Meine algerische Familie - Alice Schwarzer - E-Book

Meine algerische Familie E-Book

Alice Schwarzer

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Beschreibung

Der Muezzin und die Kuckucksuhr. Seit Jahrzehnten hat Alice Schwarzer eine enge und liebevolle Beziehung zu einer Familie in Algerien, die in ihrer Vielfalt und Lebendigkeit ein Abbild dieses nordafrikanischen Landes zwischen Tradition und Moderne ist, zwischen islamistischer Bedrohung und demokratischen Hoffnungen. Zuerst traf Alice Schwarzer 1989 Djamila, eine algerische Journalistin, die nach dem drohenden Wahlsieg der Islamisten und dem Bürgerkrieg in den 90er-Jahren wie viele andere um ihr Leben fürchten musste und für einige Jahre nach Deutschland emigrierte. Djamilas Eltern und Großeltern, Brüder und Schwestern, Neffen und Nichten lernte Alice Schwarzer später in deren Heimat bei Neujahrsfeiern, Ferienbesuchen und Hochzeiten kennen und lieben. Diese Familie lässt Alice Schwarzer zusammen mit der Fotografin Bettina Flitner lebendig werden: die Generation der Alten, geprägt von der Kolonialzeit, dem Befreiungskrieg und den Jahren des Aufbruchs, die Generation, die die »schwarzen Jahre« des islamistischen Terrors und der politischen Repression durchlebte, und die jungen Leute von heute zwischen High Heels und Verschleierung, zwischen Instagram und spätsozialistischer Stagnation.

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Seitenzahl: 167

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Alice Schwarzer

Meine algerische Familie

Mit Fotos von Bettina Flitner

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Alice Schwarzer

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

1 Eine Liebeshochzeit, zwei Zwangsehen und die schwarzen Jahre2 Djamila spricht3 Der Muezzin und die Polizei, römische Ruinen und Couscous4 Macron und die Kuckucksuhr. Mit Zahar in El Harrash5 Zohra spricht6 Ghanou spricht7 Mit Ghanou und Osama auf den Terrassen der Casbah8 Die Milk Bar und das Attentat. Souhila und Maroua9 Begegnung mit Khalida Toumi und Mujahedda Zohra Drif10 Bummel mit Sarah, der traurige Musiker, Fodil im California11 Begegnung mit Moumene und Ghada im El-Djazair12 Lilia spricht. Und Karim13 Mounia spricht. Und Lotfi14 Hocine spricht. In Paris15 Reise nach Sétif. Begegnung an der Fontäne16 Amar spricht17 Ein Gruppenfoto. Und noch eine HochzeitKleine algerische ChronikDie FamiliePersonenregister
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1Eine Liebeshochzeit, zwei Zwangsehen und die schwarzen Jahre

April 2016. Ich sitze auf dem schmalen Jungmädchenbett von Sarah. Die ist inzwischen auch schon 24, hat zu Ende studiert, aber denkt im Traum nicht daran, auszuziehen oder gar zu heiraten. Das Gedränge in ihrem kleinen Zimmer ist groß. Mutter Zohra, die beiden älteren Schwestern und zwei Freundinnen sind mit gewaltigen Tüten und Koffern angerückt und probieren nun raschelnd ihre Festkleider für morgen an. Der einzige Bruder, Ghanou, wird heiraten. Das Ereignis schlägt seit Monaten hohe Wellen. Morgen nun soll das Finale sein.

Ich werfe mich laut jammernd aufs Bett und raufe mir die Haare. »Hättet ihr mir doch nur etwas gesagt«, stöhne ich. »Was soll ich denn jetzt anziehen?! Da kann ich ja gleich zurückfliegen …« Die Mädels kichern vergnügt. »Ist doch nicht so schlimm, Alice, macht nichts. Jeder weiß doch, dass du Ausländerin bist. Es ist ja nicht deine Schuld, dass du keine Ahnung hast.« Und dabei kichern sie noch vergnügter.

