Lebenslied - Wolfgang Kraus - E-Book

Lebenslied E-Book

Wolfgang Kraus

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Beschreibung

Leben und Tod, Flucht und Heimat. Liebe und Schmerz, Frau und Mann. Auf seine besondere Weise gelingt es Wolfgang N. Kraus, mit ganz wenigen Worten Menschen und ihre Emotionen zu skizzieren. Dabei zeigt er sich als einfühlsamer Beobachter, der stets an das Gute glaubt und Hoffnung sieht. Er liebt es aber auch, die Leser immer wieder in die Irre zu leiten. Dann führen seine kurzen Geschichten vor Augen, wie man sich täuschen kann, wenn man nur die Oberfläche der Dinge betrachtet und nicht ahnt, was dahinter steckt. Wie kurzsichtig man doch durchs Leben geht und vorschnell seine Schlüsse zieht, in Illusionen schwelgt und erst am Schluss die Brille findet. Nach dem ersten Band „Momente“ ist "Lebenslied" nun die von vielen lang erwartete zweite Sammlung von kurzen Geschichten zu den wirklich wichtigen Dingen des Lebens und wieder eine kleine Schatztruhe zum immer wieder darin schmökern. „Ein besonderes Lesevergnügen!“ (Hallo Tulln)

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Alle menschlichen Unternehmungen verlieren sich im Nichts, wenn sich kein Dichter findet, der sie erzählt.

(Luigi Malerba in „König Ohneschuh“)

Ihhaltsverzeichnis

Vorwort

Der Brautstrauß

Der Blitz

Das Haus

Die Leserin

Das Missverständnis

Alter Wem

Lebenslied

Die Bank am See

Zirkus

Bildung

Überall und nirgendwo

Mittelalter

Zuckerwasser

Die Aufgabe

Das erste Mal

Verschwunden

Logik

Vater und Sohn

Heimlichkeiten

Die Entscheidung

Geburtstag

Frühling

Das Bild

DerBiker

Ängste

Wahre Liebe

Paulo

Der Klang

Nachbarn

Warten

Das Licht

Stille Nacht

Musik

Begegnun

Autorität

Anmerkungen

Vorwort

Eine Begegnung, eine Emotion, Veränderung, Freude, Enttäuschung, Glück. Wir alle haben täglich Erlebnisse, die uns vielleicht selbst betreffen, die oft aber auch völlig unbedeutend scheinen, jedoch für andere von geradezu kosmischer Wichtigkeit sind. Und jeder geht mit diesen Momenten auf eine ganz persönliche Weise um. Meine Wege, Gefühle und Eindrücke zu verarbeiten, sind die Musik und Kurzgeschichten.

Im ersten Fall setze ich mich an mein Klavier und spiele einfach drauf los, gerade so, wie es vom Herzen kommt. Manchmal entstehen dabei Harmonien oder Melodien, die zu verfolgen sich lohnt, dann arrangiere ich sie fertig und lasse eine Aufnahme entstehen. Bisheriges Ergebnis sind zwei CDs: Die erste (Wege“) mit vierzehn Instrumental titeln, die zweite („Ich und Du“), auf der auch gesungen wird. Die dabei verwendete Kunstsprache lässt viel Raum für Phantasie.

Im zweiten Fall entstehen Kurzgeschichten, die nicht immer die volle Wahrheit des realen Vorbildes erzählen, aber immer den Kern der Gefühle dahinter. Nachdem der erste Band „Momente“ viele Freunde gefunden hat, habe ich mich ermutigt gefühlt, weiterzumachen. Ich hoffe, dass auch diese zweite Sammlung ein wenig Freude bereitet.

