Lehre mich zu leben - Loekie Zvonik - E-Book

Lehre mich zu leben E-Book

Loekie Zvonik

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Beschreibung

Die wahre Geschichte eines großen intellektuellen Liebespaares - für alle Leser*innen von Connie Palmen und dem Briefwechsel von Max Frisch und Ingeborg Bachmann

Hoch gelobt und mit dem renommierten VBVB-Debütpreis ausgezeichnet - die literarische Wiederentdeckung aus Flandern. Die flämische Autorin Loeki Zvonik erforscht in diesem literarisch anspielungsreichen autobiografischen Roman ihre enge Beziehung zu dem Autor Dirk De Witte, den sie im Roman Didier nennt. Beide lernen sich während ihres Germanistik-Studiums kennen, fühlen sich zueinander hingezogen, begeistern sich für Kafka, Rilke und Hesses ›Steppenwolf‹. Es entwickelt sich eine intensive literarische Verbundenheit und Freundschaft, die bei Didier stark vom Thema Fremdsein und Freitod geprägt ist. Bis zuletzt versucht die Autorin, Didier von seinen Todesgedanken abzubringen. »Lehre mich zu leben« ist eine zarte, tabulose Rekonstruktion eines angekündigten Todes. Ohne jede moralische oder persönliche Anklage umkreist die Autorin die Beweggründe für den frühen Tod des Freundes.

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Zum Buch

Die flämische Autorin Loekie Zvonik erforscht in diesem literarisch anspielungsreichen autobiografischen Roman ihre enge Beziehung zu dem Autor Dirk de Witte, den sie im Roman Didier nennt. Beide lernen sich während ihres Germanistik-Studiums kennen, fühlen sich zueinander hingezogen, begeistern sich für Kafka, Rilke und Hesses Steppenwolf. Es entwickelt sich eine intensive literarische Verbundenheit und Freundschaft, die bei Didier stark vom Thema Fremdsein und Freitod geprägt ist. Bis zuletzt versucht die Freundin, Didier von seinen düsteren Gedanken abzubringen. Lehre mich zu leben ist eine zarte, tabulose Rekonstruktion eines angekündigten Todes. Ohne jede moralische oder persönliche Anklage umkreist Loekie Zvonik die Beweggründe für den frühen Tod des Freundes.

Zur Autorin

LOEKIEZVONIK (Gent, 1935–Hasselt, 2000) war das Pseudonym von Hermine Louise Marie Zvonicek. Sie studierte deutsche Literatur an der Universität von Gent und schrieb drei Romane und zahlreiche Erzählungen. An der Universität lernte sie den Studenten Dirk de Witte kennen, der später ebenfalls Schriftsteller wurde und sich sein Leben lang intensiv mit den Themen Tod und Suizid in der Literatur beschäftigte. Im Dezember 1970 nahm er sich mit 36 Jahren das Leben. Zvoniks Roman wurde 1975, fünf Jahre nach dem Freitod de Wittes, veröffentlicht. Hochgelobt und mit dem renommierten VBVB-Debütpreis ausgezeichnet, wurde er 2018 in den Niederlanden neu aufgelegt und als bedeutende literarische Wiederentdeckung gefeiert.

Loekie Zvonik

Lehre mich zu leben

Die Geschichte einer großen Liebe

Aus dem Flämischen von Ruth Löbner

Die flämische Originalausgabe erschien 1975 unter dem Titel Hoe heette de hoedenmaker?, eine Neuausgabe erschien 2018 bei Cossee, Amsterdam Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Zuerkennung eines Arbeitsstipendiums, dem Expertiesecentrum Literair Vertalen, das die Arbeit an diesem Projekt durch ein Mentorat gefördert hat, sowie ihrer Mentorin Bettina Bach. Und ganz besonders W. This book was published with the support of Flanders Literature (www.flandersliterature.be).

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe März 2024

Copyright der Originalausgabe © 1975 und 2018 Loekie Zvonik und Cossee Publishers, Amsterdam

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © des Nachworts: Wout Vlaeminck 2018.

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: Hena Rigotti, 1924 (oil on canvas), Felice Casorati (1886 – 1963), Galleria Civica d’Arte Moderna di Torino, Bridgeman Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MA ∙ Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-24139-1V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für X und Y und den wunderlichen Hannes

1

Ihr Gesicht glich dem meines Freundes. Heißt du Hermine?

