Lebenslänglich Lebensretter - Horst Heckendorn - E-Book

Lebenslänglich Lebensretter E-Book

Horst Heckendorn

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Beschreibung

Nach den beiden Bestsellern: "Ich bin zu alt für diese Scheisse!" und: "Man wird nicht jünger durch den Scheiss!" entführt Sie Notfallsanitäter Horst Heckendorn zum dritten Mal in die unglaubliche, aber wahre Welt des Rettungsdienstes. Diesmal ohne das böse "S" Wort im Titel aber garantiert wieder mit seinem berühmt- berüchtigten rabenschwarzen Humor. Wie gewohnt nimmt er kein Blatt vor den Mund und nennt die Dinge direkt beim Namen. Im vorliegenden dritten Band der Reihe erzählt uns Horst Heckendorn nicht nur seine eigenen Erlebnisse aus 33 Jahren Notfallrettung, sondern lässt auch seine Kollegen zu Wort kommen. Machen Sie sich bereit für eine haarsträubende Reise in die bizarre Welt der Lebensretter.

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… Für alle Retter dieser Welt…

...INHALTSVERZEICHNIS...

00 …Prolog…

01 …Auf Messers Schneide…

02 …Rubbeln auf Rezept…

03 …Dr. Graf und die Flatulenzen des Grauens…

04 …Objekt der Begierde…

05 …Sterben verboten... (Teil 1)

06 …Bärendienst…

07 …Ihr Kinderlein kommet…

08 …Dick und Doof…

09 …Sterben verboten… (Teil 2)

10 …Märchenstunde…

11 …Triple EXXX…

12 …Was nicht passt, wird passend gemacht…

13 …Ficki - Ficki - Bum…

14 …Die Rechte der Frau…

15 …Tierischer Einsatz…

16 …Sport ist Mord…

17 …Freitag, der 13.te…

18 …Insel der Seligen…

19 …Alter schützt vor Torheit nicht…

20 …Irrlicht…

21 …Ende mit Schrecken…

22 …Epilog…

00

…Prolog…

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich beglückwünsche Sie recht herzlich zum Kauf dieses Buches. Sie beweisen damit, dass Sie zu jener immer seltener werdenden Spezies von Menschen gehören, die lieber ihre eigene Vorstellungskraft benutzen, statt sich permanent von optischen und akustischen Reizen überfluten zu lassen. Alles, was Sie hier auf den folgenden Seiten erleben werden, spielt sich einzig und allein in Ihrem Kopfkino ab. Ich liefere Ihnen lediglich das Drehbuch dazu. Die komplette Inszenierung überlasse ich jedoch ausschließlich Ihrer eigenen Fantasie. Doch seien Sie gewarnt: Vieles davon wird Sie erschrecken, mitunter auch zum Lachen bringen, aber höchstwahrscheinlich eher verstören. In diesem Buch wurde bewusst auf Political Correctness und eine gendergerechte Sprachwahl verzichtet. Zuweilen bediene ich mich auch einer etwas derben Ausdrucksweise. Sollten Sie damit nicht einverstanden sein, können Sie das Buch jetzt schon zur Seite legen, weiterverschenken oder schlichtweg entsorgen. Allen anderen wünsche ich spannende Unterhaltung und eine gute Reise. Die Schrift ist im Übrigen absichtlich etwas größer gewählt, um auch wenig lesenden Zeitgenossen einen Anreiz zu bieten, mal hineinzuschauen. Zu weiteren Risiken oder Nebenwirkungen fressen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie den Autor ihres Vertrauens… Dankeschön.

… Im Grunde genommen war es niemals meine Absicht, noch ein weiteres Buch mit Geschichten aus dem Rettungsdienst herauszubringen. Wenn es am Schönsten ist, soll man ja bekanntlich aufhören, und schließlich wollte ich das Ganze nicht überstrapazieren und endlos in die Breite treten. Zudem wimmelt es mittlerweile geradezu von anderen Autoren, Bloggern und YouTubern, die sich im Netz und anderswo mehr als hinreichend zu diesem Thema äußern. Da einem jedoch die Erlebnisse und Geschichten in diesem ganz speziellen Gewerbe niemals ausgehen und ich zusätzlich auch noch von allen Seiten dazu ermuntert wurde, habe ich mich nun nach reiflicher Überlegung doch dazu entschlossen weiterzuschreiben. Getreu dem Motto: «Sag niemals nie» und frei nach Konrad Adenauers Devise: »Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?» halten Sie nun gerade mein neuestes Werk in den Händen. Neu ist hierbei allerdings auch die Tatsache, dass ich im vorliegenden Band nicht nur meine eigenen Erlebnisse schildere, sondern auch die von einigen meiner Berufsgenossen. Letztlich könnte nämlich jeder, der lange genug im Rettungsdienst arbeitet, irgendwelche spannenden und außergewöhnlichen Geschichten erzählen.

