Legenden - Sylvain Prudhomme - E-Book

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Sylvain Prudhomme

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Beschreibung

Die Crau, eine Steinwüste vor den Toren von Arles. Weites, nacktes Land, überlassen einzig dem rauen Mistral und den Schafen. Hier leben Matt und Nel, verbunden durch eine tiefe Freundschaft. Als Matt beginnt, die Vergangenheit der Region zu erforschen, stößt er immer wieder auf die Namen zweier Cousins von Nel, die in den Achtzigern hier lebten. Zwei Brüder, Enfants terribles, intelligent, exzessiv und voller Verachtung für jegliche Gefahren. Für kurze Zeit sind sie da, in Arles, in der Crau, im Leben ihrer Freunde, von denen sie gehasst und vergöttert werden. Partys, Gewalt, Freiheit, Jugend, Nachlässigkeit. Matt versucht, das Lebensgefühl jener Jahre einzufangen, und scheucht dabei Echos auf, die ihm und Nel ihre eigenen Entscheidungen gnadenlos vor Augen führen.

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Seitenzahl: 335

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Über dieses Buch

Die Crau, ein herb schöner Landstrich bei Arles, Heimat der Freunde Matt und Nel. Als Matt die Vergangenheit der Region erforscht, stößt er auf zwei Brüder: Enfants terribles, intelligent und voller Verachtung für Gefahren. Matt versucht, das Lebensgefühl jener Jahre einzufangen, und scheucht dabei gnadenlose Echos auf.

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Sylvain Prudhomme (*1979) wuchs in Afrika auf, wo er nach dem Studium der Literatur in Paris mehrere Jahre arbeitete. Er wurde u. a. mit dem Prix littéraire Georges Brassens, dem Prix littéraire de la Porte Dorée, dem Prix Révélation de la Société des Gens de Lettres und dem Prix Femina ausgezeichnet.

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Claudia Kalscheuer (*1964) übersetzt seit 1994 aus dem Französischen. 2002 wurde sie mit dem André-Gide-Preis, 2010 mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

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Sylvain Prudhomme

Legenden

Roman

Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgabe erschien 2016 bei Éditions Gallimard, Paris.

Deutsche Erstausgabe

Lektorat: Anne-Catherine Eigner

Die Übersetzung des Werks wurde unterstützt vom Centre National du Livre, Paris.

Originaltitel: Légende

© by Éditions Gallimard, Paris 2016

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Tonte, Corse © by Lionel ROUX

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-31041-4

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Version vom 18.05.2024, 03:50h

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Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

LEGENDEN

1 – Nel zuckte zusammen, als der Korb aufzusteigen begann …2 – Nel hatte Matt zu Beginn des letzten Schuljahrs …3 – Mann, du bist kilometerweit zu sehen. Ich habe …4 – Toussaint hatte Matt die Wahl des Ortes überlassen …5 – Als er das Gebäude inmitten der Pinien erblickte …6 – Sie gingen in ein ruhiges Café, etwas abseits …7 – Am nächsten Tag fing Nel noch einmal bei …8 – Am folgenden Mittwoch holte Matt die vier Kinder …9 – Josette war eine energische kleine Frau mit lebhaften …10 – Auf der Rückfahrt war Nel schweigsam. Sie nahmen …11 – Sie legten die letzten Kilometer ohne ein Wort …12 – Am nächsten Morgen brachte Matt Iris und Victor …13 – Na los Knallkopf, geh ran. Du bist sauer …14 – In Frankfurt war Fabien dazu übergegangen, Langstrecke zu …15 – Dann war Fabien an der Reihe gewesen16 – Matt zog die Vorhänge zu, hängte noch ein …17 – Bevor er starb, hatte Fabien sich eine letzte …18 – Diesmal wollte Matt keinerlei Ausrüstung mitnehmen19 – Dann hatte auch Christian angefangen zu sterben …20 – Als Nel aufwachte, hörte er, wie sich Césaire …21 – Nun näherten sich die schwarzen Wagen dem Friedhof …22 – Matt und Nel öffneten die Fenster, um die …

Mehr über dieses Buch

Sylvain Prudhomme: »Ich wollte einen Roman über die Zerbrechlichkeit der Dinge schreiben, über die Flüchtigkeit von Anmut.

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Du wirst zum Heere der unerschrockenen Ligurer kommen, daselbst wirst du, ich weiß es, bist du schon streitbar, einen schweren Kampf zu kämpfen haben; das Schicksal wird fügen, dass du keine Pfeile haben und von der weichen, kothigten Erde keine Steine wirst losreißen können; aber Zeus wird deinen gefahrvollen Streit ansehn und helfen. Eine mit Steinen gefüllete Wolke wird er am Olymp heraufführen, und das Land mit Steinen überschatten; und mit ihnen bewaffnet wirst du das wilde Heer der Ligurer leicht überwinden.

AISCHYLOS

1

Nel zuckte zusammen, als der Korb aufzusteigen begann. Seine Beinmuskeln strafften sich, seine Hand umklammerte den heruntergedrückten Hebel. Die Erde unter seinen Füßen entfernte sich, der Schafstall in der Tiefe zeigte sein Dach mit den zwei Schrägen, den tadellos befestigten Ziegeln auf beiden Seiten des langen Firstes.

Ringsum war der Boden gelb, von den langen Sommerwochen verbrannt. Die steppenartige Landschaft der Coussouls war trocken, die vereinzelten Gräser zwischen den zahllosen Steinen gebleicht. Mitte August hatte es ein oder zwei Gewitter gegeben, die die Erde gepeitscht, mit gewaltigen Wassermassen geschlagen und Wurzeln und Moose neu belebt hatten. Aber sehr schnell hatte die Sonne wieder die Oberhand gewonnen. Die Steine wieder aufgeheizt, die Ebene zum Glühen gebracht, sie in Gänze braten lassen. Jetzt war bald September, und nach der Hitze würde die Kälte kommen. Das langsame Eintauchen in den Winter. Der Woche für Woche eisiger wehende, alles beherrschende Mistral, und nirgends ein Unterschlupf, um sich vor ihm zu schützen. 

