Lebenswerk - Alice Schwarzer - E-Book

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Alice Schwarzer

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Beschreibung

Rückblick, Bilanz, Ausblick. Nachdem Alice Schwarzer 2011 im »Lebenslauf« ihre Herkunft, ihre Kindheit und Jugend sowie die frühen Jahre als Journalistin geschildert hat, berichtet sie nun über die großen Themen ihres Lebens und ihrer Arbeit, durch die sie über Jahrzehnte ein ganzes Land geprägt hat und noch prägt: Ihre Kämpfe gegen Gewalt an Frauen und Kindern, gegen die Männerjustiz, das Abtreibungsverbot, Sexismus, Pornografie und Prostitution– und für eine »Vermenschlichung der Geschlechter« sowie die Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern sind legendär. Motto: »Die Hälfte der Welt für die Frauen – die Hälfte des Hauses für die Männer!« Durch Alice Schwarzers lebendig erzählten Rückblick auf 50 Jahre wird das Ausmaß ihrer politischen Interventionen sichtbar, bis hin zu MeToo und der Kritik am politischen Islam. Ohne sie sähe das heutige Deutschland anders aus. Immer wieder hat Alice Schwarzer mit spektakulären TV-Streitgesprächen etwa mit Esther Vilar (1975) oder Verona Feldbusch (2001) Geschichte geschrieben, genauso wie mit ihren Büchern, der Gründung der Zeitschrift Emma (1977) oder ihren öffentlichen Aktionen gegen den §218 (»Ich habe abgetrieben«) und »PorNO«. Und immer wieder stand auch sie selbst im Mittelpunkt heftiger medialer Aus-einandersetzungen über ihre Person. Ein Buch voller Erinnerungen, Begegnungen (u.a. mit Angela Merkel), Einblicken in ihr Leben und ihre Positionen bis hin zu den heutigen Debatten. Plus ein Anhang mit Schlüssel-Texten von Alice Schwarzer aus den letzten 50 Jahren.

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Seitenzahl: 671

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Alice Schwarzer

Lebenswerk

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Alice Schwarzer

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Alice Schwarzer

Alice Schwarzer, geboren 1942 in Wuppertal, lebt in Köln und Paris. Sie begann ihre publizistische Arbeit 1969 als Reporterin bei Pardon. 1969–74 politische Korrespondentin in Paris. 1975: »Der kleine Unterschied und seine großen Folgen«, 1977: Gründung der Zeitschrift Emma. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a. »Eine tödliche Liebe – Petra Kelly und Gert Bastian« (1994), »Marion Dönhoff – ein widerständiges Leben« (1996), »Romy Schneider – Mythos und Leben« (1998), »Lebenslauf« (2011), »Der Schock – die Silvesternacht von Köln« (2016) und »Meine algerische Familie« (2018).

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Über dieses Buch

Ihre Kämpfe gegen Gewalt an Frauen und Kindern, gegen die Männerjustiz, das Abtreibungsverbot, Sexismus, Pornografie und Prostitution – und für eine »Vermenschlichung der Geschlechter« sowie die Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern – sind legendär. Motto: »Die Hälfte der Welt für die Frauen – die Hälfte des Hauses für die Männer!«

Durch Alice Schwarzers lebendig erzählten Rückblick auf 50 Jahre wird das ganze Ausmaß ihrer politischen Interventionen sichtbar, bis hin zu MeToo und der Kritik am politischen Islam. Ohne sie sähe das heutige Deutschland anders aus.

Immer wieder hat Alice Schwarzer mit spektakulären TV-Streitgesprächen etwa mit Esther Vilar (1975) oder Verona Feldbusch (2001) Geschichte geschrieben, genauso wie mit ihren Büchern, der Gründung der Zeitschrift Emma (1977) oder ihren öffentlichen Aktionen gegen den §218 (»Ich habe abgetrieben«) und »PorNO«. Und immer wieder stand auch sie selbst im Mittelpunkt heftiger medialer Auseinandersetzungen über ihre Person.

Ein Buch voller politischer und persönlicher Erinnerungen und Begegnungen (u.a. mit Angela Merkel) plus einem Anhang mit Schlüsseltexten von Alice Schwarzer aus fünf Jahrzehnten.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Statt eines Vorwortes: Ich bin Ich

Wie halten Sie das aus, Frau Schwarzer?

Wer hat die Frauenbewegung gegründet?

Vilar, Feldbusch, Romy Oder: Was im Fernsehen nicht) möglich ist

Sexuelle Identitäten: Neue Freiheiten?

Frauenarbeit – Männerarbeit

Begegnungen mit Angela Merkel, 1991–2020

EMMA: so fing es an!

Alltag in EMMA

Männer in EMMA

Humor und Feste in EMMA

Die EMMA-Kampagnen

Recht ist nicht gleich Gerechtigkeit

Abtreibung und kein Ende

Von der Stern-Klage bis zu PorNO

Missbrauch und Kinderfreunde à la Woody Allen

Frauenhass: Aus Worten werden Taten

Prostitution und Menschenwürde

Welchen Islam wollen wir?

Schulter an Schulter: Politikerinnen und Feministinnen

Unvereinbar? Soldatinnen und Pazifistinnen

West-Feministinnen und Ost-Genossinnen

Judenhass und Frauenhass

Von Köln bis Algier: der Silvester-Schock

Menschen brauchen Vorbilder

Ich bin da. Mein Herz schlägt.

Schlüsseltexte

Wir haben abgetrieben! | 1971

Abtreibung: Frauen gegen den §218 | 1971

Die unsichtbare Frauenarbeit | 1973

Der kleine Unterschied und seine großen Folgen | 1975

Der Stern-Prozess | 1978

Frauen ins Militär | 1978

Iran: Die Betrogenen | 1979

Emanzipiert Pädophilie? | 1980

Prostitution: Das verkaufte Geschlecht | 1981

Essstörungen: Dünne machen! | 1984

Homoehe: Auch das noch? | 1984

Die Würde der Frau ist antastbar | 1987

Warum musste Angelika B. sterben? | 1991

Irak – die Mutter aller Schlachten | 1991

Newton: Kunst oder Pornografie? | 1993

Frauenmörder, die SS des Patriarchats | 1994

Lorena Bobbitt | Beyond Bitch | 1994

Tage in Ravensbrück | 1995

Ich habe einen Traum | 2000

Zum Beispiel Daniel Cohn-Bendit | 2001

Von Herren- und Untermenschen | 2002

Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz | 2002

Der Aufstand der jungen Muslime | 2005

Schröder: Ein Mann sieht rot | 2005

Bushido: Du bist ein Spießer! | 2010

Prostitution – ein deutscher Skandal | 2013

10 Jahre Kanzlerin | 2016

Der gekränkte Mann | 2016

Die Burka verstößt gegen das Grundgesetz! | 2016

MeToo: Sexuelle Gewalt & Macht | 2018

Danksagung

Personenregister

Für Margarete Schwarzer, geb. Büsche

Statt eines Vorwortes: Ich bin Ich

Wo bei anderen Menschen der Beruf steht, ist bei mir häufig zu lesen: »Alice Schwarzer, Feministin«. Als sei meine politische Haltung mein Beruf. Und als hätte der Feminismus nicht viele Facetten – und so manche sogar konträr zu meinen Überzeugungen. Nein, von Beruf bin ich Journalistin, von Überzeugung Humanistin, Pazifistin und Feministin – und als solche stehe ich in einer ganz bestimmten Tradition. Ansonsten stehe ich nur für mich, für das, was ich persönlich getan oder veröffentlicht habe. Ich rede nicht im Namen anderer oder von Ideologien, sondern nur in meinem Namen. Ich bin ich.

Die feministische Theorie und Praxis, die in der Moderne etwa seit 170 Jahren existiert, war nie einheitlich – so wenig wie der Sozialismus –, sondern hatte von Anfang an drei unterschiedliche Hauptströmungen: Erstens die Reformerinnen, die nicht auf Aufhebung der Geschlechterrolle (Gender) und uneingeschränkt gleichen Rechten und Chancen bestehen, jedoch die Lage der Frauen verbessern wollen. Zweitens die Differenzialistinnen, die von einer »Gleichwertigkeit« der Geschlechter im Unterschied ausgehen, angeboren oder irreversibel konditioniert. Drittens die Radikalen, deren Ziel die Aufhebung der Geschlechterrollen sowie gleiche Rechte und Chancen für beide Geschlechter sind. Zu Letzteren gehöre ich.

Denn ich glaube nicht an eine determinierende »Natur der Frau«, so wenig wie an eine Natur des Mannes bzw. des Menschen überhaupt. Ich gehe davon aus, dass der biologische Faktor nur einer von vielen ist, die den Menschen definieren, und dass die real existierenden Unterschiede, die heute zweifellos zwischen den Geschlechtern bestehen – und nicht nur zwischen ihnen –, »gemacht« sind. Doing gender, wie das heute im Angelsächsischen heißt. Oder: »Wir werden nicht als Frauen geboren, wir werden es«, wie Simone de Beauvoir es vor über 70 Jahren formuliert hat.

Frauen sind keineswegs »von Natur aus friedlich« und Männer nicht zwingend gewalttätig; Frauen sind nicht von Natur aus mütterlich und Männer nicht nicht fürsorglich; sie sind auch nicht von Natur aus emotional und Männer rational. Es gibt zahlreiche Beispiele individueller Abweichungen, die das Gegenteil belegen. Die vorgeblich »weiblichen« und »männlichen« Eigenschaften sind das Resultat tiefer Prägungen, langer Traditionen und täglich erneuerter Zu(recht)weisungen. Die Folge ist die Verstümmelung von Menschen zu »Frauen« und »Männern«.