Bei meinen zahlreichen Lesungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass in den Pausen oder danach anwesende Kolleginnen und Kollegen von Polizei, Rettungsdienst oder Feuerwehr auf mich zugekommen sind und mir fast schon verschämt und hinter vorgehaltener Hand ihre eigene Geschichte erzählt haben. Das lief dann in der Regel meistens so ab: «Entschuldige bitte, dass ich dich in deiner Pause störe, aber ich habe da auch etwas erlebt, da könnte man locker ein ganzes Buch darüberschreiben». Nach meiner daraufhin erfolgten Ermunterung, es doch einfach mal zu versuchen, bekam ich fast immer ein abwehrendes: «Nein, nein, nein, ich kann das nicht; aber DU könntest das doch tun?!» zur Antwort. Dieses immer wiederkehrende Verhalten erweckte so nach und nach den Eindruck in mir, dass offensichtlich ein großes Bedürfnis danach besteht, dass irgendwer, in diesem Falle wohl ich, auch einmal »deren» eigene Geschichte erzählt. So habe ich mich schließlich in einem offenen Appell an meine Rettungsdienstkollegen gewandt und sie gebeten, mir doch einfach mal ihre lustigsten, traurigsten und abgefahrensten Erlebnisse zu erzählen, um diese dann, nebst meinen eigenen versteht sich, für sie aufzuschreiben. Damit wollte ich ihnen de facto ein Sprachrohr bieten und ihren Geschichten somit Gehör verschaffen. Der Rücklauf war durchaus bemerkenswert und immer dann, wenn ich mal wieder glaubte, ich hätte nun nach über dreißig Jahren präklinischer Notfallrettung wirklich alles gesehen und alles gehört, wurde ich wieder eines Besseren belehrt. Glauben Sie mir, es gibt wirklich nichts, was es nicht gibt.

So finden sich auch im vorliegenden Band wieder einmal mehr absolut wahre, ungeschönte und authentische Geschichten von den stillen Helden unseres Alltags. Menschen wie Du und ich, die oftmals kein allzu großes Aufsehen erregen wollen und sich und ihre eigene Person selten in den Vordergrund stellen.

Okay, okay, es gibt natürlich auch jene berühmt berüchtigten Profilneurotiker, die sogenannten « Rettungsdienst Rambos», die vor lauter Kraft und Heldenmut kaum laufen können. Diese sind meines Erachtens jedoch eher in der Minderheit und seltener im professionellen Bereich zu finden. Man(n) erkennt sie in der Regel unschwer an ihren Rasierklingen unter den Achselhöhlen und den prall bestückten Superheldengürteln, in welchen sie, umgeschnallt wie ein Westernheld, diverse Gadgets spazieren tragen. Darauf angesprochen, ob sie das ganze Spielzeug, wie zum Beispiel: Scheren, Messer, Pflaster, Klemmen, Kara binerhaken, Sicherheitsnadeln, Kompass, Verbandspäckchen etc. pp. auch wirklich benötigen, schwören sie garantiert jeden Eid, diesen ganzen Krempel tagtäglich zu gebrauchen.

Ich für meinen Teil bezweifle das doch sehr. In all den Jahren meiner hauptberuflichen Tätigkeit als Rettungs- bzw. Notfallsanitäter habe ich, bisher jedenfalls, noch nie so ein Ding gebraucht. Irgendwann einmal, vor langer Zeit, hat mir ein Kollege so ein Gürtelholster vermacht, in welchem ich ein Paar Handschuhe, eine Kleiderschere, eine Taschenlampe und allerlei anderen Krimskrams verstauen konnte. Nachdem ich damit jedoch ständig und überall hängen geblieben bin, habe ich es postwendend wieder entsorgt bzw. weiterverschenkt. Zugegeben, vielleicht lag das aber auch nur an meinem etwas kompakten Äußeren? Jedenfalls habe ich danach nie wieder so ein Utensil in Anspruch genommen.

