der politische Raum verändert hat. War die Landschaft der Nachkriegszeit durch eine an Fragen der ökonomischen Verteilung geknüpfte Links-rechts-Unterscheidung strukturiert, so könne man nunmehr von einem (mindestens) zweidimensionalen politischen Raum sprechen. Eine neue kulturelle Konfliktlinie verlaufe quer zum alten Cleavage. In diesem neuen Konflikt gehe es zuallererst um Fragen der Öffnung und Schließung von Grenzen (ihre Schutzfunktion und ihre Rolle für den politischen Prozess) 14und der kulturellen Liberalisierung. Die Pole seien kulturelle Modernisierung, Weltoffenheit und Anerkennungsbereitschaft auf der einen und Traditionalismus, nationale Schließung und kulturelle Homogenität auf der anderen Seite. Gerungen wird in dieser Dimension um so unterschiedliche Themen wie Antirassismus, Migration, sexuelle Diversität, Gender-Mainstreaming, Law-and-Order oder Ökologie. Auf der Ebene der politischen Repräsentanz werden die Sammelbezeichnungen »TAN« (Traditionalistisch-Autoritär-Nationalistisch) und »GAL« (Grün-Alternativ-Liberal) für die Benennung von Parteienfamilien genutzt, die sich entlang dieser neuen Front aufstellen.21 Der Aufstieg rechtspopulistischer und linksliberal-grüner Parteien, den wir in vielen westeuropäischen Ländern beobachten können, repräsentiert diesen neuen Cleavage besonders deutlich. Es gab und gibt jedoch auch innerhalb älterer Parteien Strömungen, die diese Konfliktlinie thematisch aufnehmen und um Positionierungen in der neuen Dimension ringen.

Ein »dünner« Polarisierungsbegriff versteht unter Polarisierung die (wachsende) Diskrepanz von politischen Einstellungen und von Wählerschaften, ein »dicker« (soziologischer) Begriff schaut im Sinne der Cleavage- oder Klassen-Theorie auf die Verbindung von sozialer Struktur und politischer Positionierung. Polarisierung im Sinne einer gesellschaftlichen Spaltung liegt danach nur dann vor, wenn das Auseinanderdriften der Einstellungen mit einer sozialstrukturellen Segmentierung einhergeht. Finden sich derlei sozial »tiefere« Strukturen, kann man davon ausgehen, dass es sich um einen dauerhafteren Konflikt handelt, in dem sich politische und soziale Haltungen und Identitäten wechselseitig verstärken. Man hätte es bei den Streitparteien dann nicht nur mit »Gesinnungslagern«, Werteclustern oder ideologischen Zuordnungen zu tun, sondern mit soziostrukturellen Großgruppen.

Unterstellt wird so ein enger Zusammenhang zwischen sozialstruktureller Position und Meinungen; die Landkarte politischer Lagerbildungen wird mit der sozialen Landkarte zunehmend identisch. 15Diese – hier zum Zwecke besserer Anschaulichkeit überspitzte – Diagnose teilt die Gesellschaft beispielsweise in ein universalistisches, linksliberales oder kosmopolitisches Oben und ein partikularistisches, rechtskonservatives oder kommunitaristisches Unten. Die oberen Statuslagen gelten als Gewinner der Modernisierung und stehen dem postindustriellen Strukturwandel sowie der Globalisierung aufgeschlossen gegenüber, während die unteren Schichten weitgehend dem Camp der »Modernisierungsverlierer« zugerechnet werden und sich gegen diesen Wandel stemmen. Man könnte hier von einem neuen Klassenkonflikt sprechen, der kulturelle und sozialstrukturelle Aspekte vereint. Dieser Antagonismus, so die Annahme, wird durch die Bildungsexpansion, den sozialstrukturellen Umbau in Richtung Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, die Öffnung des nationalgesellschaftlichen »Containers« (durch Transnationalisierung, Globalisierung, Europäisierung und Migration) sowie Prozesse des Wertewandels mit einer Stärkung postmaterieller, eher auf Selbstverwirklichung ausgerichteter Subjektformen immer weiter vorangetrieben.

Entsprechend werden Bildung, Einkommen, sozialer Status und berufliche Position als maßgeblich dafür angesehen, welche gesellschaftspolitische Orientierung man annimmt. Die Verfügung über ökonomisches Kapital erhöht die Marktchancen und macht einen weniger abhängig von staatlichen Leistungen und vom Schutzraum des Nationalen, während kulturelles Kapital die kognitiven und interkulturellen Kompetenzen steigert und Individuen befähigt, mit Öffnungs- und Liberalisierungsprozessen besser umzugehen. Entsprechend formulieren die Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel und Michael Zürn,

dass die Kosmopoliten ein überdurchschnittliches Bildungsniveau und Einkommen sowie ein hohes Maß an kulturellem Kapital und Humankapital aufweisen. Sie sind kulturell offen und sowohl räumlich als auch beruflich mobil, letztendlich also die Gewinner 16der Globalisierung. Auf der anderen Seite gilt es idealtypisch zu erwarten, dass die Kommunitaristen die politischen Errungenschaften des Wohlfahrtsstaats der Nachkriegszeit verteidigen wollen und mit den entgegengesetzten Eigenschaften (der Kosmopoliten) zu beschreiben sind. Sie haben ein unterdurchschnittliches Bildungsniveau und Einkommen, ein eingeschränktes Kultur- und Humankapital und sind weniger mobil jenseits des Nationalstaats. Kommunitaristen neigen dazu, eher die Verlierer der Globalisierung zu sein.22

In der soziologischen Diskussion finden sich Parallelen hierzu in Andreas Reckwitz' Unterscheidung zwischen »neuer Mittelklasse« einerseits und »alter Mittelklasse« sowie »Unterklasse« andererseits.23 Diese seien entlang von Bildung, Einkommen und beruflichen Tätigkeitsfeldern voneinander getrennt. Zudem unterschieden sie sich aber auch als »kulturelle Klassen« durch typische Orientierungen, Lebensstile und Praktiken. Behauptet wird eine den Alltag durchziehende kulturelle Spaltung, die auch politisch zu Meinungsverschiedenheiten führt. Polarisierung wird also als kulturell, politisch und materiell zugleich verstanden: »Die ehemalige Mitte erodiert, es bildet sich mehr und mehr eine Polarität zwischen einer Klasse mit hohem kulturellen (sowie mittlerem bis hohem ökonomischen) Kapital sowie einer Klasse mit niedrigem kulturellen und ökonomischen Kapital heraus.«24 Verbunden mit dieser Klassenspaltung sei eine Orientierung der neuen Mittelklasse an politischem Kosmopolitismus, kultureller Anerkennung etc., während die alte Mittelklasse und die Unterklasse an traditionellen Ordnungsvorstellungen festhielten.25