Der überwältigenden Mehrheit der Menschen wird bis heute eine Geschlechterrolle zugewiesen: weiblich oder männlich. Die Möglichkeit auf Diversität und ein »queeres« Leben ist einer winzigen Szene vorbehalten und keineswegs gesichert. Mein Ideal jedoch sind nicht drei, vier, viele Geschlechter, sondern ist der ganzheitliche Mensch. Also ein Mensch, der sich – je nach Begabung, Interessen und Möglichkeiten – unabhängig von seiner Biologie sowohl »weibliche« als auch »männliche« Eigenschaften und Leidenschaften zugestehen kann und daran weder gehindert noch dafür bestraft wird. Doch davon sind wir in der westlichen Welt nach mindestens 4000 Jahren Patriarchat und erst einem halben Jahrhundert neue Frauenbewegung noch ein gutes Stück entfernt, vom Rest der Welt ganz zu schweigen. Dennoch ist durchaus einiges in Bewegung geraten: Männer schieben Kinderwagen und Frauen sitzen in Chefsesseln. Doch auch von diesen Rollenbrecherinnen wird weiterhin erwartet, dass sie trotz alledem »ganz Frau« bleiben. Wenn nicht, wird das sanktioniert.

Ich zum Beispiel bin nach traditionellen Kriterien eigentlich eher »weiblich«, also fürsorglich und menschenorientiert, ich koche gerne und trage lieber Kleider. Gleichzeitig jedoch gestehe ich mir einige als »männlich« konnotierte Eigenschaften zu: offene Konfliktfähigkeit, kein dauerdämliches Lächeln und nicht geleugnete Macht, auch wenn die sehr relativ ist. Was in meinem Fall schon genügt, mich als »Mannweib« abzustempeln. Seit der Wiederbelebung des Feminismus in den 70er Jahren werden Abweichungen von der Geschlechterrolle bei Frauen schärfer sanktioniert als bei Männern. Darum tragen so viele besonders tüchtige Frauen zum Anzug besonders hohe High Heels. Sie wollen den Männern damit signalisieren: Keine Sorge, ich bin trotz alledem auch nur eine Frau. Was immer das heißen mag – eine Frau sein.

Ich stehe in der Tradition von Frauenrechtlerinnen wie Olympe de Gouges (1748–1793), die für ihre »Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin« von den Revolutionären von 1789 unter die Guillotine geschleift wurde; Hedwig Dohm (1831–1919), die die Scharfsinnigste in der historischen Frauenbewegung war (»Die Menschenrechte haben kein Geschlecht«) und heftig bekämpft wurde; Virginia Woolf (1882–1941), die geniale Schriftstellerin und Feministin, oder Simone de Beauvoir (1908–1986), die große Vordenkerin vom »Anderen Geschlecht«. Und auch von Weggefährtinnen wie in Amerika Kate Millett (»Sexus und Herrschaft«) oder Shulamith Firestone (»Die sexuelle Revolution«), beide leider schon tot. Mit Susan Faludi (»Backlash«), der Interessantesten aus der Töchtergeneration, stehe ich seit Jahrzehnten in freundschaftlichem Austausch. Wir arbeiten als Autorinnen wohl nicht zufällig oft an den gleichen Themen: Gendergap, »neue« Weiblichkeit, irritierte Männlichkeit oder Transsexualität.

Alle diese Frauen woll(t)en, ganz wie ich, nicht nur die Frauen befreien, sondern die Menschen. Wir radikalen Feministinnen sind gegen jegliche Unterdrückung und Ausbeutung, gegen Gewalt und Machtmissbrauch. Innerhalb dieses Spektrums gehöre ich allerdings zu der gemäßigten Fraktion. Das heißt, ich bin immer auch offen für Kompromisse und Reformen, soweit sie den Menschen hier und heute nutzen – und sie kein Hindernis sind auf dem Weg zum Ziel oder gar ein Rückschlag. Aus diesem Grund habe ich früh auch den Schulterschluss mit »gemäßigten« Frauenrechtlerinnen und frauenbewussten Politikerinnen gesucht.

Gerade leben wir in einer Zeit, in der solche Koalitionen für Frauen wieder überlebenswichtig werden. Den letzten Teil dieser Standortbestimmung schreibe ich in den Monaten der Corona-Krise. Es ist eine eigenartige Atmosphäre, zwischen Nachdenklichkeit und Panik. Viele Menschen werden Schrammen davontragen. Und eines ist schon jetzt klar: Die Frauen werden besonders betroffen sein. Jobs brechen weg und das Homeoffice ist nicht nur Erleichterung, sondern auch Gefahr. Die gute alte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern feiert Urstände. Erste Studien zeigen, dass auch bei gleichberechtigt berufstätigen Eltern die Kinderversorgung und Hausarbeit wieder vor allem an den Frauen hängen bleibt. Vor einer »Retraditionalisierung der Geschlechterrollen« wird gewarnt.

In den vergangenen Jahren haben mir manche Medien das Etikett »Alt-Feministin« verpasst. Als sei ich als Vertreterin einer politischen Theorie schon überholt, nur weil diese Theorie 50 Jahre alt ist oder 170 Jahre, rechnen wir die historische Frauenbewegung dazu. Schließlich reden wir von einer Theorie und Praxis, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die tiefgreifendste soziale Revolution unserer Epoche ausgelöst und auch mein Leben radikal verändert hat.

Im ersten Teil meiner Lebenserinnerungen, in dem 2011 erschienenen »Lebenslauf«, bin ich der Frage nachgegangen: Woher komme ich? Was hat mich geprägt? Wie bin ich zu der geworden, die ich bin? Es geht darin um die Jahre 1942 bis 1977. In diesem zweiten Teil setze ich nun den Akzent auf die publizistischen und politischen Aktivitäten meines Lebens. Ich beginne Mitte der 1970er Jahre und gehe bis ins Heute. 1975, das war der Turning Point meines Lebens. Seither bin ich eine öffentliche Person.

© Walter Vogel

Wie halten Sie das aus, Frau Schwarzer?

»Wie halten Sie das aus, Frau Schwarzer?« Das ist die Frage, die ich auf jeder Veranstaltung irgendwann zu hören bekomme. Auf jeder. So auch heute, am 28. April 2019 im Düsseldorfer Schauspielhaus. Vor mir sitzen rund tausend Menschen, überwiegend Frauen, etwa ein Viertel Männer. Viele von ihnen, auch die Männer, werden nachher noch zum Signiertisch kommen, mich anstrahlen und Handyfotos mit mir machen. Aber jetzt sitzen sie da in dem halbdunklen Raum und halten die Luft an. Was sagt sie jetzt?

Ich habe inzwischen eine gewisse Routine, aber dennoch gibt diese Frage mir jedes Mal einen Stich ins Herz. Ja, wie halte ich es eigentlich aus? Ganz ehrlich, manchmal weiß ich es selber nicht. Denn schließlich geht das so seit 45 Jahren. Seit ich durch mein Streitgespräch mit Esther Vilar am 6. Februar 1975 eine öffentliche Person wurde. Schlimmer: eine öffentliche Feministin. Noch schlimmer: die Feministin Nr. 1. Die, die für alles verantwortlich ist. Dafür, dass eine Amerikanerin namens Lorena Bobbitt 1993 ihrem Mann den Penis abgeschnitten hat (nach jahrelangen Vergewaltigungen). Oder auch, falls Frau Seehofer ihrem Gatten jemals die Weißwürste kalt servieren sollte (was wohl nie der Fall sein wird, Gott behüte).

Wenn ich also so dastehe auf der Bühne und, wie meist nach meinen Vorträgen oder Lesungen, mit den Menschen diskutiere, wird mir immer wieder klar: Es hat sich seit meinen turbulenten Veranstaltungen nach dem Erscheinen vom »Kleinen Unterschied«[1] 1975 nichts Grundlegendes geändert. Die Neugierde oder Erwartungen, die leidenschaftliche Zustimmung oder das zögerlich erwachende Interesse – das war schon vor 45 Jahren so. Weniger geworden sind nur die Aggressionen und Anzüglichkeiten. Kaum einer brüllt heute noch quer durch den Saal: »Sie sind doch gar keine normale Frau, Frau Schwarzer!« Daran sehe ich, dass seither doch einiges passiert ist.

Lesungen zum »Kleinen Unterschied«, 1975. © Walter Vogel

Universität Tübingen 2010. © Bettina Flitner

Lesung Deutsches Theater Berlin 2011. © Bettina Flitner

Aber jedes Mal und immer wieder muss ich die Mauer der Klischees durchbrechen, versuchen, die Menschen zu erreichen, um ihnen zu zeigen, wer ich wirklich bin, wofür ich wirklich stehe. Und immer wieder muss ich – nach jeder der etwa alle fünf Jahre über mich hinwegschwappenden, rituellen Anti-Schwarzer-Kampagnen – die frohe Kunde meines Überlebens überbringen. Das beruhigt die Frauen. Es sind ja fast immer Frauen, die mich fragen. Und sie fragen es nicht nur in Sorge um mich, sondern auch aus Sorge um sich. Denn sie wissen längst: Mit den Angriffen auf »die Schwarzer« sind auch sie gemeint. Ich bin persönlich wie stellvertretend im Visier: Seht her, das machen wir mit so einer! So soll ich zur Unberührbaren gemacht werden. Was nicht ganz klappt, aber doch ein bisschen – wie wir an den Äußerungen so mancher Spitzensportlerin oder Topmanagerin sehen: Ja, ich bin emanzipiert, aber keine Alice Schwarzer …

Aber Alice Schwarzer ist Alice Schwarzer. Sie kommt da nicht raus. Und sie steht immer noch auf der Bühne und ist eine Antwort schuldig. Zum Beispiel darauf, wie ich es eigentlich aushalte, dass mir seit dem Erscheinen vom »Kleinen Unterschied« die »Weiblichkeit« (was immer das sein mag) sowie das Begehrtwerden (von wem und mit welchen Motiven auch immer) öffentlich abgesprochen werden. Seither bin ich keine »richtige Frau« mehr. Denn für eine »richtige Frau« lautet das oberste Gebot, begehrt und geliebt werden zu wollen – und nicht etwa aufzubegehren und sich unbeliebt zu machen.

Das geht seit meinem TV-Streitgespräch mit Esther Vilar und der Veröffentlichung vom »Kleinen Unterschied« so. Seit ich den bis dahin öffentlich stummen Frauen eine Stimme gegeben habe. Spätestens da hatten viele Frauen verstanden. Verstanden, dass sie nicht allein sind mit ihren Problemen, sondern die Sache System hat. Seither lag ich bei Zwisten im Ehebett auf der Ritze: Für oder gegen Alice?