Mein Fehler: Ich habe nur ein Kleid für den Abend in meiner Reisetasche. Die Braut aber wird sieben Kleider tragen. Hintereinander. Und alle weiblichen Gäste ebenfalls mindestens fünf. Am nächsten Abend werde ich erleben, wie das funktioniert: Die Damen rücken mit großen Rollkoffern zum Fest an. Direkt neben dem Festsaal gibt es einen Extraumkleideraum, in den sie alle halbe Stunde huschen, um das Outfit zu wechseln. Heraus kommen sie in jeweils anderen Kleidern inklusive passendem Schuhwerk und Schmuck. Die Braut hat einen Extraraum. Nur Djamila und die verschleierten Frauen wechseln einmal oder keinmal. Ich stehe also ziemlich dumm da.

Mit Djamila, der Tante des Bräutigams, bin ich seit 1989 befreundet. Seit meinem Seminar in Tunis für Journalistinnen aus Nordafrika. Da waren unter den 25 bis 30 Frauen auch zwei Mauretanierinnen im bunten Wüstenschleier, zwei emanzipierte Libyerinnen aus der Zeit Gaddafis und Algerierinnen, darunter Djamila von der APS, der staatlichen algerischen Presseagentur.

Djamilas Familie kenne ich seit den 90er-Jahren. Damals besuchte die ganze Familie Djamila im Exil in Köln. 2007 haben wir dann zusammen Silvester in Algier gefeiert. Wir haben bis in die tiefe Nacht getanzt, nach arabischem Raï und westlichem Pop. Allen voran ich und Ghanou, der morgen seine Hochzeit feiern wird.

Geheiratet hat das Paar bereits in den vergangenen Tagen: zuerst beim Standesamt, dann in der Moschee. Dass die staatliche Trauung vor der religiösen stattfindet, ist Gesetz – vor allem, damit die Frauen nicht getäuscht werden durch eine ausschließlich religiöse und rechtlich nicht gültige Trauung.

Am Vorabend des Hochzeitsfestes findet nun das dritte Festessen statt. Das erste war ganz unter Männern, das zweite ganz unter Frauen – dieses dritte wird wohl gemeinsam sein. Denke ich.

Ich kenne die Männer der Familie gut: Djamilas Neffe Ghanou, Schwager Zahar sowie diverse Brüder. Ghanou hat studiert und ist jetzt bei der Eheschließung 36 Jahre alt. Sein Vater hat mit 23 geheiratet und nur wenige Jahre die Schule besucht, ist aber ein sehr tüchtiger Geschäftsmann geworden. Er handelt mit Büromöbeln aus China und sein Haus ist komfortabel: unten die Geschäftsräume, im ersten Stock die Küche und die gemeinsamen Wohnräume, im zweiten Stock Schlafzimmer und ein Festraum. Im kleinen Garten Palmen und Gewürzpflanzen.

Die Stunde des Abendessens naht. Und was sehe ich? Alle Männer der Familie sitzen unten an einem großen Tisch, der wegen Regen nicht auf der Terrasse, sondern im Lagerraum hergerichtet worden ist. Und alle Frauen rennen zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stock hin und her und bedienen die Männer. Erst nachdem die zu Ende gegessen haben, sind wir Frauen dran. Wir essen oben, im zweiten Stock. Schlechtgewissig bieten die Frauen mir zwischendurch Essen im ersten Stock an. Ich bin irgendwie dazwischen: zwischen den Frauen und den Männern. Ich warte selbstverständlich, bis auch wir Frauen dran sind.