Der Brautstrauß

Was für eine Aufregung! Die Frauen drängten sich vor der Bühne, da wurde geschubst, gekichert und gehalten. Der Sänger der Band versuchte mit mäßigem Erfolg, ein wenig Ordnung in das Chaos zu bringen: Nur die unverheirateten Mädchen und Frauen wollte er vor der Bühne haben, sagte er ins Mikrophon, und schon suchten zwei feixend das Weite. „Von denen aber alle“, setzte er nach, „auch die beiden da drüben an der Bar“. Die angesprochenen zierten sich, wurden aber von umstehenden Gästen mit liebevollem Nachdruck nach vorne bugsiert. Am anderen Ende der Tanzfläche stand die Braut, abwartend und mit dem Rücken zur Bühne. In wenigen Augenblicken würde sie ihren Blumenstrauß über die Schulter nach hinten werfen wie es der Brauch war. Eine in dem aufgeregten Volk zwischen ihr und der Bühne würde ihn fangen und innerhalb eines Jahres ebenfalls heiraten – jedenfalls sagte das so der alte Aberglaube. So kam es eben zu dem aufgeregten Treiben, in dem eine jede den für sie vermeintlich besten Platz suchte. Für manche war das ganz vorne, wo sie dachten, den Strauß am ehesten fangen zu können. Andere drängten sich eher an den Rand, wo sie sich sicher wähnten. Da aber griff wieder der Sänger ein, denn, so sagte er zum wiederholten Male in sein Mikrophon, denn so weit außen wäre nicht fair und sie müssten schon ein wenig weiter in die Mitte kommen. Dort aber wurde eben geschubst, gekichert und gedrängt bis es so weit war.

Der Schlagzeuger setzte ein mit leisem Trommelwirbel, vom Bass kamen dumpfe Töne und der Keyboarder garnierte mit vibrierenden Streichern. Spannung im Saal, die Braut senkte den Arm mit den Blumen zum Ausholen und riss ihn dann schwungvoll nach hinten. Der Strauß verließ ihre Hand und stieg in die Luft. Am höchsten Punkt seiner Bahn angekommen schien es, als hielte er inne für einen Moment, als wollte er sich sein Ziel erwählen. Dann senkte er sich immer schneller werdend hinab zu den Dutzenden Armen, die sich ihm entgegenstreckten, begleitet von jenem Kreischen, das Mädchen angeboren scheint, und schließlich wählte er sich eine Hand. Ein paar wenige wandten sich enttäuscht ab, aber alle anderen gratulierten herzlich und tanzten um die glückliche Fängerin. Der Sänger gratulierte ebenfalls und fragte nach ihrem Namen, aber niemand hörte ihm zu. Die Braut hatte sich umgedreht und war sofort von dem jubelnden Volk verschlungen worden. Nach einer Weile löste sie sich wieder aus der Umarmung und drängte zur Bühne. Der Sänger beugte sich zu ihr herunter, sie sagte ihm irgendetwas, das niemand verstand bis er sich wieder erhob und fassungslos den Kopf schüttelte.

Noch immer hatte er diesen ungläubigen Ausdruck im Gesicht, als er zu seinem Mikrophon griff und zu den Festgästen sagte:

„Den Brautstrauß gefangen hat … unsere Barbara! Herzlichen Glückwunsch auch von der Musik!“

Nach einigen Augenblicken unterbrach er den Applaus und fuhr fort: „Aber da gibt es noch etwas zu sagen“

Im Saal wurde es ruhig und der Sänger genoss den Moment der gespannten Stille.

„Barbara hat schon einmal einen Brautstrauß gefangen. Aber damals hat ihr Freund zu ihr gesagt, so einfach bekäme sie ihn nicht, für ihn brauche es schon mehr! Der kecke Knabe hat ihr aber einen Antrag versprochen, wenn sie den fünften Strauß gefangen haben wird.“

Wieder machte der Sänger eine kurze Pause um die Wirkung seiner Worte zu erhöhen, blickte in die Runde von einem zum anderen. Dann rief er aus:

„Und heute ist bereits das unglaubliche fünfte Mal, dass sie das geschafft hat! Manfred, wo bist du? Jetzt gibt es kein Zurück!“