Es war noch früh, die Frische des Morgens noch nicht ganz verflogen. Die Sonne stand tief, ließ jede Unebenheit des Bodens hervortreten, jeden Stein aufleuchten, sprenkelte die ganze Ebene mit hellen Punkten. Nel betrachtete von oben die relieflose Weite, aus der nur in regelmäßigen Abständen warzengleiche kleine Steinhaufen ragten, Spuren des Zweiten Weltkriegs und der Angst der Deutschen, das Gelände könnte sich in einen improvisierten Landeplatz für die alliierten Flugzeuge verwandeln. Er drückte den zweiten Hebel herunter, um noch höher aufzusteigen, schaute zu, wie die Ebene um ihn herum weiter hinabsank, wie die Landschaft sich wie von einem Balkon oder einem Felsvorsprung vor ihm auftat, wie am Horizont die Rauchsäulen der Fabriken von Fos-sur-Mer erschienen und sich rechts mitten durch die verlassene Weite das dunkle Band der N 113 hinzog.

Er erreichte fünfundzwanzig Meter Höhe. Atmete durch, musterte den wolkenlosen Himmel, suchte seine Orientierungspunkte wie ein Seemann seine Baken: Die Alpilles bei acht Uhr, die Windräder von Saint-Martin-de-Crau bei neun, die Schornsteine von Fos bei zwölf, weit in der Ferne bei zwei Uhr der Flugplatz von Salon. Von oben betrachtet wurde die Ebene zur Steppe. Endlose mineralische Weite, nichts als nackter Boden, so weit das Auge reichte, Felder voller Steine, vom Wasser der Flüsse den Alpen entrissen. Kahles Land. Helles Land, wo das Licht abprallte, der Blick weit dahinflog. Wo jeder Gegenstand in der Ferne sich scharf abzeichnete. Wo der heulende Wind seit Jahrtausenden alles gesäubert zu haben schien, Bäume ausgerissen, Steine vor sich hergewälzt, bis sie alle gleich waren, glatt und rund wie Kiesel, als habe die gesamte Natur sich verbündet, um dieses Ergebnis zu erreichen: ein nacktes Gelände ohne Hindernisse, ohne Verstecke, wo jeder Weg in seiner unbarmherzigen Wahrheit zutage treten, jedes Kräftemessen ehrlich entschieden werden konnte, ohne mögliche Ausflucht oder Mogelei.

Hier hatte der entwaffnete Herkules das unerbittliche Heer der Ligurer vor sich stehen sehen. Hier hatten Wehrmachtsoffiziere gezittert, als der Himmel sich von alliierten Flugzeugen verdunkelt hatte, hatten Wachposten monatelang auf Männer und Frauen angelegt, die sich über die Erde beugten, um Steine aufzuheben und sie zu Tausenden von Haufen zusammenzutragen, in regelmäßigen Abständen, bis die ganze Ebene unbefahrbar war für die Räder nicht vorhandener Flugzeuge, bis hunderte Quadratkilometer mit einem Raster von lächerlichen Hügelchen überzogen waren, um sie vor eingebildeten Feinden zu verteidigen.

Nel beugte sich vor, öffnete eine Lederhülle zu seinen Füßen und entnahm ihr eine breite, mit einer Wasserwaage ausgerüstete Panoramakamera. Er schaute durch den Sucher, stellte ein, prüfte, dass er den Apparat wirklich waagrecht hielt. Vergewisserte sich der vollkommenen Schärfe des Bildes, damit es jede Unebenheit des Bodens erkennen ließ, jede goldene Flechte, jede Ziegelkante auf dem Dach des Schafstalls. Das war der Vorzug der Aufnahmen mit der Fachkamera: Selbst das unendlich Kleine noch zu erfassen. Die Materie der Dinge einfangen, ihre Falten, ihr Korn.

Da ist nichts, Nel. Du bildest dir etwas ein. In seinem Umfeld war dies das meistverbreitete Gefühl gegenüber diesem Ort. Gleichgültigkeit. Manchmal auch offene Abneigung. Vielleicht war es genau das, was Nel gefiel. Diese vergessene, vernachlässigte, arme Seite. Er liebte sogar den Namen, gleichsam abgehackt, unfertig, vom Blitz getroffen: die Crau. Mit seinem Klang vom Anbeginn der Welt, irgendwie steinzeitlich, an noch mit Säbelzahnkatzen bevölkerte Steppen gemahnend.

Ganz in der Nähe der Herrlichkeiten der Alpilles, der jungfräulichen Sandzungen der Camargue, der Calanques von Marseille und Cassis war die Crau ein toter Winkel. Ein karges Stück Land. Und das mitten in der Provence. Diese dreißig Kilometer Wüste. Diese zwanzig Minuten Leere, bei hundertzehn Stundenkilometern auf der Autobahn zwischen Salon und Nîmes. Flaches Land, so weit das Auge reicht. Steine. Ein paar Zypressen als Windschutz. Schilfbüschel entlang der Leitplanke. Und fast immer der Mistral, der das Auto mit jeder Böe aus der Bahn drängt und einen zwingt, dagegenzusteuern.

Strabon benannte ihn in seiner Erdbeschreibung zu Jesus’ Zeiten mit einem Namen, der Nel entzückte: Melamborion, der Schwarznord. Ein schauderkalter Wind, sagte Strabon, so gewaltig, dass er Steine forttreibe und wegrolle, Menschen von ihren Wagen hinabschleudere und ihnen dabei Waffen und Kleider entreiße. Er beschrieb auch die Crau mit Worten, die Nel beeindruckten, als er sie zum ersten Mal las: eine Ebene zwischen Massilia und den Mündungen des Rhodanus, etwa hundert Stadien vom Meer entfernt, ebenso groß im Durchmesser und rund an Gestalt. Wegen ihrer Beschaffenheit heißt sie das Steinfeld. Denn sie ist mit faustgroßen Steinen bedeckt, unter denen Feldgras hervorwächst, den Viehherden zu reichlicher Weide.