Das Einzige, was ich für gewöhnlich mit mir herumtrage, sind Einmalhandschuhe und Kotztüten. Das sind elementare Schutz- und Ausrüstungsgegenstände, die man nun wirklich jeden Tag gebraucht. Den ganzen anderen Krimskrams schleppt man sowieso in riesigen Rucksäcken oder Notfallkoffern mit sich herum. Allerdings darf man dabei auch einen Aspekt nicht außeracht lassen. Die Allerwenigsten von Ihnen werden diesen Knochenjob so lange ausüben, wie ich das bereits tue.

Nicht wenige der Kolleginnen und Kollegen springen nämlich schon nach relativ kurzer Zeit wieder ab und wenden sich weit weniger belastenden und aufregenden Aufgaben zu. Selbstverständlich habe auch ich das ein oder andere Mal versucht auszusteigen und etwas völlig anderes zu machen. So habe ich zum Beispiel eine Zeit lang als Vertreter im Außendienst Holztreppen verkauft oder mich als Pharmareferent versucht. Doch letzten Endes bin ich immer wieder reumütig in den zwar rauen, aber warmen Schoß des Rettungsdienstes zurückgekehrt. Das lässt sich wohl am ehesten mit einem Frontsoldaten vergleichen, der sich im Frieden auf Heimaturlaub nicht mehr zurechtfindet und sich deshalb nach seinen Kameraden im Schützengraben zurücksehnt. Manchmal fühlt man sich auch wirklich wie im Krieg. Wenn man in diesem außergewöhnlichen Job jedoch erst einmal Blut geleckt hat, nimmt er einen oft so sehr von sich gefangen, dass man mitunter nicht mehr davon loskommt. Es besteht sogar durchaus die Gefahr, regelrecht süchtig danach zu werden. Wer dann nicht mehr rechtzeitig den Absprung schafft, bleibt oft sein Leben lang an dieser Droge hängen, bis sie buchstäblich zum lebenslangen Gefängnis wird, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Mittlerweile verbindet uns beide so eine Art Hassliebe. Auf der einen Seite kann und will ich mir nichts anderes mehr vorstellen, andererseits denke ich aber auch oft, ich bin zu alt für diese Scheiße. So oder so ist man, glaube ich, nach einer gewissen Zeit im Rettungsdienst für den normalen Arbeitsmarkt ohnehin nicht mehr zu gebrauchen. Geregelte Arbeitszeiten, pünktliche Pausen, kein Kontakt mehr mit irgendwelchen Körperflüssigkeiten und immer ganz genau zu wissen, was einen erwartet, sind auf die Dauer einfach zu langweilig und eintönig, wenn man jahrelang das genaue Gegenteil davon gewohnt war. Allerdings hat sich im Laufe dieser Jahre und Jahrzehnte auch sehr vieles verändert.

Die Ausbildung, die Arbeitsweise, die Gesellschaft, ja die ganze verdammte Welt, ist eine komplett andere geworden. Diese weitreichenden Veränderungen sind selbstverständlich auch an mir nicht vorübergegangen und haben ihre Spuren hinterlassen. So trifft zum Beispiel die weitverbreitete Ansicht, dass man mit zunehmendem Alter abgebrühter und abgestumpfter wird, auf mich überhaupt nicht zu. Ganz im Gegenteil. Sicherlich sieht man mit den Jahren vieles gelassener und bei Weitem nicht mehr so verbissen wie zu Beginn seiner Rettungsdienstkarriere. Dennoch scheint es zumindest bei mir so zu sein, dass ich mit steigendem Alter und zunehmendem Körpergewicht eher dünnhäutiger und sensibler geworden bin.

Als junger Kerl fand ich das alles wahnsinnig spannend und aufregend, ohne mir dabei großartige Gedanken über die Hintergründe und menschlichen Schicksale zu machen. Heutzutage berührt mich vieles mehr als früher. Vielleicht braucht es auch einfach eine gewisse Lebenserfahrung, um echte Empathie und Mitgefühl zu empfinden. Erst wenn man selbst ein paar Mal so richtig auf die Fresse gefallen ist, weiß man, wie weh das tut. Doch früher oder später hat man, glaube ich, genug gesehen vom Leid und Elend seiner Mitmenschen und die Nase gestrichen voll von Schichtdienst, übellaunigen Vorgesetzten und fehlender Wertschätzung. Völlig unabhängig von Alter oder Dienstdauer trägt dabei so mancher, mich eingeschlossen, dicke Narben auf seiner Seele davon und wird das Erlebte sein Leben lang nicht mehr vergessen können. Ihnen allen widme ich dieses Buch und hoffe dabei auf dieselbe heilende Wirkung dieser Worte, wie es schlussendlich auch bei mir der Fall gewesen ist. Lebenslänglich Lebensretter zu sein ist nämlich Fluch und Segen zugleich…