17This is not America

Im Grundansatz fußen Polarisierungsthesen so auf einigen manchmal expliziten, häufiger aber impliziten Teilhypothesen, die man einer empirischen Prüfung zuführen kann. Diese beziehen sich erstens auf die Form oder Dimensionierung von Einstellungen (also Zahl und Abstand der »Höcker«), zweitens auf die Verankerung der vermeintlichen Einstellungslager in Sozialstruktur und konturierten Gruppen sowie drittens auf die Entwicklungstendenz im Sinne einer immer tieferen und weiter ausgreifenden Spaltung. Man darf vermuten, dass diese Polarisierungsdiagnosen bemüht und zu einer Großdiagnose zusammengebunden werden, weil sie in einem medial besonders prominenten Fall tatsächlich gebündelt auftreten: dem der gegenwärtigen USA. Im Zuge einer durch Zweiparteiensystem und Mehrheitswahlrecht begünstigten sozialen Sortierung sind politische Parteineigungen dort zu »Mega-Identitäten« avanciert, um die sich ein zunehmend kohärenter Kranz an Einstellungen gruppiert.26 Politische Identitäten verschmelzen mit religiösen, regionalen und Milieuidentitäten, die Fronten sind vielerorts verhärtet, die Debatten hitzig.27 Vor allem die affektive Polarisierung hat im US-Kontext in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen – aus politischen Wettbewerbern sind oft heftige Gegner oder gar Feinde geworden. So stimmten 2019 40 Prozent der selbstidentifizierten Demokraten und Republikaner der Aussage zu, Anhängerinnen der Konkurrenz lägen nicht nur politisch falsch, sondern seien rundweg böse.28

Doch lässt sich dieses Bild auf Deutschland übertragen? Folgt man einer Reihe aktueller Studien, tauchen bereits hier erste große Fragezeichen auf. Im Zeitverlauf – soziologisch gesprochen: in längsschnittlicher Perspektive – findet sich für die Bundesrepublik kaum Evidenz für eine grundlegende ideologische Polarisierung entlang eines neuen Globalisierungs-Cleavages.29 Schaut man auf die Einstellungen beispielsweise zur europäischen Integration, zur Globalisierung, zur Umweltpolitik oder zur Migration, sind die Muster der 18Veränderung viel differenzierter. Für die meisten Bereiche findet sich seit den neunziger oder nuller Jahren keine wesentliche Veränderung, die auf eine Polarisierung hindeuten würde. Einzig das Thema Migration hat seit 2015 an Salienz, also an Sichtbarkeit und Relevanz, gewonnen.30 Gleichzeitig sind die Einstellungen zu ganz unterschiedlichen Facetten dieses Themas trotz der hohen Dynamik des Geschehens erstaunlich stabil. Ein klarer Polarisierungstrend ist hier nicht erkennbar.31 Auch internationale vergleichende Längsschnitt-Untersuchungen zur affektiven Polarisierung finden für Deutschland einen unterdurchschnittlichen Wert, der seit 2000 sogar zurückgegangen ist.32

Ebenso muss man die Vorstellung von Gesinnungslagern mit gebündelten, eng miteinander verkoppelten Haltungen einer genauen empirischen Prüfung unterziehen, obwohl oder gerade weil diese Vorstellung sich so gut in gewisse Alltagsklischees von abgehobenen Großstadthipstern und konservativen Landeiern fügt. Die These der Lager fußt ja darauf, dass es sich um polare Einstellungen handle, die Identitäten, Lebensführung, Werte und Gesellschaftsbilder eng miteinander verbinden. Man könnte mit medizinischem Vokabular von einem Syndrom sprechen. Danach kämen bestimmte Haltungen immer im Paket: Wer also migrationsoffen und rassismuskritisch ist, sollte auch diverse Lebensformen und plurale sexuelle Identitäten schätzen, EU-freundlich gestimmt sein und der Umwelt zuliebe viel Gutes tun. Umgekehrt sollten Antigenderismus, Wohlstandschauvinismus, Ressentiments gegenüber Migranten und exzessiver Fleischkonsum irgendwie zusammengehören. Die These, dass wir es mit derartigen Gesinnungsklassen zu tun hätten, die nicht nur an den Rändern auffindbar sind, sondern durch die Gesellschaft als Ganzes schneiden, decken frühere Studien aber bereits als überzogen auf.33 Einzelne Meinungen sind viel loser verknüpft als in der Zwei-Welten-Theorie angenommen. Einen übergreifend progressiven »kosmopolitischen Geist« findet man in der Breite der Gesellschaft ebenso selten wie ein umfassendes »kommunitaristisches Wir« auf dem 19Weg ins Gestern. Die Banner des reinen Kosmopolitismus oder Kommunitarismus tragen nur kleine Gruppen.

Auch andere Studien widersprechen allzu schematischen Vorstellungen einer Lagerbildung. So zeigt eine Untersuchung der Konrad-Adenauer-Stiftung, dass in allen abgefragten Politikbereichen (Soziales, Migration, Klima) Mehrheiten Mittelpositionen einnehmen; dass Meinungsverschiebungen sich im Zeitverlauf in eine Richtung vollziehen, statt immer weiter auseinanderzuklaffen; dass die Einstellungsprofile der Elektorate, also der Anhängerschaften, verschiedener Parteien sehr große Überlappungen aufweisen; und dass auch die Corona-Pandemie nicht zu einer Verschärfung der Polarisierung geführt hat.34 Große Mehrheiten selbst unter denen, die sich ganz links oder ganz rechts verorten, sprechen sich für Offenheit gegenüber Andersdenkenden aus und ziehen politische Kompromissbereitschaft dem Durchsetzen eigener Interessen vor.35

Was bleibt? Eine Lagerbildung, wie in den gängigen Polarisierungsthesen unterstellt und medial immer wieder gern aufgegriffen, lässt sich an den empirischen Befunden bislang nicht ablesen. Die Zwei-Welten-Theorie erweist sich als überaus hüftsteif, wenn man mit ihr das soziale Gelände genauer erkundet. Man könnte sogar sagen: Die Selbstgewissheit, mit der sich diese These im öffentlichen Diskurs behauptet, steht in nur schwachem Zusammenhang zu ihrer Trittfestigkeit, wenn sie empirischen Boden berührt. Dass die Spannungsfelder der Öffnung und Schließung, der Liberalisierung und Rigidität, des Universalismus und Partikularismus an Bedeutung gewonnen haben, ist zwar offenkundig; ob sich aber tatsächlich zwei konturierte Lager herausgebildet haben, darf angezweifelt werden. Zumindest in der starken und an die hier explizierten Annahmen geknüpften Variante ist das Narrativ vermutlich nicht haltbar.

20Umkämpfte Ungleichheiten

Nun könnte man an dieser Stelle einen Punkt setzen, den Diskursimport aus den USA für gescheitert erklären und die Polarisierungsdebatte zumindest für den deutschen Fall schließen. Das mag eine komfortable Diskursposition sein, damit würde man sich aber zu leichtfertig aus einer wissenschaftlichen wie öffentlichen Problematisierung der gesellschaftlichen Entwicklung herauswinden und in einen wenig produktiven Gestus der Besserwisserei hineinbegeben. Wir hatten ja angedeutet, dass es sozialstrukturell und politisch tatsächlich zu grundlegenden Veränderungen gekommen ist, dass neue Konflikte Aufmerksamkeit auf sich ziehen und dass die alte Karte der Klassenkonflikte nur noch bedingt zum Navigieren durch die politische Landschaft taugt. Man wäre schlecht beraten, von der Polarisierungsdiagnose jetzt schnurstracks zu einem harmonistischen Gesellschaftsbild überzugehen. Konflikte sind vorhanden – und zwar reichlich. Und auch wer dem Gefühl einer sich beständig verschärfenden Konflikthaftigkeit nicht nachgeben will, wird kaum leugnen, dass wir oft streiten und uns im Streit auch verkeilen.