Manfred, der sich eben an seinem Wein verschluckt hatte, stellte das Glas zur Seite. Sein Blick traf den des Sängers und am Schnittpunkt war ein „Na, traust dich nicht?“, eine Art der Provokation, wie sie Männern angeboren scheint. Manfred stand langsam auf, zupfte seinen Anzug kurz zurecht, schob seinen Sessel zurück und schritt lässig, wenn auch mit einem etwas angespannten Lächeln, vor zur Bühne. Mit einem leichten Sprung war Manfred oben, nahm dem Sänger das Mikro aus der Hand, als wolle nun auch er etwas sagen. Gespannte Ruhe erfasste die Gäste, alle blieben stehen oder sitzen wo sie eben waren, ein Eindruck wie versteinert, hätten sich nicht alle zur Bühne hin ausgerichtet. Mit seinen Blicken suchte Manfred seine Barbara und fand sie mitten drin, erstarrt wie alle anderen, mit dem Brautstrauß in den Armen. Stille. Alle Augen ruhten auf ihm als Manfred langsam das rechte Knie beugte bis es den Boden berührte. Derart kniend, seinen Blick fest an seine Freundin geheftet, sagte er dann die Worte:

„Meine geliebte Barbara! Möchtest du mich heiraten? Möchtest du meine Frau werden?“

Dabei öffnete er seine Arme und blieb erwartungsvoll knien. Barbara brauchte eine halbe Sekunde um ihre Überraschung zu verarbeiten und wiegte dann ihren Kopf hin und her.

„Na ja – ich weiß nicht recht“, sagte sie gedehnt in die gespannte Stille, während sie langsam vor zur Bühne schritt, sichtlich bemüht, ein Lachen zu unterdrücken. Offenbar genoss sie seine Unsicherheit und sein knallrot gewordenes Gesicht. Vorne angekommen, streckte sie sich soweit sie konnte und nahm ihn um den Hals.

„Ja – ja – ja – ich will!!“, rief sie jetzt voll Freude.

Manfred wand sich zu ihr herunter, fasste sie mit beiden Armen um die Hüfte und hob sie hoch. Den Brautstrauß in der Hand, zappelte Barbara mit den Beinen und küsste ihren Manfred auf Wange, Stirn und Mund. So drehten sich die beiden glücklich im Kreis und mit ihnen die ganze Welt.

Der Blitz

Hans vibrierte. Eine derartige Ungerechtigkeit, ja eine solche Ungeheuerlichkeit, war ihm schon lange nicht mehr widerfahren! Er saß am Steuer seines Wagens und immer wieder schlug er mit der flachen Hand gegen das Lenkrad, konnte es einfach nicht fassen: Er war ein unbescholtener Staatsbürger und mehr als das hatte er auch noch sein ganzes Arbeitsleben in den Dienst eben dieses Staates gestellt und nun fiel ihm jener in den Rücken! Womit hatte er das verdient? Mit seinem besonnenen Naturell war er auch als Autofahrer seit Jahrzehnten unfallfrei unterwegs, unüberlegte Überholmanöver waren seine Sache ebenso wenig wie Drängeln oder Rasen. Doch all dem zum Trotz hatte ihn eben ein Radar geblitzt.

„Ein wenig schnell warst du aber schon“, wollte ihn seine geliebte Frau vom Beifahrersitz her ein wenig aufrichten. Netter Versuch. Das Wörtchen „schnell“ ist ja schließlich kein absoluter Begriff. Schnell ist ein Sportler, der hundert Meter in weniger als zehn Sekunden laufen kann oder auch eine Rakete, die in eineinhalb Stunden um die Erde fliegt. Aber Hans? Er war durch eine Ortschaft gefahren, rücksichtsvoll und mit höchstens den erlaubten 50kmh. Dann, die Ortsende-Tafel schon vor den Augen, Häuser nur mehr auf einer Straßenseite und eine lange Gerade voraus, hatte er eben ein wenig beschleunigt. Sollte das Rasen sein?

Fast noch mehr zu schaffen machte ihm aber die tückische Art, mit der man ihm aufgelauert hatte. Einen fixen Radarkasten hätte er ja sicher gesehen, auch auf einen PKW am Straßenrand wäre er vorbereitet gewesen. An jener Stelle aber war ein Kastenwagen gestanden, nicht einmal neu, wie es in dieser ländlichen Gegend nur all zu normal war. Und aus diesem Versteck hatte ihn der Blitz getroffen. Was für eine unverschämte Gemeinheit!