… Übrigens werde ich Ihnen nicht verraten, welche Geschichten ich selbst erlebt habe und welche von meinen Kollegen stammen. Für mich bestand die eigentliche Herausforderung bei diesem neuen Projekt nämlich darin, ob ich es wohl schaffen würde, die fremden Geschehnisse genauso lebhaft und glaubwürdig zu schildern, wie meine eigenen. Ich hoffe, es ist mir gelungen, doch das müssen letzten Endes Sie als Leser entscheiden. Namen, Zeit und Orte sind wie immer nebensächlich und wurden von mir bewusst verändert oder gleich ganz weggelassen, um die betreffenden Personen weitestgehend zu schützen. Letztlich sind sie auch völlig bedeutungslos, denn die hier geschilderten Ereignisse könnten so oder ähnlich gelagert praktisch immer und überall und zu jeder Zeit vorkommen.

Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Vergnügen und spannende Unterhaltung…

01

…Auf Messers Schneide…

Der Mond stand fett und rund am Firmament und hüllte die Nacht in ein gespenstisch weißes Licht. Nur ab und zu schob sich eine dicke Schäfchenwolke vor sein lachendes Lampiongesicht und verhüllte dessen Antlitz für einen kurzen Moment. Heute Nacht hatte ich mit Gabriel Dienst, einem jungen und noch ziemlich unerfahrenen Kollegen, der gerade eben erst die Prüfung zum Notfallsanitäter abgelegt hatte. Wie üblich checkten wir bei Dienstbeginn gemeinsam unseren Rettungswagen durch, um so sicherzustellen, dass alle medizinischen Geräte einwandfrei funktionierten und das mitgeführte Material auch wirklich vorhanden und vor allem vollzählig war. Gabriel war sichtlich nervös, weil dies sein allererster Nachtdienst nach seinem Examen war und er nun als eigenverantwortlicher Notfallsanitäter keinen Welpenschutz mehr genoss. «Keine Bange, Kleiner», meinte ich scherzhaft zu ihm. «Ich pass schon auf Dich auf! Du bist ja schließlich nicht alleine unterwegs, okay?!» Angesichts der Tatsache, dass Gabriel nach drei Jahren intensiver Ausbildung als einer der Besten seines Jahrgangs abgeschlossen hatte und mich mit seiner stattlichen Körpergröße von beinahe zwei Metern um Haupteslänge überragte, stellte sich mir allerdings ernsthaft die Frage, wer hier wohl auf wen aufpassen musste…

… Die Nacht verlief zunächst recht ruhig und unspektakulär, bis wir gegen 20.30 Uhr zu unserem ersten Notfalleinsatz an diesem Abend beordert wurden: «Bewusstlose Person, nicht ansprechbar, Notarzt kommt auch», lautete die Einsatzmeldung. Tatsächlich fanden wir kurz darauf einen leblos am Boden liegenden Mann in seiner Wohnung vor. Gabriel übernahm die Einsatzleitung und jetzt lief wirklich alles wie am Schnürchen ab. Er ging dabei nämlich strikt und strukturiert nach dem international gebräuchlichen und daher in Englisch abgefassten ABCDE Schema vor, wie er das in seiner Ausbildung die vergangenen drei Jahre intensiv trainiert und gelernt hatte. So überprüfte Gabriel zunächst im ersten Schritt bei Punkt A, englisch für «Airway», ob die Atemwege des Betroffenen frei waren. Er inspizierte dessen Mundhöhle auf potenzielle Fremdkörper und stellte dabei fest, dass die zurückgefallene Zunge die Atemwege blockierte. Gabriel überstreckte daraufhin den Kopf des Patienten nach hinten in den Nacken, um so den Zungengrund anzuheben und die Atemwege freizumachen. Im zweiten Schritt bei B, englisch für «Breathing», nahm er nun sein Stethoskop zur Hand, um damit die Lungen auf mögliche Atemgeräusche hin abzuhören. Derweil konnte ich mit bloßen Augen erkennen, dass sich der Brustkorb des Patienten weder hob noch senkte. Bei Punkt C, englisch für «Circulation», versuchte er, den Puls des Patienten an dessen Halsschlagader zu tasten und stellte dabei fest, dass dieser überhaupt nicht vorhanden war. Im vierten Schritt bei D, englisch für «Disability», kamen jetzt die Pupillen dran. Diese waren lichtstarr und weit und reagierten überhaupt nicht auf das einfallende Licht, welches von Gabriels hochprofessioneller Pupillenleuchte herrührte. «Apnoe - Asystolie - Reanimation!», rief Gabriel laut. « Hm», grunzte ich zustimmend. Als alter und erfahrener Hase hatte mir ein kurzer, flüchtiger Blick auf den leblosen Mann am Boden genügt, um an dessen graublau verfärbtem Gesicht zu erkennen, dass dieser einen HerzKreislaufstillstand erlitten hatte. Ein Anblick, den ich im Laufe der Jahre schon so viele Male gesehen hatte und den ich inzwischen mit einer Mischung aus Intuition und Resignation nur allzu gut deuten konnte. Mein anfänglicher Enthusiasmus beim Versuch, einen Menschen wiederzubeleben, war schon bald nach Beginn meiner Rettungsdienstkarriere einer gewissen Ernüchterung gewichen, denn nur die allerwenigsten schafften es zurück ins Leben. Für die meisten hieß es nämlich Ende Gelände, aus und vorbei. Okay, okay, häufig waren die betreffenden Leute steinalt und hatten ihr Leben gelebt, aber dieser hier war nicht viel älter als ich. Meine Gedanken begannen plötzlich zu wandern. Ob man mich wohl auch eines Tages mal so auffinden würde? Liegengelassen wie eine vergessene oder gar weggeworfene Puppe? Gott bewahre! Aber ich konnte Gabriel und sein Engagement gut verstehen. Schließlich war ich auch mal jung und ein blutiger Anfänger. Es war auch bei mir ein langer und sehr steiniger Weg gewesen, gepflastert mit Hoffen und Bangen und geteert mit Zuversicht und zahlreichen Enttäuschungen, bis hin zu jenem Punkt, an dem ich mich jetzt gerade befand.