»Der kleine Unterschied« wurde zu meiner eigenen Überraschung ein internationaler Bestseller: von Brasilien bis Japan identifizierten Frauen sich mit den 18 deutschen Frauen, die ich als Fallbeispiele gewählt hatte. Das Buch ist ein Longseller, seit 45 Jahren wird es immer wieder neu aufgelegt.

Im Januar 2020 besuchte ich die »Schwemme« eines Kölner Brauhauses. Das sind Kombüsen, in denen die Fässer stehen und das Bier gezapft wird. Einheimische gehen da gerne auf einen Sprung rein, um stehend ein Kölsch zu trinken oder auch zwei. Am Zapfhahn stand eine junge Frau (was relativ neu ist, traditionell sind Köbesse in den Brauhäusern Männer). Mitte zwanzig, hübsch, blonder Pferdeschwanz. Nach ein paar Minuten wandte sie sich zu mir: »Hör mal, Alice. (Es ist Tradition in den Brauhäusern, sich zu duzen.) Es ist sonst nicht meine Art, Gäste anzusprechen. Aber ich habe gerade den ›Kleinen Unterschied‹ gelesen und mich total wiedergefunden in dem Buch. Jetzt habe ich es meinem Freund in die Hand gedrückt.« Ich staune. Julia (so heißt sie) redete weiter: »Du erwähnst in dem Buch doch, dass sich die Träume weißer Amerikanerinnen von denen weißer Amerikaner stärker unterscheiden als die Träume weißer Amerikanerinnen von denen weiblicher Aborigines in Australien. Und stell dir vor, ich habe meine Freundinnen gefragt: Die haben auch alle ganz andere Träume als ihre Freunde!« Nun bin ich doch überrascht.

Es geht also weiter. Und solange das so ist, werde ich Ärger haben. Es hätte mir eigentlich von Anbeginn an klar sein müssen, dass eine Autorin, die die Funktion von Liebe und Sexualität analysiert und den Frauen sagt, sie sollten nicht länger relative Wesen bleiben, sondern eigenständige Menschen werden, dass die nicht ungeschoren davonkommt. Aber ich war naiv, ich war damals tatsächlich nicht darauf gefasst. Ich habe einfach immer geraderaus gesagt, was ich denke.

»Frustrierte Tucke« (Süddeutsche Zeitung), »Hexe mit stechendem Blick« (Bild) oder auch »Nachteule mit dem Sex einer Straßenlaterne« (Münchner Abendzeitung), so tönte es 1975 in den Gazetten. Quasi unwidersprochen. So was geht natürlich nicht spurlos an einem Menschen vorbei. Der ZEIT-Autor Christian Schultz-Gerstein war einer der ganz wenigen, die gegenhielten. 1976 schrieb er: »Und ein Ende der Beschimpfungen, die offenkundig kein anderes Ziel haben als das, die deutsche Frauenrechtlerin Alice Schwarzer so lange zu demütigen, bis sie es endlich gefressen hat, dass sie ihre Schnauze halten soll, ein Ende dieser bisher längsten und perfidesten Menschenjagd in der Geschichte der Bundesrepublik ist nicht abzusehen. Denn Alice Schwarzer hat immer noch nicht abgeschworen.«

Schultz-Gerstein war vermutlich besonders sensibilisiert, weil der Reporter mich – als Einziger in all den Jahrzehnten! – bei einer Lesereise begleitet hatte. Da hatte er sich selber ein Bild machen können von dem leidenschaftlichen Interesse der Menschen und wie ich damit umging. Er war nicht unbedingt meiner Meinung, aber schockiert darüber, dass mir nicht der »selbstverständliche Schutz« für Andersdenkende gewährt wurde, sondern, wie er in der ZEIT schrieb, »rechte wie linke Journalisten gleichermaßen ihr stumpfsinniges ›Schwanz-ab-Schwarzer‹ predigen, das so verdächtig nach ›Kopf-ab-Schwarzer‹ klingt. Und dass sie es ihren Lesern vormachen, wie man mit so einer umspringt. Das ist schon furchterregend.«[2] Ja, das war es.

Um meine Lage zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass ich in Deutschland in einer ziemlich einmaligen Situation war. In Ländern wie Amerika bekamen damals etwa ein Dutzend öffentlicher Feministinnen die volle Breitseite ab: von Kate Millett, Shulamith Firestone, Gloria Steinem, Phyllis Chesler, Susan Brownmiller oder Robin Morgan bis Andrea Dworkin, um nur ein paar zu nennen. Hierzulande aber starteten die Feministinnen spät und zögerlich. Ich aber hatte meinen Feminismus früh aus Frankreich importiert und war eine medial erfahrene Journalistin. So konnten mich die Medien zur Einzigen stilisieren, was allerdings eine höchst zweifelhafte Ehre war. Von den genannten Amerikanerinnen landeten drei zeitweise in der Psychiatrie, und Firestone brachte sich 2012 um. Auch den Restlichen ging es nicht immer gut. Denn sie waren, ganz wie ich, nicht nur Zielscheibe von Männern und Medien, sondern auch der eigenen Schwestern. Das ist das vielleicht dunkelste Kapitel unter Feministinnen: der Schwesternstreit (Phyllis Chesler, die Autorin des Klassikers »Frauen, das verrückte Geschlecht«[3], hat 2002 darüber ein schmerzliches Buch geschrieben: »Woman’s Inhumanity to Woman«[4]).

Da wussten wir noch nicht, wie es seit dem Erscheinen vom »Anderen Geschlecht« – dieser 1949 erschienenen »Bibel der neuen Frauenbewegung« – der von uns so bewunderten Simone de Beauvoir ergangen war. Eine brachiale Welle der Einschüchterung und Diffamierung war über sie weggegangen, und zwar seitens vieler Männer wie auch so mancher Frauen. Sie sei »frustriert«, »lesbisch« (zu der Zeit hatte Beauvoir ein leidenschaftliches Verhältnis mit Nelson Algren) und vermutlich habe eh Sartre das Buch geschrieben. Nach ihrem Tod 1986 wurden der Schriftstellerin und Philosophin noch mal Kübel von Dreck hinterhergeworfen, und zwar vor allem in fortschrittlichen Publikationen: »Ihr Werk: Mehr Popularisierung als Kreation« (Le Monde); »Sie besaß so viel Fantasie wie ihr Tintenfass« (Revue de deux Monde); »Sartres Krankenschwester« (New York Times).

Die Rede ist von der Frau, die die vermutlich einflussreichste Intellektuelle des 20. Jahrhunderts war; die im »Anderen Geschlecht« das »Doing Gender«, das »Machen« der Geschlechter (wie Rassen) umfassend analysiert hat (»Man wird nicht als Frau geboren, man wird es«); und die ein halbes Jahrhundert lang mit Sartre ein außergewöhnliches, wirklich gleichberechtigtes DenkerInnen-Duo gebildet hatte (was auch Sartre selber nicht müde wurde zu betonen). Hilft alles nichts: Selbst sie wurde ridikülisiert und zum relativen Wesen degradiert.

Heute sind die Gehässigsten tatsächlich vor allem manche junge Frauen. Sie werfen Beauvoir vor, ein Anhängsel, wenn nicht gar Opfer von Sartre gewesen zu sein – und ahnen noch nicht einmal, dass ihre eigene Existenz ohne diese große Vordenkerin so gar nicht denkbar wäre.

Doch zunächst treten gegen uns Feministinnen die Männer auf. Im »Kleinen Unterschied« hatte ich ja nicht nur das Schweigen der Frauen gebrochen, sondern auch mit Verve und Ironie auf die Jungs draufgehauen. Vor allem hatte ich an das größte Tabu gerührt: die Sexualität. Und ich hatte die sogenannte »sexuelle Revolution« der 60er Jahre kritisiert, die auf Kosten von Frauen und Kindern ging. Dennoch hatte ich nicht mit so heftigen Reaktionen gerechnet. Doch da ich nicht in einer Dauerschleife des Disputs hängen bleiben wollte, verschanzte ich mich erst einmal hinter der Arbeit. Bereits ein Jahr nach Erscheinen vom »Kleinen Unterschied« begann ich, EMMAvorzubereiten. Die erste Ausgabe erschien 18 Monate nach dem »Kleinen Unterschied«.

Zu dem Zeitpunkt wusste ich schon – auch aus meiner Erfahrung in der französischen Frauenbewegung –, dass es eine beliebte Methode war, Frauenrechtlerinnen nicht in der Sache zu kritisieren, sondern sie in ihrer »Weiblichkeit« zu verunsichern und persönlich zu diffamieren. Wenn ich jedoch heute auf die Fotos aus diesen Jahren schaue, bin ich schockiert darüber, wie dreist das Einschüchterungsmanöver war. Abgesehen von sichtbar hart manipulierten Aufnahmen (von unten, mit offenem Mund etc.) ist auf diesen Fotos eine eher sensible bis melancholische, manchmal auch angriffslustige oder übermütige junge Frau zu sehen. Alle von mir in den vergangenen Jahrzehnten veröffentlichten Fotos sind symptomatisch, belegen sie doch den Umgang der Medien mit einer (zu) starken Frau und spiegeln exakt die jeweilige allgemeine Stimmung: mal aggressiv, mal wohlwollend. Dasselbe gilt übrigens für Angela Merkel, von 1991 (»Kohls Mädchen«) bis heute (»Die ewige Kanzlerin«).

Es half mir auch, dass ich früh gelernt hatte, nicht auf traditionelle weibliche Attraktivität zu setzen. Meine jungen Großeltern, die meine sozialen Eltern waren, lobten ihr Kind für Mut und Intelligenz – und versäumten es, mich zum koketten Mädchen zu dressieren. So kam es, dass ich selbst in der Phase meiner klassischen Attraktivität – blond, langbeinig, kurzrockig – nie darauf gebaut habe. Darum konnte mich auch das Absprechen dieser Art »weiblicher« Attraktivität nicht im Kern treffen.