Was sich seither verändert hatte: das asphaltierte Band der paar Straßen hier und da, anstelle der einstigen Römerstraße. Das Erscheinen einiger moderner Ungeheuer – der Industriekomplex von Fos, die Parks von Windradriesen, die Hektare voll fensterloser Lagerhallen im Wind. Ansonsten war alles noch da. Nel hatte die Crau oft im Winter fotografiert, in den Monaten, in denen die Herden dort weideten. Von seinem Korb hinab hatte er die Bewegung der Tiere verfolgt, zugeschaut, wie die Tausende von Schafen ohne ihr Wissen Figuren zeichneten, sich bald zu vollkommenen Kreisen, zu Ellipsen zusammendrängten, bald zu langen, schmalen Reihen auseinanderzogen. Aber am meisten liebte er die Crau in dieser leeren Zeit, wenn die Hunderttausende von Schafen für vier Sommermonate in die Alpen gezogen waren und die ganze Ebene verlassen dalag und sich bis Ende September ausruhte, ohne eine einzige Schaf- oder Schäfergestalt am Horizont, ohne ein Blöken oder Glockengeläut. Einfach nur Stille. Leere.

Er zögerte bei der Bildeinstellung, fragte sich, ob er den lang gestreckten Schafstall inmitten der Steine bei zehn Uhr abschneiden sollte oder nicht. Es war seine Lieblingsschäferei: L’Opéra. Seit Jahrhunderten trug sie diesen Namen, wer weiß, warum, doch er entzückte ihn, mehr noch als alle anderen, La Peau de Meau, La Grosse du Levant, Le Petit Carton, Couliès, Collongue. Die Schäfer der Oper: ein Titel für eine Traumsaga.

Er wollte gerade auf den Auslöser drücken, als sein Telefon surrte: Matt.

Was machst du bist du schon unterwegs.

Ich bin im Korb.

Wo denn.

Vor der Oper.

Matt lachte.

Wieder bei deiner Schäferei. Hast du die nicht schon hundertmal fotografiert.

Nicht aus dieser Perspektive, mit den Hochfackeln und den Rauchsäulen von Fos in der Fluchtlinie. Und nicht morgens mit all diesem Licht. Überhaupt, was sollte ich hier sonst fotografieren. Doch wohl keine Berge. Und du, solltest du nicht in Richtung Cassis sein.

Ich bin fertig. Schon auf dem Rückweg. Die Jungs waren schnell, alles war bereit, die Kabine musste nur noch aufgestellt werden.

Und wie wars gestern mit Toussaint.

Wir treffen uns nachher. Im Café, nach dem Mittagessen. Komm doch dazu, ihr werdet froh sein, euch zu sehen.

Nel zögerte.

Ich will euch nicht stören.

Du störst uns nicht. Komm.

Geh ohne mich, das ist besser, ganz sicher. Es wird noch mehr Gelegenheiten geben.

Er legte auf, versuchte sich die Begegnung von Matt und dem Designer vorzustellen. Sah sie vor sich, wie sie einander gegenübersitzen würden, Matt mit seinem Notizblock, vielleicht schon mit seiner Kamera, Toussaint ihm gegenüber mit seiner gewohnten Ruhe, dieser entspannten Großzügigkeit, die Nel schon ein paarmal beobachtet hatte, wenn er ihn von Weitem bei einem Abendessen, einer Vernissage, einer Ferrade sah.

Er sah wieder auf die Ebene hinaus. Drückte auf den Auslöser. Löste vorsichtshalber ein zweites Mal aus, um die Aufnahme doppelt zu haben. Fuhr wieder hinunter. Beugte sich unter den Korb, um sich zu vergewissern, dass der Gelenkarm wieder senkrecht in der Halterung landete.

Der Boden unter seinen Füßen kam ihm hart vor. Unglaublich fest und dicht nach dem unmerklichen Schwanken des Korbs. Er betätigte die pneumatischen Stützen, schaute zu, wie die Metallfüße über die Erde schleiften und eingezogen wurden, wie das Fahrgestell des Wagens sich senkte, die Reifen die Erde wieder berührten. Er warf einen Blick auf die Uhr: gerade mal elf. Da er nicht zu dem Treffen von Toussaint und Matt ging, hatte er reichlich Zeit, eine Aufnahme zu machen, die ihn schon lange reizte. Und die den beiden mit Sicherheit ein Lächeln entlocken würde.

2

Nel hatte Matt zu Beginn des letzten Schuljahrs kennengelernt, im Oktober vor rund einem Jahr. Er war ein knapp zwei Meter großer Engländer um die vierzig, ruhiges Lächeln, sportliche Erscheinung, spärliches Haar unter einer Wollmütze, die ihn jung wirken ließ. Nel hatte den großen Typen, der aussah wie ein australischer Urlauber, vor der Schule bemerkt, wo er seine beiden Jungs abholte, die im Hof mit seinen Töchtern spielten.

Eines Nachmittags waren Matt und seine Jungs nach der Schule mit zu Nel gekommen. Die Kinder waren im ersten Stock verschwunden, Matt und Nel hatten Tee getrunken und sich unterhalten.

