Schabrackenblues - Brigitte van Hattem - E-Book

Schabrackenblues E-Book

Brigitte van Hattem

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Beschreibung

Nach drei Einzelbänden hier nun die Gesamtausgabe, also das ganze Elend auf einmal: Falten, Blasenschwäche, Schlafstörungen, Osteoporose: Die 55-jährige Berufsschullehrerin Silvia Maier ist Single, dazu postmenopausal und latent depressiv. Sie weiß sich im Herbst ihres Lebens und hadert mit dem Verfall. Während die überforderte Lehrerin in ihrem persönlichen Herbstmonat September noch die Zeit hatte, über sich, ihre Freundinnen und die Veränderungen der letzten Jahre nachzugrübeln, bekommt sie im Kapitel Oktober alle Hände voll damit zu tun, ihre Alters- und Wechseljahreserscheinungen auszugleichen. Dabei thematisiert sie Anfälle von Blasenschwäche ebenso wie Balzversuche an Tanzabenden oder schlaflose Nächte mit Hitzewallungen und Wadenkrämpfen schlaflose Nächte. Ausgerechnet ein Anfall von Dünnhäutigkeit und Schwäche katapultiert Silvia mitten in eine neue Liebschaft, aber wird das für ein Happy End im Lebensherbstmonat November ausreichen? Oder gibt es etwa Alternativen? Autorin Brigitte van Hattem beschreibt augenzwinkernd und urkomisch die Zeit, in der Frauen eine andere Art von Pubertät mitmachen, über die Wechseljahre und ihre langfristigen Folgen. Gleichzeitig setzt die Autorin allen Frauen dieses Alters ein Denkmal: Hut ab, wenn sie all diesen Widrigkeiten zum Trotz noch immer problemlos ganze Familien managen oder sogar eine Republik regieren! So urteilt die Presse: "Medizynisch: Köstlich, köstlich und auch den Herren der Schöpfung zur gefälligen unterhaltsamen Lektüre angeraten" (Kunstportal Baden-Württemberg) "Hier wartet leichte (keine seichte!) Unterhaltung mit Niveau, ansprechend und frisch geschrieben, ganz ohne Rührseligkeit, dafür mit einer gehörigen Portion Humor. Dieses Buch bietet sich an als unbeschwertes Lesevergnügen für Frauen im besten Alter. (Rezensi.de) Autoreninfo: Brigitte van Hattem ist Autorin und Medizinjournalistin. Die gebürtige Karlsruherin lebt jetzt in Kandel, wo sie Sachbücher, Kurzgeschichten und Frauenromane schreibt.

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Oben fit und unten dicht –

mehr wünsch‘ ich mir fürs Alter nicht!

(Verfasser unbekannt)

Die folgenden Geschichten sowie die handelnden Personen haben das Leben oder mein Hirn erfunden. Sollte Ihnen dabei jemand zu ähnlich geworden sein, bitte ich um Humor und um Entschuldigung. Sollten Sie Ähnlichkeiten vermissen, sind möglicherweise Ihre Synapsen anders geschaltet.

Schabracke:

verzierte Decke, die unter den Sattel gelegt bzw. über das Pferd gebreitet wird

(Jägersprache) (bei bestimmten Tieren) sich durch helle Färbung abhebender Teil der Flanken und des Rückens

übergelegte, überhängende Zier- und Schutzdecke (besonders für Polstermöbel)

Behang oder mit Stoff bezogene Verkleidung quer über Fenstern

(salopp abwertend) altes Pferd

(salopp abwertend) alte [hässliche] Frau

(salopp abwertend) alte, abgenutzte Sache

Blues:

(Definitionen laut Duden)

Inhaltsverzeichnis

Schabracke:

Teil 1: September

Intro

Kapitel 1. Strophe

Kapitel 2. Strophe

Kapitel 3. Strophe

Kapitel 4. Strophe

Intermezzo

Kapitel 5. Strophe

Intermezzo

Kapitel 6. Strophe

Kapitel 7. Strophe

Kapitel 8. Strophe

Kapitel 11. Strophe

Intermezzo

Kapitel 10. Strophe

Kapitel 11. Strophe

Kapitel 12. Strophe

Outro

Teil 2: Oktober

Intro

Kapitel 1. Strophe

Kapitel 2. Strophe

Intermezzo

Kapitel 3. Strophe

Kapitel 4. Strophe

Kapitel 5. Strophe

Kapitel 6. Strophe

Kapitel 7. Strophe

Intermezzo

Kapitel 8. Strophe

Intermezzo

Kapitel 9. Strophe

Intermezzo

Kapitel 10. Strophe

Kapitel 11. Strophe

Kapitel 12. Strophe

Kapitel 13. Strophe

Intermezzo

Kapitel 14. Strophe

Intermezzo

Kapitel 15. Strophe

Kapitel 16. Strophe

Intermezzo

Kapitel 17. Strophe

Intermezzo

Kapitel 18. Strophe

Kapitel 19. Strophe

Outro

Teil 3: November

Intro

Kapitel 1. Strophe

Kapitel 2. Strophe

Intermezzo

Kapitel 3. Strophe

Kapitel 4. Strophe

Intermezzo

Kapitel 5. Strophe

Kapitel 6. Strophe

Kapitel 7. Strophe

Kapitel 8. Strophe

Intermezzo

Kapitel 9. Strophe

Kapitel 10. Strophe

Kapitel 11. Strophe

Intermezzo

Kapitel 12. Strophe

Outro

Teil 1: September

Intro

Das Alter ist nämlich eine unheilbare Krankheit.

Lucius Annaeus Seneca

Ich mag den September nicht. Der Spätsommer ist vorbei, aber man wartet immer auf einen Nachschlag. Gelegentlich tut einem das Wetter den Gefallen, aber es hilft nichts, bald ist es endgültig Herbst. Auf den hin und wieder noch goldenen Oktober folgen Dunkelheit, Kälte, Schnee, Matsch und Stille.

Ich befinde mich also im September meines Lebens: Ich warte auf den Nachschlag, aber stattdessen kommen Herbst und Winter. Mein Spiegelbild ist mir fremd geworden. „Wann, zum Teufel, ist das denn passiert?“, frage ich, aber mein Spiegelbild gibt keine Antwort.

„Jeder will alt werden, aber keiner will es sein“, sagte einst der mittlerweile vielzitierte Schauspieler Martin Held. Altern ist verpönt. Schon meine Eltern fanden Altern strafbar. Jeden Samstagabend saßen sie im Wohnzimmer und sahen sich die großen Fernsehshows von damals an.