Auch das war untypisch bei mir: Ich bin bei den (Groß-)Eltern aufgewachsen, bei denen sich eine partielle Rollenumkehrung eingeschlichen hatte. Ich habe das im »Lebenslauf«[5] im Detail erzählt. Beide Großeltern kamen aus dem schon durch den 1. Weltkrieg deklassierten Bürgertum. Sie fassten auch nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr richtig Tritt. Wir blieben in einer Dauerschleife der Randständigkeit hängen. Dabei spielte eine Rolle, dass beide tapfere Anti-Nazis gewesen waren, was auch nach 1945 nicht unbedingt angesagt war in Westdeutschland. Der Großvater, Ernst Schwarzer, dessen Zeitschriften- und Zigarettenladen im Krieg platt gebombt worden war, schusselte nach dem Krieg von Kleinst-Unternehmen zu Kleinst-Unternehmen. Die Großmutter, Margarete Schwarzer, von Beruf Schneiderin, war eine frustrierte Hausfrau, die kaum kochte, lieber las und über Politik debattierte. Bis zu ihrem Tod hat sie ihrem Vater, Besitzer einer Buchbinder-Manufaktur, nicht verziehen, dass »nur meine Brüder studieren durften«.

Außer Haus war die 1,50 Meter kleine Frau schüchtern, innerhalb gab sie den Ton an. Sie war sehr ironisch und politisch extrem klarsichtig, schon in den 1950er Jahren Tierrechtlerin und Ökologin dazu: strikt gegen das Sprühen von Pflanzenschutzmitteln im Garten (über das sie Leserbriefe an die Lokalzeitung schrieb), auch »tote Blumen« durfte man ihr nicht schenken. Hinzu kam ihr gewaltiger Zorn auf Rechte und Nazis und ihr kritischer Blick auf Linke. Ihr Mann zog dabei mit, war jedoch sanfter und geselliger, vor allem fürsorglicher.

Mein Großvater war es, der mich in den (Nach-)Kriegswirren ernährt und gewickelt hat, sie interessierte sich für mich erst, als ich sprechen und denken konnte. Es war eine spannungsgeladene Ehe, wie viele, mit großen finanziellen Sorgen. Sie machte ihm Szenen und ihn verantwortlich für ihr verpasstes Leben – wofür dieser humorvolle, liebeswerte Mann nun wirklich nur wenig konnte.

Klar, dass die beiden mein Männer- und Frauenbild geprägt haben. Denkende Frauen und mütterliche Männer sind für mich selbstverständlich. Auch entspricht es meinen ureigensten Erfahrungen, dass nicht alle Frauen gute Mütter sind, viele Männer es jedoch sein könnten.

Was mich, das Kind, anging, war ich die Dritte in dem schwankenden Boot meiner Familie und musste sehr früh mit in die Ruder greifen. Ich hielt meine zu Heftigkeiten neigende Großmutter in Schach und beschützte meinen lieben Großvater. Ihm verdanke ich schließlich mein Leben. Meine abwesende Mutter hatte den Status einer großen Schwester und kümmerte sich erst um mich, als ich anfing, mich um sie zu kümmern.

Großeltern und Mutter. © privat

»Papa« mit Alice in Oberlauringen. © privat

In der Schule. © privat

Die Mädchenclique. © privat

Eintrag ins Goldene Buch von Wuppertal, stehend Jugendfreundin Barbara. Vorne: 1977. © Medienzentrum Wuppertal

Die Familie hatte mich nach der Bombardierung von Elberfeld am 24. Juni 1943 in ein Kinderheim in Pforzheim gebracht. Meine Mutter heiratete in Wien (einen deutschen Unternehmer) und blieb dort bis Kriegsende. Mein Großvater, Jahrgang 1895, also nicht kriegsverpflichtet, holte mich nach wenigen Wochen (oder Monaten?) aus dem Heim in das fränkische Dorf Oberlauringen, wohin man die Großeltern evakuiert hatte. Er war es, der mich windelte und ernährte. 1948 ging er voraus nach Wuppertal, um für uns drei eine Wohnung zu suchen. Die Großmutter und ich folgten ihm ein Jahr später. Pforzheim war 1944 platt gebombt worden, unter den Trümmern das Kinderheim.

Innerhalb unseres Trios galt ich schon als Kind im Zweifelsfall als die Stärkste, hatte Sorgen und Verantwortung, aber auch Respekt und Freiheiten. Niemand engte mich ein – allerdings förderte mich auch niemand. In der Schule war ich nicht das Mädchen mit den dicken Zöpfen und der weißen Bluse, der Liebling der Klassenlehrerin. Ich war die zwar als intelligent und witzig geltende, aber irgendwie doch fremde Außenseiterin. Meine Bluse strahlte nicht wie in der Waschmittel-Werbung und meine Schulhefte waren so manches Mal verknittert, weil eine der fünf Katzen drübergelaufen war. Auch die drei Hunde hinterließen ihre Spuren in unserem winzigen Häuschen. Und dann waren da die Nachbarn. Ich war zwar beliebt bei ihnen, aber auf meine Großmutter warfen sie scheele Blicke, meinen »armen« Großvater bedauerten sie. Und wir? Wir Schwarzers fanden, dass wir eigentlich drüberstehen: mit einem weiten Blick vom bewaldeten Hügel über Elberfeld und die ganze Welt. Es war eine schizophrene Situation, diese Mischung aus Geringschätzung und Stolz.

Das hat mich geformt – und nicht etwa irgendwelche Erziehungsmaßnahmen. »Du hast dich selber erfunden«, hat meine verstorbene Freundin, die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, mal zu mir gesagt.

Diese frühe Randständigkeit und Verantwortung prägen mich bis heute. Ich bin es gewohnt, nicht dazuzugehören – aber gleichzeitig zu vermitteln zwischen dem Rand und der Mitte. In meiner Familie war ich sozusagen die Außenministerin. Hinzu kam der extrem ausgeprägte Gerechtigkeitssinn meiner Großmutter: Gerechtigkeit für alle Geknechteten dieser Erde (wenn auch nicht immer für ihre eigene Familie). Auch ich ertrage keine Ungerechtigkeiten, selbstverständlich auch nicht gegen Männer – und ebenso wenig gegen mich selbst. Wenn ich mich ungerecht behandelt fühle, gehe ich mit dem Kopf durch die Wand. Was nicht immer klug ist.

So gewappnet ging ich in die Welt – und war erstaunt, dass plötzlich ein Mädchen weniger wert sein sollte als ein Junge. Ein »Schlüsselerlebnis«? Die Tanzschule H.H. Koch in Elberfeld. Frau Koch bittet zum ersten Mal »die Herren«, nun »die Damen« aufzufordern. Wir sind 16. Und mich überflutet schlagartig ein bisher unbekanntes Gefühl des Ausgeliefertseins an Männer. In meiner Kindheit war mein Verhältnis zu den Jungs, mit denen ich ebenso vertraut war wie mit den Mädchen, eher kameradschaftlich gewesen. Aber jetzt. Um Gottes willen, wenn du jetzt sitzen bleibst?! Ich bleibe nicht. Im Gegenteil, ich werde von Tom, dem mit Abstand bestaussehenden Jungen, aufgefordert. Er bleibt mir treu bis zum Schlussball. Und er will noch nicht mal was von mir, so wenig wie ich von ihm (blond und strahlend war nicht mein Typ, eher dunkel und melancholisch). Doch wir sind beide aus dem Schneider.

Meine Schulzeit ist wie meine Familienverhältnisse: chaotisch. Zuletzt gehe ich zur Handelsschule und mit 16 »ins Büro«. Da werde ich in der Buchhaltung schnell trübsinnig und flüchte am Feierabend mit meiner Mädchenclique in die Milchbar und zum Rock’n’Roll und Jazz. Mit 23 erkämpfe ich mir, nach einem durch Putzen und Tippen finanzierten Sprachstudium in Paris, ein Volontariat bei den Düsseldorfer Nachrichten. Ich bin die einzige Frau unter acht Volontären und die Einzige ohne Abitur und Studium. Das hole ich später nach. Parallel zu meiner Tätigkeit als freie Korrespondentin in Paris studiere ich zwischen 1969 und 1973 an der berüchtigten »roten Fakultät« Vincennes in Paris, unter anderem bei Michel Foucault. Bei ihm belege ich die Kurse »Marxismus und Psychoanalyse« sowie »Sexualität und Macht«. Meine dabei erworbenen frühen Kenntnisse der amerikanischen Sexualforschung werden sich prägend auf den »Kleinen Unterschied« auswirken.

In Paris arbeite ich für den Rundfunk, meist den WDR, manchmal auch für Spiegel oder Stern, das österreichische Neue Forum und die niederländische Vrij Nederland. Meine Themen sind die sozialen und kulturellen Folgen des Mai 68: wilde Streiks in den Fabriken, skandalöse Verhältnisse in den Nissenhütten der Vorstädte, Repressionen gegen die Linke, das Erstarken der Rechtsextremen oder auch mal die Avantgardemode von Yves Saint Laurent und Courrèges, die die Frauen im Anzug bzw. im Weltraumlook auf den Laufsteg schicken.

Ich war Journalistin geworden, weil ich dazu beitragen wollte, die Welt zu verbessern. Doch an mich, an uns Frauen habe ich dabei damals nicht gedacht. Frauen waren in den 60er Jahren einfach kein Faktor, da galt nur »die große Politik«. Im Rückblick beschämt mich, kaum wahrgenommen zu haben, dass erst 1961 die erste Ministerin im Adenauer-Kabinett auftauchte: die Gesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt (und das auch nur, weil die Parteifrauen jahrelang dafür gekämpft hatten).

Die Kämpfe der historischen Feministinnen waren vergessen, ihre Siege selbstverständlich. Fortschrittliche Frauen dachten nicht mehr in der Kategorie »Geschlechter«, sondern in der der Klassen. Selbst Simone de Beauvoir, deren »Anderes Geschlecht«[6] 1949 erschienen war, hatte ja bis zum Aufbruch der neuen Frauenbewegung 1970 erklärt, sie sei keine Feministin, denn das Problem werde sich in der neuen, sozialistischen Gesellschaft schon rütteln. Das müssen wir uns einfach klarmachen: Vor der Frauenbewegung hatte eine Frau nur in Ausnahmefällen (wie im Fall von Virginia Woolf) ein politisches Bewusstsein von ihrer eigenen Lage als Frau. Wir konnten bestenfalls unser Frauenleben schildern, wie viele Schriftstellerinnen und Künstlerinnen es getan haben, ohne Schlussfolgerungen.

