Lebenslänglich - Brigitte van Hattem - E-Book

Lebenslänglich E-Book

Brigitte van Hattem

4,6

Beschreibung

Plötzlich ist ein Mensch tot und ein anderer hat Schuld daran. Doch wie groß ist diese Schuld? Ist sie weniger groß, wenn der Tod ein Kollateralschaden und völlig unbeabsichtigt war? Wer bekommt "Lebenslänglich" und wer kommt unversehens davon? Brigitte van Hattem geht diesen Fragen in nicht immer philosophischen, aber dafür mörderisch tödlichen Kurzgeschichten nach. Sein erster Fall: Das Bauchgefühl eines Neulings führt zu der in einer Plastikplane umwickelten weiblichen Leiche. Für die Ermittler ist der Fall klar: Es war der Lebensgefährte. Doch wie können sie das beweisen? Nach einem wahren Fall. Lebenslänglich: Er hatte doch nur ein paar Mal nicht nachgedacht, und dann hieß es plötzlich "Mord". Nach einem wahren Fall. Champagnertorte: Die Tortenbäckerin war beschwipst, begeistert und ein wenig verliebt. Aber mit einer derart freundlichen Abfuhr konnte sie nicht umgehen. Ein Wiener in Köln: Die Angst vor Nähe wurde zu seinem Gefängnis in der Fremde. Den Tod seines Chefs hätte er dennoch verhindern können. Grubers Tochter: Soll sein Schwiegersohn mit dem Mordversuch davon kommen, nur weil er rechtzeitig die 110 gewählt hat? Freundinnen: Ostern 2020. Während des ersten deutschen Lockdowns gibt es eine vorsichtige Annäherung zwischen zwei verkrachten Freundinnen. Werden sie es überleben? Tod eines Diabetikers: Sie hat ihm den Tod gewünscht, aber hat sie ihn auch wirklich ermordet? Dummerweise ist sie sich da selbst gar nicht so sicher! Nach einer wahren Begebenheit. Der König bittet um Hilfe: Kater König Georg I ist bei einem Frauchen gelandet, das ihm missfällt. Um seinen Wunsch nach einem neuen Zuhause Nachdruck zu verleihen, schreckt er vor nichts zurück. Nuss-Kuss-Schluss: Eine narzisstische Kränkung führt schnell einmal zu Mordgelüsten. Doch bei der Suche nach einer geeigneten Mordmethode kann frau auch zu dem Schluss kommen, dass sie zur Mörderin nicht taugt. Den in dieser Geschichte beschriebenen tragischen Unfall gab es 2016 in Frankreich tatsächlich. R.I.P. Tschüss Tschüß So urteilt die Presse: "Diese mörderischen Geschichten fesseln von der ersten bis zur letzten Seite" (Schöne Freizeit 5/21) "Brigitte van Hattem präsentiert ihren Lesern in 'Lebenslänglich' eine etwas andere Art von Kriminalität, die sowohl erfrischend, als auch unterhaltsam daherkommt" (Papierflügel.blog)

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Für meinen Kater Schorsch. Ihm hat das Buch gefallen, obwohl er darin vorkommt.

Inhaltsverzeichnis

Sein erster Fall

Lebenslänglich

Champagnertorte

Ein Wiener in Köln

Freundinnen

Grubers Tochter

Tod eines Diabetikers

Der König bittet um Hilfe

Nuss – Kuss - Schluss

R.I.P

Danksagung

Impressum

Leseprobe aus: Verschieden!

SEIN ERSTER FALL

„Mert Tezcan hier. Man sagte mir, Sie hätten ein paar Fragen an mich?“

Polizeikommissaranwärter Conrad Köhler stutzte. Er hatte keine Ahnung, wer der Mann am Telefon war und er hatte auch keine Frage an ihn. Aber er war auch noch neu hier: Es war erst seine dritte Woche nach der Polizeischule und sein zweiter Tag bei der Schutzpolizei, wo er ein achtwöchiges Praktikum absolvieren sollte. Erst danach durfte er wieder zurück ins Nebengebäude, wo das Kriminalkommissariat untergebracht war. „Von der Pike auf lernen“, hieß das früher und er fand, das machte durchaus Sinn. Aber mit diesem Anruf war er im Moment überfordert.