… Während Gabriel also weiterhin glühend an den Erfolg unserer Mission glaubte und dabei immer noch streng und strikt nach seinem antrainierten Schema vorging, begann ich nun eher halbherzig mit der Herzdruckmassage. Einem Gottesdienst gleich ging ich dazu auf die Knie und beugte mich mit gesenktem Haupt und gestrafftem Oberkörper über den des leblosen Mannes am Boden. Mit ausgestreckten Armen und wie zum Gebet verschränkten Händen drückte ich nun dessen Brustkorb dreißig Mal hintereinander fest zusammen. Dabei zählte ich laut vor mich hin, als würde ich das Vaterunser herunterbeten, obwohl ich bereits ganz tief in meinem Innersten wusste, dass all unsere Bemühungen auch diesmal nicht zum gewünschten Erfolg führen würden. Nach dreißig Kompressionen blies Gabriel mit dem Beatmungsbeutel zwei Mal Luft in die Lungen des Patienten. Unterdessen war er bei Punkt E, englisch für «Exposé», angelangt und suchte nun den Körper des Mannes nach sichtbaren Verletzungen oder möglichen Blutungsquellen ab. Während ich so weiter drückte und dabei laut vor mich hinzählte, schweiften meine Gedanken wieder ab: «Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig»…ach, was würde ich manchmal dafür geben, noch einmal so jung und unbedarft wie Gabriel zu sein! «Vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig»…dabei vermisste ich weniger das jugendliche Alter oder gar meine fehlenden Haare auf dem Kopf, als vielmehr dieses unbeschwerte Gefühl, alles erreichen zu können und irgendwie unsterblich zu sein. «Siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig»…dabei war ich durchaus noch willens, doch es fehlte allein der Glaube. Beim nächsten: «Dreißig» blies Gabriel dann wieder Luft in die Lungen des klinisch toten Mannes. Parallel dazu hatte er den Patienten bereits mit dem EKG Monitor verkabelt und konnte nun anhand der wellenförmigen Kurve auf dem kleinen Bildschirm ein sogenanntes Kammerflimmern erkennen. Ideale Voraussetzungen also für eine Defibrillation. Der klinisch tote Patient bekam nun von uns einen kontrollierten Elektroschock verabreicht. So bestand immerhin noch eine 50:50 Chance, das mehr oder weniger stillstehende Herz wieder in eine geordnete Schlagfolge zu bringen. Der leblose Körper des Mittfünfzigers bäumte sich unter dem Stromschlag kurz auf, um direkt danach wieder schlaff und träge in sich zusammenzufallen. Die wellenförmige Kurve war nun einer schmalen und durchgehenden Nulllinie gewichen. «Asystolie», rief Gabriel laut. Da inzwischen zwei Minuten vergangen waren, wechselten wir die Positionen. Während nun also Gabriel mit der Herzdruckmassage fortfuhr, kniete ich am Kopf des Patienten und führte jetzt einen Beatmungsschlauch, besser bekannt auch als «Larynx Tubus» (LTS), in dessen Schlund ein. Jetzt konnte ich den Beatmungsbeutel am oberen Ende des Tubus anschliessen und problemlos Luft in die Lungen des Patienten pumpen. Schließlich traf auch der Notarzt ein und die Wiederbelebungsversuche wurden nun zu dritt fortgeführt. Die Venen des Patienten waren aufgrund des fehlenden Kreislaufs zwischenzeitlich kollabiert. Deshalb legten wir ihm einen sogenannten intraossären Zugang. Zu diesem Zweck bohrten wir jetzt mit einer kleinen Bohrmaschine eine Injektionsnadel direkt in sein Schienbein hinein. Über diesen knöchernen Zugang konnten wir jetzt alle notwendigen Medikamente, wie zum Beispiel Adrenalin, in dessen Blutkreislauf spritzen. Jede unserer Handlungen saß und es war eine helle Freude mitanzusehen, wie wir buchstäblich als Team Hand in Hand zusammenarbeiteten. Doch letzten Endes blieben leider alle unsere Bemühungen erfolglos und der Patient verstarb noch vor Ort an seinem HerzKreislaufversagen. Mein Leben würde vorerst weitergehen, seines hingegen endete hier und jetzt auf dem versifften Fußboden einer zugemüllten Wohnung. Da lag er nun, dieser wildfremde Mensch, halbnackt und in seinen eigenen Exkrementen. Keine berühmten letzten Worte, kein würdevolles Abschiednehmen im Kreis der Familie, sondern nur ein einsames, stilles und trauriges verrecken. Nichtsdestotrotz war es ein guter Einsatz gewesen. Wir hatten alle unser Bestes gegeben und prima als Team zusammengearbeitet. Operation gelungen - Patient tot, sozusagen. Der Rest war reine Routine. Wir räumten unsere Ausrüstung zusammen und füllten das verbrauchte Material wieder auf…