„Es war halt immer noch Ortsgebiet“, belehrte ihn die sanfte Stimme vom Beifahrersitz weiter. Als ob er das nicht selber wüsste! Aber schließlich hatte er niemanden gefährdet und ganz ehrlich: Siebzig Stundenkilometer an einer Stelle wie jener tun doch wirklich niemandem weh! Da laufen Diebe und Mörder frei herum, bekämpfen sich Jugendbanden, wird mit Drogen gedealt und die Polizei hat nichts Besseres zu tun, als ihm aufzulauern. Beamte wie er, nur eben ohne Feingefühl und Augenmaß!

„Jetzt beruhige dich doch und warte einmal ab, bis der Bescheid kommt – vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm“.

Wo nahm diese seine Frau nur ihre Ruhe her? Sicher würde es Wochen, wenn nicht Monate, dauern, bis die Vorschreibung käme und er würde sich dann gar nicht ausreichend erinnern können für einen angemessenen Einspruch. Die Forderung würde bestimmt unverschämt hoch sein und so viel verdiente er ja schließlich auch nicht. Nein, diese Ungerechtigkeit konnte er nicht einfach hinnehmen und es gab nur eine Lösung: Er musste weitere Delikte begehen, dort und da schnell fahren, falsch parken oder Abbiegeverbote missachten. So würde sich das Bußgeld aufteilen und wenigstens in Summe vielleicht einigermaßen vertretbar sein. Ja, so würde er es machen.

Nur: Ganz wohl fühlte er sich dabei nicht.

Für seine Frau war Hans im Laufe ihrer Ehejahre zu einem offenen Buch geworden, in dem sie mühelos lesen konnte. Sie wusste genau, was er dachte, wie er fühlte und wie diese Episode enden würde. Sie ließ ihn also gewähren und dass sie Recht hatte mit ihrer Einschätzung zeigte sich, als Hans nach einigen Kilometern schärferen Fahrens wieder zu seinem gewohnten Stil zurück fand. Sie musste schmunzeln. Der Groll im Gesicht ihres Mannes sah aus, als müsste Hans sich dazu zwingen. Sicher wusste er ganz genau, dass er im Grunde Unrecht hatte, dennoch konnte sie seinen Arger gut verstehen.

Nach einer Weile schweigenden Fahrens war der Rhythmus seiner Schläge gegen das Lenkrad langsamer geworden und endlich sagte sie mit vergnügter Stimme:

„Weißt du was? Ich lade dich darauf ein!“

Jetzt war der Groll in seinem Gesicht endgültig verflogen. All ihr Geld kam aus einer gemeinsamen Kasse, eine Trennung in „mein“ und „dein“ gab es bei den beiden schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Und trotzdem, oder vielleicht auch gerade deshalb, fand er ihr Angebot so ganz besonders charmant. Hans musste jetzt auch lächeln. Der hinterhältige Blitz war zwar, obwohl im Grund berechtigt, ein Ausbund an Gemeinheit, aber er hatte ihm wieder einmal gezeigt, welch wunderbarer Mensch sein Leben mit ihm teilte.

Das Haus

Ein Haus ist ein Haus, ein lebloses Gebilde aus Beton, Ziegel, Stahl, Holz und Glas. Ein Fundament und ein Keller tragen die Wände, darüber das Dach. Eingemauert sind eine Vielzahl an Leitungen für Strom und Wasser, Kanal, Heizung, Gas. Ein Haus unterliegt einer großen Anzahl an Regeln, die seine Höhe festlegen, den Abstand zur Grundgrenze, die Größe der Fenster und selbst die Farbe seiner Fassade. Es ist das Ergebnis einer Vielzahl aufwändiger Berechnungen – Statik, Wärmebedarf, k-Wert – und von noch mehr Arbeitsstunden der verschiedensten Gewerke.