Frei nach Hermann Hesse, Der Steppenwolf

Schon seit Jahren war ausgemacht, dass ich bei Großtante Louise wohnen würde. Ich zog in ihr Gästezimmer unterm Dach. Das Bett war voll mit bestickten Kissen, davor standen auf einem Strickteppich ein runder Tisch und ein Korbstuhl.

Dein Arbeitsplatz, sagte sie.

In der Mitte des Tisches hatte sie Bücher zurechtgelegt, Lamartine und Stendhal, das Schönste, was sie je kennengelernt habe.

Sie führte mich zur Wand gegenüber dem Fenster.

Dort hing in silbern gerahmten Fotografien ihr Leben. Louise mit tüll-, spitzen- und vogelbesetzten Hüten; in Wien, mit einem Fernglas vor den Augen; in einem Straßencafé in Spa; bei einem Spaziergang durch die Allee eines böhmischen Kurorts; in Salzburg, eine geblümte Teetasse in der Hand.

Ich habe das Ende des neunzehnten Jahrhunderts erlebt, sagte sie, und bin Menschen begegnet, von denen du noch hören wirst. Ich habe dir viel zu erzählen. Aber jetzt helfe ich dir erst mal beim Auspacken, im Kleiderschrank sind schon Lavendelsäckchen.

An der Haustür legte sie mir die Hand auf die Schulter und sagte: Ich habe immer versucht, mich nicht aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Damit ist man gut beraten. So wappnest du dich gegen die anderen, die manchmal sehr anders sind als du selbst. Weißt du denn, wie du zur Universität findest?

Ich musste einfach nur den anderen folgen. Sie waren, wie ich, ihre Koffer losgeworden und nun an den Schreibblöcken oder den fast leeren Aktentaschen zu erkennen, die sie im Rhythmus ihrer Schritte an den Fingerspitzen hin und her baumeln ließen.

Ich hoffte, sie würden in die richtige Richtung gehen. Aber auf die Selbstsicheren unter ihnen durfte man sich nicht verlassen. Auf halbem Weg wurden sie von Gleichgesinnten lautstark in irgendeine Wirtschaft gelotst und waren für immer oder doch für sehr lange verschwunden.

Und wir, die Erstsemester, blieben dann stehen, sahen uns um, mussten an früher denken und überlegten, ob wir jemanden nach dem Weg fragen sollten.

Jaja, sagten die Bauarbeiter bei der Oper, hier um die Ecke, dann links, dann rechts, und dann das lange Gebäude.

Auf der Suche nach unseren Seminarräumen kamen wir durch Eingangsportale mit Abfalleimern, durch Innenhöfe mit Herbstrosen und schließlich durch weiße Gänge mit Ankündigungen hinter Glas und begegneten manchmal jemandem von früher, von letztem Jahr, aus der Oberstufe, und fragten nach dem Weg; aber dieser Jemand von früher studierte etwas anderes und musste zu einer anderen Fakultät in einem anderen Gebäude, und wir drehten uns noch einmal um, winkten, mit dem Versprechen, uns mal zu verabreden, rannten ausgetretene Stufen hinauf, lächelten verlegen, wenn jemand uns auswich oder etwas sagte oder zeigte, und dann waren wir tatsächlich da.

DEUTSCH stand auf dem Schild an der alten, braunen Tür, sie stand halb offen, dahinter ein weißer Seminarraum mit hohen Fenstern, langen Reihen schmaler Tische und vielen Stühlen.

Ich drehte mich um, weil ich sehen wollte, wer den ganzen Weg mit mir mitgerannt war. Er keuchte, als wäre er bereits viel länger auf der Suche als ich.

Hat der Professor schon angefangen? Oder können wir noch rein?, flüsterte er atemlos, und wir wagten einen vorsichtigen Blick ins Innere, willkommen, willkommen, rief jemand, und aus dem Gewimmel unserer zukünftigen Kommilitonen sahen wir das leere Katheder aufragen.

Wir mussten über Beine und Stühle steigen, bis wir endlich einen Sitzplatz gefunden hatten, einander genau gegenüber, wir sahen uns um und an die Decke, sahen die Kugellampen, die Bücherregale an den Wänden, die Ankündigung an der Tafel, dass der Professor eine halbe Stunde später eintreffen werde, und dann gaben wir das Umhersehen schließlich auf, legten Stifte und Schreibblock bereit und hörten uns die Lieder an, die jetzt angestimmt wurden, über wilde deutsche Husaren und ihre feurige Liebe, sogar im strengen Winter, sahen uns an und rätselten, wer der andere wohl war.