Die sogenannten »Frauenthemen« sind in diesen Jahren weniger mein Beruf, sondern eher mein Hobby. Doch ab Herbst 1970 bin ich eine der Pionierinnen der Pariser Frauenbewegung, des Mouvement de la Libération des Femmes (MLF). Eines Tages fragt mich der jüngere, eher linke Studioleiter des WDR in Paris: »Stimmt es, dass Sie im MLF engagiert sind?« Hm. »Aber das haben Sie doch gar nicht nötig.« Hmmm.

Ich habe mich nicht einschüchtern lassen. Das ist es, was vielen Frauen und auch so manchem Mann wohl am meisten imponiert: Dass ich mir bis heute weder das Denken noch den Mund verbieten lasse. Und dass ich auch keine Angst habe, mich mal zu irren oder mich unbeliebt zu machen. Denn das ist das größte Hindernis für Frauen auf dem Weg zu einer wahren Partnerschaft mit Männern: ihre Angst vor Liebesverlust. Doch sie täuschen sich: Respekt wiegt mindestens so schwer wie Liebe – und beide schließen sich keineswegs aus.

Respekt und Anerkennung habe ich allerdings auch für meinen Weg erfahren, zum Beispiel von dem inzwischen verstorbenen Historiker Hans-Ulrich Wehler. Der schrieb 2007, nicht nur Männer machten Geschichte, sondern auch Frauen. Er würdigte den »dramatischen Erfolg« der neuen Frauenbewegung, die in einem »unvorstellbaren Tempo« die rechtliche und soziale Gleichberechtigung erstritten habe. »Es reicht aber nicht«, fuhr er fort, »die Schwungkraft einer anonymen Bewegung anzuerkennen. Ohne die Dynamik, die Argumentationsstärke, das kontinuierliche Engagement einer Wortführerin wie Alice Schwarzer wäre dieser Erfolg vermutlich nicht in der jetzt erreichten Form zustande gekommen. Man braucht nämlich diese Persönlichkeit nur einmal wegzudenken – im Jargon der Wissenschaft: kontrafaktisch zu überlegen –, um zu erkennen, in welchem Maße diese Publizistin und De-facto-Politikerin, oft im Alleingang, die Sache der Frauen überzeugend verfochten hat. Ohne diese ganz individuelle Motorik, ja sei’s drum, ohne diese Leidenschaft, im offenen Streit für ihre gerechte Sache unentwegt voranzugehen, hätte der Frauenbewegung, aber auch den Entscheidungsgremien der Parteipolitik ein wesentlicher Impuls gefehlt.«[7] Ja, ohne die Leidenschaft … Aber ich muss einsehen: Ich bin eine Institution geworden, ob ich will oder nicht. Eine Institution ohne Institution. Denn ich gehöre keiner Partei an, keiner Organisation, keinem Unternehmen, ich stehe für mich allein; nur in EMMA unterstützt von einem bewährten Team. Selbstverständlich bin ich Teil des weltweiten Aufbruchs der Frauen und in den 1970er Jahren Teil der Frauenbewegung. Doch diese Bewegung war nur ein lockeres Netzwerk und ist nie zu einem fassbaren Machtfaktor geworden. Stattdessen hat sie sich unter dem Druck von außen sehr bald von innen zersplittert.

Spätestens ab Mitte der 80er Jahre gingen die Aktivistinnen in die Institutionen, gründeten Projekte (wie ich zuvor schon die EMMA), engagierten sich im Beruf, bekamen Kinder oder zogen sich auch zurück. Seither ist der Feminismus eine gesellschaftliche Stimmung, ein Bewusstseinszustand, den jede einzelne Frau immer wieder neu durchsetzen muss. Die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte müssen täglich neu verteidigt werden. Der Fortschritt ist keineswegs gesichert. Und es geht auch nicht automatisch voran, manchmal geht es sogar zurück.

Ich bin ein Mensch, der sich alles, was er heute ist, selber erkämpft hat. Und das hat (fast) immer Spaß gemacht! Ich habe immer schon gerne gelacht, gefeiert, geliebt. All das ist trotz meiner politischen Kämpfe nie zu kurz gekommen, ja gehört für mich zusammen. Denn neben den Aggressionen, die ich aushalten muss, steht die unendlich große Zuneigung, ja Liebe von Menschen, die mir seit einem halben Jahrhundert entgegenschlägt; neben meinem Zorn auf Menschen, die ihre Macht missbrauchen, steht mein Interesse an Menschen. Das gilt für die vielen spannenden Persönlichkeiten, denen ich in meinem Leben begegnet bin und noch begegne – und mit denen ich mich häufig auch befreunde –, genauso wie für die Supermarktkassiererin nebenan und den Penner auf der Straße. In Köln, der Stadt, in der ich lebe und wo man mich kennt, passiert es so manches Mal, dass ein Obdachloser mich anspricht. Nicht nur, um mich um Geld anzuhauen, auch weil er sich Verständnis und Hilfe erhofft. »Hey Alice, du kennst doch die da oben. Kannst du nicht mal …?« Manchmal kann ich. Aber in Wahrheit kenne ich »die da oben« viel weniger gut als »die da unten«.

Doch noch einmal zurück zu der Frage: Wie halte ich es aus? Da ist zu sagen, dass es auch bei dem Thema Schwarzer eine Verzerrung durch die Medien gibt. Die waren und sind oftmals auf Skandalisierung und Herabsetzung aus, weniger auf Sachkritik, die natürlich so manches Mal auch bei mir berechtigt ist. Ich meine die persönliche Diffamierung.

Und das war so manches Mal auch Strategie, politische Strategie. Wie im Fall der SPD im Jahr 1980 (siehe Seitehier) oder auch der DDR mit ihren West-Stasis. Eine interessante, weitgehend unaufgearbeitete Geschichte: Während im Osten bis heute Stasi-ZuträgerInnen enthüllt werden, hat man über die im Westen kaum je geredet. Die sind auch gleich beim Mauerfall aus den Akten verschwunden. Doch es gab sie, und wie! In den Medien, an den Universitäten, im öffentlichen Leben. Meist arbeiteten sie verdeckt, das heißt, sie waren keine offenen Kommunisten – mit denen man sich sachlich hätte auseinandersetzen können –, sondern GenossInnen in Unterwanderstiefeln. Wir, die wenigen wirklich autonomen Feministinnen der 70er Jahre, die das verstanden haben, erkannten ihre Organisationen schon an dem Adjektiv »demokratisch«: der »Demokratische Frauenbund« etc. Doch sie waren nicht greifbar, weil sie nie zugaben, wofür sie standen. Aber im Diffamieren Unliebsamer waren sie groß. Unter anderem verpassten diese Aktionistinnen mir in der Debatte um die »Frauen in der Bundeswehr« das Label »Flintenweib«.

Mich hatte die DDR wohl seit Mitte der 1970er Jahre im Visier, in denen ich in Westberlin gelebt hatte (eine Hochburg der Stasi-Spitzel). Hätte der West-Feminismus der DDR nicht eigentlich egal sein können? Nein, hätte er nicht. Denn das Regime befürchtete die Infektion der eigenen Genossinnen mit dem Bazillus. Was ja auch passiert ist. Also wurde eine West-Feministin wie ich, obwohl sie sich nie direkt eingemischt hatte in die Belange der DDR, systematisch verfolgt und verleumdet. Gerne auch von Frauen innerhalb der Frauenbewegung, die im Auftrag unterwegs waren. Unterwandermäßig. Ich erinnere mich an eine – eine lebenslustige Soziologin mit Ostberlin-Kontakten, die fantastisch Rock’n’Roll tanzte –, die nach dem Mauerfall Selbstmord begangen hat. Aus Scham. Die anderen schweigen bis heute.

Irgendwann in den 1990er Jahren habe ich im Fernsehen einen Dokumentarfilm über die Methoden von Markus Wolfs Stasi-Behörde, den politischen Gegner zu diffamieren, gesehen. Und da habe ich mich wirklich erschrocken. Denn ich habe sehr vieles wiedererkannt, was mir selber widerfahren war.

Wie das ablief, lässt sich oft schwer festmachen: Es war ein gewisser Sound, aber es waren auch bestimmte Personen. Der Sound war immer wieder der Vorwurf des mangelnden Klassenbewusstseins der »bürgerlichen Feministin« (ein Begriff, der auch in Bezug auf die historische Frauenbewegung diskriminierend gemeint ist, sich aber leider selbst in der feministischen Geschichtsschreibung eingebürgert hat). Wobei das in meinem Fall besonders komisch war: Wenn eine Feministin nicht bürgerlicher Herkunft war und sich vorrangig mit nicht privilegierten Frauen beschäftigt hat – von der Kassiererin bis zur »mithelfenden Familienangehörigen«, von der Drogenabhängigen bis zur Kindsmörderin –, dann war ich das. Wer die Frauen waren, die systematisch Diffamationen über mich verbreiteten, via Medien oder innerhalb der Frauenbewegung, so könnte ich bis heute Namen nennen, aber ich möchte das jetzt nicht mehr tun. Es wäre zu zufällig und ist vorbei.

Heute scheint das größte Problem des Feminismus der sogenannte Generationenkonflikt zu sein. Aber ist es wirklich »nur« ein Generationenkonflikt? Lässt die heutige dritte Generation nach der neuen Frauenbewegung die Emanzipation schleifen? Die Gefahr besteht in der Tat. Auch ich spüre erstmals einen Generationenbruch. Viele junge Frauen sind der feministischen Pionierinnengeneration ferner, als ihre Mütter es waren. Was man versteht. Doch gleichzeitig ist es unübersehbar, dass ein Teil der Medien und der Politik diese Entwicklung mit vorantreibt, wenn nicht sogar überhaupt erst produziert.