„Gott, ist die alt geworden“, stöhnte meine Mutter immer und immer wieder abfällig, wenn eine Künstlerin auftrat, die sie lange nicht gesehen hatte. Und immer nickte mein Vater zustimmend.

Der Jugendwahn fand also schon ganz offensichtlich bereits in den 1960-er Jahren statt. Ich jedenfalls schwor mir damals, mir keinesfalls beim alt werden zusehen zu lassen. Erst in den vergangenen Wochen und Monaten dämmerte mir, dass mir gar nichts anderes übrigbleibt. Aber wenn ich es schon nicht verhindern kann, dann mache ich es jetzt zu meinem Thema und nehme Geld dafür. Sie haben dieses Buch doch gekauft, oder?

Älter werden ist wie schwanger sein. Eine Schwangerschaft bedeutet in den allermeisten Fällen, dass die betroffene Frau nach einer gewissen Zeit - meist nach neun Monaten - ein Kind zur Welt bringt. Natürlich können höhere Gewalt, Krankheiten oder etwas Eigeninitiative das verhindern, aber am Ende einer Schwangerschaft steht üblicherweise die Geburt eines Kindes.

Genauso ist das mit dem alt werden. Es bedeutet in den allermeisten Fällen, dass man nach Ablauf einer gewissen Zeit - und das können durchaus fünfzig, sechzig Jahre sein - alt ist.

Und möglicherweise dement, inkontinent, verarmt, verlassen und einsam. Auch das können höhere Gewalt, Krankheiten oder Eigeninitiative natürlich verhindern. Man weiß ja schließlich, worauf es hinausläuft. Aber die ersten vierzig, fünfzig Jahre realisiert man das nicht. Nicht wirklich.

Das ist auch völlig in Ordnung. Der junge Mensch sucht seinen Platz im Leben und baut es sich auf. Damit ist er oft so beschäftigt, dass er gar nicht merkt, dass er bereits wieder abbaut. Auch bei mir haben die Zeichen der Zeit, die sich in mein Gesicht gegraben haben, andere eher gesehen und schneller gedeutet als ich. Dass Bauarbeiter aufgehört haben, bei meinem Anblick anerkennend zu pfeifen, war dabei noch am ehesten zu verschmerzen.

Schlimmer war es, als mich an meinem fünfundfünfzigsten Geburtstag der Konrektor der Schule, an der ich unterrichte, mit einer Karte überraschte, die er von allen meinen Schülern hatte unterschreiben lassen. Sie lag mit einem kleinen Geschenk - dem obligatorischen Füllfederhalter - auf meinem Platz im Lehrerzimmer. Da stand neben dem üblichem Herzlichen-Glückwunsch-Blablabla in seiner krakeligen Handschrift:

„In vielen Situationen hast du Zusammenhalt und Überblick bewiesen, vor allem diesen wünsche ich und die ganze Klasse BZ13d dir bei deiner großen Aufgabe, älter zu werden.“

Dummerweise murmelte ich den Text halblaut vor mich hin, als ich ihn las. Als ich danach aufschaute, sah ich meine Kollegen peinlich berührt wegschauen und den Konrektor strahlen.

Unser Konrektor ist ein Vollidiot. Selbst unsere Schüler schämen sich fremd für ihn. Er will nett sein, hat aber kein Talent dazu. Er will empathisch wirken, ist aber nur takt- und distanzlos. Paradoxerweise nahm mich das immer sehr für ihn ein. Er tat mir so leid, dass ich ihn fast mochte.

Nun, von diesem Augenblick an nicht mehr. Es dauerte allerdings gut fünfundzwanzig Sekunden, bis mir eindeutig klar wurde, dass der Konrektor hier eine Grenze ganz unverschämt überschritten hatte, auch wenn er das für einen Beweis seiner Aufmerksamkeit und Wertschätzung hielt.

Als Lehrerin ist man geübt darin, brenzlige Situationen zu entschärfen, indem man sie geflissentlich übergeht. Ich steckte die Karte ein, bedankte mich kurz und ging in meine Klasse.

Es war nicht leicht. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass ich in einer Berufsschule arbeite. Alle meine Schüler sind alt genug, den Text zu verstehen, den sie da auf Geheiß des Konrektors unterschrieben hatten. Ein paar von ihnen konnten mir an diesem Tag nicht ins Gesicht sehen. Aber alle waren so höflich, das Thema nicht anzusprechen.

Nur wenn ich mich zur Tafel umdrehte, spürte ich Getuschel, mehr als dass ich es hörte. Das kann Einbildung gewesen sein, vielleicht das leise Vibrieren meiner Nerven. Aber einmal, als ich mich wieder meinen Schülern zuwandte, spürte ich deutlich zwei dunkelbraune Augen, die sich in meine bohrten.

Hamsa, unser Don Juan und Supermacho mit Migrationshintergrund. Eins zweiundachtzig. Sportstudiogestählt. Nicht dumm, aber auch nicht wählerisch. Sein Blick war so eindringlich, dass ich wegsehen musste. Nun nicht auch noch rot werden! Aber im Wegschauen erkannte ich ein feines, wissendes Lächeln auf Hamsas hübschem Gesicht.

Nun gut, ich würde zuhause noch Zeit genug haben, darüber nachzudenken.

1. Strophe

Genau beseh‘n

Wenn man das zierlichste Näschen

Von seiner liebsten Braut

Durch ein Vergrößerungsgläschen

Näher beschaut,

Dann zeigen sich haarige Berge,

Dass einem graut.

Joachim Ringelnatz

Von diesem Tag an begegnete mir der Abgesang auf meine Jugend überall. Ich konnte dagegen ankämpfen, so viel ich wollte, er war immer da und holte mich auch an vermeintlich sicheren Stellen meines Lebens wieder ein.

Natürlich hatte ich damit gerechnet, in die Wechseljahre zu kommen. Aber ich hatte nicht mit Hitzewallungen gerechnet, die mich mit ihrer Heftigkeit in Panik versetzten und mich zwangen, alles, was ich am Leibe trug, jetzt sofort und gleich auszuziehen.

Und wehe ein Knopf weigerte sich, gleich aufzuspringen oder ein Reißverschluss klemmte. Ich zerrte an allem, was eng war, als hätten sich meine Kleidungsstücke wie durch Zauberhand mit ätzender Säure vollgesogen und als könnte ich meine Haut nur retten, indem ich mir die Kleider vom Leib riss. Zwei, drei Minuten später war der Spuk vorbei und ich fror.