Dabei kam Conrad die Art, wie der Mann am Apparat das Gespräch eröffnet hatte, suspekt vor, daher kritzelte er „Met Teschan“ auf den Zettelblock an seiner Schreibtischunterlage. „Der zuständige Kollege ist gerade nicht im Haus“, behauptete Conrad dann aufs Geratewohl ohne zu wissen, wer der zuständige Kollege überhaupt sein sollte. „Kann er Sie zurückrufen?“

Keine Antwort. Mert Tezcan hatte bereits aufgelegt.

„Sagt dir der Name Met Teschan etwas?“, fragte Conrad Polizeimeisterin Minnie Gantzmann, die ihm gegenüber saß und an einem Protokoll tippte.

„Nö“, kam die desinteressierte Antwort. „Frag den Chef.“

Gleich zum Dienststellenleiter zu gehen, fand Conrad übertrieben. Er riss den Zettel vom Block und steckte ihn in die Tasche. „Ich mach mal Pause“, erklärte er Minnie und ging ins Nachbargebäude. Im Kriminalkommissariat kannte er schon ein paar Kollegen und Conrad hoffte, jemanden zu finden, der interessierter war als sie.

Gleichzeitig war er froh, dem Polizeirevier zu entkommen. Es war fast noch kleiner und muffiger, als er es aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte. Der große kühle Neubau nebenan hingegen, in dem das Kommissariat untergebracht war, bestach mit großzügiger Weite. Conrad mochte das Gebäude, in dem er sich auch seine Zukunft als Kommissar vorstellte.

Doch von den Kollegen, mit denen er bereits näheren Kontakt hatte, war leider gerade niemand da und andere ansprechen mochte er nicht. Conrad wollte gerade wieder umkehren, als er sah, dass bei der Spurensicherung eine Tür nur angelehnt war. Er klopfte an und schaute hinein. Eine große Frau hantierte gerade mit ein paar Nummernschildern. Conrad zögerte.

Sophie Schuster war in Ordnung, das hatte er schon festgestellt. Allerdings schüchterte ihn die große, kräftige Frau ein. Statt also mit seiner Frage herauszuplatzen, versuchte er, sich ihr mit Small-Talk zu nähern.

„Irgendetwas Besonderes an diesen Dingern?“, fragte er und wies mit dem Kinn auf die Nummernschilder.

„Schau selbst“, antwortete Sophie kühl und drehte das oberste in seine Richtung, damit er es besser sehen konnte.

Sofort fühlte er sich wieder wie in einer Prüfungssituation und begann zu schwitzen. Seine Augen hasteten über den Schriftzug: M – WR – 367. TÜV Ende des Jahres. Nichts Verdächtiges. Doch dann fiel es ihm auf: Das Siegel der Zulassungsbehörde zeigte Baden-Württemberg an. „Offensichtlich gefälscht“, sagte er daher, „wäre das Auto aus München, wäre es in Bayern zugelassen worden.“

Sophie nickte grimmig und steckte das fragliche Kennzeichen in eine Tüte. „Wir prüfen noch, ob wir darauf Fingerabdrücke finden“, erklärte sie. „Dazu müssen alle ins Labor.“

Conrad nickte verstehend. „Bist du alleine heute?“, fragte er freundlich.

„Ja!“, bestätigte Sophie. „Die Kollegen sind zu einem Erhängten gefahren.“

„Suizid oder Fremdeinwirkung?“

„Das werden sie hoffentlich herausfinden“, murmelte Sophie und begann, auch die anderen Nummernschilder in Tüten zu stecken.