Dennoch: Ich bin überrascht. Und wiederum auch nicht. »Meine« Familie ist eine typische algerische Familie: zwischen Tradition und Moderne. Djamilas Mutter war noch Analphabetin und verschleiert, ihre Nichten haben studiert und ziehen im Urlaub im Ausland die kürzesten Miniröcke und die höchsten High Heels an. Deren Mutter hatte der Ehemann noch verboten, nach der Eheschließung weiter arbeiten zu gehen. Die zukünftige Frau von Ghanou ist Anlageberaterin bei einer Bank und macht am liebsten Urlaub in Frankreich. Allerdings: Ghanou hofft, dass sie »eines Tages den Schleier tragen wird. Freiwillig natürlich.«

Am nächsten Tag brechen wir am frühen Nachmittag auf. Das Fest findet im Sofitel statt, dem schicksten Hotel der Stadt. Die beiden Schwestern des Bräutigams, Mounia und Lilia, arbeiten dort und haben für den Bruder Sonderkonditionen bekommen. Ich nehme meine Reisetasche mit, um wenigstens einmal wechseln zu können: zwischen dem Tageskleid und etwas halbdurchsichtigem Schwarzen für den späten Abend. Die Schuhe bleiben dieselben, aber immerhin: Ich habe zwei Ketten eingesteckt.

Der Saal ist prächtig. Auf der einen Seite eine riesige Fensterfront zu dem legendären Botanischen Garten, den die Franzosen im 19. Jahrhundert angelegt haben. Von ihm soll Königin Elisabeth gesagt haben, er sei der schönste Botanische Garten, den sie je gesehen habe. Eine Stimme, die schon an sich, doch in dem Zusammenhang noch schwerer wiegt.

Und siehe da: auch hier zwei nach Geschlechtern getrennte Sphären. In der Mitte das traditionelle Orchester in algerischer Tracht und die Tanzfläche, rechts große Tische für die Männer, links für die Frauen. Wir sind etwa 200 Gäste. Und ich bin die einzige Frau, die gleich zu Beginn auch mal auf die Männerseite geht, wo mich Djamilas Brüder mit Hallo begrüßen.

Später wird Zohra, die Mutter des Bräutigams, zu meiner Überraschung den Tanz mit mir eröffnen. Und ich gehe dann auch die Frauen auffordern. Bei den Verschleierten, die am äußersten linken Rand sitzen, schaffe ich es nur bei einer, sie auf die Tanzfläche zu locken. Mit den anderen tanze ich einfach neben ihrem Tisch. Natürlich tanzen sie alle viel besser als ich: Immer schwingt der Bauchtanz mit und werden die Arme zu arabesken Bewegungen gewunden. Es macht richtig Spaß! Erst gegen Ende mischen sich auch ein paar Männer, inklusive Bräutigam, unter die tanzenden Frauen.

Bevor der Tanz beginnt, erleben wir das Defilee des Brautpaares. Das geht so: Unter Trommelwirbel betreten Ghanou und Djalila den Saal. Beim ersten Auftritt trägt die Braut einen märchenhaften, geheimnisvollen Burnus aus mattweißem, schwerem Taft, er ist und bleibt im Nadelstreifenanzug. Es folgen fünf weitere prächtige Gewänder mit wechselndem Schmuck, jeweils angelehnt an die Trachten der unterschiedlichen Regionen des Landes. Die Krönung am Schluss ist ein klassisches, westliches Brautkleid, mit kurzen Ärmeln und Schleier.

Der Bräutigam führt die Braut jedes Mal durch den ganzen Saal bis hin zu einem Podest, das neben dem Orchester steht. Auf dem Podest steht ein rotes Sofa – und da wird die Braut abgesetzt. Alleine. Sie bleibt wie ein Model mit starrem Lächeln sitzen – alle Handys werden gezückt –, bis der Bräutigam sie wieder abholt. Irgendwann flüstere ich Ghanou, mit dem mich seit vielen Jahren ein vertrautes Verhältnis verbindet, zu: »Das ist doch schrecklich, dass sie so alleine dasitzt. Willst du dich nicht zu ihr setzen?« Das tut Ghanou dann, zögernd.

 

Am Morgen nach dem Fest hocken wir in der Küche. Wir Frauen. Die drei Schwestern Djamila, Akila, Zohra und ich.