Seit Jahren wird zum Beispiel in manchen Blättern mein Name nicht mehr ohne den diskriminierend gemeinten Zusatz »Alt-Feministin« erwähnt, gleichzeitig wird die Distanzierung »junger Feministinnen« vom Feminismus der 1970er Jahre bejubelt. Doch: Was war falsch daran? Womit haben wir eigentlich nicht recht behalten? Das ist bisher noch nie gesagt worden. Darf ich eine Vermutung äußern? Weil es nicht gesagt werden kann! Denn die Themen des Aufbruchs sind auf die eine oder andere Weise alle noch immer die Themen des 21. Jahrhunderts: die Gewalt gegen Frauen, das Abtreibungsverbot, die Pornografisierung, der Frauen- und Fremdenhass, sexuelle Identität, das Schlachtfeld Körper, der Gendergap beim Lohn, nicht ausreichende Partizipation an der Macht, unzureichender Einsatz von Vätern und Vater Staat bei den Kindern etc. etc.

Allerdings ist diese Kritik keine reine Generationenfrage. Ich kenne auch ganz andere junge Frauen. So haben zum Beispiel alle acht EMMA-Leserinnen-Analysen über vierzig Jahre immer wieder ergeben, dass EMMA die jüngsten Leserinnen aller Frauenzeitschriften und Politmagazine hat: zuletzt waren 22 Prozent unter 30 und 48 Prozent zwischen 30 und 50. Und bei meinen Lesungen ist das Publikum in neutralen Sälen (also Orten, die weder überwiegend von Älteren noch Jüngeren frequentiert werden) sehr gemischt, in etwa in Relation zur Bevölkerung. Und auch die direkten Briefe an mich von jungen bis zu ganz jungen Frauen nehmen gerade in den letzten Jahren zu. Sie sind heute die Verlorenen, wissen nicht, wohin. Den Vogel schoss jüngst die zehnjährige Helena aus Tübingen ab. Sie hat mir zusammen mit ihren Eltern einen kleinen Apfelbaum in die Redaktion gebracht, weil ich ihr »Vorbild« bin.

Nicht zu reden von den Frauen und auch Männern aller Generationen, die mir bis heute auf der Straße, im Supermarkt oder Kino zuraunen: »Halten Sie durch! Wir brauchen Sie noch!« Manche haben auch Aufträge für mich, Stil: »Können Sie nicht endlich für Ganztagskrippen sorgen!« Oder: »Sie sollten auch mal Juliette Greco porträtieren, die ist viel interessanter als Romy Schneider.« Manchmal werden auch Vorwürfe laut: »Wir haben lange nichts von Ihnen gehört, Frau Schwarzer. Was ist los?!« Das sind die, die weder EMMA noch meine Bücher lesen, sondern nur fernsehen.

In dieser Phase des Post-Feminismus gesteht man mir, der feministischen Pionierin, in Deutschland seit einigen Jahren den Status einer Klassikerin zu. Tenor: Sie hat nicht immer recht und übertreibt oft, aber sie hat viel für die Frauen erstritten. Was ehrenvoll ist, aber auch beunruhigend. Denn für die, die so reden, ist der Feminismus Historie. Sie glauben, 4000 Jahre Patriarchat seien innerhalb von 40 Jahren zu erledigen. Auf zu neuen Ufern. Zum Beispiel zur Klimarettung, die ja ebenfalls in der Tat bitter nötig ist. Was sich allerdings keineswegs ausschließt, im Gegenteil. Denn auch die Klimakatastrophe hat viel mit Machbarkeits- und Männlichkeitswahn zu tun, ebenso wie mit kapitalistischer Profitgier.

Als wir neuen Feministinnen vor einem halben Jahrhundert antraten, die Macht der Männergesellschaft zu brechen, konnten wir uns nicht auf die Schultern unserer Vorgängerinnen stellen, um weiter zu sehen. Ihre Geschichte war verschüttet und verleugnet, in Deutschland doppelt und dreifach. Die Bücher radikaler Feministinnen waren von den Nazis mit als erste verbrannt worden. Pionierinnen wie Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann oder Helene Stöcker starben im Exil. Wir jungen Feministinnen mussten in den 1970er Jahren also mal wieder bei null anfangen. Nur ein halbes Jahrhundert nach der hohen Zeit der historischen Frauenbewegung.

Vor unserem Geschlechterbewusstsein stand für die Gesellschaftskritischen unter uns das Klassenbewusstsein und: Nie wieder Auschwitz! Der Holocaust war für die Bewussten meiner Generation initial für jegliches Unrechtsbewusstsein. Es ist darum nicht ganz ohne Komik – oder Tragik –, dass ein weiteres halbes Jahrhundert später eine neue Feministinnen-Generation antritt, die von diesem umfassenden Blick ihrer Vorgängerinnen auf die Geschichte, die Machtverhältnisse und die Welt nichts zu ahnen scheint. Manche dieser »Neofeministinnen« behaupten allen Ernstes, »Alt-Feministinnen« wie Schwarzer hätten sich ja »nur« um die Frauen gekümmert; schlimmer noch: nur um weiße Frauen; noch schlimmer: nur um weiße privilegierte Mittelschichtsfrauen. Sie aber hätten nun als Erste endlich das richtige, umfassende Bewusstsein.

Diese selbst ernannten »Intersektionalistinnen« und »Anti-Rassistinnen« beziehen ihre Slogans und Texte in der Regel nicht aus gelebten Erfahrungen, sondern aus einer importierten Ideologie – so wie einst die linken Feministinnen aus den sozialistischen Staaten. Damals musste eine Frauenrechtlerin zehn Mal »Klassenkampf« sagen, bevor sie es überhaupt wagen konnte, auch nur einmal vom »Geschlechterkampf« zu sprechen. Heute muss eine solche »Neofeministin« zehn Mal »Anti-Rassismus« sagen – und die Frauen verschwinden schließlich ganz hinter dem ideologischen Konstrukt der Identitätspolitik. Es gibt sie nicht mehr. Sie sind abgeschafft, zugunsten von zig Geschlechtern, den LGBT*/QA+.

Diese linken »Identitären« oder »KommunitaristInnen«, wie sie international genannt werden, sprechen wieder einmal im Namen der »Anderen«, der Minderheiten, zu denen sie selbst nicht gehören. Sie sind, zumindest in Europa, überwiegend Teil der von ihnen viel geschmähten »weißen Frauen«, ja der »privilegierten weißen Frauen«, denn sie sind in der Regel Akademikerinnen. Sie sind zwar versiert im Diskurs ihrer internationalen Community – aber sehr weit entfernt von den Themen der Frauen nebenan. Sie leben in einer Blase, deren Reden die Menschen schon ein paar Schritte weiter nicht mehr verstehen.

Auch diese Frauen fangen also wieder bei null an. Wie praktisch für das Patriarchat! Solange das »andere« Geschlecht mit seiner Revolte alle drei Generationen immer wieder von vorne beginnt, hat das eine Geschlecht nichts zu befürchten. Es ist diese Geschichtslosigkeit, die wohl das größte Hindernis ist auf dem Weg zur Emanzipation.

Wer hat die Frauenbewegung gegründet?

Ich lese ihn immer wieder, und sei es in irgendeinem Blog, den vorwurfsvollen Satz: Alice Schwarzer hat nicht die Frauenbewegung gegründet! Stimmt. Ich habe das auch noch nie behauptet. Niemand hat die Frauenbewegung gegründet. Man gründet eine Partei oder Organisation, aber keine Bewegung. Schon der Name sagt ja, was es ist: Etwas ist in Bewegung geraten. Die ersten zwei, drei fangen an, es kommen Dutzende dazu, Hunderte, Tausende. Eine Bewegung ist geboren. So wie heute die weltweite Klimabewegung.

Auch der Aufbruch der Frauen beschränkte sich Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre zunächst auf die sogenannte Erste Welt. Da war die Spannung zwischen dem, was war, und dem, was hätte sein können, am größten. Erst jetzt, ein halbes Jahrhundert später, gibt es erste Anzeichen für eine erwachende Frauenbewegung auch in der islamischen Welt, im nordafrikanischen Maghreb zum Beispiel, wo Frauen im Herbst 2019 in Marokko ein Manifest veröffentlicht haben: »Ich habe abgetrieben!« Sie wagen es, das Recht auf freie Sexualität zu fordern. Ich habe zwei führende Aktivistinnen gerade in Paris getroffen, eine Filmemacherin und eine Anwältin. Da haben sie strahlend den Simone-de-Beauvoir-Preis entgegengenommen, der einmal im Jahr, immer an Beauvoirs Geburtstag am 9. Januar, verliehen wird (und in dessen Jury ich Mitglied bin). Die Marokkanerinnen erinnern mich mit ihren Hoffnungen und ihrem Übermut stark an unsere Anfänge der 1970er Jahre. Von einem »kulturellen Unterschied« kann da wenig die Rede sein.

In den westlichen Demokratien hatte damals ein Bündel von Faktoren den Aufbruch der Frauen begünstigt. Wir neuen Feministinnen waren die Töchter der Frauen, die im Krieg und danach ihren »Mann« gestanden hatten und brüsk ins Haus zurückgeschickt worden waren, als die Männer zurückkamen. Diese Müttergeneration war frustriert, die Töchter zogen den Schluss: Das soll uns nicht passieren. Auch die Mütter selbst hatten das – oft unbewusste und meist wortlose – Signal gesendet: Mach du es besser!

Hinzu kam: Der 68er-Virus hatte auch die Frauen infiziert. Autoritäten wurden infrage gestellt, ja sogar die eigenen Männer, und neue Freiheiten erprobt, ja sogar sexuelle. Das wurde auch von der Pille gefördert, das erste sichere Verhütungsmittel in Frauenhand (das deutsche Frauenärzte bis in die 1970er Jahre nur verheirateten Frauen verschrieben). Allerdings machte diese Pille die Frauen gleichzeitig verfügbarer. Es gab Jungs, die fragten nun die Mädchen schon beim ersten Tanz: »Hast du heute schon geschluckt?« Und nicht zuletzt benötigte der Markt Arbeitskräfte. Italiener, Spanier und eine Million Türken waren schon ins Land geholt worden. Jetzt also die stille Reserve Frau.