… Kaum waren wir wieder zurück auf der Wache, kam auch schon der nächste Notruf rein. Da wir uns nach jedem Einsatz abwechselten, war ich nun an der Reihe. «Männliche Person, diverse Schnittverletzungen mit Messer, Polizei kommt auch», lautete die Einsatzmeldung. «Na Klasse!», meinte ich laut und eher sarkastisch zu mir selbst. Diese Meldung klang wieder mal sehr vielversprechend, denn genau genommen versprach sie nicht viel Gutes. «Oh Mann, warum hab ich immer die Psychos?!», jammerte ich in einem Anfall von Selbstmitleid vor mich hin und dachte dabei an meine unheimliche Begegnung der dritten Art, bei der mir ein verwirrter Greis einen geladenen Revolver mitten ins Gesicht gehalten hatte. « Wieso?», meinte Gabriel fast beiläufig zu mir. « Ist doch kein Problem! Den Einsatz kann ich doch für dich übernehmen». «Echt jetzt?», fragte ich noch einmal ungläubig nach. «Ja klar», bekräftigte Gabriel, der immer noch hoch motiviert zu sein schien. Ich war insgeheim recht froh und erleichtert darüber, dass ich mich nun nicht um den nächsten Patienten kümmern, sondern einfach hinter das Steuer des Rettungswagens klemmen konnte…

… Das blaue Blitzlicht der Signalanlage wurde von den weißen Häuserwänden zigfach verstärkt zurückgeworfen und beleuchtete die Nacht noch heller als der Mond. Da wir so schon von Weitem sichtbar waren, setzte ich das Martinshorn nur sehr sporadisch an den wenigen roten Ampeln und Stoppschildern ein. Das war zwar nicht gerade gesetzeskonform denn eigentlich musste man Blaulicht und Martinshorn immer gemeinsam benutzen, aber ich wollte den ringsum schlafenden, gesetzestreuen Mitbürgern nicht noch die Gelegenheit dazu bieten, sich wieder einmal lauthals über diese Form der «Lärmbelästigung» zu beschweren. Außerdem hatte ich es bei Einsatzmeldungen dieser Art ohnehin nicht sonderlich eilig, zum Zielort zu gelangen. Daher fuhr ich entgegen meiner sonst üblichen, nennen wir es mal «zügigen» Fahrweise, relativ moderat zum Einsatzort.