Eine Hitzewallung ist besonders erfreulich, wenn man sie vor einer pubertierenden Schülerschar bekommt. Man spürt selbst, wie man rot anläuft und wie die Hitze von innen nach außen durch alle Poren dringt und die Kleidung durchfeuchtet. Es mag Frauen geben, denen das nichts ausmacht, aber ich hasse derartige Hormonstatus-Statements vor einer Berufsschul-klasse. Da halfen kein sibirischer Rhabarber, kein Mönchspfeffer, kein Rotklee, keine Traubensilberkerze und kein Yoga. Da halfen nur Hormone.

Ausgerechnet Hormone! Mein ganzes Leben lang hatte ich mich geweigert, die Pille zu schlucken. Ich wollte keinen täglichen Hormoncocktail! Stattdessen hatte ich mit Kondomen, Zäpfchen und verschiedenen Spiralarten verhütet. Erfolgreich übrigens, auch wenn es oft schwer war. Oder lästig. Oder hinderlich. Oder unsicher.

Jetzt, als endlich die Zeit gekommen war, nicht mehr über Verhütung nachdenken zu müssen, schluckte ich freiwillig Hormone!

Hormone können zwar die Beschwerden der Wechseljahre lindern, aber das heißt leider nicht, dass sie die Wechseljahre aufhalten. Möglicherweise habe ich mich dieser Illusion eine Weile hingegeben, aber seitdem in jeder Ecke meiner Wohnung eine Eineurofünfzig-Brille liegt, ist es nicht mehr zu leugnen. Ich walle vielleicht nicht mehr, aber ich altere immer noch.

Selbst mein Bad hat sich verändert. Früher nahm ich ein „erfrischendes“ Gesichtswasser, heute steht „belebt und entknittert“ auf der Flasche. Ich bin mir nicht sicher, ob das Wort „entknittert“ seinen Platz im Duden hat, aber es trifft meine Wünsche und Bedürfnisse.

Meine - neue! - Waage hat nicht nur die Funktion, mir mein aktuelles Gewicht anzuzeigen. Meine Waage spricht. Das enthebt mich der Mühe, mich während des Wiegens über meinen Bauch hinweg zu bücken, um die Zahlen auf der Anzeige zu entziffern. Meine neue Waage spricht sogar laut und deutlich. Manchmal würde ich sie gerne leiser drehen. Es muss ja nicht jeder Nachbar wissen, dass ich 60,8 Kilo wiege (oder waren es 68,6?).

Auch das, was ich im Bad so tue, hat sich verändert. Früher habe ich mir die Zähne geputzt, mich geduscht, eingecremt und dann geschminkt. Schon beim Zähneputzen muss ich heute schwerere Geschütze auffahren, schließlich lassen sich die Zahnärzte alle Jahre wieder eine neue Putztechnik einfallen, die wirklich gegen Karies und Parodontose helfen soll. Vor etwa zehn Jahren wurde die Zahnseide eingeführt und es gab hitzige Debatten darüber, ob sie gewachst sein sollte oder nicht. Diese Diskussion wurde erst mit Einführung der Zwischenraum-Bürstchen beendet. Ich benutze sie pflichtbewusst und frage mich, was eigentlich aus der guten alten Munddusche geworden ist.

Sind die Zähne an der Vorder- und Rückseite, auf der Kaufläche und zwischen den Hälsen gesäubert, zupfe ich zunächst einmal stundenlang all die Härchen, die mir über Nacht an Stellen gewachsen sind, an denen ich sie nicht haben will. An der Oberlippe, am Kinn, am Hals. Die unter dem Kinn sind besonders lästig. Man sieht sie einfach nicht. Ich halte mir einen Spiegel unter das Kinn und versuche dann spiegelverkehrt, die feinen Härchen zu erwischen, die ich sehe. Das erfordert höchste Konzentration und Koordination.

Vor Jahren hat mir eine Freundin einen Vergrößerungsspiegel geschenkt. Er zeigt meine Poren in 5-facher Vergrößerung, was anfangs ein Schock war. Jetzt habe ich also ein „Vergrößerungsgläschen“ am Badezimmerspiegel. Man muss sich an vieles gewöhnen.

Seit neuestem nutze ich – wie vermutlich eine Million anderer Frauen auch - unter der Dusche sogar eine elektrische Gesichtsbürste, von der nach ihrer Markteinführung Oprah Winfrey einmal gesagt haben soll, sie hätte viel kleinere Poren, seit sie diese Bürste benutze. Das kann ein PR-Gag gewesen sein, und wenn, dann war es sicher ein gut bezahlter und äußerst erfolgreicher. Es kann aber auch wahr gewesen sein, und wenn dem so ist, dann will ich diese Chance keinesfalls ungenutzt lassen.

Während ich mit der Bürste über meine Gesichtspartien kreise, hat die Volumenpackung in meinem Haar Zeit, zu tun, wofür sie entwickelt wurde. Wieder außerhalb der Duschkabine und leidlich trocken, zupfe ich erst einmal die Härchen, die mittlerweile nachgewachsen sind.

Danach nutze ich den Entknitterer, streiche mir ein Serum ins Gesicht, klopfe eine Creme auf meine empfindliche Augenpartie, creme mein Gesicht mit einer weiteren Creme ein, massiere eine dritte Creme in Hals und Dekolletee ein und nutze für den Rest des Körpers eine straffende Bodylotion.

Während die Lotion einzieht, beginne ich damit, aus meinen Haaren eine Frisur zu formen.

Ich trage meine Haare übrigens in der klassischen mittleren Haarlänge - es ist eine Frisur, von der meine Friseurin einmal sagte, ich könne sie auch noch im hohen Alter gut tragen. Daraufhin habe ich die Friseurin gewechselt, die Frisur aber beibehalten.

Schließlich geht es an die Restauration meines Gesichts. Auch hier gibt es heutzutage so allerhand auf dem Markt und alles will probiert sein. Make-up verstopft noch immer die Poren, aber die neuen BB-Cremes sind auch nicht besser. Was pflegt, lässt die Haut glänzen. Also noch eine Schicht Puder darüber. Und ein wenig Rouge. Und Lidschatten und Eyeliner. Man trägt die Brauen jetzt dicker, also werden auch die Brauen bepinselt. Zu guter Letzt der Griff zur Wimpernzange, dann zur Wimperntusche und dann zum Lippenstift. Alles dauert wesentlich länger als früher. Dass man aber danach noch genauso gut aussieht wie früher, ist schlichtweg gelogen.