Matt verkaufte Klos. Das war seine Standardantwort, wenn man ihn nach seinem Beruf fragte, mit der Selbstironie des Engländers, der sich jedes Mal über das Missverständnis freute, wenn sein Gegenüber höflich das Thema wechselte, weil es ihm zu peinlich war, sich genauer nach seiner Tätigkeit als Händler von Keramiktoilettenschüsseln zu erkundigen. Tatsächlich aber war Matt ein Genie. Fähig, seiner Intuition zu vertrauen und sich tollkühn in jedes beliebige Unternehmen zu stürzen. Er war in einem vornehmen Viertel von London aufgewachsen. Hatte einen unerschütterlichen Liberalismus eingelöffelt bekommen: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Er hatte sich in zwanzig Jahren an zehn Berufen versucht, hatte drei Firmen gegründet, eine davon abgewickelt, die andere verkauft, von Anfang an einem einzigen Prinzip treu: Nie irgendjemandes Angestellter sein. Egal was, Hauptsache, ich bin mein eigener Chef. Das verlieh ihm einen einfachen Blick auf alles, eine Scharfsicht, die Nel bewunderte: Die Dinge liefen, oder sie liefen nicht. Er hatte ein Musiklabel gegründet, das nie richtig auf Touren kam. Er hatte umgesattelt, es mit T-Shirts versucht, viel Geld verdient, versucht, das Geschäft auf Jeans auszuweiten, einen guten Teil seines Gewinns wieder verloren. Nach einer ersten Ehe hatte er Malika kennengelernt, eine Historikerin, die sich wegen ihrer Forschungsarbeiten über das antike Arles in der Gegend niedergelassen hatte. Er war ihr nachgezogen, hatte Französisch gelernt, mit ihr ein Kind bekommen, dann ein zweites, und beschlossen, es mit einem Projekt zu versuchen, das mit seinen ökologischen Überzeugungen in Einklang stand: den Bau von öffentlichen Trockentoiletten. Er hatte seine eigenen Kabinen entworfen, elegant, rostfrei, pflegeleicht. Ein System erfunden, das weder Wasser noch Strom noch chemische Zusätze verlangte, nicht einmal Sägemehl. Einfach nur Sonne und Wind, wie es auf seiner Website hieß, wo das raffinierte System ausführlich beschrieben war, durch das »Flüssiges« und »Festes«, in dieser dezenten Bezeichnung, jeweils verdunstete oder dehydriert wurde.

Innerhalb von ein paar Monaten war die Firma gediehen. Er hatte seine Kabinen bis nach Toulouse und Nizza verkauft, hatte in Arles einen Partner gesucht, ein Team zusammengestellt, seine eigenen Arbeitsstunden verdoppelt, um der immer stärkeren Nachfrage gerecht zu werden. An seiner Stelle hätten sich viele aufgerieben, hätten Familie und Wochenenden geopfert, unfähig, der Verlockung des Geldes zu widerstehen. Aber Matt hielt stand. Seine Regel lautete: nur vier Tage die Woche arbeiten. Die Aufträge immer bis sechzehn Uhr abschließen. Nie den geringsten Anruf entgegennehmen, sobald er zu Hause war. In der übrigen Zeit versuchte er sich an allem, was ihn reizte. Ohne auf irgendjemandes Erlaubnis zu warten. Ohne diese sehr französische Legitimitätssorge, wie er einmal zu Nel sagte. Dieses Bedürfnis, studiert zu haben. Subventionen zu bekommen. Zu warten, bis andere das Projekt von A–Z abgesegnet hatten, bevor man loslegte.

Eines Tages hatte er Lust bekommen, Filme zu machen. Mit ein paar Ersparnissen hatte er einen Dokumentarfilm über Schaustellerkinder im Seebad Margate gedreht, gegenüber von Calais. Dann einen weiteren über das Leben einer Gruppe von FC-Chelsea-Fans. Und vor allem hatte er, als er im Süden ankam, einen Film gemacht, der Nel tief bewegt hatte, eine Art Träumerei über die Drehorte, die der Schauspieler und Regisseur Joë Hamman kurz vor dem Ersten Weltkrieg für seine allerersten »Camembert-Western« benutzt hatte. Die Steinbrüche von Arcueil. Der Wald von Meudon. Die Salzseen der Camargue. Die dürren Ebenen der Crau. Er hatte versucht, die Stellen wiederzufinden, an denen Hamman damals gedreht hatte, das genaue Dekor der stummen Stuntszenen, der abenteuerlichen Handlungen von Desperado, Der Geier der Sierra, von Galgentod in Jefferson City und Feuer in der Prärie. Er hatte Arcueil und Meudon durchmessen, die Ufer des Vaccarès und die Salzgärten der Camargue abgesucht. Der Film zeichnete seine Irrungen nach. Die Kamera glitt in langen Einstellungen durch die Landschaft. Es gab weder Figuren noch Musik oder Ton. Nur diese Leere. Diese verlassenen Landschaften. Manchmal hielt die Kamera inne, blieb mehrere Minuten auf die gleiche improvisierte Arena in der Nähe von Mas-Thibert gerichtet, auf das gleiche schilfbeschattete Flussufer, auf den gleichen Steinhaufen, mitten in der Ebene errichtet wie ein Grab. Als sei sie gerade darauf gestoßen. Als sehe sie da etwas, inmitten dieser Schauplätze, dieser Steine. Als wohne sie live der Erscheinung des Geistes von Joë Hamman persönlich bei, der für sie den gleichen Sturz vom Pferd vollführte wie damals, den gleichen Sprung vom Pferderücken auf das Trittbrett einer Lokomotive in voller Fahrt.

Ich habe in deinem Film Joë Hammans Pferde gehört, hatte Nel beim nächsten Mal zu Matt gesagt. Ich habe ihn gesehen, auf seinem Rotfuchs, mit seinem Stetson und seinen Gamaschen aus Merinowolle.

Sie hatten angefangen, zusammen Fußball zu spielen. Jeden Montagabend eine Stunde in der Halle, mit Freunden von Nel, die seit Jahren dabei waren. Matts großer Körper war das Gegenteil von Nels, der zarter, aber auch schneller war, zu Beschleunigungen und Dribblings fähig, an denen Matt sich nicht versucht hätte. Sein Spiel war ruhig, seine Pässe zuverlässig, sein Stand sicher. Wenn der Ball vor seinen Füßen landete, kontrollierte er ihn ruhig, behielt ihn, so lange er wollte, gab ihn weiter, ohne ihn zu verlieren. Wenn er schoss, war es gezielt. Wenn ein Gegner ihn zu sehr bedrängte, verteidigte er sich mit einem gelassenen Schulterstoß, der Störenfried flog durch die Luft, Matt holte sich den Ball zurück und lief weiter nach vorn. Nel amüsierte sich über sein fehlendes Mitgefühl mit denen, die sich mangels Training verletzten: Wenn man so lange keinen Sport gemacht hat, kein Wunder … Würde es dir vielleicht einfallen, dich für einen Marathon anzumelden, wenn du seit Jahren keinen Kilometer mehr gelaufen bist.