« Hoffentlich ist die Polizei vor uns dort», sagte ich laut zu Gabriel und hoffte dabei im Stillen, dass die Kollegen bei unserem Eintreffen schon vor Ort sein würden, um die möglicherweise kritische Situation zu entschärfen und den Mann gegebenenfalls zu entwaffnen. Sie dürfen mich jetzt ruhig für einen Feigling halten, aber erfahrungsgemäß wusste ich einfach, dass mit Messermännern im Allgemeinen nicht gut Kirschenessen ist. Wir näherten uns langsam der besagten Adresse und ich war heilfroh darüber, vor dem betreffenden Haus einen Streifenwagen der Polizei stehen zu sehen. Ich stoppte den Rettungswagen auf Höhe der angegebenen Hausnummer und sah dabei unwillkürlich nach links. Irgendetwas Ungewöhnliches hatte meine Aufmerksamkeit erregt und im selben Augenblick sah ich auch schon, was es gewesen war. Auf der Terrasse des freistehenden Einfamilienhauses sah ich im runden Lichtkegel zweier Taschenlampen einen südländisch aussehenden Mann am Boden kauern. Dieser hockte mit nacktem Oberkörper auf der Erde und wurde gerade von zwei uniformierten Polizisten mit ihren gezogenen Schusswaffen im Anschlag in Schach gehalten. Der Grund dafür schien ein riesiges Fleischermesser zu sein, welches der Mann in seiner rechten Hand hielt und dessen beängstigend lange Klinge im Schein der Taschenlampen gefährlich aufblitzte. Offenbar diskutierte er gerade lautstark und wild gestikulierend mit den beiden Beamten, die in gebührendem Abstand von ihm weg standen. Gabriel und ich stiegen aus und schnappten uns wie gewohnt erst einmal unsere Notfallausrüstung. Doch als wir uns mit EKG und Notfallrucksack behangen dem Haus nähern wollten, gab uns einer der beiden Polizisten durch ein Zeichen deutlich zu verstehen, dass wir besser Abstand halten und draußen warten sollten. Das musste man MIR nicht zwei Mal sagen. Auf der Straße vor dem Haus standen, aufgeschreckt durch den Lärm, bereits mehrere Personen herum, die vermutlich alle aus der Nachbarschaft stammten und die unheimliche Szenerie aus sicherer Entfernung beobachteten. Plötzlich näherte sich uns von der Seite her ein Mann, der sich scheinbar bemüßigt fühlte, uns über die Situation aufzuklären: «Guten Abend, mein Name ist Herbstritt, ich habe Sie angerufen. Es geht um meinen Nachbarn, Herrn Erdem. Seine Frau hat sich gerade von ihm getrennt und ist mit den beiden Kindern zurück in die Türkei gegangen. Die beiden hatten wohl schon längere Zeit Eheprobleme, aber jetzt ist er völlig ausgerastet und drohte damit, sich umzubringen. Ich wusste nicht so recht, was ich machen sollte und hab deshalb einfach den Notruf gewählt, hoffentlich war das kein Fehler?! Er ist sonst eigentlich ein sehr lieber und netter Kerl, wirklich», versuchte sich der sichtlich besorgte Nachbar zu rechtfertigen. «Kein Problem», antwortete ich ihm. «Sie haben sich genau richtig verhalten, aber jetzt müssen wir erst einmal schauen, wie es hier weitergeht, okay?!» In diesem Moment kam einer der beiden Polizisten zu uns herübergelaufen. «Hallo zusammen, gut, dass ihr da seid. Haltet euch aber bitte erst mal noch zurück. Wir haben ein Kriseninterventionsteam (KIT) und das Sondereinsatzkommando (SEK) nachgefordert. Es kann hier vor Ort also noch eine ganze Weile dauern, okay?!» «Alles klar», gaben Gabriel und ich unisono zurück. Insgeheim stellte ich mich schon einmal darauf ein, dass dies vermutlich eine ziemlich lange Nacht werden würde. Der lebensmüde Messermann schien jedenfalls keine Anstalten zu machen, so schnell aufgeben zu wollen. Inzwischen war er wieder aufgestanden und lief jetzt wie ein Raubtier im Käfig immer wieder an einer imaginären Linie entlang der Terrasse auf und ab. Der ältere und offenbar wortführende der beiden Polizisten hatte ihn bereits mehrfach aufgefordert, das Messer wegzulegen, aber das schien den unberechenbar erscheinenden Südländer überhaupt nicht zu interessieren. Ganz im Gegenteil. Provokativ forderte er nun seinerseits die beiden Polizisten auf, sie sollten doch gefälligst zuerst ihre Waffen wegstecken. Eine klassische Pattsituation also. Plötzlich wurde es laut und hektisch auf der Terrasse. Der Mann schrie die beiden Polizisten an: «Jetzt schießt doch endlich ihr feigen Schweine, steht hier bloß blöd mit euren Knarren rum. Ich hab nur ein Messer, Mann! Nur ein Messer!», rief er laut und präsentierte dabei die ellenlange Klinge, als sei es nur ein harmloser Nagelknipser. Dabei hätte man mit diesem monströsen Mörderdolch ohne Weiteres eine ganze Kuh filetieren können. Kaum hatte er den Satz beendet, führte er die Klinge in raschen Bewegungen ein paar Mal kreuz und quer über seinen nackten Oberkörper hinweg und ritzte sich dabei die Haut blutig. Mit einem lauten Schrei reckte er seine Arme gen Himmel empor, als könne er von dort oben irgendwelche Hilfe erwarten, während das Blut in kleinen Rinnsalen seinen Körper hinunterlief. Plötzlich drehte er sich abrupt um und machte Anstalten, durch die weit offenstehende Terrassentür ins Haus hineinzugehen, kam aber postwendend wieder zurück. Jetzt sprach er wieder völlig ruhig und ganz normal, mit gesenkter, freundlicher Stimme zu den beiden Polizisten. Er bot ihnen sogar Kaffee an, was diese aber dankend ablehnten. Stattdessen versuchten sie weiterhin, den Mann in ein Gespräch zu verwickeln und ihn so zur Aufgabe zu bewegen. Doch der nach wie vor bewaffnete und scheinbar hochgradig gefährliche Mensch reagierte überhaupt nicht darauf. Manchmal ist es eben nur ein sehr schmaler Grat zwischen Wahnsinn und Normalität. Jeder von uns hat seinen seelischen Zerreißpunkt und dieser durchgeknallte Kerl da draußen auf der Terrasse hatte seinen offenbar gerade gefunden. Das Haus und die dazugehörige Terrasse lagen leicht erhöht, etwas oberhalb der Straße, sodass wir von unserem Logenplatz aus einen ungetrübten Blick auf das dortige Geschehen hatten. Die ganze Situation war völlig unberechenbar und drohte, jederzeit zu eskalieren. Unterdessen war nun still und heimlich das SEK eingetroffen und machte sich unbemerkt in einer Nebenstraße zum Einsatz bereit…