Mehr noch als erste Falten schreckt mich die Schwerkraft. Wann begannen meine Oberarme, mitzuwinken? Wann verlor meine Kinnpartie ihre fest umrissene Form? Wann war mein Gesicht nach unten gerutscht? Wann hatten sich Linien an meinem Hals gebildet, die an eine alte Matratze erinnern? Und hatte ich dabei nicht sogar Glück gehabt? War ich vielleicht besser dran als die Frauen, deren Kinn sich mittlerweile verdreifacht hat und die statt Lachfalten dicke Kissen um die Augenlider tragen?

Neben diesen Fragen nach den reinen Äußerlichkeiten stellen sich andere: Wann bin ich so dünnhäutig geworden? So gereizt und empfindlich? Wann wurde mein Ruhebedürfnis größer als meine Neugierde und Abenteuerlust? Wann wurde aus der energiegeladenen Powerfrau eine träge Mimose? Und wann fing ich an, bei leichteren Befindlichkeitsstörungen gleich das Schlimmste zu vermuten?

Da waren zum Beispiel dieses ewige Räuspern und die Tatsache, dass mir nach einem Vormittag in der Schule oft die Stimme wegblieb. Daran, dass mir oft die Spucke wegblieb, hatte ich mich im Laufe der Jahre gewöhnt, aber wenn die Stimme vor zwanzig pickeligen Jugendlichen versagt, quietscht und krächzt, ist das nur für die Pickeligen lustig. Dr. Google verriet mir, dass die Symptome allerlei bedeuten könnten.

Von einer harmlosen Stimmbandentzündung über Knötchen, Granulome, Lähmungen bis hin zum Stimmbandkrebs. Mir war mulmig und nicht zum ersten Mal kamen mir meine vierzig Packungsjahre Marlboro in den Sinn. Ich ließ mir einen Termin beim ersten HNO geben, den ich im Branchenbuch fand.

Er erwies sich als klein, gepflegt und sympathisch. Ich schilderte ihm meine Beschwerden und er nickte wissend. Mit einem Tuch hielt er meine Zunge fest, ließ mich so etwas Ähnliches wie A sagen und empfahl mir, zwischendurch zu atmen, während er meine Stimmbänder betrachtete. Dann ließ er meine Zunge los und von mir ab, rollte mit seinem Untersuchungsstuhl zurück in den normalerweise üblichen Grundabstand zweier sich fremder Menschen und fragte: „Sind Sie schon in den Wechseljahren?“

Nein, es waren keine Knötchen, kein Krebs, keine Entzündung. Es waren die Alterserscheinungen meiner in jahrelanger Schularbeit malträtierten Stimmbänder, die schlaff herumhingen, statt straff zu vibrieren und stets die Töne von sich zu geben, die ich ihnen verzweifelt entlocken wollte. Keine Hormone, kein Anti-Aging-Programm und keine Gymnastik hatten ihren Altersprozess aufhalten können. Der Arzt überwies mich zu einer Logopädin.

Ich war untröstlich. An allen Fronten meiner Verfallserscheinungen hatte ich gekämpft - Hormone geschluckt, Lithiumwasser getrunken, trainiert, gezupft, gepeelt, gebotoxt - und jetzt hatte das Alter hinterhältig und hintenherum meine Stimmbänder attackiert.

Das kann einen schon fertig machen.

2. Strophe

Habe ich mich eigentlich schon vorgestellt? Mein Name ist Silvia Maier. Dieser Name gibt allen Menschen die Chance, ihn hoffnungslos falsch zu schreiben. Während meiner Ehe hieß ich Hofmann mit nur einem „f“, das war auch nicht viel besser.

Ich wollte schon immer Lehrerin werden, auch wenn ich nicht so recht weiß, warum. Vielleicht ist es einfach nur eine legitime Art, im Mittelpunkt zu stehen mit der täglich neuen Chance, bewundert zu werden. Und ein wenig Bewunderung tut schließlich jeder Frau gut.

Während meines Studiums jobbte ich in einem Eiscafé. Ich war jung, hübsch anzusehen und hatte eine tadellose Figur, die ich der Mode entsprechend dekorierte und keinesfalls verhüllte. Natürlich hatte ich Verehrer. Aber hinter der Theke, im Inneren des Cafés, gab Sonja Bier und Kaffee aus. Sonja war Anfang Dreißig und ein wenig aus der Form geraten, aber die Herren scharten sich regelrecht um sie. Stammkunden ließen riesige Trinkgelder springen, wenn sie ihnen mit unnachahmlicher Laszivität ein frisch gezapftes Bier auf den Tisch stellte.

Sonja trug ihren Namen zu Recht: Sie war wie die Sonne und ihr Lächeln signalisierte ein immerwährendes „Ja“.

Sonjas Sinnlichkeit blitzte aus all ihren Knopflöchern. Sie hatte eindeutig das gewisse Etwas, war verheiratet und daher unberühr- und unverführbar, aber sie stachelte wie keine andere den Ehrgeiz der Stammgäste an. Wer bekam das nettere Lächeln, wer konnte sie in ein Gespräch verwickeln, ja wer schaffte es sogar, ihr etwas Persönliches zu entlocken? Selbst ich fand Sonja toll. Und ich nahm mir fest vor: Sollte ich jemals dreißig Jahre alt werden, dann werde ich auch eine tolle Frau. So wie Sonja.

Ich sollte Sonja nie vergessen, doch als ich dreißig wurde, hatte Sonjas Sonne längst ihren Glanz verloren. Es hieß, sie hätte die Herren an der Theke falsch abgerechnet, teure Schmuckstücke und auch mal den einen oder anderen Geldbeutel eingesteckt. Zuerst waren es nur diffuse Gerüchte, dann wurden die Vorwürfe lauter. Der Mob, noch eben ganz begeistert vom strahlenden Glanz der Thekenwirtin, richtete sich gegen sie und der Cafébesitzer war gezwungen, Sonja zu entlassen.

Zu diesem Zeitpunkt studierte ich bereits in einer anderen Stadt und erfuhr von Sonjas Rausschmiss nur durch Hörensagen.