Eines Tages, als Matt und Malika mit ihren Jungs zum Mittagessen gekommen waren, hatten sie gefragt, ob sie Nels Fotos sehen könnten. In der Garage hatte ihnen Nel die gerade erst von einer Ausstellung in Nîmes zurückgekommenen Bilder gezeigt. Riesige Panoramaaufnahmen, fast zwei Meter lang, sechzig Zentimeter hoch, in Luftpolsterfolie eingepackt. Zusammen hatten sie mehrere Bilder enthüllt, die vom Hubsteiger aus aufgenommen waren: eine Baumgruppe vor einem Hintergrund von Windrädern und Crau. Salzgärten. Ein Strand. Eine Ansicht des Intermarché Portes de la Camargue, im Gewerbegebiet von Saint-Gilles. Ein früherer Nebenarm der Rhone im Nebel, gesäumt von Bäumen, so üppig wie in einem tropischen Urwald.

Sollen wir sie raustragen.

Nein, ich finde es toll, sie so zu sehen, ohne Abstand, hatte Matt gesagt. Wenn ich mir vorstelle, dass die ganze Gegend da ist, in Einzelteilen in deiner Garage. Dass du das eingefangen hast und wieder hervorholen kannst, wann immer du willst.

Er hatte ein waldüberwuchertes Backsteingebäude hervorschauen sehen und die Aufnahme ausgepackt, um zu überprüfen, ob er sich auch nicht täuschte.

Das ist Tenque. Das verlassene Pumpwerk bei Fos. Im vergangenen November war ich zwei Wochen lang jeden Tag dort. Ich wollte einen Plan davon erstellen. Verstehen, was sich diese verrückten Holländer da Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zusammengeträumt hatten. Natürlich habe ich es nicht herausgefunden. Aber vierzehn Tage lang habe ich Pläne gezeichnet, Fotos gemacht, jedes Becken dieser verdammten Station erkundet. Und eine Menge Vögel und Kaninchen aufgescheucht, die schon lange niemand mehr gestört hatte, was ja auch schon etwas ist.

Mit der Zeit hatten sie festgestellt, dass sie die gleichen Orte mochten. Weniger die geschützte Camargue als ihre Ränder: die verlassenen Hafenanlagen von Port-Saint-Louis-du-Rhône. Der Bootsfriedhof von Carteau. Der Strand Napoléon. Die Bar des Sports in Salin-de-Giraud. Und natürlich die Crau. Die vergessene kleine Schwester des zum Heiligtum erklärten Deltas. Geopfert den Windparks, den Hektaren von immer zahlreicheren, immer ausgedehnteren Lagergebäuden, bis zur Decke vollgestopft mit Kartons, Waren, Containern, den Dreißigtonnern, unablässig damit beschäftigt, diese Kartons in ganz Europa zu verteilen.

Der Wilde Westen ist da, sagte Matt, sobald man das Delta, die Folklore, die Gardians hinter sich lässt. Er hatte Nel von seinen nächsten Filmprojekten erzählt. Von seinen tagelangen Erkundungen der früheren Großmüllerei von Port-Saint-Louis-du-Rhône, die von 1942 bis 1945 eine der deutschen Artillerie-Abteilungen am Eingang des Golfs von Fos beherbergt hatte. Von seinen Recherchen über die Schlauchbootevakuierung der zweihundert Insassen des Gefängnisses von Arles während der Überschwemmungen von 2003. Über den unseligen Schleusenwärter, der 1711 vergessen hatte, das Schleusentor zu schließen, für das er verantwortlich war, wodurch die Rhone ihr Bett verlassen und sich einen neuen Lauf suchen konnte, um an der gegenwärtigen Stelle ins Meer zu münden, mehrere Kilometer weiter östlich als zuvor. Über den Besuch von Juri Gagarin 1967, zur Blütezeit der roten Provence – Juri Gagarin, der kommunistische Held, dessen Welttournee über Martigues, Port-de-Bouc und die Kellereikooperative von Saint-Gilles geführt hatte, wo der Kosmonaut einen Wein auf seinen Namen taufte.

Vor allem hatte er ihm von seinem jüngsten Steckenpferd erzählt: ein verlorener Flecken inmitten eines Pinienwalds, vier Kilometer vor Aigues-Mortes. Eine ehemalige Diskothek, die Nel natürlich kannte, weil er früher dort tanzen gewesen war, wie alle Welt: die Churascaia, genannt die Chu. Matt hatte eine Radiosendung darüber gehört. Eine Stunde mit Erzählungen von früheren Stammgästen, von ehemaligen Angestellten. Er hatte sofort Nel angerufen.

Als sie Mitte der Sechzigerjahre eröffnet wurde, war die Chu zunächst ein Restaurant gewesen. Eine Gardian-Hütte mit einem Reetdach, in dessen Mitte ein Loch als Kamin für den Grill diente. Der Wirt war ein Manadier, ein Viehzüchter, der zwischen Paris und Nîmes lebte und die meistbewunderten Stiere der ganzen Camargue besaß. Er wollte einen Ort haben, um im Sommer seine Freunde zu empfangen, sie das Fleisch seiner Rinder probieren zu lassen, die Musik zu hören, die er von seinen Pariser Partys mitbrachte. Das Restaurant hatte im Juli aufgemacht und war binnen ein paar Wochen zum beliebtesten Treffpunkt der Gegend geworden. Der Ort, wo alle Nachtschwärmer der umliegenden Städte und Dörfer aufkreuzten, um auf den Morgen zu warten, Honoratioren aus Nîmes, Landwirte, Medizinstudenten aus Montpellier, Kellner und Kellnerinnen nach Feierabend, sie alle kamen und feierten im Dunst von Grillfleisch und Pastis zusammen mit den Pariser Freunden des Manadiers. Am Ende der Sommersaison hatte er schließen wollen, wie ursprünglich geplant. Aber seine Freunde hatten ihn überzeugt weiterzumachen. Nach und nach war es der Ort geworden, wohin man abends ging. Die Diskothek, wo man hinrannte, aus welcher Stadt man auch kam, Aix, Narbonne, sogar Toulouse. Eines Juliabends hatte der Manadier genug davon gehabt, seinen Pinienwald in einen Riesenparkplatz verwandelt zu sehen, genug von all dem Lärm und der nicht enden wollenden Party, genug davon, dass jeder Abend sich bis zum nächsten Mittag ausdehnte, in einem ewigen Kreislauf von Andrang und Euphorie. Er hatte die Sache etwas herunterfahren wollen, die Polizei zu Hilfe gerufen. Am Abend hatten dann zwei Polizisten am Eingang des Pinienwalds gestanden und angefangen, bei jedem Auto die Papiere zu kontrollieren. Es hatte sich eine Schlange gebildet, die sich fast einen Kilometer zurückstaute. Um vier Uhr morgens reichte die Schlange bis zum Kreisverkehr von Aigues-Mortes, drei Kilometer weiter, und der Manadier war in Panik geraten, hatte zu den Polizisten gesagt, sie sollten verschwinden, sie würden die Sache nur schlimmer machen.