Konflikte werden mit Leidenschaft und Unnachgiebigkeit geführt, müssen deshalb aber nicht unbedingt Ausdruck einer fortschreitenden Polarisierung sein. Anhand dieser Grundeinsicht entwickeln wir im Folgenden einen Problemzuschnitt zur Vermessung gesellschaftlicher Konflikte, der über den Manichäismus der Zwei-Lager-These hinausgeht. Die Polarisierungsdiagnose ist zwar unser argumentativer Reibebaum, aber im Kern geht es uns um ein vertieftes Verständnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und ihrer sozialstrukturellen »Lagerung«. Wer streitet mit wem worüber und warum? Die entscheidende theoretische Volte ist dabei, Konflikt nicht schon methodisch auf den gesamtgesellschaftlichen Antagonismus zweier vermeintlicher Großgruppen herunterzubrechen. Stattdessen rekonstruieren wir Einstellungslagerungen, soziale Verankerungen und zeitliche Bewegungstendenzen in verschiedenen Konfliktarenen. Unse21re Forschungsstrategie ist also die der Disaggregation, des Zerlegens und Ordnens des Konfliktraums, mit dem Ziel, ein genaueres Verständnis beobachtbarer Dynamiken zu ermöglichen, auch wenn dies die Dinge etwas verkompliziert. Leider, so muss man sagen, ist die empirische Welt doch weniger stringent und schematisch, als die liebgewonnene Polarisierungsthese impliziert.

Welche sozialen Konflikte werden uns beschäftigen? Die Gesellschaft ist ja von diversen Streits durchzogen, fast täglich brechen neue auf. Die Corona-Pandemie und Putins neoimperialer Angriff auf die Ukraine sind Großkrisen, an denen sich heftige Kontroversen entzündet haben. Aber auch in viel kleinerem Maßstab wird politisch gestritten, beispielsweise um die Elbvertiefung oder das Abspielen eines sexistischen Ballermann-Liedes auf einem Volksfest. Wir widmen uns in unserer Studie Konflikten, bei denen Ungleichheitsfragen im Vordergrund stehen. Von Ungleichheitskonflikten kann man in Absetzung zu anderen Auseinandersetzungen dann sprechen, wenn es im Kern um »gesellschaftlich verankerte Formen der Begünstigung und Bevorrechtigung einiger, der Benachteiligung und Diskriminierung anderer« geht,36 wobei es sich bei dieser Verankerung sowohl um materielle Verhältnisse als auch um rechtliche und sonstige institutionelle Rahmungen oder um kulturelle Formen der Wert- oder Geringschätzung handeln kann. Eine solche Definition erlaubt einen Zugriff, der sehr unterschiedliche Ungleichheiten einzufangen und zu systematisieren vermag. Es geht uns also um Auseinandersetzungen um materielle und immaterielle Güter, um Lebenschancen in Form von ökonomischen Ressourcen, aber auch von Rechten und Anerkennung (siehe ausführlich Kapitel 2): Wer soll was bekommen? Wem stehen welche Rechte zu? Wer soll oder darf aus welchen Gründen exkludiert werden? Welche Gruppen verdienen (mehr) Anerkennung? Was schulden wir zukünftigen Generationen? Wir folgen der Cleavage-Theorie insofern, als uns vor allem jene Auseinandersetzungen interessieren, die sowohl in sozialstruktureller als auch in politischer Hinsicht die Gesellschaft prägen (man 22könnte auch sagen: bei denen es sich sowohl um Konfliktstrukturen als auch um Strukturkonflikte handelt).

Ungleichheitsfragen, bei denen es um Ressourcen, Rechte und Anerkennung geht, sind dafür prädestiniert, gesellschaftliche Konfliktthemen zu werden. Zu groß sind die Unterschiede im ideologischen Gepäck und in den handfesten Interessen, als dass man erwarten könnte, die Bürger eines Landes würden sich schnell handelseinig. Der »implizite Gesellschaftsvertrag«37 bleibt immer prekär. Die Gesellschaft ist weder ein statisches Gebilde, noch kann man von ihren Mitgliedern erwarten, dass sie den Status quo akzeptieren, egal welche Nachteile oder Ungerechtigkeiten damit für sie verbunden sind. Ohne die Infragestellung der hergebrachten Ordnung, ohne sozialen Kampf gegen Ausbeutung und Deklassierung, ohne politisches Bewusstsein für Diskriminierung und Ausgrenzung, ohne die Mobilisierung für die Rechte zukünftiger Generationen wäre die Gesellschaft sklerotisch und ungerecht, voller fauler Kompromisse und fatalistischem Erdulden.

Es wird aber auch nicht alles fortwährend politisiert und auf den Prüfstand gestellt. Ganz im Gegenteil: Wir tendieren oft dazu, selbst dramatische Ungerechtigkeiten als unabänderlich zu akzeptieren. Dass Staatsbürger über mehr Rechte als Nicht-Staatsbürger verfügen, dass wir daher qua Geburt privilegiert sein können, oder dass Tätigkeiten sehr ungleich bezahlt werden, gehört zu den sozialen Normierungen, die nur selten grundsätzlich hinterfragt werden. Derlei Ungleichheiten sind zwar strukturprägend, aber insbesondere für diejenigen, die nicht unter ihnen leiden, oftmals unsichtbar. Eingeübte kulturelle Deutungen, verfügbare moralische Repertoires, politische Befriedung und der stumme Zwang der Verhältnisse sorgen dafür, dass zahlreiche Ungleichheiten dethematisiert und hingenommen werden. Politisiert werden sie vor allem dann, wenn sie als besonders unfair, eklatant groß oder in ihren gesamtgesellschaftlichen Folgen als problematisch wahrgenommen werden.

Hauptsächlich angetrieben wird die Thematisierung von Ungleich23heit durch Konflikte, also Momente, in denen die Kritik an Ungleichheiten und ihre absichernde Legitimierung aufeinanderprallen. In diesen Situationen wird nicht nur das Leiden an ungleichen Verhältnissen beredt, auch der Status quo muss expliziert und verteidigt werden. Wo es vom Standpunkt der Legitimation aus eigentlich nichts zu sehen gibt als den normalen Lauf der Welt, skandalisieren Kritikerinnen vermeidbares Unrecht, das gegen kollektive Selbstverständnisse oder legitime Interessen verstößt. Wo immer solche Kritik so laut wird, dass sie nicht mehr ignoriert werden kann, zwingt sie auch ihr Gegenüber in eine neue Positionierung. Eingespielte und unter der Hand naturalisierte Arrangements müssen, einmal unter Begründungsdruck geraten, ihrerseits argumentativ verteidigt werden. Es gilt, Gleichheitsansprüche abzuwehren, Ungleichheiten als moralisch gerechtfertigt, historisch gewachsen oder funktional notwendig zu beschreiben oder zumindest den Versuch ihrer Korrektur als vergeblichen Aufwand zu verwerfen.38 Sowohl Kritik als auch Legitimation sind Formen der Thematisierung von Ungleichheit. Wo sie sich – in Ungleichheitskonflikten – aufeinander beziehen, manifestieren sich zentrale Strukturprinzipien der Gesellschaft und die Flugbahnen sozialer Transformationen.

Konflikte werden gesellschaftlich hergestellt – sie werden entfacht, getriggert und angespitzt. Damit sind sie kein sozialer Fakt, der einfach nur gegeben ist. Politische und mediale Dynamiken spielen eine wichtige Rolle, denn nur wenn Auseinandersetzungen in den Medien vorkommen, werden sie in der Breite der Bevölkerung als bedeutsam wahrgenommen. Ob und wie wir die Gesellschaft als konfliktreich erleben, hat dann eben auch damit zu tun, wie Meinungsverschiedenheiten aufbereitet und kommuniziert werden. Themenkonjunkturen, Mobilisierungsressourcen und neue Deutungshorizonte können einen Streit »groß« machen. Manche Konflikte erreichen erst breitere Aufmerksamkeit, wenn sich die Position der betroffenen Gruppen so weit verbessert, dass man sie nicht mehr ausblenden kann, weil sie mit am Tisch sitzen.39

24Weder die Ungleichheit selbst noch die Konflikte um sie sind eine statische »Lage«, sondern sie unterliegen einem fortwährenden Wandel und treiben diesen zugleich an. Der Widerstreit um soziale Güter, der Verweis auf normative Standards und moralische Empfindungen sowie die Austragung dieser Auseinandersetzungen unter Beteiligung sozialer Gruppen oder kollektiver Akteure (Klassen, Identitäts- und Interessengruppen, Parteien etc.) entfalten eine gesellschaftsgestaltende und -verändernde Kraft. Kurz: Inequality trouble ist Teil unserer alltäglichen Auseinandersetzungen.