Mein Interesse an weiblichen Vorbildern war damit aber erst einmal verebbt. Das Leben hatte mich mit all seinen Freuden, Launen und Widrigkeiten, und ich verschwendete kaum noch einen Gedanken an höhere Ziele als dem, mir und meinem Leben irgendwie gerecht zu werden.

Jetzt aber, da ich mich mit dem Alter und damit auch mit dem unausweichlichen Verfall beschäftige, sehe ich mir auch wieder andere Frauen genauer an. Wie gehen sie damit um? Altern sie vorbildlich? Oder verzweifeln sie daran?

Mir kommt da eine Frau in den Sinn, die ich vor drei Jahren auf einer Bildungsreise nach Verona kennenlernte. Wir waren eine Busladung voll wissensdurstiger Frauen, die meisten von uns Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen oder Hausfrauen im nicht mehr gebärfähigen Alter. Am Abend nach unserer Ankunft wurden wir in ein Sternelokal gekarrt, wo unser erstes gemeinsames Abendessen serviert wurde. Die Gesellschaft teilte sich auf mehrere Tische auf und ich hatte das Glück, an dem Achtertisch zu landen, an dem auch Anne saß.

Es dauerte nur wenige Minuten, schon unterhielt Anne den ganzen Tisch. Sie war extrovertiert, intelligent, witzig, schlagfertig und gebildet. Mit ihrem schiefen Lächeln - möglicherweise die Folge eines leichten Schlaganfalls - sah sie ein wenig wie Anneliese Rothenberger aus (nach deren Operation, versteht sich). Aber das tat Annes Attraktivität keinen Abbruch. Äußerst gepflegt und zurechtgemacht wirkte sie mehr wie das weibliche Oberhaupt einer Modedynastie als die Bürovorsteherin, die sie war. Sie saß gerade und aufrecht, brach das Brot mit sorgfältig im French Style manikürten Händen und unterstrich dann mit überbordenden Handbewegungen samt den sich darin befindlichen Brotstücken die dramatischeren Teile ihrer Erzählungen.

Anne sprach von den Reisen, die sie bereits gemacht, von den Kolleginnen, die sie bereits entlassen und von den Weinen, die sie bereits gekostet hatte. Den ganzen Abend beobachtete ich sie fasziniert und amüsiert zugleich. Mir gefielen ihre lebhafte Art, ihre Ausdrucksweise und ihre Schonungslosigkeit in Bezug darauf, wie sie Dinge und vor allem ihre Mitmenschen beurteilte. Der Reiseveranstalter war ein Bankrotteur, ihr Vorgesetzter ein mies gelaunter Halsabschneider und der Küchenchef hätte keinen seiner Sterne verdient.

Im Gegensatz zu mir, die ich gerne grüblerisch alles gegeneinander abwäge und mich ungern auf eine Seite ziehen lasse, solange ich mir nicht ganz, ganz sicher bin, bereits alle Aspekte erörtert zu haben, hatte Anne ein klares Weltbild. Es war daher leicht, von ihr begeistert zu sein.

Je später es wurde, desto großzügiger floss an diesem Abend der Rotwein. Wir sahen wohl alle ein wenig zu tief ins Glas, auch wenn keine mit Anne mithalten konnte. Nach ein paar Runden Baron Philippe de Rothschild, das Lächeln noch schiefer als vorher, gestand sie uns, dass sie dreiundsechzig Jahre alt und seit fast zwei Jahren verwitwet sei. Jetzt hätte aber die Trauer ein Ende und sie sei auf der Suche nach einem neuen Gefährten.

„Aber wer will eine wie mich noch?“, lallte sie in die Runde. „In meinem Alter kriegst du doch keinen mehr ab!“

„Naja“, wiegelte ich ab, „so schlimm wird es doch wohl nicht sein!“

„Es ist noch schlimmer!“, trumpfte Anne auf. „Neulich hatte ich einen, aber als ich den dann endlich ins Bett gekriegt hatte, ging nix! Kriegen wir denn jetzt nur noch die Impotenten?“

Anne war die erste Frau, die schonungslos offen von ihren sexuellen Bedürfnissen jenseits der Wechseljahre sprach. Ihre Frage konnte ich ihr allerdings nicht beantworten. Ich hatte schon mit Mitte vierzig den Eindruck, nur noch die Impotenten zu erwischen. Gott sei Dank erwies sich das damals nur als kurze Phase hartnäckiger Fehlgriffe.

Mittlerweile hatte Anne ihre Serviette auf den Tisch gelegt und war aufgestanden. Unsicher schwankte sie in Richtung stilles Örtchen. Sicherheitshalber folgte ich ihr.

Der Architekt, der diese Toiletten designt hatte, musste etwas gegen Frauen haben. Die Räume waren in braungoldenes Licht getaucht und die Wände verspiegelt. Frau musste sich beim Pinkeln zusehen, ob sie wollte oder nicht. Nicht gut. Nicht gut für mich, die ich vor dem Waschbecken stand und hoffte, dass das, was ich da sah, nicht wirklich ich war, sondern nur mein braungoldener Zombie. Aber ganz und gar nicht gut für die noch ältere Frau, die ob ihrer Chancenlosigkeit auf dem aktuellen Singlemarkt in eine weinselige Depression zu versinken drohte.

Kaum hatte ich das gedacht, riss Anne schon hinter mir ihre Klotür auf und rief verzweifelt: „Verwelkt, verwelkt, verwelkt!“

Noch bevor ich reagieren konnte, kam eine weitere Frau auf die Toilette. „Was ist los?“, fragte sie.

„Da drin muss man sich im Spiegel sehen!“, weinte Anne. „Und ich bin verwelkt, verwelkt, verwelkt! Kein Wunder, dass das mit dem Typen neulich nicht geklappt hat!“

Etwa ein Jahr später sah ich Anne wieder. Es war erneut auf einer Kurzreise und ich ergatterte den Platz neben ihr im Bus. Anne erkannte mich nicht wieder, also stellte ich mich ihr neu vor. Ich sei diejenige gewesen, die sie an jenem Abend in Verona kurz nach ihrem Zusammenbruch in ihr Zimmer begleitet hatte. Die sie getröstet und ihr den Rat gegeben hatte, es mit der Partnersuche doch einmal im Internet zu versuchen. Die gesagt hatte, dass es in unserem Alter nicht mehr um schöne Gesichter und straffe Körper ginge, sondern um die inneren Werte. Und dass eine reife Frau immer auch eine interessante Frau sei und blablabla.