„Wieso bist du nicht auch draußen?“, wollte Conrad wissen.

„Ich habe heute keinen Tatortdienst. Wenn sich morgen wieder einer erhängt, dann fahre ich raus“, antwortete Sophie. Dann stutze sie, legte die Nummernschilder aus der Hand und sah den jungen Kollegen eindringlich an. „Was willst du?“, fragte sie misstrauisch. „Bist du nicht gerade zum Praktikum drüben im Revier? Also was willst du hier? Plaudern? Ist dir bei der Schutzpolizei etwa langweilig?“

„N-nein“, stotterte Köhler. „Ich …“

„Oder willst du mit mir flirten?“, lenkte Sophie ein und grinste.

Conrad Köhler schluckte. Sophie war zwanzig Jahre älter und viel größer und breiter als er. Ihm wäre nie in den Sinn gekommen … Als er Sophie direkt ansah, erkannte er, dass sie ihn nur neckte. Conrad räusperte sich verlegen und lächelte schließlich ebenfalls. „Ich wollte nur fragen, ob jemandem der Name …“ Er hielt den Zettel hoch und las vor: „Met Teschan etwas sagt.“

„Nein, sollte er?“, fragte Sophie, noch immer grinsend.

„Ich weiß nicht“, antwortete Köhler. „Da war so ein komischer Anruf.“

„Ach, erzähl!“ Sophies ernsthaftes Interesse war geweckt. Sie ließ sich von Köhler den kurzen Wortwechsel am Telefon erzählen. Dann nickte sie und meinte: „Wir wissen natürlich nicht, wie sich dieser Teschan wirklich schreibt. Bist du dir wenigstens beim Vornamen sicher?“

Köhler zuckte mit den Schultern. „Was ich halt so verstanden habe …“

„Schon klar“, winkte Sophie ab. „Such den Mann mal in der Datenbank. In allen Schreibweisen, die dir einfallen und mit allen arabisch-türkischen Vornamen, die so ähnlich klingen könnten. Vielleicht landest du ja einen Treffer. Ansonsten kann ich dir nur raten, bis zum Feierabend jeden nach diesem Met-Irgendwer zu fragen, der dir begegnet.“

Noch während Köhler nickte wandte sich Sophie ab, um sich wieder ihren Nummernschildern zu widmen.

Köhler war linkisch und unsicher im Umgang mit den Kollegen, aber beharrlich und ehrgeizig bei der Arbeit. Für den Tipp mit den verschiedenen Namensschreibweisen war er dankbar. Er hatte einfach aufgeschrieben, was er gehört hatte. Wie konnte er nur eine Sekunde lang so dumm sein, anzunehmen, dass er die richtige Schreibweise erwischt hatte? War es überhaupt ein arabischer Name? Der Mann hatte akzentfreies Deutsch gesprochen. „Das will nichts heißen“, dachte sich Köhler, als er zurück ins Polizeirevier ging. „Und manchmal ist eine erste Idee ja auch nicht gleich die schlechteste. Irgendwo muss ich ja anfangen.“

Seine Beharrlichkeit hatte schneller Erfolg, als er dachte. Es dauerte noch nicht einmal eine Stunde, bis Conrad im System auf Mert Tezcan stieß, einen Deutsch-Türken, der bereits mehrfach wegen Körperverletzung vorbestraft war. „Wohnhaft Karlsbader Straße 293“, murmelte Köhler, während er Namen und Adresse notierte. „Ich habe ihn!“, platzte es schließlich stolz aus ihm heraus. Keine Reaktion. Conrad sah irritiert auf und bemerkte erst jetzt, dass er alleine war. Seine Kollegin Minnie war wohl grußlos gegangen.

Plötzlich schien sein ganz persönlicher Fahndungserfolg nichts mehr wert zu sein. Was sollte er jetzt mit diesem Namen anfangen? Vielleicht sollte er noch einmal ins Kommissariat hinüber gehen und Sophie fragen. Sie hatte ihm schließlich den Tipp gegeben, mit den Namensschreibweisen zu variieren.