Vorschau auf zentrale Befunde

Unser Buch beabsichtigt eine Analyse von Ungleichheitskonflikten in der Gegenwartsgesellschaft. Es stellt den Versuch einer großflächigen, aber zugleich empirisch genauen Vermessung des Zusammenhangs von Ungleichheiten und Einstellungsmustern dar und versucht sich an einer Kartierung der Lagerung und Dynamik sozialer Konflikte. Unser Augenmerk gilt dabei vor allem auch dem vorpolitischen Raum, in dem moralische Grammatiken, Interessen, Weltsichten und Gesellschaftsbilder ausgeprägt werden. Hier loten wir die empirische Tragfähigkeit des »dünnen« Polarisierungsbegriffs (wachsende Diskrepanz von Einstellungen) und des »dicken« Polarisierungsbegriffs (Verbindung von Sozialstruktur und Einstellungen) aus. Zudem bieten wir mit dem Konzept der Triggerpunkte, das diesem Buch seinen Titel gibt, ein analytisches Werkzeug an, mit dem sich aufschlüsseln lässt, warum und an welchen Punkten Konsens in Dissens umschlägt, wie Konflikte emotionalisiert werden und warum es so schwer ist, über bestimmte Themen Einigung zu erzeugen.

Um nicht von vornherein den einen übergreifenden Großkonflikt zu unterstellen, verwenden wir das Konzept der Ungleichheitsarenen, das wir im nächsten Kapitel ausführlicher entfalten. Noch einmal: 25Unsere Leitintuition ist, dass sich ein analytischer und empirischer Mehrwert ergibt, wenn man den Fokus auf konkrete Konfliktfelder richtet, in denen »Wem steht was zu?«-Fragen verhandelt werden. Das kann sich auf die ungleichen materiellen Ressourcen verschiedener Gruppen beziehen, auf nationalstaatliche Mitgliedschaft und soziale Rechte, auf Respekt für unterschiedliche Lebensweisen oder auf das Verhältnis der Generationen. Damit sind wir konzeptionell nicht gezwungen, von der Dominanz einer einzelnen Ungleichheitsdimension oder von Subsumtionsverhältnissen auszugehen, in denen ein Ungleichheitskonflikt alle anderen überlagert und determiniert. Ungleichheitsarenen sind relativ eigenständige Bereiche der Auseinandersetzung, die nach jeweils spezifischen Einsätzen, Bezugs- und Konfliktgruppen, Verteilungsmodi und institutionellen Regulierungsweisen gegliedert sind. Wir unterscheiden zwischen sozioökonomischen Verteilungskonflikten (Oben-Unten-Ungleichheiten), Kontroversen um Migration, territorialen Zugang und Inklusion (Innen-Außen-Ungleichheiten), identitätspolitischen Anerkennungskonflikten (Wir-Sie-Ungleichheiten) und umweltpolitischen Auseinandersetzungen (Heute-Morgen-Ungleichheiten).

Mit dem Arenenbegriff fassen wir verschiedene Thematiken ebenso wie ihre sozialen Ungleichheitsdynamiken und typischen soziostrukturellen Interessensträger. Uns interessiert erstens: Wie stark sind die vier zentralen Ungleichheitsarenen der Gegenwartsgesellschaft polarisiert, an welchen Punkten herrscht Konsens? Wer streitet mit wem und worüber? Welche Bewusstseinsformen mit welchen Sozialprofilen finden wir vor? Welche Rolle spielen Klassenantagonismen? Wir horchen mit unseren empirischen Instrumenten die Gesellschaft ab, versuchen, offene und verdeckte Interessenspannungen aufzuspüren, aber auch mögliche Allianzen und Schulterschlüsse. Wir können jetzt schon vorwegnehmen, dass das häufig gezeichnete Bild einer gespaltenen Gesellschaft nicht zutrifft. Konflikte sind zwar nicht »strukturlos«, aber eben auch nicht durch ein klares Gegeneinander unterschiedlicher Sozialstrukturgruppen geprägt. Zwei26tens bleibt unsere Untersuchung nicht bei der Vermessung von Einstellungsunterschieden stehen, sondern wir wollen darüber hinaus relevante Deutungsmuster von Ungleichheitskritik und -rechtfertigung ergründen. Diese umfassen die Artikulation handfester Interessen ebenso wie kulturelle Begründungsfiguren, abgerufene Wissensvorräte und moralische Repertoires. Wir zeigen, dass in den einzelnen Arenen jeweils spezifische Rechtfertigungsregister aktiviert werden, die sich nicht auf ein einfaches Dafür oder Dagegen reduzieren lassen (Kapitel 3-6).

Bemerkenswert, so viel vorab, sind die großen Unterschiede zwischen den Arenen: In der verteilungspolitischen Oben-Unten-Arena existiert zwar ein verbreitetes »Unbehagen mit der Ungleichheit«, aber statt einer klassenpolitischen Mobilisierung dominieren meritokratische Verteilungsnormen und horizontale Positionskämpfe. Die migrationspolitische Innen-Außen-Arena weist demgegenüber eine sehr viel stärkere Spannung auf. Hier geht es um Offenheit und Geschlossenheit, hier stehen Fragen der Regulierung und Begrenzung von Migration sowie der Integration der Neuankömmlinge auf der Tagesordnung. Es wird ein ganzes Spektrum von Argumenten aktiviert, das von xenophoben Haltungen bis hin zu Erwartungen der kulturellen Bereicherung reicht, wobei Klassen- und Bildungsunterschiede relativ stark zu Buche schlagen. In der identitätspolitischen Wir-Sie-Arena zeigt sich im Zeitverlauf eine starke Liberalisierung, die Gruppenunterschiede eher nivelliert. Trotz eines breiten Anerkennungskonsenses gegenüber diversen Identitäten und Lebensformen stoßen wir aber auch auf Entgrenzungsbefürchtungen (»Das geht zu weit«). Die umweltpolitische Heute-Morgen-Arena schließlich ist als Konfliktfeld erst im Entstehen und noch nicht vollständig konturiert. Unsere Befunde deuten darauf hin, dass der Klimawandel in der Breite der Bevölkerung zwar als drängendes Problem angesehen wird, aber zugleich sehr unterschiedliche – und durchaus klassenspezifische – Vorstellungen zu seiner Bewältigung vorhanden sind. Es handelt sich um einen »Klassenkonflikt im Werden«, für des27sen weitere Entfaltung die Geschwindigkeit und die Tiefe des Umbaus wie auch die Verkopplung mit der sozialen Frage entscheidend sein werden.