Djamila ist Journalistin, unverheiratet und kinderlos, was für Algerien ungewöhnlich ist. Zohra, die Hausherrin, hat als junge Frau Krankenschwester gelernt und nach der Eheschließung aufgehört zu arbeiten, sie hat vier Kinder. Akila, die Älteste, ist ebenfalls Hausfrau und hat fünf Kinder; ihre zwei Töchter leben in Montreal und San Francisco. Was für Algerien nicht ungewöhnlich ist, es gibt einen Exodus der Jungen. Akila trägt Kopftuch.

Wir vier essen Reste und schwatzen. Und da stellt sich zu meiner Fassungslosigkeit Folgendes heraus: Djamilas beide Schwestern sind von der Mutter mithilfe einer Kupplerin verheiratet worden, beide haben ihren Ehemann am Tag der Hochzeit zum ersten Mal gesehen. Und beide sind bis heute mit ihren Männern zusammen. Die eine ist zufrieden, die andere nicht.

Ich frage die beiden Schwestern, ob sie ihrer Mutter die Zwangsverheiratung nicht übel genommen hätten. Nein, behaupten sie, »das war einfach so«.

Die vor zehn Jahren gestorbene Mutter wird von all ihren zehn Kindern, drei Töchter und sieben Söhne, tief verehrt. Ihr Stolz, ihre Autorität und ihre Tüchtigkeit sind Legende. Allerdings: Zohra weint bis heute ihrem Beruf als Krankenschwester nach. »Das hat mir großen Spaß gemacht.« Aber ihr Mann, der nette Zahar, hat ihr damals verboten, weiterzuarbeiten. Und er hat ihr auch verboten, alleine aus dem Haus zu gehen. Das hat Zohra so verinnerlicht, dass sie bis heute nicht alleine rausgeht. Der taffe Zahar macht auch die Einkäufe für die Familie. Seit einigen Jahren neigt Zohra zu Stimmungen, ja Depressionen. Die Familie ist ratlos.

 

Ein Jahr später, April 2017. Ich sitze wieder in der Küche in Beaulieu, einem kleinbürgerlichen Vorstadtviertel von Algier. Diesmal bin ich nicht nur gekommen, um Djamilas Familie zu besuchen, sondern auch, um über »meine algerische Familie« ein Buch zu schreiben.

Bettina Flitner ist mit von der Partie. Sie kennt Algerien länger als ich. Die Fotografin ist mit Djamila seit 1991 befreundet. Damals war sie nach Algerien gereist, um über die heiße Phase – vor den ersten freien Wahlen und dem herannahenden Terror der Islamisten – zu berichten (ihre ahnungsvolle Reportage »10 Tage in Algier« erschien im Februar 1992 in EMMA). Seither hat Bettina den Kontakt zu der Familie gehalten, und sie ist sehr gespannt auf Algier 25 Jahre später.

Eine der sieben Roben

Die Braut tanzt

Alice Schwarzer mit den Männern der Familie

In der Mitte: Djamila

Der Kuckuck kommt an

Ghanou mit zwei Neffen

Mutter, Töchter, Tante

Lilia zeigt den Haik

Heute sind nicht drei Schwestern in der Küche, sondern drei Generationen: Zohra, 68, die Hausfrau; ihre Töchter Mounia, 42, und Lilia, 40, sowie deren Kinder Kamyl, Racime, Malik und Dina. Die Mütter sind wegen der Jüngstgeborenen noch in Mutterschaftsurlaub, der in Algerien vier Monate beträgt (plus einen Monat bei Kaiserschnitt). Etwas später kommen Ghanou und Nesthäkchen Sarah dazu.

Wir sind wieder im Esszimmer und wie immer sitzt die Hausfrau nicht mit am Tisch. Sie rennt zwischen Küche und Esszimmer hin und her. In allen Familien, in denen wir in diesen Wochen essen, kommt die kochende Hausfrau immer erst zum Nachtisch dazu. Und da kein Platz für sie gedeckt ist, zieht sie sich in der Regel einen Stuhl ran und klemmt sich an eine Ecke des Tisches.