… Die Männer des Sondereinsatzkommandos legten ihre Schutzwesten an und zogen ihre Helme auf. Sie überprüften die automatischen Waffen auf ihre Funktionsfähigkeit und machten sich zum Sturm bereit.

Die zuvor lautstarken Diskussionen auf der Terrasse wahren inzwischen in ein leises Geplänkel übergegangen. Es machte sich eine einlullende, fast trügerische Ruhe breit. Während ich immer noch fest damit rechnete, dass dieser Einsatz noch die halbe Nacht andauern würde, wurde ich wieder einmal eines Besseren belehrt, denn wie aus dem Nichts ging unser manischer Messermann urplötzlich zum Angriff auf die beiden Polizisten über. Laut schreiend und mit drohend erhobenem Messer lief er auf die beiden Beamten zu, während diese weiterhin mit den Waffen im Anschlag in unsere Richtung zurückwichen. « Halt, stehen bleiben oder ich schieße!», riefen die beiden mit bebender Stimme. Aufgeschreckt durch den plötzlichen Lärm, preschte nun gleichzeitig das SEK nach vorn. Das schnelle Getrappel schwerer Stiefel und das Klirren von Metall donnerte über den Asphalt. «Komm, schnell weg hier!», rief ich Gabriel zu und floh mit ihm auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort gingen wir hinter einem geparkten Auto in Deckung. Am Maschendrahtzaun des gepflegten Einfamilienhauses kam es jetzt zum Showdown. Die Kontrahenten beider Seiten prallten dort mit voller Wucht aufeinander und der nach wie vor volle Mond illuminierte nun ein groteskes Schauspiel: Hinter dem Gartenzaun stand ein blutüberströmter und laut schreiender Mensch mit weit aufgerissenen Augen und drohend erhobenem Fleischermesser. Dieser vollkommen unberechenbare und offensichtlich zu Allem entschlossener Mann,