Ein weiterer Baustein unseres Vorhabens besteht darin herauszuarbeiten, warum sich Konflikte bei einigen Themen plötzlich und oft sehr drastisch intensivieren (Kapitel 7). Warum gibt es inflammatorische Detailfragen, an denen ein ansonsten vorhandener Grundkonsens zerbricht, etwa beim Gendersternchen, den Lastenfahrrädern oder dem Tempolimit auf der Autobahn? Warum besitzen relativ kleine Themen oft ein disproportional großes Erregungspotenzial? Zum besseren Verständnis solcher eskalatorischer Dynamiken verwenden wir das Konzept der Triggerpunkte, mit dem wir die Vorstellung verbinden, dass es sensible Bereiche des öffentlichen Diskurses gibt, wo Menschen stark und affektiv reagieren. Triggerpunkte sind neuralgische Stellen, an denen besonders aufgeladene Konflikte aktiviert werden. Wir arbeiten heraus, dass das Auftreten starker Pro- und Kontra-Reaktionen an typische Beweggründe geknüpft ist, wozu etwa wahrgenommene Ungleichbehandlungen, Normalitätsverstöße, Entgrenzungsbefürchtungen und Verhaltenszumutungen gehören.

Wie erwähnt, geht es in der Diskussion um neue Spaltungen zentral um die soziale Struktur gesellschaftspolitischer Konflikte. Ob bei der Klimafrage, den Auseinandersetzungen über Migration oder der Debatte um die gendergerechte Sprache: Oft dominiert die Vorstellung auskonturierter und sozial klar verortbarer Lager, die sich in ihren Einstellungen stark voneinander unterscheiden. In Kapitel 8 greifen wir diese Thesen auf, lenken unseren Blick aber weg von öffentlichen Diskursen, hin zum sozialstrukturellen Substrat, um nicht vorschnell aus der medialen Kommunikation auf die gesellschaftliche Positionierung von Gruppen zu schließen. Ganz zentral interessiert uns hier, ob sich moderne Ungleichheitskonflikte als Klassenkonflikte verstehen lassen und welche Klassen sich in den jeweiligen Arenen gegenüberstehen. Wir untersuchen aber auch, inwieweit Fragen von Geschlecht und Generationenzugehörigkeit, Unterschiede 28zwischen Ost- und Westdeutschen, die Migrationsgeschichte sowie ein mögliches Stadt-Land-Gefälle Konflikte strukturieren. Die sozialstrukturellen Differenzen sind nach unseren Analysen eher moderat, Bildung und Klasse schlagen allerdings je nach Konfliktarena unterschiedlich stark durch. Trotz gegenteiliger öffentlicher Wahrnehmungen lassen sich kaum Hinweise auf einen grundlegenden Stadt-Land-Konflikt oder ein Gegeneinander der Generationen finden.

Über die Analyse einzelner Ungleichheitsarenen hinaus untersuchen wir auch das Verhältnis der Arenen zueinander. Wie oben eingeführt, ist die »syndromförmige« Bündelung von Einstellungen wichtig für die Frage, ob wir es heute mit verfestigten Lagerspaltungen zu tun haben. Ist dies der Fall, sollten die einzelnen Arenen eng verbunden sein. Im Hinblick auf ihre Verschränkungen finden wir vor allem eine erstaunlich deutliche Verbindung von Klima- und Migrationsfragen, deren Ursprung wir genauer erkunden. Besonders interessant ist zudem, dass je nach Bildungsgruppe sehr unterschiedliche Muster erkennbar sind. Akademikerinnen weisen über die Arenen hinweg häufig ideologisch kohärente Einstellungsprofile auf, in der Gruppe mit einfacher Bildung dominiert hingegen eine wenig kohärente, eher kontextspezifische Moralökonomie. Damit entsprechen die Einstellungen und Orientierungen der bildungshöheren Gruppen viel deutlicher dem parteipolitischen Konfliktraum, der durch eine recht hohe ideologische Konsistenz gekennzeichnet ist. Angestellte der akademischen Mittelklasse lassen sich viel leichter in gesellschaftlichen Spaltungsstrukturen verorten als Arbeiter und einfach Gebildete.

In Kapitel 9 schauen wir genauer auf den Zusammenhang von sozialstrukturellen Kontexten und Formen affektiver Polarisierung. Unter affektiver Polarisierung verstehen wir dabei Gefühle von Sympathie und Antipathie, die gegenüber ideologischen und sozialen Fremdgruppen eingenommen werden. Wir nutzen ein »Gefühlsthermometer«, um herauszufinden, mit welchen Affekten verschiedene 29Gruppen auf ausgewählte Sozialfiguren reagieren – etwa auf »Grünen-« und »AfD-Wähler« oder »SUV-Fahrer« und »Feministinnen«. Ein Befund ist hier, dass Figuren, die als Verkörperungen des sozialen Wandels gelten können, besonders stark polarisieren, während eher konservative Figuren (wie ein »Migrationsgegner«) relativ unisono abgelehnt werden. Ressentiments gegenüber progressiven Sozialfiguren sind dort am stärksten ausgeprägt, wo man sich als Verlierer des Wandels betrachtet und bei Wertekonflikten das Nachsehen hat. Wer den Eindruck hat, nur noch die Rücklichter der gesellschaftlichen Entwicklung zu sehen, ist zudem auch wütender als diejenigen, die Themen und Richtung zu bestimmen glauben, wenngleich auch diese oft an der »Langsamkeit der Verhältnisse« verzweifeln. Die Frage der (gefühlten) Kontrolle über Veränderungen ist für politische Gefühlslagen von größter Bedeutung. Und sie ist nicht zuletzt eine Klassenfrage: Je weiter unten Menschen in der Hierarchie stehen, desto wütender und erschöpfter sind sie – mit Folgen auch für politische Konflikte.

In einem letzten analytischen Schritt schwenken wir in Richtung Politik (Kapitel 10). Wir führen unsere Untersuchung hier näher an die Struktur des politischen Raums heran, indem wir die Anhängerschaften der Parteien in ihren Einstellungsprofilen betrachten. Gibt es nach Elektoraten geordnete Bewusstseinsformen und Präferenzen? Wie ähnlich bzw. wie unterschiedlich sind sich die Gefolgsleute der Parteien in den Arenen? Mit Ausnahme der AfD (sowie teils auch der Grünen-Wählerschaft) finden wir hier starke Anzeichen auf eine zentripetale Kultur – also das Gegenteil der eingangs erwähnten Zentrifugal- oder Fliehkräfte. Die schwache ideologische Auskonturierung der breiten politischen Mitte und die Bindungsschwäche etablierter Parteien öffnen zugleich aber Räume für neue Formen der Politisierung und der »Affektpolitik«. Dabei bieten kontroverse Themen – insbesondere solche, die »triggern« und affektbesetzt sind – Eingriffspunkte, die auch von Polarisierungsunternehmern genutzt werden. Zwar gibt es kein Aufspreizen der gesellschaftspoli30tischen Einstellungen und kein auf Spaltung hinauslaufendes sozialstrukturelles Auseinander, aber vergleichsweise »laute« Politisierungen, die über die Ränder laufen und so den Eindruck verstärken, hier polarisiere sich die Gesellschaft als Ganze. Das breite Zentrum ist demgegenüber relativ entideologisiert und wenig auf Abgrenzung bedacht – wiederum mit Ausnahme der Abgrenzung gegenüber der AfD. Die unruhigen Oberränge der Arena machen so viel Stimmung, dass man mitunter die Zurufe auf dem Spielfeld kaum mehr versteht.