Es entspinnt sich ein spontanes Gespräch über das Kopftuch. Die zwei jungen Frauen haben nie Kopftuch getragen, auch nicht in den 90ern, den »Schwarzen Jahren«, in denen der von den Islamisten angezettelte Bürgerkrieg 200000 Tote forderte. Obwohl das damals lebensgefährlich war, sind sie sogar in die Uni ohne Kopftuch gegangen – und haben sich da als »Schlampen« oder »Huren« beschimpfen und mit dem Tode bedrohen lassen. Einmal sind sie nur ganz knapp einer Autobombe entkommen.

»Früher, vor den Schwarzen Jahren«, sagt ihre Mutter Zohra, die auch nie Kopftuch getragen hat, »war eine Frau mit Kopftuch von gestern. Heute ist es das Gegenteil.« Und Mounia fügt hinzu: »In den 90er-Jahren haben viele Frauen das Kopftuch aus Angst getragen. Und dann haben sie sich daran gewöhnt.«

Lilia, die vorwitzig und ironisch ist, springt auf, holt sich ein Betttuch und eine Serviette und demonstriert spöttisch den Haik, den traditionellen algerischen Ganzkörperschleier. Sie schlingt sich das Laken um Kopf und Körper und klemmt die Enden zwischen die Zähne; die Serviette faltet sie zum Dreieck und knotet sie sich vor Mund und Nase. »Die Frauen im Haik«, kichert sie, »konnten entweder nicht reden oder aber sie hatten die Hände nicht frei. Sie mussten immer den nur lose geschlungenen Haik festhalten.« Der Mutter ist der Spott fast zu viel, schließlich hat deren Mutter noch den Haik getragen, sie guckt streng. Aber Lilia ist das egal.

Es beginnt ein Gespräch über den Unterschied zwischen den Generationen. Die 1923 geborene Großmutter hatte zwischen 1939 und 1962 noch 13 Kinder geboren, drei sind gestorben; das erste Kind bekam sie im Alter von 15. Zohra hat vier Kinder, das erste mit 24. Ihre Töchter Mounia und Lilia haben je zwei Kinder, das erste mit 35 bzw. 31. Beide jedes Mal mit Kaiserschnitt, was durch den Zusatzmonat bei dem knappen Mutterschaftsurlaub gefördert wird. Da spiegelt sich in dieser modernen Familie in Algerien der Trend aller Entwicklungsländer: Je gebildeter und berufstätiger die Frauen sind, umso später bekommen sie Kinder – und umso weniger.

Plötzlich fragt Sarah mich, wieso ich mich eigentlich so für Algerien interessiere. Das Land wäre heutzutage doch sonst nirgendwo angesagt. So sei sie jüngst im Urlaub in Griechenland von einem jungen Mann gefragt worden, wo sie herkomme. Und als sie sagte: »Aus Algerien«, da habe der erstaunt gesagt: »Wo liegt denn das? In Südamerika?« Sie antwortete: »Nein, in Afrika.«

Also erzählte ich meine Geschichte mit Algerien. Die begann so: Als ich 1963/64 als Sprachstudentin zum ersten Mal in Paris lebte, war Algerien, bis kurz zuvor noch französische Kolonie, in aller Munde. Viele der an Freiheit und Gerechtigkeit interessierten Menschen hatten »Die Verdammten dieser Erde« von Frantz Fanon gelesen (Vorwort: Jean-Paul Sartre). Der auf Martinique geborene Psychiater hatte in Paris studiert und war 1953 nach Algerien gegangen. Nach drei Jahren Arbeit im Krankenhaus ging der Arzt in den Untergrund, um im bewaffneten Widerstand »gegen die krank machenden Verhältnisse zu kämpfen«, wie er sagte.