„Ich habe ihn“, wiederholte Köhler, als er bei Sophie im Zimmer stand. „Mert Tezcan, wohnt in der Oststadt. Die Telefonnummer passt. Was mache ich jetzt?“

Sophie kräuselte die Stirn. Sie wertete mittlerweile die Fotos aus, die sie bei einem Brand am Wochenende gemacht hatten und ließ sich ungern aus ihrer Konzentration reißen. Andererseits folgte ihr junger, angehender Kollege gerade seinem Bauchgefühl. Wenn er meinte, da wäre etwas faul, dann war das vielleicht auch so.

„Schick doch mal die Kollegen von der Streife hin. Sie sollen einfach mal nach dem Rechten sehen.“

„Daran habe ich auch schon gedacht“, begann Conrad zögernd und trat von einem Bein auf das andere.

Sophie sah auf und grinste. „Du bist ihnen nicht weisungsbefugt und der Dienststellenleiter ist nicht im Haus.“

Conrad nickte.

„Du wirst lernen müssen, dich durchzusetzen. Fang am besten sofort damit an!“, riet ihm die ältere Kollegin. „Wenn es nicht klappt, kann ich ja nachhelfen.“ Sie zwinkerte und drehte sich wieder ihren Brandbildern zu.

***

Es war nicht annähernd so schwer, wie Conrad es sich vorgestellt hatte. Zurück im Revier sah er im virtuellen Einsatztagebuch seines Rechners nach, welche Streife gerade keinen Einsatz hatte und setzte sich mit ihr per Funk in Verbindung. Er erreichte Werner Lambert und Sigmar Friedrichs und bat sie, sich in der Karlsbader Straße 293 umzusehen, um einem Mert Tezcan unverbindlich auf den Zahn zu fühlen. Die beiden Polizisten schienen sich keine Sekunde lang zu fragen, ob ihnen der Youngster am Telefon überhaupt etwas zu sagen hätte, hakten auch nicht großartig nach, als Conrad meinte, er hätte einfach nur so ein komisches Gefühl, sondern versprachen, sich sofort darum zu kümmern.

Tatsächlich fuhren sie gleich los, denn sie hatten ohnehin nichts Besseres zu tun. Genauer gesagt war ihnen bereits langweilig geworden. Es war ein drückend heißer Sommertag, der Asphalt dampfte und die Stadt war menschenleer. Die Polizisten schwitzten trotz voll aufgedrehter Klimaanalage. Ein wenig Abwechslung in Form eines mysteriösen Auftrags in einem hoffentlich kühlen Hausflur kam den beiden gerade sehr recht.

Die Karlsbader Straße 293 erwies sich als großes Mehrfamilienhaus in der als Arbeitergegend bekannten Oststadt. Die rund zwanzig Klingelschilder waren unordentlich über- und untereinander geklebt und teilweise kaum lesbar. Dennoch konnten die Beamten im vierten Stockwerk den Namen Tezcan ausmachen. Er war unter den Namen Voigt gekritzelt. Vermutlich hatte erst jemand namens Voigt hier gewohnt, bevor Mert Tezcan dazukommen war.

Sigmar – unter Freunden Siggi - war der ältere der beiden, ein großer, jovialer Mann mit rundem Gesicht und freundlichem Wesen. Sein Kollege Werner war vorsichtiger und ernsthafter als er, aber auch verschlossener und weniger umgänglich. Daher war es meist Siggi, der voranging, sich als erstes einen Überblick verschaffte und mit den Leuten redete. So auch dieses Mal. Er klingelte bei Voigt, doch niemand öffnete.