Im abschließenden Kapitel 11 wagen wir nach einer Zusammenschau der einzelnen Untersuchungsschritte eine Erweiterung und Perspektivierung unseres Themas in Richtung des allgemeinen Zusammenhangs von politisierten Sozialstrukturen und gesellschaftlichem Konflikt. Wie ist die Betriebstemperatur in den Ungleichheitsarenen? Welche mittel- und langfristigen Strukturmuster sozialer Ungleichheitskonflikte lassen sich erkennen und welche Verarbeitungsmöglichkeiten gibt es? Statt einer Frontstellung zweier Großgruppen oder einer gerade gezogenen Spaltungslinie verweisen unsere Befunde auf eine zerklüftete Konfliktlandschaft mit unterschiedlich verlaufenden Gräben. Nicht alle sind sehr tief, bei allem Streit findet sich auch ein großes Maß an Konsens, der eher das Dromedar denn das Kamel als übergreifende Gesellschaftsmetapher aufruft. Zugleich intensivieren sich an etlichen Triggerpunkten die Kontroversen und lassen sich nur sehr schwer rationalisieren. Wir finden solche Konfliktsteigerungen weniger in der Oben-Unten-Arena, die sich als stark demobilisiert erweist und für die bereits tragfähige Kompromissformeln und institutionelle Bearbeitungsweisen bereitstehen. Ein stärkeres Gegeneinander und größere Affektivität gibt es dagegen bei »ungesättigten Konflikten« (unsettled conflicts), die typisch sind für die Wir-Sie-, die Innen-Außen- und die Heute-Morgen-Arena. Deren Politisierungsformen, Trägerschichten und inhaltlichen Stoßrichtungen verändern sich dynamisch. Solche ungesättigten Felder schaffen Gelegenheiten für neue Formen der Politisierung und 31für den Aufstieg neuer kollektiver Akteure. Zum Ende stellen wir einige Überlegungen dazu an, welche Mittel zur Einhegung gesellschaftlicher Konflikte genutzt werden könnten.

Anspruch des Buches

Unser Buch ist von mehreren Hintergrundbeobachtungen motiviert, die den größeren Rahmen abstecken, in dem wir uns verorten, und die auch unsere Ambition kenntlich machen. Erstens haben sich die Sozialwissenschaften – die Soziologie eingeschlossen – stark ausdifferenziert, so dass hoch spezialisierte Forschungsgebiete mit jeweils eigenen Gegenstandsbereichen, epistemischen Vorannahmen und methodischen Instrumenten entstanden sind. Man untersucht Gegenstandsparzellen mit immer elaborierteren Daten und wachsender methodischer Raffinesse. Das gilt auch für die Ungleichheitsforschung, die kaum noch darauf ausgerichtet ist, ein Gesamtpanorama einzufangen und Querverstrebungen zwischen unterschiedlichen Feldern zu erkunden. Stattdessen betrachtet sie sehr spezifische Zusammenhänge und tut sich oft schwer damit, diese in ein größeres Bild einzupassen oder Einzelerkenntnisse zu aggregieren. Die sogenannten Bindestrichsoziologien – die Bildungssoziologie, die Migrationssoziologie, die Familiensoziologie, die Arbeitssoziologie und so weiter – haben jeweils wichtige Programme etabliert, sich damit aber dem Risiko einer jeweils isolierten Gegenstandsfokussierung ausgesetzt. Die Forschung, so hat es Mike Savage jüngst in seinem Großwerk The Return of Inequality betont, leide unter einer »fraktalen Aufspaltung« der Ungleichheitsfrage, die sie blind mache für die langen Linien und die übergeordneten Zusammenhänge.40

Mit einem fast umgekehrten Problem kämpfen, zweitens, die Grand Theories, die sich mit ihrer Flughöhe, dem Grad der Abstraktion und den theorieimmanenten narrativen Zwängen nur bedingt auf eine empirisch-konkrete Spurensuche einlassen können. Jede 32empirische Fundierung und jeder tiefere Einstieg in oft kleinteilige Befunde verwischt die großen Linien und irritiert die Theoriekonstruktion. Die empirische Welt ist dann doch oft unübersichtlicher, als es sich die Theorie vorgestellt hat. So bleibt der Nexus von Gesellschaftstheorie und empirischer Forschung immer prekär; die Empiriker sind mit der Theorie unzufrieden, weil diese der Vielzahl an empirischen Befunden kaum gerecht werden kann, die Theoretiker ärgert der Eigensinn der empirischen Welt, und noch mehr ärgern sie die Empiriker, die immerfort weitere Nuancierung und höhere Granularität einfordern, so dass jeder klar konturierte Theorieversuch wie ein Wasserfarbenbild bei Regen zu verlaufen droht. Es scheint aber geboten, Theoriearbeit nicht nur mit abstrakten Setzungen und einem wohlgeordneten Begriffssystem zu beginnen, sondern auch mit einem sensorischen Abtasten empirischer Gegenstände. Unser Verständnis einer politischen Soziologie der sozialen Ungleichheit ist dabei, dass sie weder reine Theoriearbeit sein sollte – im angelsächsischen Raum etwas unfair als armchair sociology diskreditiert – noch reine Rechenarbeit mit quantitativen Daten – man könnte ähnlich despektierlich von number-crunching sprechen – noch ein mikroskopisches, sich für Einzelphänomene begeisterndes nosing around im sozialen Feld, sondern dass allgemeinere Perspektiven und theoretische Einsichten auf qualitative und quantitative empirische Daten angewendet werden sollten, um diese in einem größeren Gesamtbild zusammenzuführen.

Drittens reagiert unser Buch auf eine regelrechte Welle an Publikationen mit Krisen- und Polarisierungsdiagnosen, die man nicht nur auf einschlägigen Websites oder in großen Tageszeitungen lesen kann, sondern – wie beschrieben – auch in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Veröffentlichungen, wobei zuweilen Diagnosen aus den USA ohne Passungsbauchschmerzen importiert werden. Wir wollen die Krisenhaftigkeit gegenwärtiger Entwicklungen nicht in Abrede stellen (man denke an den Aufstieg des Rechtspopulismus, an neue autoritäre Versuchungen, an gesellschaftliche Fragmentie33rungen durch die Veränderung von Öffentlichkeiten oder an den menschengemachten Klimawandel), sondern eher einen populären Topos kritisch unter die Lupe nehmen. Dies ist die schon benannte These einer Spaltung der Gesellschaft in unterschiedliche – in der Regel: zwei – Lager. Wir antworten darauf mit einer differenzierteren und nach Konfliktarenen systematisierten empirischen Untersuchung.

Viertens greifen wir die These auf, dass in den westlichen Demokratien klassenbasierte von identitätsbasierten Konflikten abgelöst worden seien.41 Genauer geht es uns um eine Kritik an der Entgegensetzung von Klassen- und Identitätspolitik, die oftmals als einander kannibalisierende Agenden verstanden werden. Ein Vorwurf lautet hierbei ja, dass sich Teile der progressiven Akademikerklasse in den Orchideengarten der Identitätspolitik verirrt hätten und dadurch die »echte« Klassenpolitik der unteren Schichten ins Hintertreffen geraten sei.42 Um an dieser Stelle für eine genauere Lagebeschreibung zu sorgen, überwinden wir den unproduktiven Dualismus »Ökonomie versus Kultur«, was auch Befunden der Forschung entspricht.43 Manche auf den ersten Blick kulturell oder identitätspolitisch motivierten Forderungen – beispielsweise die Anerkennung diverser Lebensformen und Identitäten – sind durchaus auch ökonomisch grundiert. Andererseits lehrt die Sozialgeschichte, dass auch ökonomische Macht- und Verteilungskämpfe nie ohne identitätsstiftende Ideen und kulturelle Symboliken auskommen.44 Bei Fragen der Migration, der Diskriminierungsfreiheit oder der kulturell vielfältigen Lebensformen ist die Verschränkung beider Aspekte kaum zu übersehen, geht es hier doch stets auch um den Zugang zu öffentlichen Leistungen und Infrastrukturen und um den Anspruch auf soziale sowie ökonomische Teilhabe.