Das wusste auch Monika, die sich – eben nach Hause gekommen – auf ihren Lieblingssessel hatte fallen lassen. Um sie: Stille. Meist sieht man ja die entfernteren Verwandten äußerst selten und – so sagt der Volksmund – nur bei Hochzeiten und Beerdigungen kommt die ganze Familie zusammen. Wäre es nur eine Hochzeit gewesen! Ihren Mann hatte man zu Grabe getragen, ein weiteres Opfer dieser heimtückischen Krankheit Krebs. Gerade einmal dreiundvierzig Jahre war er alt geworden und noch so viel hatte er vorgehabt. In zwei Jahren hätten sie die silberne Hochzeit gefeiert, fünfundzwanzig Jahre wären sie dann verheiratet gewesen – ein viel schönerer Grund für eine Familienzusammenkunft. Jetzt aber war Gerhard tot, die Kinder vor kurzem ausgezogen und Monika allein in ihrem nun etwas zu großen Haus. Um sie: Stille.

Die Wände knackten leise und sie musste an ihre erste Begegnung denken, als Gerhard unvermittelt vor ihr gestanden war und sie um den nächsten Tanz gebeten hatte. Ihr Blick war nach links und rechts gewandert, suchend, ob der junge Mann nicht jemand anderen gemeint haben konnte. Doch die ihr mit heiterem Lächeln angebotene Hand hatte ihr Mut gemacht und diesem ersten Tanz war ein zweiter gefolgt und schließlich eine lange, wunderbare gemeinsame Zeit.

Wieder ächzten die Wände leise und Monika fragte sich, ob sie sich Sorgen machen musste. Nie zuvor hatte sie diese Geräusche so oft und so intensiv vernommen. Sie blickte sich um, suchte nach einem Ursprung, entdeckte aber nichts. Alles schien normal und vermutlich gab es solche Geräusche ja ständig, nur waren sie ihr wohl nicht aufgefallen ob des üblichen Trubels. Jetzt war es still.

Gerhard fehlte ihr so sehr.

Beim nächsten Knarren sah sie ihn als Heimwerker vor sich, bei der Montage von Lampen und Schaltern, beim Ausbessern schadhafter Fugen mit Silikon und bei den damit untrennbar verbundenen leisen Flüchen. Solche Arbeiten waren ihm immer zuwider gewesen und immer hatte sie sanften Druck gebraucht, um ihn zu motivieren.

Ein neues Geräusch brachte ein neues Bild: Monika sah ihren Gerhard in fröhlicher Runde, wie er stolz seinen besten Rotwein ausschenkte, und die anerkennenden Bemerkungen aufsog, dass man bei ihm noch nie einen schlechten Wein getrunken hätte.

Dann Gerhard beim Verfolgen einer politischen Diskussion im Fernsehen, heftig mitgestikulierend, als ob ihn die Diskutanten hätten hören oder sehen können.

Sie beide bei romantischem Kerzenlicht, einer kleinen Knabberei und einem Gläschen Likör, beim Austausch liebevoller Zärtlichkeiten als Einstimmung auf einen wunderbaren Höhepunkt der Gefühle.

Er, hilflos vor seinem Kasten, wieder einmal unfähig zu entscheiden, welche Krawatte er nehmen sollte und dabei unbekümmert von dem Zeitdruck, den sie inzwischen hatten, scheinbar seelenruhig wartend, bis sie ihm diese Entscheidung endlich abnahm.

Immer wieder neue Bilder zauberten langsam ein zartes Lächeln in Monikas Gesicht. Und ebenso immer wieder drohten ihre Gedanken ins Nichts abzugleiten, um von einem dieser seltsamen Knackgeräusche wieder zurückgeholt und mit einer neuen Erinnerung versorgt zu werden. Das führte sie zu einer absurden Idee - konnte das wirklich sein?