Geduldig klingelte er ein zweites und auch noch ein drittes Mal. Als sich noch immer nichts tat, sahen sich die beiden Beamten an, doch noch bevor sie ihre weiteren Schritte beratschlagen konnten, hörten sie eine Stimme von oben: „Da sind Sie ja endlich!“, rief eine ältere, hagere Frau, die sich aus einem Balkon im Erdgeschoss lehnte. „Warten Sie, ich mache Ihnen auf!“

Die Frau verschwand vom Balkon und wenige Sekunden später wurde der Summer der Haustür gedrückt. Die beiden Polizisten traten in den Hausflur und sahen sich um. Eine Tür stand offen und die Frau vom Balkon winkte sie in die Wohnung.

„Sie haben uns anscheinend erwartet?“, fragte Siggi verwundert.

„Natürlich! Ich hatte doch bei Ihnen angerufen!“, erwiderte die Frau empört. Sie trug ein Sommerkleid, dem man ansah, dass sie es vermutlich vor über zwanzig Jahren einmal am Strand von Antalya erstanden und das sie damals möglicherweise besser ausgefüllt hatte. Sie ging vor und führte die beiden Polizeibeamten in ihre Wohnung.

„Wieso haben Sie bei uns angerufen?“, hakte Werner ruhig nach.

„Na, meine Freundin Lore ist spurlos verschwunden!“ Die Frau konnte so viel Begriffsstutzigkeit gar nicht fassen.

„Lore wer?“ Das war jetzt Siggi, der mit einem aufmunternden Lächeln versuchte, die Frau zu beruhigen.

„Lore Voigt. Schon mindestens sechs Wochen ist sie weg und ihr Freund behauptet, sie wäre in Urlaub. Als ob unsere Lore jemals verreist wäre, ohne uns Bescheid zu sagen oder uns eine Nachricht zu schicken!“

„Und da haben Sie bei uns angerufen?“, fragte Siggi. „Die 112 oder ein Revier?“

„Revier Süd. Ein Revier Ost gibt es ja nicht“, antwortete die Frau fast ein wenig vorwurfsvoll. Dann besann sie sich wieder ihrer Geschichte: „Wissen Sie, der Freund von der Lore …“ Die Frau senkte vertraulich die Stimme, nachdem sie das Wort „Freund“ regelrecht ausgespuckt hatte: „… hält uns für doof, die Gabi und mich. Sagt, die Lore wäre in Urlaub nach Mallorca. Wir drei sind aber schon ewig befreundet, schon viel länger, als dieser Mert um die Lore herumschleicht. Und nach Malle wollte die Lore noch nie, da wäre es ja noch heißer als hier!“ Die Frau sah die beiden Polizeibeamten triumphierend an, woraufhin Siggi ihr gutmütig zunickte. Werner hatte unterdessen einen Schreibblock aus der Tasche gezogen und machte sich Notizen.

„Ich habe ihn heute hier wieder im Haus herumstolzieren gesehen, diesen … diesen … Tezcan, so heißt er mit Nachnamen“, fuhr die Frau fort, „da habe ich ihm gesagt, dass ich die Polizei angerufen habe und dass sie kommen und ihm Fragen stellen werden. Er hat gelacht und gesagt, die Lore interessiere doch keinen, und dann haben Sie sich ja tatsächlich stundenlang Zeit gelassen … Jetzt ist er wieder weg!“

Erneut sahen sich die beiden Beamten an. Die Geschichte der älteren Dame hörte sich glaubwürdig an, aber was das Telefonat mit dem Revier anbelangt, war anscheinend etwas gründlich schief gegangen. Doch das konnten sie später noch klären. Jetzt war es erst einmal wichtig, in die Wohnung zu kommen.