Wie heißt du?

Didier. Und du?

Hermine.

Es hämmerte an der Tür. Ein Mann im Arbeitskittel kam herein, sein Auftritt wurde mit tosendem Jubel quittiert; beschwichtigend breitete er die Arme aus.

Der Professor, verkündete er und trat ehrfürchtig einen Schritt zurück.

Und da spazierte eine kleine, zierliche Gestalt in den Raum, bahnte sich einen Weg nach vorn, blieb hier und da stehen und musterte mit ironischem Blick ein verwirrt aussehendes Etwas.

Der Professor stieg die Stufen zum Katheder hoch, legte seine Tasche an den Rand des Lesepults, stützte den Ellenbogen auf, das Kinn in die Handfläche, und guckte, bekam Rauch in die Augen, hustete, dass es ihn von Kopf bis Fuß schüttelte, legte die Zigarette dann doch lieber weg und sprach Worte, die ich nicht verstand.

Wir sollen was vorbereiten, flüsterte Didier mir zu, einen kleinen Vortrag über einen Autor oder einen Text, den wir gelesen haben.

Der, die, das, dachte ich, und Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind. Goethe, über einen Vater, der in der Nacht mit seinem todkranken Kind zum Arzt hetzt. Es ist nebelig. Die alten grauen Kopfweiden sehen aus wie Hexen oder Geister. Das Kind hat Angst. Vater, Vater, da ist der Erlkönig. Nein, nein, mein Kind. Es ist ein Nebelstreif.

Oder Die Weise von Liebe und Tod des jungen Kornetts, Rilke, darüber hatte ich vor drei Monaten meine Abiturprüfung gemacht. Und die Lehrerin, die danach gesagt hatte: Du willst in Gent studieren? Wie schön! Da wird es dir bestimmt gefallen.

Es war einmal ein junger, edler Held. Er trug die Fahne seines Regiments. Eines Abends machte die Kompanie bei einem fremden Schloss Halt. Dort wohnte eine einsame Gräfin. Der Held gewann sie augenblicklich lieb und verbrachte die Nacht mit ihr. Sie werden sich hundert neue Namen geben und einander alle wieder abnehmen, leise, wie man einen Ohrring abnimmt.

Doch dann bricht Feuer aus im Schloss.

Der junge Held rettet die Regimentsfahne aus den Flammen.

Der Morgen dämmert schon.

Da ist der Feind. Seine Säbel sind wie Springbrunnen in einem Rosengarten. Sechzehn Säbel durchbohren den jungen Helden. Für ihn gibt es keine Rettung mehr, denn Liebe und Tod sind eins.

Hoffentlich würde der Professor nicht fragen, was mit der Frau in dem brennenden Schloss passiert war. Hatte der Held sie in den Flammen zurückgelassen? Ich wusste es nicht mehr.

Aber vorläufig brauchte ich es auch nicht zu wissen, denn der Professor ging nach dem Alphabet vor, und selbst bei dieser Methode nahm er längst nicht jeden dran.

Bei W kam Didier an die Reihe.

In einem sehr schönen, langen Hauptsatz sagte er etwas mit Kunscht und schwieg dann abrupt, sah mich an und grinste.

Kunst, flüsterte ich, nicht Kunscht.

Kunst, wiederholte er, dann noch mal den Hauptsatz, und dann etwas über Liebe, worauf alle in schallendes Gelächter ausbrachen, nur an mir ging die Pointe vorbei.

Und dann, als wollte er sich für seinen missglückten Auftritt entschuldigen, stand er auf. Erst mal verhedderte er sich ziemlich in den Stuhlbeinen, hing dann am Ende halb über dem Tisch und war in Wirklichkeit bestimmt noch größer, als er so schon wirkte. Vorhin auf der Treppe hatte ich nicht darauf geachtet, wie er aussah. Seine Haare und die Augen waren sehr dunkel, und in seinem Kinngrübchen hätte meine Daumenkuppe Platz gehabt.

Ich hoffte, er würde endlich wegsehen, damit sein permanent auf mich gerichteter Blick den Professor nicht verfrüht dazu inspirierte, mich meine Geschichte erzählen zu lassen.

Geburtsdatum?, fragte der Professor. Von welcher Schule? Wohnort?