Ein Haus ist ein Haus, ein lebloses Gebilde aus Beton, Ziegel, Stahl, Holz und Glas. Und ihr Haus war da nicht anders. Aber Gerhard und Monika hatten es über viele Jahre mit Leben gefüllt, gemeinsam mit ihren Kindern, Verwandten und Freunden. Liebevolles Zusammensein, Heiterkeit, Ernst und leider manchmal auch Streit – all das hatte es mit seinen Wänden aufgenommen. Ihr Haus war eben ihr Zuhause. Und nun, in diesem schweren Moment tiefer Trauer, schien es Monika, als wolle es mit dem schlichten Knarren seiner Wände ihr diese Geschichten wieder geben. Als Erinnerung, als Trost und als Quelle der Kraft für einen Neubeginn.

Die Leserin

Das Tragische an Annas Alltag war, dass jeder Tag zu kurz wurde. Es gab so vieles, das getan werden wollte, musste oder sollte und im Grunde tat sie all das ja auch gern. Ihr Job im Büro machte Spaß und auch die Kollegen waren nett, jedenfalls meistens. Zu Hause kochte sie gerne und hatte große Freude, wenn begeistert gegessen wurde. Waschen und Bügeln fiel ihr schwerer, vor allem Bügeln, aber da war ihre Tochter eine große Hilfe, die damit einen Vorwand hatte, seichte Fernseh-Serien anzuschauen. Auch der Garten brauchte Aufmerksamkeit! Die schenkte sie ihm aber mit besonderer Freude, denn trotz der Schwere dieser Arbeit waren das Wühlen mit bloßen Händen in feuchter Erde und die Zwiesprache mit ihren Pflanzen für Anna ein besonderes Vergnügen. Außerdem genoss sie die Gesellschaft ihrer Freunde, je nachdem einmal hier, einmal da, und natürlich ganz besonders die gemeinsamen Stunden mit ihrem Mann. So blieben Anna nur wenige Abende, an denen sie Zeit hatte für sich selbst, und an diesen A-benden war sie häufig müde. Schließlich war sie kein Mädchen mehr und ihr Fleiß forderte Tribut, sodass so mancher Tag schlicht vor dem Fernseher ein häufig unbefriedigendes Ende fand.

„Lesen ist Abenteuer im Kopf, hatte Anna einen Werbespruch in Erinnerung und genau das war es für sie!

In einen Roman einzutauchen war das Schönste für sie und wenn es so weit war konnte es passieren, dass sie um sich nichts mehr wahrnahm, keine Gespräche und nicht einmal das Läuten des Telefons. Damit war klar, dass dieses Vergnügen Urlaubstagen vorbehalten bleiben musste und das war auch der Grund, warum sie jenen Roman, ein Geschenk zu ihrem Geburtstag vor ein paar Wochen, bis heute nicht angerührt hatte.

Aber bis zum nächsten Urlaub dauerte es noch ein paar Monate und ein wenig nagte die Neugier ja doch.

„Lass’ es bleiben“, flüsterte das Pflichtbewusstsein und dann die Ungeduld:

„Schau’ wenigstens kurz hinein!“

Nach einer kurzen Weile des Abwägens entschied sich Anna, der Neugier nachzugeben und die Stunde bis zum Schlafen gehen damit zu verbringen, ein wenig in das Buch hineinzulesen und es gewissermaßen auszuloten. Ihrem Mann würde sie nicht fehlen, der schmökerte selbst in einer Zeitschrift, und so wünschte sie ihm eine gute Nacht, machte sich fertig und ging zu Bett. So konnte sie, wenn ihre Augen schwer geworden waren, das Buch zur Seite legen, Licht abdrehen und einfach schlafen. Dachte sie.

Zwei Stunden später kam ihr Mann und lachte sie an:

„Seite 114? Willst du das Buch noch fertig lesen?“

„Aber nein!“, protestierte Anna, „das hat ja fast 500 Seiten und ich bin schon viel zu müde. Nur dieses Kapitel lese ich noch fertig – stört dich das Licht?“

„Nein, nein“, brummte er liebevoll. „Gute Nacht“

Wenige Minuten später hatte Anna den Abschnitt beendet, aber da das Schicksal der Hauptfigur eben eine seltsame Wendung nahm, las sie auch noch die nächsten paar Zeilen. Leider änderte sich aber die Szenerie und erst rund 90 Seiten später setzte der ursprüngliche Handlungsstrang fort. Das allerdings in einer Art und Weise, die es Anna unmöglich machte, das Buch gerade jetzt beiseite zu legen. Sie rieb sich die Augen, blickte kurz auf die Uhr und erschrak: Sie hatte nicht gedacht, dass es schon so spät war! Aber ein paar Seiten mussten noch sein, das war jetzt auch schon egal. Ihr Mann neben ihr atmete ruhig und Anna blätterte möglichst leise weiter um ihn nicht zu stören – und noch einmal und noch einmal.