Natürlich hatte die Geschichte gleich am nächsten Tag die Runde gemacht.

Drei Kilometer Schlange, um bei der Chu zu parken.

Der Andrang war noch größer geworden.

Heute war der Manadier alt, seine Stimme sanft, sein Blick auf diese Jahre zugleich zärtlich und bescheiden. Die früheren Besucher versuchten die Magie jener Abende zu erklären, listeten die Trümpfe des Ortes auf. Der freie Eintritt. Kein Türsteher. Das Charisma des Hausherrn, der jeden Morgen bei Tagesanbruch, wenn das Feuer erstarb, von Neuem zum König der Camargue ernannt wurde. Die Mischung aus Retrohits, Popplatten und Opernarien, die plötzlich zwischen einem Stück von Jimi Hendrix und einem Lied von Marie Laforêt durch die Nacht schallten, denn der DJ scherte sich nicht darum, ob man auf Bellini tanzen konnte, ob Puccini oder Strauß angesagt waren oder nicht. Die fast familiäre Atmosphäre der Anfänge, die Mischung von Jung und Alt, Eltern und Kinder, die manchmal nur ein paar Meter voneinander entfernt tanzten. Auf dem Parkplatz standen bunt gemischt Jaguars und uralte Enten, Cabrios, Lieferwagen und die Pferde der Gardians. Das fröhliche, entspannte Nebeneinander von Welten, die überall sonst Abgründe trennten, Stierkampf-Liebhaber, pensionierte Landwirte, Pariser Feriengäste, Transvestiten, Showbusiness-Prominenz, Studenten. Die heimlichen Liebesspiele im Pinienwald. Die Stechmücken. Die Stiere, die manchmal im Dunkeln mit dem Maul gegen den Stacheldrahtzaun stießen, ein paar Schritte von dem Partyvolk entfernt, das unter den Sternen frische Luft schnappte.

Die Ehemaligen ergingen sich in Superlativen. Der Manadier dagegen sprach von der Chu wie von einer Stammkneipe, einer bloßen kleinen Bar, die er gern geheim gehalten hätte. Die er ganz gegen seinen Willen hatte größer werden sehen, nur weil er sich weigerte, irgendjemanden auszugrenzen.

Unter den Gästen der Radiosendung war auch Toussaint.

Matt hatte zugehört, wie er von seinen Erinnerungen an die Siebzigerjahre erzählte, wie er die Chu als Tempel des damaligen Zeitgeistes beschrieb, dieses allgegenwärtigen Hangs zum Spiel, zur Übertretung von Gesellschafts- und Altersschranken, von Genreschranken, musikalisch, architektonisch oder modisch, und natürlich von Geschlechtergrenzen. Die Kategorien von männlich und weiblich wurden fortwährend unterlaufen, verschoben, umgeworfen in unablässigen Travestien – Jünglinge mit kajalumrandeten Augen streiften Gardians mit männlich hochgekrempelten Ärmeln, Amazonen in Cowboykluft wirbelten mit Paillettenbaronen herum, alle amüsierten sich, sprengten fröhlich alle Fesseln, mit einer heute unvorstellbaren Unbekümmertheit, sagte Toussaint mit ruhiger Stimme, ohne Bedauern, einfach nur glücklich, an all das zurückzudenken.

Die Schönheit seiner Erzählungen hatte Matt berührt. Seine Freude daran, sich an seine Jugend in Arles zu erinnern, gerade mal siebzehn Jahre alt, noch unbekannt, ein Südfranzose unter anderen, vielleicht nur etwas dandyhafter, etwas freiheitsliebender, etwas romantischer. Seine Art, noch heute von der Chu zu träumen, vierzig Jahre später, so wie er in all seinen Skizzen und Kreationen im Grunde nie aufgehört hatte, von seiner Heimatgegend zu träumen, immer wieder auf sie zurückkam, sich von ihr inspirieren ließ, ihre Seele entlieh, um sie besser zu zelebrieren, heraufzubeschwören, sie mit universeller Schönheit zu füllen.

Am nächsten Tag war Matt im Pinienwald spazieren gegangen. War um das Gebäude mit den geschlossenen Fensterläden herumgestrichen, über den Parkplatz gelaufen, der groß genug war für das Publikum eines ganzen Stadions, hatte in einer Ecke die Riesenlettern gefunden, die das Wort CHURASCAIA bildeten, wie in Hollywood. Hatte den dort untergebrachten Wächter getroffen, Dominique, ein Typ aus Orléans, der ihm von den letzten erfolglosen Versuchen erzählt hatte, das Lokal wiederzueröffnen.