Das vorliegende Buch ist das Resultat einer Zusammenarbeit dreier Soziologen mit jeweils eigenen Temperamenten, inhaltlichen Interessen und fachlichen Schwerpunkten. Erst durch diese Zusammenar34beit ließ sich die thematische und methodische Breite realisieren, mit der sich der formulierte Anspruch wenigstens halbwegs einlösen lässt. Für die möglichst detaillierte Erfassung der Konfliktstrukturen in den Ungleichheitsarenen kombinieren wir ganz unterschiedliche Datenarten und methodische Herangehensweisen: statistische Einstellungskartierungen aus großer, generalisierender Flughöhe und qualitative Tiefenbohrungen. Um repräsentative Aussagen zu den Einstellungen und Lagerbildungen in den vier Ungleichheitsarenen treffen zu können, haben wir zwischen Mai und Juli 2022 eine repräsentative Umfrage durch das Institut Infas durchführen lassen, an der bundesweit 2530 Personen im Alter ab 16 Jahren teilgenommen haben (Survey Ungleichheit und Konflikt). Dabei wurden den telefonisch erreichten Teilnehmenden nicht nur Fragen zu den Arenen und zur Soziodemografie gestellt, sondern auch zu zahlreichen weiteren Aspekten (Lebenssituation und Lebensführung, Mediennutzung, Wahlabsicht, wahrgenommenes Meinungsklima, Sympathien für bestimmte soziale Gruppen usw.).

Neben der Kartierung der Einstellungen in den Ungleichheitsfeldern interessieren wir uns auch dafür, mit welchen Argumenten und kulturellen Repertoires Positionen begründet und Fremdpositionen kritisiert werden. Da sich solche Fragen kaum mit standardisierten Surveys beantworten lassen, haben wir qualitative Erhebungen in Form von sechs Diskussionsgruppen (sogenannten Fokusgruppen als offene Explorationsverfahren) durchgeführt, drei im November 2021 in Berlin und drei im Mai 2022 in Essen. In beiden Regionen gab es je eine Gruppe mit Angehörigen der Unterschicht, eine mit Angehörigen der oberen Mittelschicht und eine mit Personen, die gegenläufige Wertorientierungen vertreten (sogenannte Krisis-Gruppen). Die Diskussionen wurden von Forschenden des Befragungsinstituts Ipsos geleitet. Im Rahmen dieses methodischen Designs haben wir die Salienz gesellschaftlicher Konflikte, die zentralen Deutungsmuster, die genutzten argumentativen Repertoires und Triggerthemen identifiziert. Alle Teilnehmerinnen füllten zudem den Fragebogen 35des Surveys aus, so dass wir die Aussagen in den Fokusgruppen zur bundesweiten Umfrage ins Verhältnis setzen konnten.

Die Daten unseres Surveys und unserer Fokusgruppen ermöglichen detaillierte Befunde zur gegenwärtigen Einstellungsstruktur in der Bundesrepublik. Die historische Entwicklung der Polarisierung können wir mit diesen Daten hingegen nicht ausloten. Der Polarisierungsgrad mag in einer bestimmten Ungleichheitsarena gegenwärtig nur schwach bis mittelstark sein, im Vergleich zu früheren Dekaden könnte er aber beträchtlich ausfallen. Um solche Dynamiken einfangen zu können, beziehen wir uns zusätzlich auf existierende Dauerbefragungen wie die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus) oder den European Social Survey (ESS). Diese zielen allerdings nur auf recht allgemeine Einstellungen und bilden die Ungleichheitsarenen nicht in voller inhaltlicher Breite ab, weshalb wir uns für die Hauptanalysen nicht auf diese Daten, sondern auf unsere eigenen Erhebungen stützen. Ausführlichere Informationen zu den von uns genutzten Daten finden sich im Onlineanhang.45

Wir haben in der Darstellung stark auf Deskription und die Integration qualitativer und quantitativer Daten gesetzt und auf die Nutzung elaborierter statistischer Verfahren mit einzelnen Ausnahmen verzichtet. Dies gebietet einerseits die Zugänglichkeit für eine breitere Leserschaft, andererseits ist unser Material so dicht und nuanciert, dass es lohnt, es genauer auszubreiten und zu interpretieren und nicht umstandslos zu Kausalanalysen zu springen, die vor allem an signifikanten Einzeleffekten interessiert sind, aber oft Kontexte, allgemeinere Muster und die Verwobenheit unterschiedlicher Deutungsebenen ausblenden. Beschränkt sind wir auch durch unseren Forschungsgegenstand, die deutsche Gesellschaft; hier bleiben wir in gewisser Hinsicht einem methodologischen Nationalismus verhaftet. Fragen von Migration, Globalisierung oder Klima werden vor allem mit Blick auf innergesellschaftliche, nicht auf internationale oder transnationale Konflikte behandelt, wo sie zweifelsohne eine große Rolle spielen.

36Die Vielfalt unserer Datenquellen (eigener Survey, Fokusgruppen, Sekundärdaten) und die Einbeziehung sehr unterschiedlicher, auf die einzelnen Arenen ausgerichteter theoretischer Ansätze birgt das Risiko der Zerfaserung und stellt hohe Ansprüche an die konzeptionelle Integration. Um aus einer Vielzahl an oftmals sehr disparaten Befunden und Diskussionsfragmenten ein Buch aus einem Guss zu machen, bedurfte es deshalb einer synthetisierenden, Komplexität reduzierenden Herangehensweise bei fortwährender Offenheit für die Überraschungen und Feinheiten der Empirie. Zugleich ist unsere Analyse natürlich auch durch forschungspraktische Entscheidungen, Datenverfügbarkeit und Buchlänge begrenzt und kann so nicht allen Themen die gebührende Aufmerksamkeit und Tiefenschärfe zukommen lassen. Insbesondere Konflikte um die Gleichstellung der Geschlechter, ethnische Diskriminierung, antimuslimische Einstellungen sowie Ost-West-Disparitäten decken unsere Daten zu wenig oder gar nicht ab. Hier müssen wir uns auf das reiche Feld existierender Studien verlassen.

372. Arenen der Ungleichheitskonflikte

Unsere Studie nähert sich den Konflikten der Gegenwart unter dem Gesichtspunkt der sozialen Ungleichheit. Mit Ungleichheit meinen wir dabei nicht nur (aber natürlich auch), wie üppig oder spärlich es in den Geldbeuteln aussieht. Soziale Güter wie Rechte, Zugehörigkeit oder Anerkennung können ebenfalls sehr ungleich verteilt sein. Ungleichheitsfragen erschöpfen sich eben nicht in der Größe von Häusern oder Autos; sie kommen auch darin zum Ausdruck, ob jemand Aufenthaltspapiere hat, die es ihr oder ihm erlauben, legal einer Arbeit nachzugehen, oder ob man mit seinem Partner in der Fußgängerzone Händchen halten kann, ohne schräg angeschaut zu werden. In vielen zentralen Konflikten der Gegenwart geht es um die Ungleichverteilung solcher sozialen, ökonomischen oder rechtlichen Güter. Kontroversen um Steuerentlastungen, Flüchtlingsobergrenzen, Klimapakete und die Rechte von Transpersonen berühren immer auch die Frage, wem was zustehen sollte: Wie sieht eine gerechte Ressourcenverteilung aus? Welche Ansprüche sind verdient, welche überzogen? Wer gehört dazu, wer bleibt außen vor? Wo um solche Fragen gerungen wird, haben wir es mit Ungleichheitskonflikten zu tun.