Inzwischen hatte sie wirklich schon Schwierigkeiten, die Augen noch offen zu halten, aber just als die Hauptfigur endlich Oberwasser zu bekommen schien, nutzte der Intrigant eine überraschende Wendung geschickt zu seinem Vorteil und machte alle Bemühungen der Hauptfigur mit einem Schlag wieder zunichte. Wie sollte das enden? Die Antwort würde wohl noch ein wenig auf sich warten lassen, denn gerade jetzt, als sich alles verdichtete, begann der Autor mit einem neuen Handlungssträng, der mit der eigentlichen Geschichte nichts zu tun zu haben schien, aber Anna war sicher, dass da etwas dahinter steckte. Um zu erfahren, was, musste sie wohl noch ein paar Seiten lesen, auch wenn ihr ein weiterer Blick auf die Uhr ein schrecklich schlechtes Gewissen machte. Es musste einfach sein.

Tatsächlich mündeten nach rund drei Viertel des Buches alle zunächst unabhängig scheinenden Geschichten in ein einziges, furioses Finale, dessen Ausgang aber an einem seidenen Faden hing und höchst ungewiss war. Anna war kalt geworden, sie zog ihre Decke höher und wickelte die Füße fester darin ein, kuschelte sich in ihren Polster und las weiter. Wohlige Schauer rieselten über ihren Körper, ihr wurde warm und dann wieder kalt, ein wenig zitterten die Hände. Es war unglaublich, was dieser Autor seiner Hauptfigur, aber auch ihr, Anna, zumutete.

Irgendwann löste sich endlich alles auf, Anna atmete erleichtert durch und sah erschrocken, dass draußen bereits der neue Morgen graute. Wie sie den nächsten Tag überstehen sollte, fragte sie sich noch, dann fiel sie endlich in einen kurzen, tiefen Schlummer.

Munter wurde sie von Kaffeegeruch. Ihr Mann hatte ihr das Frühstück ans Bett gebracht, blickte sie liebevoll an, dann zum Buch und wieder fragend zu ihr. Anna zuckte schuldbewusst die Schultern und nickte.

„Gescheit war das nicht“, seufzte sie, „aber so schön!“

Das Missverständnis

Schon lange hatte Joe ein Auge auf Amira geworfen, auf diese aparte Schönheit. Ihre fraulichen Rundungen machten ihn stets aufs Neue nervös, auch wenn sie ihm in zu knapper Kleidung manchmal unvorteilhaft gequetscht erschienen. Amira war schlank, aber nicht dünn, hatte ein hübsches, wenn auch nicht makelloses Gesicht und außerdem Köpfchen. Manchmal wirkte sie aber direkt ein wenig arrogant, abgehoben, und Joe wusste nicht recht, wie er sich Zugang zu Ihrem Herzen verschaffen konnte. Er musste sich also besonders anstrengen, um Amira auf sich aufmerksam zu machen, und gerade jetzt, als er mit ein paar Freunden an der Bar stand und sie an einem nahen Tisch entdeckte, meinte er, eine gute Gelegenheit gefunden zu haben. Er hob an zu einem Sauflied, seine Kumpane stimmten ein, grölten mit und hoben ihre Biergläser. Joe blickte kurz zu Amira, versicherte sich, dass sie ihn sah. Gemeinsam tranken die Burschen los bis einer nach dem anderen wieder Luft holen musste. Joe setzte als letzter ab und stolz über diesen Sieg winkte er zu dem Mädchen.