Mitten im Juli, auf dem von Touristen überlaufenen Hauptplatz von Aigues-Mortes, hatte Matt es geschafft, ein einstündiges Gespräch mit Lolita zu filmen, achtzig Jahre alt, fast weißer Schnurrbart, einer der früheren Stars der Sonntagabend-Shows in der Chu. Mit seiner heiseren Raucherstimme hatte Lolita ihm von seiner Einwanderung aus Spanien in den Fünfzigerjahren erzählt. Von seiner Arbeit in einer Kohlengrube, zehn Stunden Finsternis am Tag. Seine Heirat mit einem Mädchen aus Alès, mit dem er zwei Kinder bekommen hatte. Die Vergnügungswut, die ihn nach dem Brustkrebs-Tod seiner Frau gepackt hatte. Die Entdeckung der Chu, mit gut fünfunddreißig Jahren. Die heimlichen Eskapaden, die damals begonnen hatten, seine Tochter und sein Sohn wussten nichts davon. Der neuartige Kitzel, Kleider anzuziehen, BHs, vor den Gästen mit dem Hintern zu wackeln, um sie zum Lachen zu bringen, den Manadier Schätzchen zu nennen. Und dann der denkwürdige Tag, an dem die Behörden angesichts der wiederkehrenden nächtlichen Ruhestörungen alle Diskotheken dazu verdonnerten, um zwei Uhr morgens zu schließen, und damit den König der Camargue zu der List veranlassten, die eine neue Ära einläutete: die Chu zum Veranstaltungssaal umzudeklarieren. Die Genehmigung lag binnen einer Woche vor. Und dann musste wohl oder übel eine Veranstaltung erfunden werden, mindestens einmal in der Woche, die nicht allzu trostlos war und die Gäste, die sicher nicht herbeigeströmt kamen, um sich ein Theaterstück reinzuziehen, nicht in die Flucht trieb. Lolita und zwei andere in die Geschichte eingegangenen Transvestiten der Chu hatten sich dahintergeklemmt, sie hatten beliebte Opernplots aufgegriffen, die Libretti und die Arien umgeschrieben, um sie passend zu machen. Carmen im Minirock. Iphigenie im Taumel. Rigoletto toro. Die Sonntagabende in der Chu wurden bald legendär, das Publikum lachte sich kaputt, wenn Erica und Lolita Brigitte Bardot imitierten, mit ihren Knödelbassstimmen und ihrem zentimeterdicken sardinenblauen Lidschatten die Muscheln und Krustentiere des Hits La Madrague besangen.

Von diesem Ort will ich erzählen, hatte Matt zu Nel gesagt, als er von dem Treffen zurückkam. In diesem Nachtlokal, vor dem Hintergrund von Camargue, Stieren und Salzseen, hat alles Platz gefunden: die fröhliche Ausgelassenheit der Sechzigerjahre, die Rebellion der Siebziger, die Pailletten der Achtziger, Drogen, Aids, die ersten DJs, die Krise der Neunzigerjahre. Und sogar die trostlose Schaumschlägerei der 2010er-Jahre, Elektro-Musik, Reality-TV-Stars an den Plattentellern, eine Lautstärke, dass die Grillen einen Herzinfarkt kriegten, zwanzig Euro Eintritt und zehn Euro das Getränk.

Zu diesem langsamen Niedergang hatte Matt seine Theorie: Die Magie hing mit der Unschuld zusammen. Mit dem Nicht-Benennen der Dinge. Sobald das Feiern sich seiner selbst bewusst wurde, ging es bergab, es verzerrte sich, verlor seine Seele. Die Gnade verflog. Die reine Gegenwart wurde durch eine pervertierte Zeit ersetzt, eine Mischung aus dem Hochgefühl, dabei zu sein, und der Angst, der Melancholie fast schon, dass alles zu Ende ging. Das war ihm in der Radiosendung aufgefallen: die heftige Nostalgie der Zeitzeugen. Die Art Mythos, vor dem sie sich vierzig Jahre später allesamt verneigten. Und wie sie paradoxerweise immer wieder betonten, dass es damals niemandem bewusst war. Dass alles genau daran hing: an dem vollkommenen kollektiven Fehlen von Bewusstsein dessen, was vor sich ging. An der Abwesenheit jeder anderen Aufgabe als der, sich mit den anderen zu amüsieren, egal, woher sie kamen, wie alt sie waren, ob sie einen Beruf hatten oder auch nicht, ob sie berühmt waren oder völlig anonym.

3

Mann, du bist kilometerweit zu sehen. Ich habe in der Ferne den Arm gesehen, mitten in der Pampa, und mir gesagt, das ist er. Was sonst, das ist Nel mit seinem Hubsteiger.

Nel zuckte mit den Achseln und lächelte.

Ich kann machen, was ich will, ich schaff es nicht, mich zu verstecken.

Er sah den Mann am Steuer des Pick-ups an, der eine Minute zuvor am Horizont aufgetaucht war, das einzige andere Fahrzeug im Umkreis von einem guten Kilometer: sein Freund Paul Escoffier, Schafzüchter bei Aureille, ein ruhiger Typ um die vierzig.

Auf der Ladefläche des Wagens stapelten sich Dutzende von Säcken voll Salz für die Schafe.

Ich bringe sie nach Colmars, sagte Paul, damit der Hubschrauber sie zur Hütte hochfliegt.

Läuft alles gut da oben, fragte Nel. Fehlen dir deine Zibben nicht allzu sehr?

Paul erzählte das Neueste von der Herde: Zwei Wolfsangriffe. Acht Tiere gerissen. Und drei verschwunden, in der Panik des zweiten Angriffs von den Felsen gestürzt.

Nel kannte die Alm, auf der die Herde war, in- und auswendig. Le Lignin im Haut Verdon, oberhalb von Colmars-les-Alpes. Almen, auf denen die Escoffier-Herde seit drei Generationen den Sommer verbrachte. Auf denen auch Nels Familie, zur Zeit seines Großvaters Maurice und dann seines Vaters und seines Onkels, ihre Schafe hüten ließ. Er hatte den Almauftrieb und -abtrieb oft begleitet. War sogar schon zwei-, dreimal mit Paul und seinen Tieren auf der Hütte gewesen. Er kannte Césaire, den Schäfer, dem Paul sie während der vier Monate anvertraute, die sie dort oben blieben, von Juni bis September-Oktober. Sogar die Herde kannte er. Wusste die Namen von Pauls Lieblingsschafen.

Und die 318 – geht es ihr gut?

Die 318 war das Maskottchen der Herde, immer die Erste, die an den Winterabenden in den Stall lief, die Erste, die während der Auftriebe zur Alm hochrannte und alle anderen hinter sich herzog. Seit Jahren nannten Paul und sein Vater sie so, die 318, nach den letzten drei Ziffern ihrer Kennnummer, so wie sie das einzige schwarze Schaf der Herde Barack nannten, und natürlich hatten die 318 und Barack mit der Zeit mehr Platz in ihrem Herzen und in ihren Gedanken eingenommen, wann immer sie an die Herde dachten.