„Pah!“, rief Anne aus. „Du warst das! Jetzt will ich dir mal was sagen, von wegen Internet und innere Werte. Ich hab' das gemacht und hab' mich mit einem getroffen. Der war siebzig. Wir haben zusammen zu Abend gegessen und weißt du, was er dann gesagt hat?“

Ich nahm an, das sei eine rhetorische Frage, aber dennoch schüttelte ich den Kopf.

„Er hat gesagt, ich sei ihm zu alt! Pah! Zu alt! Er will eineJüngere! Was bleibt dann einer Frau in meinem Alter noch?Die Achtzigjährigen???“

„Naja“, begann ich vorsichtig, um Anne nicht weiter zureizen, „Schon mal versucht, dir einen Jüngeren zu angeln?“

Sich einen jüngeren Mann zu angeln ist eigentlich keine Idee, auf die man eine Frau erst bringen muss. Aber offensichtlich war Anne vom Verhalten ihres letzten Dates noch so empört, dass sie auf diesen naheliegenden Gedanken nicht von alleine gekommen war.

„Wenn sich schon die Siebzigjährigen nicht mit mir blicken lassen wollen, wieso sollten es jüngere Männer tun?“, fauchte Anne, als hätte sie ihren Korb von mir bekommen.

„Weil es Männer gibt, die auf ältere Frauen stehen!“, versicherte ich. „Es gibt bestimmt auch Internetportale, die genau diese Mann-Frau-Konstellationen vermitteln.“

Eigentlich hatte ich gar keine Ahnung, von was ich da redete, denn ich hatte mich nie zuvor mit diesem Thema beschäftigt. Aber es war nicht das erste Mal in meinem Leben, dass mein Mund über Dinge sprach, von denen ich zuvor gar nicht gewusst hatte, dass ich etwas über sie zu sagen habe. Und bis ich Anne ein drittes Mal zufällig über den Weg lief, hatte ich meine eigenen weisen Worte natürlich auch schon längst wieder vergessen.

Allerdings erinnerte sich Anne dieses Mal lebhaft an mich und steuerte zielsicher auf mich zu, als sie mich auf dem Busbahnhof entdeckt hatte. Sie zückte ihr Portemonnaie und zeigte mir das Foto eines umwerfend attraktiven Mannes Mitte Fünfzig. „Den habe ich dir zu verdanken!“, triumphierte Anne und bugsierte mich in den Bus.

Mein Dummgebabbel bei unserer letzten Begegnung, an das mich Anne freundlicherweise erinnerte, hatte sich als Volltreffer erwiesen. Beschluss- und tatkräftig hatte Anne meine Idee sofort nach ihrer Heimkehr umgesetzt. Ich weiß leider nicht, welches Internet-Portal sie nutzte, was bedauerlich ist, denn möglicherweise möchte ich auf dieses Wissen vielleicht gerne einmal selbst zurückgreifen.

Auf jeden Fall hatte Anne dort diesen Ausnahmemann kennengelernt, der sie seither regelmäßig zum Essen ausführt, auf Veranstaltungen begleitet, sie in der Öffentlichkeit herzt und küsst und der ihr ein wunderschönes Weihnachten, Abendessen oder Frühstück, je nach Gelegenheit, bereitet und der trotzdem so rücksichts- und taktvoll ist, nach einigen heißen Stunden im Bett seine Sachen zu packen und nicht über Nacht zu bleiben. (Frauen ab einem gewissen Alter haben nämlich gute Gründe, die Nächte allein verbringen zu wollen. Im günstigsten Fall schnarchen sie nur.)

Ein Happy End also. Zumindest bis auf Weiteres. Schließlich ist noch nicht Oktober.

3. Strophe

Die Künstler der 1960er Jahre wussten vermutlich, dass meine Eltern jeden Samstag über ihr Aussehen lästerten. Also zogen sie die Konsequenzen. Als erstes war es Anneliese Rothenberger, die sich liften ließ. Von da an sang sie mit einem seltsam schiefen Mund, den sie nicht mehr ganz schließen konnte. Göttliche Klänge aus einer verzerrten Fratze. Es war schrecklich. Dann kam Hildegard Knef. „Ja, es hat weh getan“, sagte sie in dem berühmten Interview zu Joachim „Blacky“ Fuchsberger kurz nach ihrem Lifting, „sehr weh.“ Immerhin: Die Knef sah jetzt tatsächlich besser aus.

Hildegard war klug genug, es bei diesem Eingriff zu belassen. Das konnte man von Dagmar Berghoff, der ersten weiblichen Tagesschausprecherin, nicht behaupten. Statt ungeniert wie ihre männlichen Kollegen bis ans Ende all ihrer Schönheit zu moderieren, grau, faltig und unansehnlich zu werden, entschied sie sich für eine Überdosis Schönheits-OPs. Doch trotz der grausamen Spuren, die nur die verschiedensten Eingriffe in ihrem Gesicht hinterlassen haben können, stritt Frau Berghoff jahrelang jegliche ärztliche Beteiligung an ihrem Verfall ab. Doch vor ein, zwei Jahren las ich beim Friseur einen Bericht über sie, in dem sie ein kleines Augenlifting einräumte. Sie wissen schon, in einer jener Zeitschriften, die man wirklich nur beim Friseur liest.

In genau diesen Zeitschriften findet man immer wieder auch Fotos von festlichen Veranstaltungen, auf denen sich A, B und C-Promis tummeln. Zum Beispiel Traumschiff-Dauerbrenner Heike Keller. Sie läuft, geht und steht wie eine über Siebzigjährige (die sie ja auch ist), trägt aber die Maske einer Fünfzigjährigen. Immer mal wieder findet sich auch ein Foto von Vicky Leandros, die aussieht, als hätte man ihr die Gesichtshaut abgezogen, ihre Augenhöhlen kürettiert, ein Stück ihrer Gesichtshaut über die Höhlen gespannt und ihre Augäpfel wieder eingesetzt.

Früher sahen sich Vicky Leandros und Dunja Raiter einmal ähnlich. Man musste die beiden Frauen von der Seite sehen, um sie unterscheiden zu können. Vicky hatte die markante, griechische Nase. Mittlerweile haben Schönheitsoperationen die Unterschiede herausgearbeitet. Dunja hat fast gar keine Nase mehr, aber dafür Schlauchbootlippen. Jetzt haben die beiden Sängerinnen nur noch die kürettierte Augenpartie gemeinsam.