Sint-Amands, an der Schelde, sagte Didier.

Sehr gut, sagte der Professor und neigte den Kopf wie zur Segnung, als wäre jemand, der in Sint-Amands an der Schelde wohnte, prädestiniert für Segnungen, sehr gut, und dann fragte er in die Runde, wer denn im Scheldewasser bei Sint-Amands begraben liege.

Eine scheue Bewegung ging durch den Saal, wir versuchten, in der Anonymität unterzutauchen, uns hinter die unbekümmert weiteratmenden Studenten aus dem zweiten Jahr zu ducken, die mit den Lippen Worte formten. Emiel, Emiel.

Durch die hohen Fenster floss ein wenig Oktobersonne herein, über die zerkratzten Tische, die Kleider, die Gesichter, über die Blätter voller deutscher Wörter, voller Namen, voller Streichungen, über die Schriftsteller in den Regalen an den Wänden.

Also?, fragte der Professor und dachte vielleicht an unsere Kindheit in den Dörfern und Städten, in denen wir aufgewachsen waren, daran, wie wir in dieser für die meisten von uns neuen, fremden Stadt herumliefen, wie wir in ihr unsere Zimmer bezogen und den Weg zu ihren Versuchungen fanden.

Emile Verhaeren, sagte Didier.

Und was steht auf seinem Grabstein?

Ceux qui vivent d’amour, sagte Didier, dann wusste er nicht weiter.

Vivent d’éternité, sagte der Professor, und Didier nickte, jetzt sei es ihm wieder eingefallen und er werde es bestimmt nicht mehr vergessen.

Und das, wo doch Tauben um den Kirchturm in Sint-Amands an der Schelde flattern und die Häuser am Kai durch Hämmern und Motorenlärm hindurch das Wasser rauschen hören. Die Äpfel, die Birnen, die Wrackstücke im Wasser, die Taue, die Leinen, sie schwappen gegen Verhaeren. Und das, wo doch die Ufer von Mariakerke und Moerzeke in Sonne und Nebel versinken, und die niedrigen kleinen Häuser der Seitenstraßen feucht glänzen, und die hohen Bauten der kantigen Hauptstraße das Wasser nur in den Kellern zu Gesicht bekommen.

Ich war an der Reihe.

Didier malte konzentrische Kreise und Pfeile auf seinen Notizblock. Vielleicht dachte er an zu Hause oder an mich und würde heute Abend in einem Brief – falls er denn einen schrieb – berichten: Bei Z kam Hermine an die Reihe, und nachdem sie die poetische Geschichte vom Fähnrich Christoph Rilke erzählt hatte, wurde ihr die unvermeidliche Frage gestellt, wie sie zu ihrem ausländischen Familiennamen kam. Und als sich herausstellte, dass sie zwar an der Schelde geboren war, aber eigentlich aus Prag stammte, wo so große Schriftsteller wie Rilke, Kafka, Werfel und Kisch gelebt hatten, und als sich außerdem herausstellte, dass sie von diesen Herrschaften genauso wenig Ahnung hatte wie ich von deutscher Phonetik, da sah ich kommen, dass dieser kleine Zufall uns mit dem Professor verbinden würde.

Warum kein slawischer Vorname?

Meine böhmische Großmutter hieß Hermine. Mein Vater hätte mich gerne Slavka genannt, nach seinem eigenen Vornamen Bohuslav. Aber meine belgische Mutter war dagegen: Das können wir nicht machen. Dann wird sie in Flandern für alle nur het slaafje sein, das Sklavenkind.

Soso, sagte der Professor und sprach eloquent und schnell, benutzte Begriffe wie österreichische Hegemonie und Sklavenvolk, aber mein Deutsch reichte dafür noch nicht. Ich spürte, wie ich knallrot anlief, und war froh, als ich mich wieder setzen durfte.

2

Sie werden sich hundert neue Namen geben und einander alle wieder abnehmen.

R. M. Rilke, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke

Ich bin naiv, dachte ich. Vieles, womit die anderen offensichtlich etwas anfangen konnten, ging an mir vorbei.

Sie rannten in Bibliotheken und Buchläden und kamen mit Bündeln unter dem Arm und einem Funkeln in den Augen wieder heraus, dem Funkeln der Eingeweihten, die sich eine Welt erschaffen hatten, in der es mehr gab als nur Sonne, Regen, Universität, Vorlesungen, Fahrten nach Hause, Fahrten nach Gent, Geld, essen, schlafen, lernen.