Im letzten Frühjahr war Nel nach Aureille gekommen, um die Schur zu fotografieren. Tausendzweihundert Schafe, die von neuseeländischen Scherern mit ihren Schermaschinen eins nach dem anderen ausgezogen wurden, am Bauch beginnend, dann den Flanken entlang nach oben, als öffneten sie das Vlies mit einem Reißverschluss bis zum Kinn, und am Rücken endend, wo die Wolle immer am schönsten war. Der Ordner mit den Fotos wartete noch auf seinem Desktop.

Ich habe die Bilder immer noch nicht fertig sortiert, sagte Nel, ich bin eine Niete. Muss mich wieder dransetzen.

Da waren schöne dabei. Du sahst zufrieden aus.

Ich beeile mich und schicke sie dir.

Dann hörten sie beide ein Dröhnen in ihrem Rücken und blickten zum Flugplatz von Salon hinüber. Ein großes Transportflugzeug war gerade gestartet. Bauchig wie eine Boeing, aber kürzer, gedrungener, mit schwerem Bauch. Es stieg mühsam auf, als würde es jeden Moment wieder herunterfallen. Flog über sie hinweg und setzte direkt über ihnen zu einem Kreis an. Wie um sie zu beobachten.

Das gilt dir, lachte Paul. Das gilt deinem Hubsteiger, jede Wette.

Aus ihren offenen Fenstern winkten sie dem Flugzeug ausladend zu und verabschiedeten sich dann voneinander. Jeder fuhr in seine Richtung davon.

Nel fuhr gut drei Kilometer auf der Piste weiter, er holperte im Schneckentempo über Steine und Schlaglöcher und kämpfte sich wie ein lächerlicher Käfer durch die endlose Ebene – die Landschaft belebte sich nur hier und da durch das Erscheinen eines mickrigen Wacholderbuschs, eines rostigen Kanisters, der die Grenze eines Weidegrunds markierte. Schließlich erreichte er die etwas höher gelegene geteerte Straße, ließ ein Dutzend Autos vorbeirasen, ehe er sich auf den Asphalt wagte. Der Laster hörte auf zu rumpeln, der Boden unter den Reifen war plötzlich herrlich glatt. Nel gab Gas, die Tachonadel zeigte endlich mehr als zwanzig Stundenkilometer an, stieg mühelos auf achtzig, neunzig. Als kehre er nach einer Eskapade in ein paralleles No Man’s Land, jenseits von Zeit und Landkarten, zurück in die Zivilisation.

Er passierte ein mit Schroteinschüssen und Graffiti bedecktes Trafohäuschen.

ARABER RAUS.

NEIN ZUM GRAND MARSEILLE.

Und direkt daneben, neben einem A wie Anarchie, der Beweis der Komplexität der Dinge und dessen, dass die Menschen sie verschieden sehen: FICK DIESE GANZE SCHEISSWELT.

An einer Kreuzung zögerte er, ob er den Weg über die Nebenstraßen nehmen sollte. Hinter ihm hupte es. Nel schaute in den Rückspiegel, sah das Gesicht des Typen, der im Auto hinter ihm kochte. Fragte sich, ob die Autofahrer überall so bescheuert waren oder ob das eine Spezialität der Bouches-du-Rhône war. Der Fahrer sah, dass Nel ihn beobachtete. Er drückte erneut auf die Hupe, diesmal länger. Dann, da Nel sich immer noch nicht rührte, tickte er aus, bretterte über die Verkehrsinsel, um ihn zu überholen. Als er wieder auf die Fahrbahn kam, setzte sein Auto auf. Ein scheußlicher Lärm: Bamm. Das Fahrgestell krachte mit vollem Gewicht auf den Beton. Der Typ schaute nicht zu Nel hinüber, um ihn nicht lachen zu sehen. Er gab Vollgas, verschwand in der Ferne. Nel legte den ersten Gang ein, setzte die schwere Masse des Fahrzeugs in Bewegung, beschleunigte sanft.

Kurz bevor er die Schnellstraße erreichte, holte er einen Lastwagen mit roter Plane ein, auf dem in Großformat eine nackte Frau prangte, Hintern den Autofahrern dargeboten, neckisches Lächeln. In fröhlichen Großbuchstaben verkündete das Playgirl: PLATZER. Und lud interessierte Kunden auf ihre Lieblingsstrecke ein: Austria–España. Nel sprach weder Deutsch noch Spanisch oder irgendeine andere Sprache, in der das Wort »Platzer« existierte. Aber das Lächeln und die Aufmachung des Mädchens ließen kaum einen Zweifel an seiner Bedeutung. Er fragte sich, was der Laster wohl transportierte. Was diese dreißig Tonnen reinen Platzers in dem fensterlosen Laderaum wohl sein mochten. Er träumte von einem Unfall. Gab sich der Vision des Lkws hin, wie er quer über die Fahrbahn kippte, seine Ladung über den Asphalt erbrach, Dildos in allen Größen und Formen, Leopard-Stringtangas, aufblasbare Puppen, Vibratoren mit G-Punkt-Suchkopf, Ganzkörperanzüge aus feinstem Neopren, Massageöle mit den berauschendsten Düften, Ketten, Peitschen. Ein Schwall von globalisiertem Plastik, ausgekotzt in diese riesige, jungfräuliche Steppe, zwischen den Glassplittern und den Dieselpfützen aus dem aufgerissenen Tank. Porträt einer Epoche und ihrer Leidenschaften.

Er überholte den Lkw, um den Fahrer zu sehen, lächelte ihm zu. Dieser sah den Hubsteiger und hob den Daumen, um das Kompliment zu erwidern, rief ein launiges Wort in einer unbekannten Sprache durchs Fenster. Nel blieb ein paar Sekunden auf seiner Höhe, entzückt über diese Verbindung zwischen dem Platzer und seinem Kletterkorb. Warf einen letzten Blick auf das nackte Mädchen auf der Plane, ehe er sich schließlich dazu durchrang, den Lustspediteur hinter sich zu lassen.