Wenn schon Prominente nach Schönheitsoperationen nicht besser aussehen als vorher, sollte man eigentlich gewarnt sein. Aber ich habe da eine Kollegin, die in diesem Jahr sechzig (in Zahlen: 60!) geworden ist. Maria hat eine makellose Haut, keine Falten und kein Doppelkinn. Ihre flammend roten Haare fallen ihr in weichen Locken (Heißwickler!) über die Schulter. Sie hat eine Figur wie Marilyn Monroe und trägt auch die entsprechenden Kleider. Wenn es nach ihrem Kleiderschrank ginge, dürfte John F. Kennedy jeden Tag Geburtstag haben. Doch es sind nicht ihre Kleider, um die ich sie beneide. Jeden Tag ertappe ich mich dabei, dass ich sie fragen möchte: „Hör zu, ich weiß, dass du was hast machen lassen. Aber was? Und bei wem?“ In manchen Phantasien falle ich sogar vor ihr auf die Knie und sage: „Bitte, bitte, verrate mir doch ...“ Aber das kommt natürlich überhaupt nicht infrage. Weder das eine noch das andere.

Das Geheimnis gekonnter Schönheitschirurgie liegt natürlich darin, dass es ein Geheimnis bleibt. Wir sehen nur die missglückten Eingriffe. Ein Facelift ist erst dann gelungen, wenn man es als solches nicht erkennt. Und diejenigen, die es sich haben machen lassen, werden nicht jeder dahergelaufenen Kollegin verraten, wer der Künstler war.

Das mag auch die Crux der Schönheitschirurgen sein. Sind sie gut, dann weiß es keiner. Sind sie schlecht, sieht man den Pfusch sofort. Wie soll man also einen guten Schönheitschirurgen finden? Er muss natürlich zunächst einmal eine Ausbildung zum Facharzt für Chirurgie abgeschlossen und sich danach auf die ästhetisch plastische - womöglich auch wiederherstellende Chirurgie - spezialisiert haben.

Nachdem ich das erste Mal wegen meiner Stimmbänder bei einer (noch älteren) Logopädin gewesen war und sie Entwarnung geben hatte („Nein“, hatte sie mich beruhigt, „das müssen keine Alterserscheinungen sein, das könnte auch Stress sein, Überbelastung, eine Fehlhaltung der Nackenwirbelsäule, das kann alles Mögliche sein und jetzt tun wir was dagegen!“), keimte wieder so etwas wie Zuversicht in mir auf. Also schnappte ich mir Dr. Google und fragte nach einem Schönheitschirurgen in der Nähe.

Dr. Google warf mehrere Adressen aus und alle genannten Ärzte waren Fachärzte für plastische und ästhetische Chirurgie. Ich hatte die Qual der Wahl und entschied mich für einen, der seine Praxis in der Nähe der Schule hat, in der ich arbeite.

Das Wartezimmer der Praxis war so unglaublich luxuriös eingerichtet, dass ich mich sofort unbehaglich fühlte. Da wartete eine alte, verwelkte Schabracke in einem aufpolierten Neo-Barock-Sofa. Sehr passend. Sphärische Klänge ärgerten meine Ohren. Meeresrauschen aktivierte meine Blasenfunktion. Wenn ich hier noch eine Weile hätte warten müssen, wäre das schief gegangen. Musik, die mich beruhigen soll, regt mich tierisch auf.

Doch dann kam schon der große Meister und bat mich in seinen Behandlungsraum. Er roch nach Zigaretten und ich fragte mich sofort, ob sich sein Nikotinabusus wohl auf meine Wundheilung auswirken könnte. Dann schob ich den Gedanken beiseite und erzählte ihm, dass und warum ich mir nicht mehr gefalle.

„Ich habe aber nicht den Eindruck, dass es damit getan ist, dass man mir die Haut nach oben zieht“, erklärte ich meinem aufmerksamen Gegenüber und demonstrierte es gleich, indem ich mir mit meinen beiden Händen ins Gesicht fasste und meine Hängebäckchen gleichzeitig sowohl nach oben als auch nach außen zog. Ich hatte das zuhause vor dem Spiegel geübt.

„Ja, das bringt nicht viel“, bestätigte mir der Chirurg. „Das liegt aber daran, dass man hier an der falschen Stelle ansetzen würde. Schauen Sie einmal.“ Schwuppdiwupp hatte er eine Fernbedienung in der Hand und zielte mit ihr auf die Wand rechts neben ihm, wo ein Plasmabildschirm hing. Während der Arzt die richtigen Bilder suchte, hatte ich Zeit und Gelegenheit, ihn mir ausgiebig zu betrachten. Er war schätzungsweise Ende Dreißig, höchstens Anfang Vierzig und sah mir persönlich ein wenig zu gut aus. Ich hatte schon vor dreißig Jahren Mühe gehabt, mir die Aufmerksamkeit von so extrem gutaussehenden Männern zu sichern, daher war ein wenig Skepsis sicher angebracht.

Doc Beauty hatte mittlerweile gefunden, was er mir zeigen wollte. Es waren Vorher-Nachher-Fotos einer Frau meines Alters, der er den Bereich um die Wangenknochen aufgepolstert hatte.

Schlagartig hatte Doc Beauty meine Aufmerksamkeit. Die Frau sah auf dem Nachher-Foto wirklich und erkennbar besser aus und das, obwohl sie immer noch eine schwammige Kinnlinie und Hängebäckchen hatte.

Doc Beauty zeigte mir noch zwei weitere Beispiele und erklärte, dass mit dem Alter das Mittelgesicht abflacht und nach unten rutscht. Aber genau dieser Bereich, der vom seitlichen äußeren Augenwinkel bogenförmig nach innen und unten bis zum seitlichen Nasenflügel verläuft, springe dem Betrachter förmlich ins Auge.

Eine Auffüllung mit Eigenfett oder einem künstlich hergestellten Füllstoff bewirke daher eine Verbesserung des Aussehens um fünf bis zehn Jahre, auch wenn sich sonst am Gesicht nicht viel getan hat. Ich war beeindruckt.

Wenn mich aber meine Kinnlinie darüber hinaus stören würde, würde mir Doc Beauty zu einem sogenannten MACS Lifting raten, bei dem Fäden die untere Wangenregion nach oben in Richtung Ohr ziehen. Auch hierfür hatte der Doc einen Fotobeweis. Er rief die Vorher- und Nachher-Fotos einer etwa Sechzigjährigen auf und zeigte mir, was er bei ihr alles operiert hatte: MACS, Augen- mit Augenbrauenlifting und Mittelgesichtsfüllung. Die Frau sah jetzt tatsächlich gut aus, obwohl ihre weit aufgerissenen Augen auf dem Nachher-Foto ein wenig angsterfüllt wirkten.