Wie die Aufzählung schon verdeutlicht, treten Ungleichheitskonflikte im Plural auf. In jeder Gesellschaft findet sich zu jedem Zeitpunkt ein Nebeneinander unterschiedlicher Auseinandersetzungen um Ungleichheit: Es gibt nicht den einen alles bestimmenden Konflikt, sondern eine Reihe von Themen, die mehr oder minder scharf debattiert werden, wann immer sie in den Fokus geraten.

In diesem Kapitel stellen wir Annahmen und analytische Werkzeuge vor, mit denen wir anschließend die pluralisierte Landschaft der Ungleichheitskonflikte vermessen. Das zentrale Konzept ist dabei eine Typologie von vier Arenen der Ungleichheit, in denen Kon38flikte über unterschiedliche Komplexe miteinander verknüpfter Themen ausgetragen werden. Der Begriff Arena ist nicht zufällig gewählt. Er bezeichnet einen Ort des (Wett-)Kampfes vor Zuschauern, das heißt: in der Öffentlichkeit. In Arenen wird gewetteifert, gestritten und angefeuert, Loyalitäten bilden sich aus und vertiefen sich. Dabei gelten in den diskursiven Kämpfen andere Regeln als im Circus Maximus: Hier gibt es weder einen Schiedsrichter noch eine festgelegte Spieldauer; und das Publikum sitzt nicht immer nur auf den Rängen, sondern stürmt bisweilen sozusagen das »Spielfeld«.

Mit dem Konzept der Ungleichheitsarenen können wir die Vielzahl gesellschaftlicher Einzelkonflikte zu größeren Einheiten gruppieren. Etwa gehören Debatten um die Höhe der Hartz-IV-Sätze und die Erbschaftssteuer inhaltlich zusammen, denn hier geht es jeweils um ökonomische Verteilungspolitik, auch die Diskussionen über die gendergerechte Sprache oder die Abschaffung des »Transsexuellengesetzes« sind verbunden, weil in ihnen Fragen der Nicht-Diskriminierung zum Thema werden. Uns interessiert, welche Argumente und typischen Positionierungen in diesen Arenen zu finden sind. Die Arenen unterscheiden sich aber auch im Hinblick auf die »Einsätze«, also das, was jeweils »auf dem Spiel steht«. Das können zum Beispiel ökonomische Güter, Formen der Anerkennung oder Zugänge zu Mitgliedschaft sein. Schließlich kann man auch erwarten, dass sich die Konfliktstrukturen in den Arenen – jenseits der argumentativen Repertoires und der unterschiedlichen Streitgüter – auch darin unterscheiden, welche sozialstrukturellen Gruppen sich wie positionieren. Wir vermuten, dass sich in den Arenen jeweils spezifische Interessenlagerungen, politische Orientierungen und moralische Ökonomien finden lassen, die mit der Sozialstruktur – etwa sozialen Klassen, Bildungsgruppen oder Alterskohorten – in Verbindung stehen. Die Konflikte in den Ungleichheitsarenen wären dann dadurch geprägt, dass sich Bevölkerungssegmente jeweils anders aufstellen; ihre Haltungen in einem Konflikt wären in sozialer Hinsicht standortgebunden. Wir verstehen unser Vorhaben als eine politische 39Soziologie der sozialen Ungleichheit. Unser Fokus liegt nicht so sehr darauf, wie Ungleichheit selbst entsteht und reproduziert wird, sondern wie über sie gestritten wird; also wo und warum ungleiche Verhältnisse kontrovers werden und wie sich an ihnen die Geister scheiden.

Welche Konflikte?

Wie viele Soziologinnen und Soziologen vor uns verstehen wir Konflikte dabei nicht allein negativ als etwas Destruktives, sondern auch ganz wertfrei als einen Typus sozialer Beziehungen, der Gesellschaften prägt. Schon Max Weber1 sah im »Kampf« eine menschlichen Gemeinschaften inhärente Beziehungsform neben Freundschaft, Konkurrenz oder Tausch. Noch stärker betonte Georg Simmel diese vergesellschaftende Funktion: Im Streit vollziehe sich immer zugleich eine Form des In-Beziehung-Setzens. Man ist sich nicht gleichgültig, also streitet man. Der »Kampf«, so Simmel, ist eigentlich die »Abhülfsbewegung gegen den auseinanderfallenden Dualismus, und ein Weg, um zu irgend einer Art von Einheit […] zu gelangen«.2 Ein allzu harmonistisches Gesellschaftsbild schien ihm unplausibel, die soziale Ordnung konturiere sich erst im umkämpften Hin und Her. Auch Karl Marx und Friedrich Engels – die bekanntlich die gesamte Geschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen verstanden3 – wiesen dem Widerstreit zwischen »Haves« und »Have-Nots« eine produktive Funktion zu: Erst durch den Klassenkonflikt treten Gesellschaften in die Geschichte ein und können den Panzer althergebrachter, dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte nicht mehr angemessener Institutionen abwerfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand – ganz im Geiste dieser »soziologischen Positivität des Kampfes«4 – eine Theorieschule, die Konflikte als Motor des sozialen Wandels in den Mittelpunkt stellte.5 Mit Verweis auf demokratisierende Revolutionen, Dekolonialisierung oder Arbeitskämpfe wur40de hier neben dem disruptiven auch das fortschrittliche Potenzial von Konflikten sowie ihre Rolle als Strukturgeber betont, etwa wenn unterprivilegierte Gruppen ihren Anteil einfordern oder sich Interessen formieren, die dann politisch an Einfluss gewinnen und gesellschaftliche Arrangements verändern. Auseinandersetzungen erzeugen und transformieren Gruppen und ihre Beziehungen, sie finden also eigentlich nicht einfach »in« der Gesellschaft statt; was eine Gesellschaft ist und wohin sie sich entwickelt, definiert sich ganz maßgeblich aus ihren Konflikten.

Ganz in diesem – klassisch soziologischen – Sinne verstehen wir Konflikte nicht bloß als Symptom der Desintegration, sondern auch als »normale« Begleiterscheinungen des gesellschaftlichen Wandels. Konflikte können pathologisch werden und gesellschaftlich korrosiv wirken, sie können aber auch durchaus gutartige Effekte zeitigen, sofern sie es Gesellschaften ermöglichen, ihre Strukturen zu hinterfragen und sich an wandelnde Bedingungen anzupassen. Das gilt insbesondere dort, wo sich die Austragung von Konflikten institutionell kanalisieren lässt, wo also Dissens möglich ist, ohne dass gleich die Gesellschaft auseinanderfliegt. Viele Konflikte (man denke etwa an Tarifauseinandersetzungen) sind heute institutionell und rechtlich so normiert, dass Streit zwar stattfindet, ein Kompromiss aber möglich erscheint und von allen Seiten insgeheim auch antizipiert wird. Dysfunktional sind hingegen Konflikte, für die keine Lösung am Horizont steht und die daher immer weiter eskalieren, oder solche, die verdrängt oder gar unterdrückt werden und so keinen Ausdruck finden.6

Das Feld der Konflikte sowie ihrer Erforschung ist riesig und oft unübersichtlich. Unser Buch nimmt davon nur einen bestimmten Ausschnitt in den Blick: den Meinungsstreit zwischen Bürgerinnen und Bürgern im Diskursraumdemokratischer Öffentlichkeiten