Sie besaßen geheimnisvolle Weisheiten, zu denen ich keinen Zugang hatte, diskutierten in den Kneipen über Themen, von denen ich keine Ahnung hatte. Bis ich sie durchdrungen hätte, wären sie schon nicht mehr aktuell und relevant. Sie eiferten Menschen nach, von denen ich noch nie gehört hatte, die ich vielleicht später mal für mich entdecken, aber als überholt und wertlos würde abschreiben müssen. Sie träumten von Abenteuern, die mich noch nicht lockten, deren Dimensionen ich mehr schlecht als recht an ihrer Gestik ablesen konnte, und die ich selbst erst erleben würde, wenn sie davon längst genug hätten.

Aber trotz allem wollte ich bei ihnen sein, auch wenn meine Reaktionen zeitversetzt kamen, und sie waren nett zu mir, vielleicht, weil sie dachten, meine Welt, hinter meiner stillen Fassade, sei genauso mysteriös und genauso reich an erschütternden Erfahrungen wie ihre Welt.

In Wahrheit hatte ich noch nicht viel erlebt. Das sollte alles erst kommen. Ich hatte noch nie wirklich geliebt, und ich hatte noch niemanden sterben sehen.

Und so lief ich ihnen hinterher, durch die Straßen von Gent, auf der Suche nach den Häusern, in denen sie wohnten, und klingelte an dunkel getäfelten Türen, hinter deren Glasscheiben dann Gesichter auftauchten, und hörte mir die finsteren Geschichten der Zimmerwirtinnen an und stieg lange Treppen zu den Dachgeschossen hinauf, wo kein Licht brannte und ich in den Fluren den Schalter nicht finden konnte, sodass ich am Ende rufen musste, um ganz sicher zu sein: Didier, Didier, wo bist du? Es ist so dunkel. Ich kann dein Zimmer nicht finden.

Bis schließlich im zögerlichen Schein einer kargen Lampe eine Tür aufging, und er sagte: Hermine? Bist du’s? Komm rein.

Und ich einen fremden Raum betrat mit einem Tisch und vier Stühlen und einem Ungetüm von Kleiderschrank in der Mitte und dahinter dem großen Bett in einer Art grauem Alkoven. Stapelweise Bücher lagen auf den Dielen. Über dem Bett schien ein Nebel zu hängen, bis auf ein paar dunkle Balken war die Decke nicht zu erkennen. Und ich hörte zu, wie Didier und sein Freund Marc sich über rettungslos verlorene Dichter unterhielten und früh verstorbene Bildhauer, geisteskranke Maler wie van Gogh und alte Glücksspiele wie Russisch Roulette.

Bis einer der beiden aufstand, sich den Dufflecoat anzog und fühlte, ob Nietzsche oder Schopenhauer noch in der Manteltasche steckte, und aufbrach, entweder, um Kohlen für den Ofen zu kaufen oder eine Flasche Wein fürs Abendessen oder Wurst und Brot, oder um zur Arbeit zu gehen, im Studiersaal irgendeines Jungeninternats.

Und der andere, ich weiß nicht mehr, wer, mir eine Geschichte vorlas über einen kleinen Jungen, der sich in einem Baum versteckt hatte und von einem Holzfäller mitsamt dem Baum in der Mitte durchgehackt wurde; und der auf dem grauen Bett in dieser Art dunklem Alkoven mein Haar streichelte und mit glänzenden Augen sagte: Was wird wohl in zehn oder zwölf Jahren aus uns geworden sein?

Und der ansonsten nur lächelte.

Ziemlich sicher war es Didier.

Und dann, in deren Plüschwohnzimmer, zwischen Möbeln aus der Jahrhundertwende, wieder auf die Zimmerwirtin treffen und das alte Haus murmeln hören, und im Licht der Straßenlaternen die Eisschollen auf dem Wasser der Leie betrachten, oder ist es die Schelde, die am Haus der Wirtin vorbeifließt, oder einer der vielen unentwirrbaren Kanäle von Gent? Und dem Eisgang lauschen, dem Knarzen, dem Platschen, oder den Stricknadeln der Wirtin, die sagt: Sie sollten weniger arbeiten, die zwei Jungs. Studieren und Geld verdienen, das ist zu viel. Das bringt einen nur auf düstere Gedanken. Man müsste mit ihnen spazieren gehen oder einen Ausflug nach ’t Heilig Huizeke machen.