Das Buch erschien 1961, kurz nach seinem frühen Tod und kurz vor der Unabhängigkeit Algeriens 1962. Fanon analysiert darin die Geschichte der unterdrückten Völker exemplarisch am Beispiel Algeriens. Er ruft die »Verdammten« auf zum gewaltsamen Widerstand gegen die Gewalt der Unterdrücker. Es brodelt in ganz Afrika. Fanons Buch wird zur Bibel der Befreiungsbewegungen und der Linken weltweit.

Die Franzosen hatten Algerien ab 1830 kolonialisiert und alle Widerstände blutig unterdrückt. Der Krieg hatte nach algerischen Angaben eine bis anderthalb Millionen tote Algerier gekostet. Und nach französischen Angaben 26700 tote Franzosen, davon 2700 Zivile. Und er hatte ein traumatisiertes, ungebildetes Volk zurückgelassen. 1962 waren 85 Prozent aller AlgerierInnen Analphabeten.

Freunde meines damaligen französischen Lebensgefährten hatten zum Teil noch ihren Militärdienst in Algerien absolvieren müssen. Zwei Millionen dienstverpflichteter Franzosen waren im Algerienkrieg! Sie kamen tief traumatisiert zurück. Denn sie hatten oft nicht nur Grausames erlebt (bzw. sich zuschulden kommen lassen), sondern auch den verächtlichen Umgang der Kolonialherren mit den Algeriern. Noch in den ersten Monaten der Unabhängigkeit gab es von den Ewiggestrigen weiterhin Attentate und Gewalt gegen Algerier und deren französische Sympathisanten, sowohl in Algerien als auch in Frankreich. Rechte Militärs hatten sich Anfang der 60er-Jahre zu der Terrororganisation OAS zusammengeschlossen. Sie wollten verhindern, dass Frankreich Algerien freigibt, und töteten mit roher Gewalt ihre politischen Gegner. 1961 plädierten 75 Prozent der Franzosen bei einer Umfrage dafür, dass Algerien unabhängig wird. 1962 beendete Frankreichs Präsident General de Gaulle die Kolonialzeit und entließ das 132 Jahre besetzte Land in die Unabhängigkeit, gegen den Willen der Rechten und der Algerier-Franzosen.

Als ich in Paris lebte, war Algerien erst seit einem Jahr unabhängig, und der Unmut der aus dem Land verjagten »Pieds-noirs«, der Algerier-Franzosen, noch allgegenwärtig. Für die späteren 68er war der Algerienkrieg das erste Trauma gewesen, noch vor Vietnam, und Grund zur Revolte.

Ende der 60er-Jahre ging ich zum zweiten Mal nach Paris, diesmal als politische Korrespondentin. Als Journalistin war ich spezialisiert auf die kulturellen, sozialen und politischen Folgen der 68er-Bewegung und die Aktivitäten linksradikaler Gruppen. Da war Algerien nicht weit. Nun galt Algerien als »das Mekka der Revolutionäre«. Der afrikanische Freiheitskämpfer Amílcar Cabral erklärte: »Die Muslime pilgern nach Mekka, die Christen in den Vatikan – wir Freiheitskämpfer nach Algier.«

Nach der Befreiung hatte Algeriens erster Staatschef, der Expartisan und charismatische Volksheld Ben Bella, erklärt: »Wir wollen nicht militärisch, sondern politisch siegen.« Und in der Tat, die Algerier gelten bis heute als große Diplomaten, die in vielen Konflikten der Welt vermitteln. Und Ben Bella fügte hinzu: »Wir wollen unseren Allah behalten und schnellstmöglich ein sozialistischer Staat werden.« Das junge Algerien war also der erste Versuch eines islamkompatiblen Sozialismus – und ausgerechnet dieses Land wäre 30 Jahre später beinahe am islamistischen Terror gescheitert.