Doch zum Auslöser der deutschen Frauenbewegung wurde der Kampf gegen den §218. Der bedrohte alle Frauen in der BRD bei »Selbstabtreibung« mit bis zu fünf Jahren Gefängnis und die Ärzte mit bis zu zehn Jahren. Sicher, im Jahr 1969 waren nur noch 269 Frauen wegen Abtreibung bestraft worden. Sie waren der Justiz sozusagen versehentlich in die Fänge geraten. Denn schließlich konnte man die – vor Pille und Aufklärung – geschätzte eine Million Frauen, die im Jahr allein in der BRD abtrieben, nicht alle ins Gefängnis stecken. Wer hätte denn dann die Kinder versorgt und den Haushalt gemacht?

Ein halbes Jahrhundert später treiben in ganz Deutschland nur noch knapp 100000 Frauen im Jahr ab, also eine einstellige Prozentzahl im Vergleich zu vor 50 Jahren! Was vor allem das Verdienst der Frauenbewegung ist. Dank Aufklärung, Eigenständigkeit und gestiegenem Selbstbewusstsein werden Frauen einfach seltener ungewollt schwanger.

Noch im Frühjahr 1971 hatte die frühfeministische Journalistin Sina Walden, die Tochter von Herwarth Walden, wütend in Brigitte geschrieben: »Deutsche Frauen verbrennen keine Büstenhalter oder Brautkleider, stürmen keine Schönheitskonkurrenzen und emanzipationsfeindlichen Redaktionen, fordern nicht die Abschaffung der Ehe und verfassen keine Manifeste zur Vernichtung der Männer. Es gibt keine ›Hexen‹, keine ›Schwestern der Lilith‹ wie in Amerika, nicht einmal ›Dolle Minnas‹ mit Witz wie in Holland. Es gibt keine wüsten Pamphlete, keine kämpferische Zeitschrift, kein bedeutendes aufrührerisches Buch. Es gibt keine Wut.«[8]

Nur wenig später sollte es all das geben. Fast all das. Aber noch herrschte Friedhofsruhe.

Bis am 6. Juni 1971 die Bombe platzte, das im Stern veröffentlichte Bekenntnis der 374: »Ich habe abgetrieben und fordere das Recht für jede Frau dazu!« Das hatte in der Tat ich initiiert. Ich habe die Idee aus Frankreich, wo ich zu der Zeit lebte, nach Deutschland exportiert, den Stern dafür gewinnen können und die Unterschriften gesammelt. Genauer gesagt: Ich und viele, viele Frauen hatten die Unterschriften gesammelt. Die Hälfte der Bekennerinnen kam von drei Frauengruppen, die andere Hälfte von Nachbarinnen, Freundinnen, Kolleginnen, Passantinnen.

Ute Geißler, Arzttochter und damals Buchhändlerin in München sowie Aktivistin der »Roten Frauen«, erinnert sich an die Wochen vor Erscheinen des Appells. »Wir haben einfach einen Tapeziertisch besorgt, ihn vors Rathaus oder vor die Uni gestellt und dann Flugblätter zum Unterschreiben verteilt. Na, da kriegten wir was zu hören! Das Recht auf Abtreibung? Dann treibt ihr es ja noch toller! Oder: Dass ihr euch nicht schämt, ihr Flittchen! Aber auch: Endlich trauen Frauen sich! Wenn ich daran denke, was das für ein Elend war, als die Männer aus dem Krieg zurückkamen …«[9]

373 Frauen und ich hatten die im Stern veröffentlichte Selbstbezichtigung unterschrieben. Ich bin oft gefragt worden, ob ich selbst abgetrieben habe. Nein, habe ich nicht. Ich hatte Glück und bin nie ungewollt schwanger geworden. Aber ich kenne nur zu gut die Angst davor. Meine Taschenkalender aus diesen Jahren sind übersät mit Kreuzen – Zeugen eines bangen Zählens und Wartens. Auch muss erinnert werden: Der Appell der 374 war ja kein Geständnis, sondern eine politische Provokation. Wir wenigen unter ihnen, die wir nie hatten abtreiben müssen, haben damals nicht öffentlich darüber gesprochen, damit es nicht als Distanzierung interpretiert werden konnte.

Diese 374 Unterzeichnerinnen hatten den Mut von Löwinnen. Sie wussten nicht: Wird mein Mann sich scheiden lassen? Wird meine Familie mit mir brechen? Werden meine Nachbarn noch mit mir sprechen? Verliere ich meine Stelle? Werde ich verhaftet? Sie waren wahre Heldinnen! Nach der Veröffentlichung tauchte die Polizei bei der Münchner Gruppe der »Roten Frauen« auf, Hausdurchsuchungen. Doch die Provokateurinnen blieben letztendlich ungeschoren. Denn laut Meinungsumfragen 1971 waren 79 Prozent aller Frauen und Männer für die Fristenlösung. Die Frauenbewegung war willkommen.

Aber war da nicht vorher schon mal etwas gewesen? Ja, doch. Die Frauen im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) hatten im September 1968 den Aufstand geprobt. Eine Tomate flog und eine feministische Brandrede wurde gehalten (»Genossen, eure Veranstaltungen sind unerträglich!«).

Die Filmemacherin Helke Sander hielt diese Rede. Sie ist eine der wenigen, die in beiden Phasen des Aufbruchs der Frauen aktiv waren: im Vorfrühling der Genossinnen 1968 wie im Sommer der Frauenbewegung ab 1971. In einer Rede erinnerte Sander sich 2018, wie sie zusammen mit einer Freundin im Dezember 1967 ein erstes Flugblatt an der Freien Universität verteilt hatte, das wie ein »Urknall« wirkte. Von da an traf sich der »Aktionsrat zur Befreiung der Frauen« einmal in der Woche im linken »Republikanischen Club«. Erstes Ziel: Die Gründung von »Kinderläden« (in leer stehenden Läden), um das Problem der studierenden Mütter zu lindern. (Damals gab es 173 Kinderkrippen in Westberlin, erinnert sich Sanders, heute sind es 1921 in ganz Berlin.) Ein paar Männer waren auch dabei. Mit dem Resultat, dass die Genossen sehr bald den »Zentralrat der antiautoritären Kinderläden« gründeten und darin umgehend die Führung übernahmen.

Und die Frauen? Die richteten sich (noch) nicht an die gesamte Gesellschaft, sondern nur an ihre Genossen. Sander: »Nach wie vor hielten wir die vor allem im SDS behandelten Themen für relevant. Wir wollten gemeinsam mit den Männern die Verhältnisse ändern.«[10] In Frankfurt gab es in der Zeit dieses wunderbare satirische Flugblatt, das ich allerdings erst später entdeckte: »Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!« Dazu gezeichnete mickrige Pimmel, versehen mit jeweils dem Namen eines prominenten Genossen.

Wo befand ich mich zu dieser Zeit? Ich war Volontärin bei den Düsseldorfer Nachrichten und verfolgte die Ereignisse mit heißem Herzen in den Medien. Denn die 68er waren in Deutschland eine fast rein studentische Bewegung in den Metropolen; in Berlin, Frankfurt, München. In einer Stadt wie Düsseldorf herrschte Ruhe (nur Beuys sorgte mit seinen Aktionen an der Kunstakademie für Unruhe). Im Spiegel las ich damals eine herablassende Glosse über die gerade entstehenden »Weiberräte«, die mit den Worten endete: »Selbst ein Mädchen, das mit intimem Anliegen von außen kommt und den nächststehenden Artgenossinnen etwas zuflüstern will, findet nur mühsam Gehör. Was will sie? Tampons! Hat eine vielleicht Tampons?«[11] Und ewig blutet das Weib … Ich war empört!

Knapp zwei Jahre später machte ich mich auf die Suche nach den revoltierenden Genossinnen. Inzwischen war ich Reporterin bei der Satire-Zeitschrift Pardon, die neben konkret als eine der Stimmen der APO (Außerparlamentarische Opposition) galt. Die einzige Journalistin in der Redaktion, klar. Ich war die Nachfolgerin von Günter Wallraff, war wie er auf Rollenreportagen spezialisiert und für ein paar Wochen ans Fließband in der Tachofabrik VDO gegangen. Die Arbeitsbedingungen dort waren katastrophal. Sogar die Seife zum Händewaschen mussten die Frauen selber mitbringen. Der Betriebsrat fand das »normal« (»Soll etwa die Firma die Seife kaufen?«). Und ich entkam nur knapp einem MeToo-Anschlag (des Vorarbeiters).

Mit Simone de Beauvoir 1971 © Bruno Pietszch

Mit Sartre 1970. © Bruno Pietszch

In Düsseldorf © privat

Mit Bruno 1967. © privat

Nun wollte ich vom Frankfurter »Weiberrat« wissen, was die Genossinnen denn zu solchen Verhältnissen sagen. Längere Recherchen und sodann eine Frauen-WG in Bockenheim. Auf dem Tisch Berge marxistischer Literatur: die blauen Bände von Marx, Bücher des Trotzkisten Ernest Mandel (mit dem ich mich Jahre später befreunden sollte), von den frauenbewegten Sozialistinnen Clara Zetkin und Alexandra Kollontai – und auch »Das andere Geschlecht« von Simone de Beauvoir. Immerhin. Doch mein Anliegen wurde als unpassend empfunden. Wir sind noch nicht in der Lage, uns zu solchen Problemen zu verhalten, hieß es. Wir bereiten uns zurzeit mit Marx-Schulungen auf den Klassenkampf vor. Die wenigen versprengten linken Frauengruppen waren, ganz wie die gesamte außerparlamentarische Linke, zersplittert und erstarrt.

Weitere zwei Jahre später, im Mai 1971, stehe ich erneut vor dem Frankfurter »Weiberrat«. Diesmal will ich ihn für die Abtreibungsaktion gewinnen. Etliche unter den zwei Dutzend Frauen würden auch nur zu gerne mitmachen, doch die Leaderinnen Margit und Hilde bescheiden mich: Als Sozialistinnen nehmen wir an so einer »reformistischen und kleinbürgerlichen Aktion« nicht teil. Allerdings: Nachdem der Appell erschienen war, verstanden die Frankfurterinnen schnell. Sie stiegen ein, gründeten ein Frauenzentrum, machten Schwangerschaftsberatung und provokante Aktionen wie die öffentlich angekündigten »Fahrten nach Holland«, wo Frauen damals zum Abtreiben hinfuhren.