Werner hatte sich Notizen gemacht und notierte abschließend den Namen und die Adresse ihrer Zeugin: Rosi Winter, Karlsbader Straße 293, Erdgeschoss links. Sie bedankten sich bei Frau Winter und baten sie, in ihrer Wohnung zu bleiben, während sie nach oben gehen und ihr Glück noch einmal vor der Wohnungstür der Vermissten versuchen würden. Es war nicht ganz einfach, Frau Winter davon zu überzeugen, sie nicht auf ihrem Weg in den vierten Stock zu begleiten, doch wenn sie jetzt in die Wohnung von Frau Voigt kommen würden, konnten sie keine neugierige Nachbarin gebrauchen.

Vor der Wohnungstür „Voigt/Tezcan“ klingelte Siggi noch einmal anstandshalber, dann klopfte er an die Tür. „Polizei, machen Sie auf“, wiederholte er den einen Satz, den er sein halbes Leben lang immer wieder gesagt hatte, allerdings oft mit mehr Erfolg als heute, denn in der Wohnung blieb es still.

„Wir brauchen einen richterlichen Beschluss“, mahnte Werner, als er sah, wie sein Kollege Anlauf nahm.

„Gefahr in Verzug“, murmelte Siggi und tat so, als wolle er seinen Körper gegen die weiße Furniertür krachen lassen. Werner lachte: „Da träumst du von!“, sagte er, aber er verstand seinen Kollegen nur zu gut. Sie hatten die letzten Wochen fast ausschließlich Diebstähle und Einbrüche bearbeitet. Ein mysteriöser Fall von Verschwinden beflügelte sie daher regelrecht. „Lass uns einfach einen richterlichen Beschluss beantragen!“ Siggi nickte.

Noch bevor sie das Haus verlassen konnten, wurden sie erneut von Frau Winter abgefangen. „Hier, ich habe es genau aufgeschrieben“, rief sie und wedelte mit einem Zettel vor ihrer Nase. „Angerufen um 11.23 Uhr im Revier Süd. Ich habe mit einer Frau Gantzmann gesprochen und ihr gesagt, dass wir unsere Lore vermissen. Und, haben Sie sie gefunden?“

„Nein, noch nicht“, gab Siggi zu, „aber wir werden uns um Ihre Freundin kümmern, versprochen!“

***

Nur wenige Stunden später steuerten Werner Lambert und Siggi Friedrichs mit einem richterlichen Beschluss in der Tasche erneut die Karlsbader Straße 293 an. Wieder stellten sie sich im vierten Stockwerk vor die Tür, an der das Schild „Voigt/Tezcan“ angebracht war. Allerdings waren sie dieses Mal nicht alleine. Eine Standesbeamtin hatte kurzfristig Zeit gefunden, als Durchsuchungszeugin zu fungieren und stand, klein, aber kugelrund, einem wieselflinken Mann vom Schlüsseldienst im Weg, der schon des Öfteren für das Polizeirevier Süd gearbeitet hatte.

Die Polizisten klingelten der Form halber, aber sie rechneten nicht mehr damit, dass ihnen jemand öffnete. Siggi rief noch einmal matt: „Aufmachen, Polizei“, damit auch das getan war. Danach winkte er das Wiesel an der Standesbeamtin vorbei, die tief Luft holte, um ihm Platz zu machen. Vor der Wohnungstür öffnete der Mann vom Schlüsseldienst seine Werkzeugtasche, fummelte ein wenig in den beiden Schlössern der Wohnungstür, die daraufhin mit einem leisen Klicken aufging.

Die Polizeibeamten nickten dem Mann zu, der sich an eine nicht vorhandene Mütze tippte und die Treppe wieder hinunter lief. Die Standesbeamtin war zwischenzeitlich an die Tür gekommen, unschlüssig, ob sie den Polizisten folgen sollte, die bereits in die Wohnung gegangen waren.

Werner hatte als erster die komplett abgedunkelte Wohnung betreten. Siggi blieb dicht hinter ihm. Es roch nach rohem Hähnchenfleisch, aber der Geruch wurde intensiver und süßer, je weiter die Beamten sich vorwärts bewegten. Aus einem der hinteren Räume drang ein wenig Licht durch die Fenster.