Der immer freundlich lächelnde Ben Bella war ein begehrter Gast in der ganzen Welt. Man nannte ihn den »afrikanischen Castro«. Zum Empfang bei Präsident Kennedy eilte sogar Jackie herbei, um dem Helden die Hand zu schütteln. Und für dessen anschließenden Besuch auf Kuba ließ Kennedy – trotz Embargo – einen direkten Sonderflug von Washington nach Havanna zu. Auf Kuba wurde Ben Bella wie ein Superstar empfangen. Tausende säumten die Straßen, Castro und Che Guevara nahmen ihn gemeinsam in Empfang. Algerien war auf dem Höhepunkt.

Später sollte Che Guevara sich über Monate in Algier aufhalten: Er wollte dort eine Zentrale der afrikanischen Freiheitsbewegungen aufbauen. Algerien gewährte zu der Zeit Freiheitsbewegungen aus aller Welt nicht nur Kost und Logis, sondern auch diplomatische Unterstützung und militärische Ausbildung. Alle, alle kamen, über 20 revolutionäre Organisationen. Doch es lief bald aus dem Ruder. Ab Anfang der 70er-Jahre, während des Militärregimes von Colonel Boumedienne, gewährte Algerien den Rebellen aus aller Welt nur noch diplomatische Unterstützung.

Zu der Zeit hatte ich in Paris auch wieder ganz persönlich mit den Folgen des Algerienkrieges zu tun. Diesmal von der anderen Seite her. Denn eine Million Menschen, Algerier-Franzosen und Juden, waren aus ihrer Heimat vertrieben worden, darunter Freundinnen von mir. Sei es, dass sie die Töchter von »Pieds-noirs« waren, Franzosen, die seit Generationen dort gelebt hatten; sei es, dass sie aus jüdischen Familien stammten, die seit ihrem Exodus aus Spanien seit Jahrhunderten dort angesiedelt waren. Den Juden, die immer einen Status zwischen Besetzten und Besatzern gehabt hatten, lasteten die Algerier nun an, sie hätten mit den Kolonialherren »kollaboriert«.

Auch die Familie meiner Freundin Annie war 1962 überstürzt geflohen aus ihrer Heimat. In den 1970ern endete in Paris keine Bouffe, kein gemeinsames Essen des MLF (Mouvement de libération des femmes) ohne Bauchtanz der algerischstämmigen Frauen. Die passende Musik aufgelegt, irgendeinen Schal um die Hüften geschlungen – und los ging es. Bauchtanz-Queen war meine Freundin Annie, die selten ohne ein Dutzend rasselnder Armbänder und dick mit Kajal umrandeten Augen das Haus verließ.

Die Parodien ihrer Großmutter – für die sie sich den Rock zwischen den Beinen zusammenknotete, um die traditionelle Pluderhose zu imitieren – waren legendär. Einmal, bei einem Fest des MLF in der Cartoucherie, dem Gelände des Théâtre du Soleil, stand Annie mal wieder auf der Bühne. Ich stand vor der Bühne, neben mir Ariane Mnouchkine, die Hausherrin und geniale Theatermacherin. Uns beiden liefen die Lachtränen übers Gesicht und Ariane fragte mich: »Mon dieu, wer ist denn das?!« Annie ist dann doch Schriftstellerin und nicht Komikerin geworden.

So wurde die algerische Lebensweise und Kultur ein selbstverständlicher Teil meines Lebens. Mit all ihrer Lebensfreude – aber auch mit der Nostalgie, der Trauer um den Verlust.

Vermutlich hören meine Zuhörerinnen in Algier an diesem Tag im Jahr 2017 durch meine Erinnerungen zum ersten Mal von dem Schmerz der anderen Seite, der 1962 aus ihrem Land verjagten Juden und »Pieds-noirs« (die »Schwarzfüße« hießen, weil sie, im Gegensatz zu den barfuß laufenden Algeriern, Schuhe trugen, schwarze Schuhe).

Am späten Nachmittag brechen wir endlich auf. Es wird in Algerien immer viel, viel länger um den Tisch herumgesessen und geredet als geplant. Bettina und ich fahren mit Djamila nach Tipasa, wo wir die ersten Tage verbringen wollen.

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