Es sei sehr schwierig gewesen, diesen Eingriff durchzuführen, plauderte der Doc aus dem Nähkästchen.

Die Frau hätte bereits woanders Voroperationen durchführen lassen und er hätte durch dickes Narbengewebe schneiden müssen. Dabei sei leider auch der Worst Case passiert.

Das war ihm vermutlich nur so herausgerutscht, aber bei mir schrillten plötzlich alle Alarmglocken. „Worst Case?“, fragte ich irritiert. Ich unterrichte technisches Englisch, mir war also klar, dass es sich hierbei um den schlimmsten anzunehmenden (Un-)Fall handelte, den Super-Gau. „Was ist denn bei dieser Operation der Worst Case?“

„Nun, die Schließfähigkeit ihres rechten Auges ging verloren“, antwortete Doc Beauty, in einem Tonfall, als spräche er über eine lästige kleine Hautirritation.

„Sie kann es nicht mehr aufmachen?“, fragte ich zurück. „Sie kann es nicht mehr zu machen“, korrigierte er mich.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich diese Information in meine sämtlichen relevanten Hirnregionen verteilte.

„Sie kann es nicht mehr zu machen?!?“, wiederholte ich ihn. „Ist das reversibel?“

Der Doc schüttelte bedauernd den Kopf.

„Aber man muss seine Augen ab und zu zumachen, sonst trocknen sie aus“, stammelte ich.

„Nun ja, sie kann es manuell zumachen“, erklärte er mir. „Mit der Hand.“

Ich starrte auf die Vorher-Nachher-Fotos seiner bedauernswerten Patientin und stellte mir vor, wie sie abends ins Bett ging und sich mit der Hand ihr Auge zuklappte. Und wie sie morgens ihr Lid wieder zurückschob. Und zwischendurch manuell blinzelte.

„Aber sie sieht gut aus“, gab ich zögerlich zu.

„Ja, aber wie es nun mal so ist“, seufzte Doc Bauty und wand sich ein wenig in seinem Chefsessel, „fokussiert sich die Patientin natürlich nur auf das, was schiefgelaufen ist. Da muss man als Arzt ganz schön Kindermädchen spielen!“

Jetzt war ich aber wirklich sprachlos.

Natürlich müssen Schönheitspraxen wirtschaftlich arbeitende Unternehmen sein, und natürlich führen sie mit ihren Patienten Verkaufsgespräche. Sie müssen auf die Möglichkeit eines Worst-Case aufmerksam machen, aber sie sollten ihren Opfern auch Respekt und Mitgefühl entgegenbringen. Ich stand auf und verabschiedete mich von Doc Beauty, ich wolle es mir noch einmal überlegen.

Die Dame an der Anmeldung reichte mir einen Kostenvoranschlag zum Abschied: Volumenaufbau Mittelgesicht und Nasolabialfalten mit Füllstoff, drei bis vier Ampullen á 450 Euro, alternativ Volumenaufbau mit Eigenfett, 1. Sitzung 3.500, jede Folgesitzung 2.000 Euro.

Als ich in den Wagen stieg und nach Hause fuhr, kam Trotz in mir auf. Hormonelle Imbalancen, wie sie bei einer postmenopausalen Frau durchaus normal sind, haben bekanntermaßen oft weitreichende Folgen: Übergewicht, Burnout, Depressionen, Hautprobleme, Infektanfälligkeit, Libidoverlust, Schlafstörungen, später noch Osteoporose und Scheidenatrophie - es gab also genug Fronten, an denen ich noch zu kämpfen hatte. Was machte es da schon, dass mein Mittelgesicht nach unten gerutscht war? Schließlich sah selbst Eva Mattes bei ihrem letzten Tatort alt aus.

4. Strophe

Ich lebe in jener Einsamkeit,

die peinvoll ist in der Jugend,

aber köstlich in den Jahren der Reife.

Albert Einstein

Sie werden es sich bereits gedacht haben, aber ich lebe alleine. Eine Ehe war mehr als genug. Dass sie kinderlos blieb, ist eine andere Geschichte. Ich würde mir gerne einen Hund zulegen, aber weil ich zu wenig Zeit für ihn hätte, halte ich mir nur einen fetten Kater namens Olifant.

Ich hätte auch gerne in einer klassischen Ehekonstellation mit ein, zwei Kindern in einem kleinen Reihenhaus gelebt, wobei ich auch bei einer größeren Villa nicht Nein gesagt hätte. Doch es gab etwas, das zu dieser Familienidylle nicht passte und das war bedauerlicherweise ich. Meine Neugierde, meine Lebenslust und vielleicht auch die Unfähigkeit, meine Bedürfnisse ins Nichts zurückzustecken, standen einer dauerhaften Zweisamkeit konsequent im Weg. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur kein Familienmensch.

Zudem wurde mir immer deutlicher klar, dass ein Mensch allein mir nicht alles geben kann: Inspiration, Wärme, Geborgenheit, Liebe, Sex, Freundschaft, Witz, Freude und Tiefgang.

Und mir wurde klar, dass ich die Gesellschaft anderer Menschen liebe - wohldosiert und in Maßen, versteht sich. Daher begann ich noch vor der Entdeckung des Internets, meinen Freundes- und Bekanntenkreis möglichst groß zu halten. In der Hauptsache pflege ich Freundschaften mit Frauen, die mir bei genauerer Betrachtung nicht unähnlich sind: gleiches Alter, gleicher sozialer Status, gleiche Figur. Natürlich kenne ich auch Frauen, die nicht nur ihre Wechseljahre, sondern dazu auch noch heranwachsende Kinder und gebrechliche Eltern haben und die sich mit Themen wie Pflegezeit, -unterstützungsgeld und -versicherung auseinandersetzen müssen. Sie haben nur viel weniger Zeit, Freundschaften zu pflegen, daher sehe ich meinesgleichen öfter, aber ich achte darauf, dass mir keine meiner Freundinnen verloren geht, solange sie das nicht selbst will.

Diese Frauen repräsentieren alle Facetten, die mir fehlen und die das Leben bunt und lebenswert machen. Deshalb fühle ich mich selten einsam. Für alles andere gibt es Vibratoren und Schokolade.