Was ist ’t Heilig Huizeke?

Ein Lokal mit Biergarten, draußen vor der Stadt. Ob es die Straßenbahn dorthin noch gibt? Ach, es ist ja Winter. Aber jetzt im Februar werden die Tage schon wieder länger. Und wo in Gent wohnen Sie, junges Fräulein?

Bei meiner Großtante. Auch in so einem alten Haus. Ich kann da gut lernen, weil es so schön ruhig ist. Im Moment befasse ich mich mit Georg Heym, bei Professor Herman nehmen wir nämlich die deutschen Expressionisten durch. Wir lesen Gedichte über Geisteskranke, die in der Anstalt wie Schmetterlinge durch die Gänge flattern und sich für Jesus halten. Ist das nicht hübsch? Nächste Woche wollen wir nach West-Flandern, zu den Flanders Fields, da sind im Ersten Weltkrieg viele Soldaten gefallen, auch deutsche, unter anderem Ernst Stadler mit 31 Jahren. 1914 war das, in Zandvoorde, südöstlich von Ypern. Didier mag Georg Trakl am liebsten. Der war erst 27, als er starb. Er war Sanitäter beim Militär, aber konnte die Qualen der Verwundeten nicht mit ansehen, das war einfach zu viel für ihn. Er hat seinem Leben mit Gift ein Ende bereitet, mit Betäubungsmitteln. Davor hat er längere Zeit in Salzburg als Apotheker gearbeitet. Und er war ziemlich verliebt in seine Schwester.

Ach, sagt die Wirtin, und so was müssen Sie lernen? Sich immer in die Bücher vergraben, das ist doch nicht gut. Wo, sagten Sie gleich wieder, wohnen Sie, Fräulein?

Auf dem Sint-Kwintensberg, das Haus soll abgerissen werden.

Genau wie dieses hier, sagt die Wirtin. So geht es mit vielen Häusern, sogar mit ganzen Vierteln in dieser alten Stadt.

Ich denke: Später, wenn wir irgendwann mal zurückkommen, uns erinnern wollen, ist nichts mehr da, was wir anfassen können; es ist verrückt, jetzt schon zu wissen, dass wir uns ein Nest im Nichts bauen, oder im Verfall. Unsere Namen hier in die Wände zu ritzen, wäre verlorene Liebesmüh.

In Gent zwischen den Autos und den Straßenbahnen von Verkehrsinsel zu Verkehrsinsel laufen. Neben den alten Männern auf der Bank sitzen und aufs Wasser sehen, auf die flachen braunen Kähne und den Müll, der sich in den Winkeln der Kanäle fängt. Über die Brücken gehen, mit ihren schnurgeraden schmiedeeisernen Geländern und den splitternden Holzböden. Bei Einbruch der Dämmerung die ältlichen Liebespaare in den erleuchteten Lokalen beobachten und zusehen, wie die Bettler aus den Schmuddelvierteln auftauchen; den Buckligen in ihren zerfransten Jacken und den glänzenden Kappen zum Gravenkasteel und zur ewig nach Salz und Ammoniak riechenden Fischhalle folgen; vorbei am Vleeshuis, wo die Trauerweiden bis ins Wasser hängen, bis zu den Äpfeln, den Orangen, dem Wrackholz, manchmal zu den toten Hunden, den mysteriösen aufgeblähten Jutesäcken, den Katzen, den Ratten. In den schiefen Bäckereien Kakerlaken an den Wänden.

Wenn es dunkel wird und die Laternen angehen, erwachen die Renaissancehäuser mit ihren leuchtenden Fenstern. Hier würde er gerne wohnen, sagt Professor Herman, die Fingerabdrücke derjenigen betrachten, die ihm vor Jahrhunderten vorausgegangen sind, eingeprägt in Bücherregale und kostbaren Wandbehang, während er auf das Treiben des Volkes zeigt, dessen Lärmen kaum zu ihm durchdringt.

In Gent ist ein Fest im Gange, einfach so, hier weiß man nie, was gerade gefeiert wird. Vielleicht, dass der Frühling kommt oder der Professor einer befreundeten Universität eine Gastvorlesung hält, dass ein Debattierwettbewerb stattfindet oder die Stadt an irgendein mittelalterliches Ereignis erinnern will. Der Veerleplein hängt voll mit Lampions.