Ihre Genossen hatten direkt nach Erscheinen des Stern noch versucht, sie einzuschüchtern. In dem linksradikalen Verlag »Roter Stern« erschien ein Buch von Clara Zetkin »Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung Deutschlands«, im Nachwort schnarrte KD Wolff (später der Verleger einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Friedrich Hölderlins) im Juni 1971: »Nicht von der bornierten und ständischen Interessenvertretung der bürgerlichen Frauenbewegung der Jahrhundertwende unterscheiden sich die Initiativen westdeutscher Bildmagazine und ihrer Schauspielerklientelen zur Abschaffung des §218. Wer von Frauenbewegung redet und den Zusammenhang im antikapitalistischen Kampf nicht einmal berührt, hätte besser geschwiegen.«[12] Wenig später machten die Genossen eine 180-Grad-Wendung. Nun erklärten sie den §218 zu einer »der Hauptblockaden auf dem Weg in die Frauenbefreiung im Spätkapitalismus«.

Doch viele linke Frauen brauchten diesen Segen nicht mehr. Sie hatten erkannt: Auch der Sieg des Sozialismus würde nicht automatisch ihre Probleme lösen, siehe die realsozialistischen Länder. Und auch die eigenen Genossen waren Machos. Den Frauen wurde klar: Die spezifische Unterdrückung der Frauen ist – jenseits von Klassen, Kulturen oder Ethnien – universell.

Anfang 1972 machte ich das erste einer Serie von Interviews mit Simone de Beauvoir, die mit ihrem Essay »Das andere Geschlecht« weltweit die prägende Vordenkerin der neuen Frauenbewegungen war. Selbst sie hatte, wie erwähnt, 1949 noch geschrieben, sie sei keine Feministin und hoffe auf den Sieg des Sozialismus, der dann ja automatisch auch die Frauen befreien würde. Inzwischen war Beauvoir von uns jungen Feministinnen kontaktiert worden und wurde zur »Wegbegleiterin« der Strömung der »Radikalen« im MLF (Mouvement de Libération des Femmes). In dem Gespräch, das ich mit ihr 1972 führte, distanzierte sie sich von ihrer früheren Position und bekannte nun klar: »Ich bin Feministin!« Sie plädierte für eine autonome Organisation von Frauen und kritisierte scharf die patriarchale Linke. Das Gespräch wurde weltweit veröffentlicht und kursierte in zahllosen Frauengruppen als Raubdruck. Viele linke Frauen sahen sich nun bestärkt in ihrem erstarkenden feministischen Bewusstsein.

Kommt uns das im Jahr 2020 alles irgendwie bekannt vor? Ja. Die Parallelen sind unübersehbar. Nur: Was früher »Klassenkampf« hieß, heißt heute »Anti-Rassismus«. Denn der internationalen Linken ist inzwischen das Proletariat verloren gegangen, also stürzt sie sich auf neue »Verdammte dieser Erde« (Fanon): u.a. auf die Muslime. Wieder einmal wird Stellvertreterpolitik betrieben von Nicht-Muslimen und Islamisten. Die einst von der Linken als »bürgerlich« diskriminierten Feministinnen sind heute »privilegierte Weiße«.

Dabei ist die Frauenbewegung Ende der Sechziger-/Anfang der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts aufgebrochen, weil wir Feministinnen verstanden hatten: Alle Frauen sind auf die eine oder andere Weise Opfer des Patriarchats, bürgerliche wie proletarische, weiße wie schwarze, junge wie alte. Die Unterscheidung nach Religionen gab es damals noch nicht. »Frauen gemeinsam sind stark«, lautete die einende Parole.

Wobei Unterschiede nie geleugnet wurden. In Amerika meldeten sich die schwarzen Feministinnen mit ihren spezifischen Problemen zu Wort: Sexismus plus Rassismus! In Europa war die Berücksichtigung der Klassenunterschiede schon aufgrund der linken Tradition, aus der die Frauenbewegung kam, eine Selbstverständlichkeit.

Doch über alle Unterschiede hinweg verband uns die Gemeinsamkeit. Denn: Alle Frauen können vergewaltigt werden. Alle Frauen können Probleme mit ungewollten Schwangerschaften haben. Alle Frauen sind vorrangig zuständig für Kinder und Hausarbeit. Die meisten Frauen sind betroffen von Benachteiligung im Beruf. Und alle Frauen sind doppelt getroffen vom Ageismus, der Altersdiskriminierung. Das hatten wir in den 70er Jahren alle begriffen.

Aber das scheint jetzt, in der Enkelinnengeneration der feministischen Pionierinnen, wieder verloren zu gehen. Zumindest im akademischen und linken Milieu. Da werden mit der sogenannten Identitätspolitik nicht mehr die Gemeinsamkeiten betont, sondern die Unterschiede; statt der Solidarität das Trennende. Diese Politik der Spaltung und Abgrenzung betrifft alle, nicht nur die Frauen. Aber den Frauen zieht sie den Boden unter den Füßen weg, verstellt ihnen den Blick auf die so mühsam errungene Erkenntnis der Gemeinsamkeit. Sie leugnet das »Wir«, verleugnet die Tatsache, dass quer durch alle Unterschiede hinweg, Frauen eine »Kaste« (Beauvoir) sind.

Doch zurück in das Jahr des Aufbruchs. In dem Bericht, den ich begleitend zu dem Appell der 374 für den Stern geschrieben habe, hatte ich sehr bewusst meine Rolle bei der Aktion verschleiert. Ich wollte, dass es aussieht wie eine kollektive Frauenaktion – was es ja auch war. Und nachdem der Stern erschienen war und die Lawine rollte, ging ich zurück nach Paris, wo mein Leben, meine Arbeit und meine Frauenbewegung mich erwarteten.

Rasch aber erkannte ich, dass nach der ersten Euphorie etwas schieflief in der deutschen Debatte über das Abtreibungsverbot. Plötzlich redeten nur noch Männer: Kirchenmänner, Bevölkerungsexperten, Gynäkologen (damals noch ein Männerberuf). Und die Journalisten? Auch die, selbst die Liberalen und Linken, geißelten die Aktion der 374 so mutigen Frauen als »Exhibitionismus« (Süddeutsche Zeitung), »Konsumwahn« und »Vernichtung unwerten Lebens« (Frankfurter Rundschau). Stern und Spiegel waren pro, Bild für eine Einerseits/Andererseits-Strategie: eigentlich konservativ und gegen das Recht auf Abtreibung, andererseits als Boulevardblatt den Massen verpflichtet – und die waren pro.

Also versuchte ich, von Paris aus in den Sendern und Zeitschriften, in denen ich bisher problemlos noch jeden kritischen Text über Frankreich veröffentlichen konnte, nun über Abtreibung zu schreiben. Vergebens. Da ging die Klappe runter. »Das ist doch durch«, hieß es. Oder: »Ihr Frauen seid viel zu parteiisch. Da müssen jetzt Männer objektiv drüber berichten.«

Die folgenden Jahre waren für mich eine Art Doppelleben zwischen Deutschland und Frankreich. Drei Jahre lang pendelte ich zwischen Seine und Rhein, veröffentlichte in Deutschland erste Bücher über Frauen, um die Zensur der Medien zu umgehen, gleichzeitig blieb ich Korrespondentin in Paris und aktiv in der Pariser Frauenbewegung.

Jüngst ist mir am Montparnasse auf der Straße Catherine Deneuve begegnet. Und da fiel mir ein: Auch bei ihr hatte ich 1973 Geld gesammelt für die Saalmiete einer vom MLF in der Mutualité geplanten Veranstaltung. Deneuve hatte 2000 Francs gegeben (Simone Signoret 500). An diesem Tag im Dezember 2019 wirkte Deneuve ein wenig resigniert, also habe ich sie an ihre gute Tat erinnert. »Wirklich?«, antwortete sie. »Ich erinnere mich nicht. Aber ich bin stolz, dass ich es getan habe.«

Es waren bewegte Zeiten. An dem Abend des gleichen Tages, an dem ich bei Deneuve geklingelt hatte, habe ich mit Annie Cohen ein Flugblatt für die wild streikenden Verkäuferinnen von Thionville entworfen. Bis tief in die Nacht habe ich in meiner Wohnung Rue d’Alesia auf meiner hellblauen Baby Brother getippt. Annie, die vor ihrem Überlaufen in die Frauenbewegung bei den Maoisten aktiv gewesen war, verbrachte damals Wochen in dem kleinen Moselstädtchen, um die in dem örtlichen Kaufhaus streikenden Verkäuferinnen zu unterstützen. Deren Hauptforderung lautet nicht etwa mehr Lohn, sondern: »Wir wollen nicht mehr immer lächeln müssen!« Oder: »Wir wollen uns zwischendurch auch mal setzen dürfen!« Es ging also um Würde am Arbeitsplatz, etwas, was die Gewerkschaften bis heute nicht sonderlich beschäftigt, aber die Menschen sehr.

Am Abend darauf gab es eine »grande bouffe«. Annie hatte Geburtstag, und wir holten den fertigen Couscous bei ihrer Großmutter ab. Die war 1962, bei der Unabhängigkeit der Ex-Kolonie Algerien, zusammen mit der ganzen jüdischen Familie nach Frankreich geflohen. Denn Juden galten, ganz wie die Algerier-Franzosen, nun als »unerwünscht«, obwohl sie seit Generationen in Algerien gelebt hatten. Gegessen wurde der köstliche Couscous dann von einem übermütigen Dutzend Frauen bei mir, da war es irgendwie am gemütlichsten. Und mein damaliger Lebensgefährte Bruno, mit dem ich die Wohnung teilte? Der war das mit den Frauen schon gewohnt und ging ins Kino.

Im Gegensatz zur deutschen Frauenbewegung war die französische sehr bunt und divers in Alter, Lebenslagen und Herkunft. Zu meinen besten Freundinnen zählten eine Brasilianerin, eine Isländerin und Anne Zelensky, eine in Afrika geborene Russin. Auch etliche Künstlerinnen und Schriftstellerinnen waren aktiv, darunter die Schauspielerin Delphine Seyrig sowie die Schriftstellerin Monique Wittig (von der Judith Butler sich stark hat inspirieren lassen).